Auszüge aus Erich Fromm's
"Humanismus als Utopie"

Der Glaube an den Menschen

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Ich glaube, daß niemand seinen Nächsten dadurch "retten" kann, daß er für ihn eine Entscheidung trifft. Die einzige Hilfe besteht darin, daß er ihn in aller Aufrichtigkeit und Liebe sowie ohne Sentimentalität und Illusionen auf mögliche Alternativen hinweisen kann. Die echte Alternative zu Realismus und Utopismus erwächst aus dem Syndrom von Denken, Erkenntnis, Vorstellungsvermögen und Hoffnung. Dieses befähigt den Menschen, die realen Möglichkeiten zu sehen, deren Keime bereits vorhanden sind. Voraussetzungen für seelische Gesundheit und das Überleben der Zivilisation sind eine Wiederbelebung des Geistes der Aufklärung, eines rücksichtslos kritischen und wirklichkeitsnahen, jedoch von seinen überschwenglich optimistischen und rationalistischen Vorurteilen befreiten Geistes, und zugleich die Wiederbelebung humanistischer Werte, die nicht gepredigt, sondern im persönlichen und gesellschaftlichen Leben realisiert werden.

Ich glaube, daß der einzelne so lange nicht mit seiner Menschheit in sich in engen Kontakt kommen kann, solange er sich nicht anschickt, seine Gesellschaft zu transzendieren und zu erkennen, in welcher Weise diese die Entwicklung seiner menschlichen Potentiale fördert oder hemmt. Kommen ihm die Tabus, Restriktionen, entstellten Werte ganz "natürlich" vor, dann ist dies ein deutlicher Hinweis darauf, daß er keine wirkliche Kenntnis der menschlichen Natur hat. Ich glaube, daß die Verwirklichung einer Welt möglich ist, in der der Mensch viel "sein" kann, selbst wenn er wenig "hat".

Vorwort

Wer versucht, den "roten Faden" im Frommschen Werk zu benennen, der sich durch sein gesamtes literarisches Schaffen zieht, wird zuerst auf seinen sozialpsychologischen Denkansatz stoßen, mit dem er die gesellschaftlich geprägten leidenschaftlichen Strebungen des Menschen aufspürte. Doch spätestens Ende der dreißiger Jahre wird im Zusammenhang mit seinem Ausscheiden aus dem Institut für Sozialforschung und den Auseinandersetzungen mit Horkheimer, Marcuse und Adorno noch etwas anderes, unverkennbar Frommsches sichtbar: sein humanistisches Menschen- und Weltbild. Dieses manifestiert sich in einem gelebten Glauben an den Menschen, der weder durch den Holocaust noch durch die atomare Hochrüstung zerstört wurde. Wann immer Fromm sein eigenes Denken kennzeichnen will, gebraucht er das Attribut "humanistisch". Er spricht von einer humanistischen Wissenschaft vom Menschen, vom humanistischen Sozialismus, von der humanistischen Industriegesellschaft, vom humanistischen Gewissen, von der humanistischen Religion, vom humanistischen Management, von der humanistischen Weltanschauung, von der humanistischen Psychoanalyse, vom humanistischen Charakter, von der humanistischen Ethik und von der humanistischen Utopie.

Genau dieser humanistische Glaube an den Menschen führt bei der Beurteilung des Frommschen Denkens oft zur "Scheidung der Geister": Wie kann Fromm, der die unheilvollen Auswirkungen der Selbstentfremdung des Menschen mit solcher Klarheit erkannt hat und sie aus den sozial-ökonomischen Verhältnissen unserer industriellen Kultur erklärt, gleichzeitig aber jede Erlösung von außerhalb nur als Ausdruck der Selbstentfremdung demaskiert – wie kann Fromm da noch an den Menschen glauben?

Die Beiträge dieses letzten Bandes der Schriften aus dem Nachlaß geben Antwort auf diese Frage, indem sie beides tun: Sie zeigen das ganze Ausmaß der destruktiven und heillosen Selbstentfremdung des Menschen von heute; gleichzeitig sprechen sie aber auch von den realen Möglichkeiten, die zum Glücken des Menschen führen können. Es gibt so lange eine "reale" Utopie, solange der Mensch wenigstens noch ansatzweise einen Zugang zu seinen wachstums-fördernden Eigenkräften hat.

Ausgangspunkt des Frommschen Humanismus ist der durch die Einsichten der Psychoanalyse ermöglichte Glaube, daß das Unbewußte den ganzen Menschen und die ganze Menschheit repräsentiert. Das Unbewußte enthält das ganze Spektrum möglicher Antworten, und es kommt sehr darauf an, welche Möglichkeiten gefördert und welche gehemmt und verdrängt werden. Grundsätzlich aber hat  "der Mensch in einer jeden Kultur alle Möglichkeiten: Er ist der archaische Mensch, das Raubtier, der Kannibale, der Götzendiener, und er ist zugleich das Wesen mit der Fähigkeit zu Vernunft, Liebe und Gerechtigkeit." Da es den Menschen nicht anders denn als gesellschaftliches Wesen gibt, entscheidet die besondere Art von Gesellschaft, in der ein Mensch lebt, welche Möglichkeiten bevorzugt werden. Jede Gesellschaft formt die Energien der Menschen derart, daß sie das tun wollen, was sie zum Funktionieren der Gesellschaft tun müssen. "So werden die Bedürfnisse der Gesellschaft in persönliche Bedürfnisse verwandelt, sie werden zum ›Gesellschafts-Charakter‹." (E. Fromm, 1963f., GA IX, S. 9f.)

Jede Gesellschaft fördert aber nicht nur bestimmte Möglichkeiten, die im Unbewußten des Menschen zur Verfügung stehen, indem sie diese bewußt macht und sich der einzelne mit ihnen identifiziert; es werden auch Möglichkeiten und Neigungen unterdrückt und verdrängt, die den gesellschaftlichen Verhaltensmustern – dem Gesellschafts-Charakter – widersprechen. So kommt es, daß "unser Bewußtsein hauptsächlich unsere eigene Gesellschaft und Kultur (widerspiegelt), während unser Unbewußtes den universalen Menschen in einem jeden von uns repräsentiert" (E. Fromm, 1964a, GA II, S. 223). ...

Die Zukunft der gegenwärtigen technologischen Gesellschaft – Zerfall oder Reintegration?

Bisher ging es nur theoretisch um die Frage Reintegration oder Zerfall gesellschaftlicher Systeme. Viele von uns sind sich bewußt, daß dieses Problem heute, im Jahr 1969, nicht mehr nur ein theoretisches Problem ist. Es gibt die ernstzunehmende Frage, ob sich das westliche Gesellschaftssystem im Prozeß der Desintegration befindet und zerfällt oder ob eine Reintegration unseres Systems möglich ist. Zweifellos ist das westliche Gesellschaftssystem auf dem Höhepunkt seiner Macht: Die Entwicklung des theoretischen Denkens hat zu technischen Anwendungen geführt, die die Träume vergangener Generationen zu erfüllen scheinen. Seine Fähigkeit zu materieller Produktion auf der Grundlage der neuen Technologie wächst immer noch schneller. Die jüngste Reise um den Mond wurde von der großen Mehrheit der westlichen Bevölkerung deshalb so begeistert begrüßt, weil sie ein Beweis der Stärke und Leistungsfähigkeit unseres Systems zu sein scheint. Dennoch können all diese großen Erfolge des westlichen Systems nicht die Tatsache aus der Welt schaffen, daß wir schwerwiegenden Dysfunktionen des Systems und der Gefahr des Zerfalls gegenüberstehen. Einige der Widersprüche, die vielleicht zum Zerfall unseres technologischen Systems führen, sollen kurz erwähnt werden.

Der wichtigste Widerspruch ist wohl die Tatsache, daß die reichen Staaten reicher werden und die armen Staaten im Vergleich ärmer und daß keine ernsthaften Anstrengungen unternommen werden, diesen Trend zu ändern. Nichts zeigt diese Gefahr drastischer als die allgemein akzeptierte Voraussage der Experten, daß wir noch für die achtziger Jahre in der unterentwickelten Welt mit Hungersnöten von großem Ausmaß rechnen müssen.

Ein anderer Widerspruch liegt in der drastischen Kluft zwischen den traditionellen religiösen und humanistischen Werten, die in der westlichen Welt immer als gültig akzeptiert wurden, und den neuen technologischen Werten und Normen, die deren genaues Gegenteil sind. Die traditionellen Werte sagen, man solle etwas tun, weil es gut, wahr oder schön ist oder – um es anders auszudrücken – weil es der Entfaltung und dem Wachstum des Menschen dient. Der neue technologische Wert sagt, man solle etwas tun, weil es technisch möglich ist: Ist es technisch möglich, zum Mond zu fliegen, dann soll man es auch tun trotz der Tatsache, daß weitaus dringendere Aufgaben auf der Erde unerledigt bleiben. Ist es technisch möglich, die verheerendsten Waffen zu produzieren, dann soll man dies auch tun, ungeachtet der Tatsache, daß diese Waffen die ganze Menschheit auszulöschen drohen. Die Kluft zwischen den bewußten Wertsetzungen, die den Kindern gelehrt werden und an die die Erwachsenen noch immer glauben, und den ihnen widersprechenden Wertsetzungen, die das faktische Handeln der Erwachsenen bestimmen, führt zu einem Vergeuden menschlicher Energie, schafft ein schuldbewußtes Gewissen und ein Gefühl der Zwecklosigkeit.

Ein weiterer Widerspruch zeigt sich darin, daß die Industriegesellschaften auf der ganzen Welt die Fähigkeit anstreben, lesen und schreiben zu können und eine höhere Bildung fördern, ihr tatsächlicher pädagogischer Fortschritt dazu aber in scharfem Kontrast steht: Die Fähigkeit zu aktivem, kritischem Denken wird immer geringer. Nimmt auf der einen Seite die Fähigkeit, lesen und schreiben zu können, zu, schafft das Fernsehen auf der anderen eine neue Art von Analphabetentum, bei dem der Verbraucher mit Bildern gefüttert wird. Er gebraucht seine Augen und Ohren, nicht aber seinen Verstand. Kurzum, während wir immer leistungsfähigere Maschinen produzieren, verliert der Mensch einige seiner wichtigsten Eigenschaften. Er wird zu einem passiven Verbraucher, gelenkt von der großen Organisation. Diese hat kein Ziel und keine Vision außer der, immer größer und effizienter zu werden und schneller zu wachsen.
Je mehr Macht der Mensch über die Natur hat, um so ohnmächtiger ist er gegenüber der Maschine. Einige wenige Beispiele sollen zeigen, daß sich unser ganzes System in einem Zustand bedrohlichen Ungleichgewichts befindet und daß bestimmte Teile des Systems ihre Fähigkeit, sich anzupassen und zu regenerieren, verloren zu haben scheinen. Der Verlust der Fähigkeit zur Anpassung zeigt sich besonders deutlich in unserer Unfähigkeit,

1.  die Atomwaffen abzuschaffen, mit der Folge, daß die Bedrohung einer völligen Zerstörung uns lähmt;

2.  Fakten zu schaffen, mit denen die wachsende Kluft zwischen der armen und reichen Welt überwunden werden kann;

3.  Maßnahmen zu ergreifen, die dem Menschen die Kontrolle über die Maschine geben, statt ihn zu ihrem Diener zu machen.

Wir stehen der historischen Frage gegenüber, ob die westliche Gesellschaft noch die Vitalität hat, die notwendigen Änderungen des Systems vorzunehmen, um den Zerfall zu verhindern, oder ob wir die Kontrolle verloren haben und folglich auf eine Katastrophe zusteuern. Für die meisten Beobachter scheinen wir noch die technische Fähigkeit zu einer Reintegration des Systems zu haben. Unsere größte Schwäche liegt jedoch in der Tatsache begründet, daß wir keine Analyse des Systems vornehmen und daß Einzelinteressen den Vorrang haben vor dem Interesse an einer Reintegration des gesamten Systems. Es gibt einige Beobachter, Jacques Ellul in Frankreich etwa oder Lewis Mumford in den Vereinigten Staaten, die wenig Hoffnung haben, daß der Prozeß des Zerfalls gestoppt werden kann, obwohl auch sie die Möglichkeit nicht ausschließen. Es gibt viele andere, die nur an das lineare Denken in den Kategorien von Ursache und Wirkung gewöhnt sind. Sie glauben, der Zerfall des Systems könne gestoppt werden, indem man sich mit den Symptomen befaßt. Und es gibt eine Minderheit, die glaubt, man müsse das System vernichten, um ein besseres zu errichten. Sie scheinen nicht zu sehen, daß solch eine Zerstörung im günstigsten Fall für Jahrhunderte zu Blutvergießen und Barbarei führen würde. Angesichts der gegenwärtigen Ausrüstung mit zerstörerischen Kräften würde eine solche Lösung wahrscheinlich nicht nur zu der Zerstörung des gegenwärtigen Systems führen, sondern auch zur physischen Zerstörung des größeren Teils der Menschheit, wenn nicht allen Lebens. ...

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