Auszüge aus Erich Fromm's
"Vom Haben zum Sein"

Wege und Irrwege der Selbsterfahrung

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Einleitung: Vom Sinn des Lebens

In meinem Buch "Haben oder Sein" war ich bemüht, die Existenzweise der Orientierung am Haben und am Sein zu beschreiben wie auch die Folgen, welche sich durch das Vorherrschen der einen oder anderen Art für das Wohl-Sein (well-being) des Menschen ergeben. So bin ich zum Schluß gekommen, daß die vollständige Humanisierung des Menschen den Durchbruch von einer Orientierung am Besitz zu einer Orientierung am Tätigsein erfordert und ebenso den Durchbruch von Selbstsucht und Egoismus zu Solidarität und Altruismus. Im Folgenden unterbreite ich einige praktische Vorschläge, die dem behilflich sein können, der sich bemüht, dieses Ziel zu erreichen.

Wer sich auf den Weg macht, die Orientierung am Sein einzuüben, muß zunächst die alles entscheidende Frage beantworten: Warum wollen wir leben?

Gibt es wirklich einen Grund, weshalb wir leben wollen? Würden wir lieber nicht leben wollen, wenn wir keinen Grund dazu hätten? Es ist eine Tatsache, daß alle Lebewesen, Mensch und Tier, leben wollen und daß dieser Wunsch nur unter außerordentlichen Umständen – wie bei unerträglichem Schmerz – lahmgelegt wird. Beim Menschen können Leidenschaften wie Liebe, Haß, Stolz und Treue stärker sein als der Wunsch zu leben. Es scheint, daß die Natur oder – wenn man so will – der Evolutionsprozeß jedem Lebewesen den Wunsch zu leben mitgegeben hat. Welche Gründe der Mensch auch immer dafür findet, es sind nur sekundäre Gedanken, die diesen biologisch verankerten Impuls erklären wollen.

Wir müssen nicht auf theoretische Vorstellungen über die Evolution zurückgreifen. Meister Eckhart (1927, S. 365) hat das gleiche auf eine einfachere, poetische Art und Weise betont:

Wer einen guten Menschen fragte:„Warum minnest du Gott?“, der würde die Antwort erhalten: „Ich weiß es nicht – weil er eben Gott ist.“
„Warum minnest Du Wahrheit?“
„Der Wahrheit wegen.“
„Warum minnest du Gerechtigkeit?“
„Der Gerechtigkeit wegen.“
„Warum minnest du Güte?“
„Der Güte wegen.“
„Und warum lebst du?“
„Meiner Treu, ich weiß es nicht – ich lebe gerne!“

Daß wir leben wollen, daß wir gerne leben, ist eine Tatsache, welche keine Erklärung braucht. Wenn wir hingegen fragen, wie wir leben wollen, was wir vom Leben erwarten, was uns das Leben sinnvoll macht, dann beschäftigen wir uns in der Tat mit – mehr oder weniger identischen – Fragen, auf welche Menschen viele verschiedene Antworten gegeben haben. Manche werden sagen, sie suchen Liebe, andere Macht, andere Sicherheit, andere sinnliche Freuden und Bequemlichkeit, wieder andere Ruhm; aber die meisten werden wahrscheinlich der Aussage zustimmen, daß sie Glück suchen. Auch die meisten Philosophen und Theologen haben das Glück als Ziel des menschlichen Strebens angesehen. Wenn aber unter Glück, wie wir eben gesehen haben, derart Verschiedenes und meist Unvereinbares verstanden wird, wird der Begriff eine Abstraktion und daher nutzlos. Wir sollten untersuchen, was gewöhnliche Menschen und was Philosophen mit dem Begriff Glück meinen.

Mögen die Vorstellungen von Glück auch sehr verschieden sein, so ist doch den meisten ein Aspekt gemeinsam: Wir sind glücklich, wenn unsere Wünsche erfüllt werden, oder – um es anders auszudrücken – wenn wir haben, was wir wollen. Die Unterschiede zwischen den verschiedenen Ansichten ergeben sich aus der Antwort auf die Frage: Welches sind denn diese Bedürfnisse, deren Erfüllung uns Glück bringt? Die Frage nach Sinn und Ziel des Lebens führt uns deshalb zur Frage nach der Natur der menschlichen Bedürfnisse.

Im großen und ganzen gibt es zwei gegensätzliche Standpunkte in dieser Frage. Der erste, heute fast ausschließlich gültige Standpunkt, definiert ein Bedürfnis als etwas völlig Subjektives, als das Streben nach etwas, was ich mir so sehr wünsche, daß ich es als Bedürfnis erlebe und dessen Erfüllung mir Vergnügen bereitet. Bei diesem Definitionsversuch wird nicht nach dem Ursprung dieses Bedürfnisses gefragt: Hat das Bedürfnis ähnlich wie Hunger und Durst eine physiologische Wurzel? Oder wurzelt es, wie das Bedürfnis nach besonders feinem Essen und Trinken, nach Kunst und theoretischem Denken in der gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklung des Menschen? Oder ist es ein von der Gesellschaft hervorgebrachtes Bedürfnis, wie das nach Zigaretten, Autos oder unzähligen kleinen praktischen Gegenständen? Oder ist es ein krankhaftes Bedürfnis, wie das nach sadistischer und masochistischer Befriedigung?

Bei dieser Betrachtungsweise wird auch nicht nach der Wirkung gefragt, welche die Befriedigung der Bedürfnisse auf einen Menschen hat. Bereichert sie sein Leben und ist sie seinem Wachstum förderlich, oder schwächt und erstickt sie ihn, verhindert Wachstum und ist selbstdestruktiv? Ob jemand sich freut, weil er die Erfüllung seines Wunsches genießt, Musik von Bach zu hören, oder ob jemand sich freut, weil er mit seinem Sadismus hilflose Menschen kontrolliert oder verletzt, wird als reine Geschmackssache angesehen. Solange dies etwas ist, wonach ein Mensch ein Bedürfnis hat, besteht Glück in der Befriedigung dieses Bedürfnisses. Ausnahmen werden nur dann akzeptiert, wenn die Befriedigung eines Bedürfnisses anderen Menschen schweren Schaden zufügt oder die gesellschaftliche Nützlichkeit des Betreffenden infrage steht. Auf diese Weise werden die Bedürfnisse, zu zerstören oder Drogen zu nehmen, im allgemeinen nicht als Bedürfnisse anerkannt, die ihre Berechtigung aus der Tatsache beziehen, daß ihre Befriedigung Lust bereitet.

Der entgegengesetzte Standpunkt geht von einer grundsätzlichen Unterscheidung aus: Trägt ein Bedürfnis zu Wachstum und „Wohl-Sein“ des Menschen bei, oder behindert und schadet es ihm? Diese Sichtweise befaßt sich mit solchen Bedürfnissen, die in der Natur des Menschen wurzeln und zu Wachstum und Selbsterfüllung führen. Sie ersetzt die rein subjektive Auffassung von Glück durch eine objektive, normative. Nur die Erfüllung von Wünschen, die im Interesse des Menschen liegen, führt zu Glück. Im ersten Fall sage ich: „Ich bin glücklich, wenn ich möglichst viel Lust erlebe.“ Bei der zweiten Betrachtungsweise sage ich: „Ich bin glücklich, wenn ich das bekomme, was gut für mich ist und mir zu einem Optimum an Wohl-Sein verhilft.“

Es braucht nicht betont zu werden, daß der zuletzt genannte Standpunkt für das herkömmliche wissenschaftliche Denken unannehmbar ist, denn er führt eine Norm, das heißt ein Werturteil ein und scheint so seine objektive Gültigkeit zu verlieren. Es stellt sich aber die Frage, ob es wahr ist, daß eine Norm keine objektive Gültigkeit haben kann. Können wir nicht von einer Natur des Menschen sprechen? Will der Mensch nicht wie alle lebendigen Wesen möglichst gut im Leben zurechtkommen und seine Potentiale optimal verwirklichen? Ist das nicht die objektiv definierbare Natur des Menschen? Folgt daraus dann nicht, daß gewisse Normen zu diesem Ziel führen, andere hingegen es behindern? ...

Der große Schwindel

Das vielleicht größte Hindernis beim Erlernen der Kunst des Lebens möchte ich den großen Schwindel nennen. Dieser ist nicht nur auf den Bereich der Aufklärung des Menschen beschränkt, ganz im Gegenteil ist die Aufklärung selbst eine der Ausdrucksformen des großen Schwindels, der alle Bereiche unserer Gesellschaft durchdringt. Produkte mit eingebauten Verschleißteilen, überteuerte Waren oder Produkte, die in Wirklichkeit nutzlos – wenn nicht schädlich – sind, Reklame, die eine Mischung aus ein wenig Wahrheit und viel Verfälschung ist sowie viele andere gesellschaftliche Phänomene sind Teil eines großen Schwindels, der nur in krassen Fällen gesetzlich geahndet wird. Der wirkliche Wert eines Gebrauchsartikels wird verdeckt durch den Wert, den die Reklame, der Name und die Größe des Herstellers suggerieren. Wie könnte dies auch anders sein in einem System, dessen Grundprinzip es ist, die Produktion nach dem maximalen Profit statt nach dem maximalen Nutzen für die Menschen auszurichten?

Im politischen Bereich ist in der letzten Zeit der große Schwindel sichtbarer geworden zum Beispiel durch Watergate, die Kriegsführung in Vietnam mit all ihren unwahren Aussagen über einen „nahen“ Sieg oder sogar durch direkte Irreführung mit gefälschter Berichterstattung. Doch es ist bloß die oberste Spitze des Eisbergs an politischem Schwindel aufgedeckt worden.
Auch auf dem Gebiet der Kunst und Literatur wuchert der große Schwindel. [...] Die Öffentlichkeit – sogar die gebildete – hat die Fähigkeit weitgehend verloren, zwischen Wahrheit und Fälschung zu unterscheiden. Dieser Mangel wird durch verschiedene Faktoren, vor allem durch die rein cerebrale [vom Gehirn ausgehende] Orientierung der meisten Menschen verursacht. Sie hören bloß auf die Worte und die intellektuellen Begriffe, ohne mit einem „dritten Ohr“ deren Wahrheitsgehalt zu überpüfen.

Um ein Beispiel zu geben: In der Literatur über Zen-Buddhismus finden wir Schriftsteller wie Daisetz I. Suzuki, dessen Glaubwürdigkeit nicht bezweifelt werden kann. Er spricht nur über das, was er selbst erfahren hat. Eben diese Authentizität macht seine Bücher schwer lesbar, denn es gehört zum Kern des Zen, keine Antworten zu liefern, die auf einer rationalen Ebene befriedigend sind. Einige andere Bücher, welche das Denken des Zen scheinbar richtig vermitteln, stammen von rein intellektuellen Autoren mit oberflächlicher Erfahrung. Deren Bücher sind wohl leichter zu verstehen, aber sie übermitteln nicht das Wesen des Zen. Ich habe aber bemerkt, daß den meisten, die angeben, ernsthaft an Zen interessiert zu sein, der entscheidende Qualitätsunterschied zwischen diesen beiden Kategorien nicht einmal aufgefallen ist.

Der andere Grund für die Schwierigkeit, den Unterschied zwischen Wahrheit und Fälschung zu erkennen, liegt in der hypnotischen Faszination, die Macht und Ruhm ausüben. Wird ein Autor oder ein Buchtitel durch geschickte Reklame berühmt gemacht, so ist der Durchschnittsmensch bereit, der Reklame zu glauben. Dieser Vorgang wird durch einen anderen Faktor noch stark gefördert. In einer völlig kommerzialisierten Gesellschaft, in der Verkaufbarkeit und optimaler Gewinn das Wichtigste sind und in der jeder sich selbst als Kapital erlebt, das es auf dem Markt zu investieren gilt, um maximalen Gewinn oder Erfolg zu erzielen, zählt der Gebrauchswert eines Menschen so wenig, wie der einer Zahnpasta oder eines Medikamentes. Ob er nun freundlich, intelligent, produktiv oder mutig ist, zählt nicht, wenn diese Eigenschaften für seinen Erfolg unwichtig sind. Wenn einer dagegen als Mensch, Schriftsteller, Künstler nur ganz mittelmäßig, dafür aber ein narzißtischer, aggressiver, angetrunkener oder obszöner Schlagzeilenlieferant ist, wird er – vorausgesetzt, er hat ein bißchen Talent – leicht zum „führenden Künstler oder Schriftsteller“ des Tages. Daran ist nicht nur er beteiligt; die Kunsthändler, die Literaturagenten, die Werbefachleute, die Verlagshäuser – sie alle sind finanziell an seinem Erfolg interessiert. Er wird von ihnen „gemacht“, und plötzlich ist er der überall bekannte Schriftsteller, Maler, Sänger, plötzlich ist er eine „Berühmtheit“, der „große Mann“ – so wie jenes Waschmittel das beste ist, dessen Name dem Fernsehzuschauer unwillkürlich einfällt. Sicherlich sind Schwindel und Betrug keine neuen Erscheinungen; es hat sie immer gegeben. Nur war früher das Bedürfnis, im Blickfeld der Öffentlichkeit zu stehen, noch nicht von derart zentraler Bedeutung.

Mit diesem Beispiel berühre ich ein Thema, das für dieses Buch von besonderer Bedeutung ist: den Schwindel in den Bereichen, in denen es um des Menschen Heil und Heilung, um sein Wohl-Sein, sein inneres Wachstum, sein Glück geht.

Ich muß gestehen, daß ich sehr gezögert habe, dieses Kapitel zu schreiben, und sogar versucht war, es nachträglich wieder herauszunehmen. Der Grund für dieses Zögern liegt darin, daß auf diesem Gebiet fast keine Worte mehr übriggeblieben sind, die nicht schon vermarktet, verdorben oder mißbraucht worden sind. Begriffe wie „Selbsterfahrung“, „menschliches Wachstum“, „Wachstumspotential“, „Selbstverwirklichung“, „Erleben statt Denken“, das „Hier und Jetzt“ und viele andere sind durch verschiedene Autoren und Gruppen herabgesetzt und sogar zu Reklamezwecken vermarktet worden. [...] Ich schreibe dieses Kapitel dennoch, aber ich bitte den Leser, sich der Tatsache bewußt zu sein, daß Worte erst durch den Zusammenhang, in dem sie gebraucht werden, durch die Absicht, mit der sie gebraucht werden, und durch die Persönlichkeit dessen, der sie braucht, eine Bedeutung bekommen. Wenn sie nämlich eindimensional, ohne tiefere Perspektive verstanden werden, so verdecken sie Ideen mehr, als daß sie diese übermitteln.

Noch eine andere Bemerkung scheint mir nötig, bevor ich auf den Schwindel in dem Bereich eingehe, wo es um die Heilung des Menschen geht. Wenn ich hier von Schwindel spreche, dann besagt das nicht notwendigerweise, daß Führer und Anhänger dieser zahlreichen Bewegungen bewußt unehrlich sind oder die Öffentlichkeit irreführen wollten. Dies mag für einige wenige zutreffen. Viele andere jedoch wollen Gutes tun und glauben an die Nützlichkeit ihres spirituellen Angebots. Aber es gibt nicht nur bewußte und beabsichtigte Täuschungsmanöver. Gesellschaftlich gefährlicher ist ein Schwindel, an den die Ausführenden selbst ehrlich glauben, egal, ob es sich um Kriegsplanung oder einen angebotenen Weg zum Glück handelt. Solche Tatsachen müssen ausgesprochen werden, und sei es mit dem Risiko, daß dies als persönlicher Angriff auf wohlmeinende Menschen aufgefaßt wird.

Angriffe sind auch deshalb fehl am Platz, da diese Verkäufer von Heil und Heilung doch nur ein weitverbreitetes Bedürfnis befriedigen. Viele Menschen sind verwirrt und unsicher; sie suchen nach Antworten, die ihnen Freude, Ruhe, Selbsterkenntnis und Heilung bringen – gleichzeitig soll alles aber leicht lernbar sein, wenig oder gar keine Anstrengung verlangen, und der Erfolg soll sich schnell einstellen. ...

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