Auszüge aus Erving Goffman's
"Interaktion und Geschlecht"

zurück zu Goffman

Einleitung von Hubert A. Knoblauch

Obwohl Erving Goffman zweifellos einer der populärsten soziologischen Autoren auch im deutschsprachigen Raum ist, liegt eine Reihe wichtiger Schriften nicht in deutscher Sprache vor. Erwähnt werden muß vor allem Forms of Talk (1981), das letzte Buch, das Goffman vor seinem Tode veröffentlichte. Dazu zählen aber auch die beiden Aufsätze, die hier erstmals in einer deutschen Übersetzung vorliegen. Diese beiden Texte zeigen, daß eine Reihe von Annahmen, auf die sich die deutschsprachige Goffman-Rezeption anhand der früheren Arbeiten versteifte, revidiert werden muß. Indem Goffman hier einmal mehr die "Interaktionsordnung" als eine Wirklichkeit eigener Art herausstellt (die er anhand der "Arrangements zwischen den Geschlechtern" veranschaulicht), legt er den Finger in offene Wunden der Soziologie: Auch wenn er das Reich der Interaktion als Untersuchungsgegenstand in eigenem Recht heraushebt, plädiert er doch für die Suche nach den Verbindungen dieses weitgehend eigenständigen Bereichs zur Gesamtgesellschaft (und so auch zur "Makrosoziologie"). Er bedient sich einer Vielfalt von Methoden und unterläuft damit die gängige Trennung qualitativer von quantitativen Vorgehensweisen, und er glänzt durch einen Eklektizismus, der sowohl dem "theoretischen Historismus" der "Grand Theories" von Parsons bis Habermas (die ihre Geltung aus der Stimmigkeit von Klassikerinterpretationen ableiten) wie auch den quasi-polizeilichen Vorschriften "methodisch kontrollierter Hermeneutiken" Hohn spricht. Die Interakti­onsordnung kann zwar keineswegs als eine Zusammenfassung von Goffmans Werk angesehen werden, doch sie stellt, wie aus ihrem biographischen Kontext deutlich wird, eine Art Vermächtnis dar.

Der 1922 geborene Erving Goffman stand in der Tradition der Chicagoer Schule, die sich vor allem durch engagierte Feldforschung ausgezeichnet hatte. Obwohl diese "fieldwork-sociology" in der Auseinandersetzung mit der "harten Soziologie" Parsons’, Mertons und Homans’ in den 50er Jahren mehr und mehr an den Rand gedrängt wurde, führte Goffman selbst diese Tradition fort. (So basiert seine Dissertation, die er 1953 in Chicago abschloß, auf einem Feldforschungsprojekt, das er während seines Studiums in Edinburgh auf den Shetland Inseln durchgeführt hatte.) 1958 erhielt er zwar eine Professur, doch verdankte er diese allein dem in Berkeley unternommenen Experiment, die Vielfalt soziologischer Ansätze zu bewahren und auch wenig etablierten soziologischen Ansätzen einen Platz einzuräumen. In Berkeley erst entstand auch der "Mythos Goffman" – allerdings nicht unter den Kollegen, sondern innerhalb der erstarkenden Studentenbewegung, die vor allem nach "subjektorientierten" Alternativen zum vorherrschenden Strukturfunktionalismus Ausschau hielt. (Um den politischen Wirrnissen Berkeleys zu entkommen, nahm Goffman 1969 eine Professur an die Universität von Pennsylvania in Philadelphia an.) Es ist dem allmählichen Wechsel vom "normativen" zum "interpretativen" Paradigma (Wilson 1978), sicher aber auch der Popularität seiner Schriften zu verdanken, daß Goffman, die längste Zeit seines Lebens Randgänger der Soziologie, zunehmend Anerkennung fand. Diese Anerkennung gipfelte 1980 in seiner Wahl zum Präsidenten der Amerikanischen Soziologischen Gesellschaft. Schon schwer erkrankt, verfaßte er die Präsidenten-Ansprache, in der er sein Untersuchungfeld absteckt und erstmals das Verhältnis zur Mainstream-Soziologie aufzeigt. Die Ansprache – eben die "Interaction Order" – zeugt nicht nur von seiner Auseinandersetzung mit "sozialstrukturellen", "makrosoziologischen" Fragen; Goffman macht auch – in aller Bescheidenheit – deutlich, wie er seine Arbeit verstanden wissen will: als Erforschung der sozialen Ordnung von Interaktionen. Goffman war schon zu krank, um den Vortrag selbst zu halten. Doch bereitete er ihn als letzte von ihm selbst eingereichte Veröffentlichung vor.

Die Ordnung der Interaktion ist zweifellos ein Thema, das sich durch die Arbeiten Goffmans zieht. Wenn es erlaubt ist, die "Interaktionsordnung" als sein Vermächtnis anzusehen, verwundert es nicht nur, daß er eine Reihe anderer Themen, die er im Laufe seines Lebens bearbeitete und die seine Interpreten in den Vordergrund stellen, nicht einmal mehr erwähnt. Die "Theatermetapher" taucht ebensowenig auf wie die "Spiel­analogie"; er legt den amerikanischen Soziologen weder die Rahmenanalyse noch die "forms of talk" nahe, die ihn noch kurz zuvor beschäftigt hatten. Er rückt überdies ein Thema in den Mittelpunkt, das seine Interpreten, geblendet von der Theater-, Spiel- und Rahmenmetapher, bestenfalls am Rande behandelten. Allerdings steht die Interaktions­ordnung nicht im Widerspruch zu diesen früheren Arbeiten. Nach einem Überblick über einige gängige Interpretationen seines Werkes (II) wollen wir uns deswegen den Schwerpunkten und Themen des Goffmanschen Werkes zuwenden (III), um sie schließlich vor dem Hintergrund von Goffmans Beschreibung der Formen und Prozesse der In­teraktionsordnung einzuordnen (IV). Obwohl früher verfaßt, erscheint Das Arrangement der Geschlechter nicht nur als eine gelungene Untersuchung darüber, wie Frauen und Männer durch die Interaktion plaziert werden; sie bietet überdies eine Darstellung über einen zentralen Ausschnitt der Interaktionsordnung, und schließlich erweist sie sich auch als bedeutungsvoll für weitere Untersuchungen (V).

Das Arrangement der Geschlechter

Das Geschlecht dient in modernen Industriegesellschaften, und offenbar auch in allen anderen, als Grundlage eines zentralen Codes, demgemäß soziale Interaktionen und soziale Strukturen aufgebaut sind; ein Code, der auch die Vorstellungen der Einzelnen von ihrer grundlegenden menschlichen Natur entscheidend prägt. Dies ist eine gängige Ansicht, doch bis vor kurzem blieb uns ihre verwirrend vielschichtige Bedeutung verborgen. Denn die herkömmliche soziologische – scheinbar ausreichend klare – Auffassung, das Geschlecht sei ein "erlerntes, diffuses Rollenverhalten", hat frühere Generationen von Sozialwissenschaftlern offenbar eher gegen Erkenntnisse immunisiert, als daß sie dieser "Seuche" eine Ausbreitung erlaubt hätte. Diese Forscher handelten, noch deutlicher als sie es beim Phänomen der sozialen Klassen getan haben, einfach wie alle anderen Menschen: Sie stützten durch ihr eigenes Verhalten blindlings genau das, was wenigstens einige von ihnen hätten in Frage stellen sollen. Und wie in letzter Zeit üblich, mußten wir von den Betroffenen selbst an unseren eigentlichen Forschungsgegenstand erinnert werden.

Ich möchte hier versuchen, diese Fragen aus dem Blickwinkel sozialer Situationen und der darin aufrechterhaltenen öffentlichen Ordnung zu klären. (Unter einer sozialen Situation verstehe ich jeden räumlichen Schauplatz, auf dem sich eine eintretende Person der unmittelbaren Gegenwart einer oder mehrerer anderer ausgesetzt findet; und unter einer Zusammenkunft alle dort anwesenden Personen, auch wenn sie nur durch die Prinzipien der höflichen Unaufmerksamkeit oder, noch weniger, der gegenseitigen Verletzbarkeit miteinander verbunden sind.)

Aufgrund ihrer biologischen Gestalt können Frauen Kinder gebären, Kinder stillen und menstruieren, Männer jedoch nicht. Zudem sind Frauen im Durchschnitt kleiner, haben leichtere Knochen und weniger Muskeln als Männer. Etwas organisatorischer Aufwand wäre nötig, wenn auch unter modernen Bedingungen nicht allzu viel, wollte man spürbare soziale Folgen dieser körperlichen Gegebenheiten verhindern. Industriegesellschaften können neue ethnische Gruppen verkraften, die beträchtliche kulturelle Unterschiede aufweisen, ebenso den ein Jahr oder länger dauernden Wehrdienst junger Männer, enorme Bildungsunterschiede, Wirtschafts- und Arbeitsmarktzyklen, die kriegsbedingte Abwesenheit von Männern jeder Generation, einschneidende jährliche Ferienperioden und zahllose andere Turbulenzen der öffentlichen Ordnung. In meinen Augen ist es ziemlich fraglich, ob unser System der sozialen Organisation überhaupt irgendwelche notwendigen Kennzeichen aufweist. Genauer gesagt: Um die – im Vergleich zu allen anderen – geringen biologischen Unterschiede als Ursachen derjenigen sozialen Konsequenzen ansehen zu können, die scheinbar selbstverständlich aus ihnen folgen, bedarf es eines umfassenden, geschlossenen Bündels sozialer Glaubensvorstellungen und Praktiken, das zusammenhängend und komplex genug ist, um die Wiederauferstehung altmodischer funktionalistischer Ansätze zu seiner Analyse zu rechtfertigen. (Vielleicht sind hierzu die traditionellen Begriffe Durkheims besonders gut geeignet, weil wir in dieser Angelegenheit alle Priester oder Nonnen sind und nur zusammenkommen müssen, damit ein anbetungswürdiger Anlaß entsteht.) Nicht die sozialen Konsequenzen der angeborenen Geschlechtsunterschiede bedürfen also einer Erklärung, sondern vielmehr wie diese Unterschiede als Garanten für unsere sozialen Arrangements geltend gemacht wurden (und werden) und, mehr noch, wie die institutionellen Mechanismen der Gesellschaft sicherstellen konnten, daß uns diese Erklärungen stichhaltig erscheinen. (In der Tat könnte man behaupten, daß die wichtigste Errungenschaft der Frauenbewegung nicht die unmittelbare Verbesserung der Lebensumstände vieler Frauen ist, sondern die Schwächung derjenigen dogmatischen Überzeugungen, die ehemals die geschlechtsspezifische Arbeits- und Einkommensteilung untermauert haben.) Bei all dem haben wir es mit etwas zu tun, das "institutionelle Reflexivität" genannt werden könnte – um einen neumodischen Ausdruck für einen alten kulturanthropologischen Grundsatz zu verwenden.

In allen Gesellschaften werden Kleinkinder bei ihrer Geburt der einen oder anderen Geschlechtsklasse zugeordnet, wobei diese Zuordnung durch das Ansehen des nackten Kinderkörpers, insbesondere der sichtlich dimorphen Genitalien geschieht – eine Zuordnungspraxis, die derjeningen ähnelt, die bei Haustieren vorgenommen wird. Diese Zuordnung aufgrund der körperlichen Gestalt erlaubt die Verleihung einer an das Geschlecht gebundenen Identifikationsetikette (Mann-Frau, männlich-weiblich, Junge-Mädchen, er-sie) In den verschiedenen Phasen des individuellen Wachstums wird diese Klassifizierung durch Kategorien für weitere körperliche Anzeichen bestätigt, von denen einige dem allgemeinen Wissensbestand angehören, andere (wenigstens in modernen Gesellschaften) von den Wissenschaften entwickelt wurden und beispielsweise als Chromosomen, Gonaden und Hormone bezeichnet werden. Jedenfalls betrifft die Einordnung in die Geschlechtsklassen fast ausnahmslos die gesamte Population und beansprucht lebenslange Geltung. Somit liefert sie ein Musterbeispiel, wenn nicht sogar den Prototyp einer sozialen Klassifikation. Zudem scheint uns in modernen Gesellschaften die soziale Einteilung in Frauen und Männer in völligem und getreuem Einklang mit unserem "biologischen Erbe" zu stehen und kann daher unter keinen Umständen verleugnet werden. Hier haben wir es mit einer einzigartigen Übereinstimmung zwischen dem unmittelbaren Verständnis der einfachen Leute und den Erkenntnissen aus Forschungslaboratorien zu tun. (So sind Laien auch bereit, der berühmten These Margaret Meads zuzustimmen, die besagt, daß der Charakter kulturell und nicht biologisch determiniert ist; daß Frauen ziemlich fähige Zahnärzte und sogar Feuerwehrleute sein können; daß es bloß eine auf die Sprache beschränkte Einseitigkeit sei, deren Regeln vorschreiben, daß (im Deutschen) "er" statt "sie", "Mann" statt "Frau", "sein" statt "ihr" bevorzugt verwendet werden, daß in Sätzen, die beide Geschlechter verbinden, "man" an die Stelle der Menschheit treten und "sein" als korrektes Possesivpronomen für neutrale Begriffe wie "Individuum" gelten kann und daß männliche Formen keiner besonderen Markierung bedürfen. Obwohl aber Laien diese Konzessionen machen, sehen sie, ebenso wie Margaret Mead (und anscheinend auch ich), keinen Grund zu bestreiten, daß die Worte "er" und "sie" als Bezeichnungen für die infragestehenden Personen völlig angemessen sind).

Ich möchte deshalb wiederholen, daß ich unter dem Begriff Geschlechtsklasse" ("sex class") eine rein soziologische Kategorie verstehe, die sich allein auf diese Disziplin und nicht auf die Biowissenschaften bezieht.

In allen Gesellschaften bildet die anfängliche Zuordnung zu einer Geschlechtsklasse den ersten Schritt in einem fortwährenden Sortierungsvorgang, der die Angehörigen beider Klassen einer unterschiedlichen Sozialisation unterwirft. Von Anfang an werden die der männlichen und die der weiblichen Klasse zugeordneten Personen unterschiedlich behandelt, sie machen verschiedene Erfahrungen, dürfen andere Erwartungen stellen und müssen andere erfüllen. Als Folge davon lagert sich eine geschlechtsklassenspezifische Weise der äußeren Erscheinung, des Handelns und Fühlens objektiv über das biologische Muster, die dieses ausbaut, mißachtet oder durchkreuzt. Jede Gesellschaft bildet auf diese Weise Geschlechtsklassen aus, wenn auch jede auf ihre je eigene Art. Aus der Perspektive des Forschers, der Individuen typisiert, kann dieser Komplex als "soziales Geschlecht"40 bezeichnet werden; soll eine Gesellschaft charakterisiert werden, kann dieser Komplex geschlechtsspezifische Subkultur genannt werden. Obwohl das soziale Geschlecht ("gender") keine biologische, sondern nahezu völlig eine soziale Folge der Funktionsweisen einer Gesellschaft ist, findet diese Folge einen sichtbaren Ausdruck. Sicherlich kann eine ganze Population im Unwissen über einen bestimmten Geschlechtsunterschied leben oder sogar eine falsche Auffassung davon haben, und dennoch kann dieser Unterschied vorhanden sein, nicht aufgrund der Biologie, sondern aufgrund der sozialen Erfahrungen, die die Angehörigen der jeweiligen Geschlechtsklassen miteinander teilen.

Jede Gesellschaft scheint ihre eigenen Konzepte davon zu entwickeln, was das "Wesentliche" und das Charakteristische an den beiden Geschlechtsklassen ist, wobei diese Konzepte sowohl lobens- als auch tadelnswerte Züge einschließen. Dazu gehören Idealbilder von Männlichkeit und Weiblichkeit, weiterhin Vorstellungen von der grundsätzlichen Natur des Menschen, die (zumindest in den westlichen Kulturen) wesentlich zur Bestimmung dessen beitragen, was die ganze Person sein soll. Diese Konzepte stellen einen Fundus an Erklärungen zur Verfügung, der auf tausenderlei Arten zur Entschuldigung, Rechtfertigung, Erläuterung oder Mißbilligung von individuellen Handlungsweisen oder Lebensumständen genutzt werden kann. Diese Erklärungen können sowohl von den Betroffenen geliefert werden wie auch von den Personen, die sich stellvertretend für die Betroffenen bemüßigt fühlen, Gründe zu liefern. Normen von Männlichkeit und Weiblichkeit beziehen sich also auf objektive (obwohl zum größten Teil sozial erworbene) Unterschiede zwischen den Geschlechtsklassen, sie stimmen aber, wie gesagt, nicht völlig mit diesen Unterschieden überein: Einige dieser Unterschiede decken die Normen nicht ab, andere ordnen sie falsch zu, und offensichtlich erklären sie eine ganze Reihe dieser Unterschiede mithilfe einer fragwürdigen Lehre – in unserer Gesellschaft mit der Lehre von der biologischen Festlegung.

Insoweit nun das Individuum ein Gefühl dafür, was und wie es ist, durch die Bezugnahme auf seine Geschlechtsklasse entwickelt und sich selbst hinsichtlich der Idealvorstellungen von Männlichkeit (oder Weiblichkeit) beurteilt, kann von einer Geschlechts­identität (gender identity) gesprochen werden. Anscheinend ist diese Quelle zur Selbst­identifikation eine der wichtigsten, die unsere Gesellschaft zur Verfügung stellt, vielleicht noch wichtiger als Altersstufen. Droht eine Trübung oder Veränderung dieser Idealbilder, so wird dies niemals auf die leichte Schulter genommen.

Den Begriff "Sexualität" ("sexuality") möchte ich auf Handlungsmuster beziehen, die mit sexueller Stimulierung und sexueller Erfahrung zu tun haben, und mit den Verlockungen zu diesen Handlungsweisen, welche kulturspezifische Formen der äußeren Erscheinung, der Kleidung, des Stils, der Gesten und ähnlichem, annehmen. Offensichtlich ist ein großer Teil des Sexualverhaltens an die Geschlechtsklassen gebunden und macht deshalb auch einen Teil des sozialen Geschlechts aus. Wahrscheinlich gibt es jedoch sexuelle Praktiken, die nicht nur in einer Geschlechtsklasse vorkommen, sondern gleichermaßen in beiden auftreten. Wichtiger ist jedoch, daß die Sexualität einen biologischen Lebenszyklus aufzuweisen scheint, demgemäß sie in der Kindheit in sehr geringem Maß ausgeprägt ist, im jungen Erwachsenenalter dagegen sehr stark, und sich dann im höheren Alter wieder legt. Dieser Zyklus findet natürlich seinen Ausdruck in der Ausbildung und Rückbildung der sogenannten sekundären Geschlechtsmerkmale, die hier deswegen von Belang sind, weil die sozialen Idealbilder von Männlichkeit und Weiblichkeit oft an diese Merkmale geknüpft sind. Das Geschlecht als solches entwickelt sich indessen kaum. Eine Ausnahme bildet die Sitte einiger Gesellschaften, junge Männer in bestimmten Hinsichten als Bestandteil der Frauengruppe anzusehen. In diesen Fällen wandelt sich das von der Geschlechtsklasse abhängige Verhalten während des Lebenslaufs eines Individuums in einer geregelten, vorgegebenen Art und Weise und spiegelt nicht unbedingt eine einheitliche innere Entwicklung wider. Es sollte klar geworden sein, daß soziales Geschlecht und Sexualität nicht ein und dieselbe Sache sind; in meinen Augen wenigstens versucht ein siebenjähriger Junge, der seiner Großmutter mannhaft aus freien Stücken mit ihren schweren Paketen hilft, nicht, bei ihr zu landen.

Anscheinend stehen die Glaubensvorstellungen von sozialem Geschlecht, Männlichkeit, Weiblichkeit und Sexualität in einem engen Wechselspiel mit dem tatsächlichen Verhalten der Geschlechter, und hier spielt vermutlich auch popularisiertes sozialwissenschaftliches Wissen eine wichtige Rolle. Forschungserkenntnisse über das soziale Geschlecht und die Sexualität, seien sie nun gut oder schlecht begründet, werden den normativen Vorstellungen von Männlichkeit bzw. Weiblichkeit selektiv – und manchmal erstaunlich schnell – einverleibt. Durch eine solche Quelle gestärkt, können sich diese Idealbilder dann als selbsterfüllende Prophezeiungen auf das tatsächliche Verhalten der Geschlechter auswirken. Dennoch sind die Glaubensvorstellungen von Männlichkeit-Weiblichkeit und Sexualität selbst kein Bestandteil des sozialen Geschlechts. Wenn sie auf andere Weise verknüpft werden als zwischen den Geschlechtsklassen, können sie jedoch zu einem wesentlichen Teil des sozialen Geschlechts werden.
Jede der beiden Geschlechtsklassen unterstützt ihr eigenes Muster interner sozialer Beziehungen, aus dem dann Institutionen wie Männerbünde (old boy networks), Stammtische, Frauenzirkel41 und ähnliches hervorgehen.

Zwei abschließende Mahnungen. Wenn wir uns auf ein Merkmal des sozialen Geschlechts beziehen, nennen wir es kurz "geschlechtsspezifisch" (oder "geschlechtsabhängig"), um die eher umständliche Wendung "geschlechtsklassenspezifisch" zu vermeiden. Natürlich ist es auch sehr naheliegend, von "den Geschlechtern", dem "Gegengeschlechtlichen", dem "anderen Geschlecht" und so weiter zu reden, und auch ich werde das tun. Dennoch ist diese Verkürzung mit Gefahren verbunden, insbesondere weil sich diese Begrifflichkeiten mit unseren kulturellen Stereotypen decken. Man sollte sich aber das Geschlecht eher als eine Eigenschaft von Organismen vorstellen, nicht als eine ihrer Klassen. Zweifellos hängen "sekundäre Geschlechtsmerkmale" mit der Sexualität zusammen, doch führt es in die Irre, diese Attribute als geschlechtsspezifisch zu bezeichnen. Denn so deutet man implizit die Existenz einer Personenkategorie an, die im Grunde durch biologische Aspekte definiert wird und auch so definierbar ist. Wie gesagt können die sekundären Geschlechtsmerkmale im großen und ganzen tatsächlich mit den Geschlechtsklassen in Verbindung gebracht werden. Beide Klassen weisen aber eine Reihe nicht biologisch bedingter Eigenschaften und Verhaltensweisen auf, in denen sie sich zusätzlich unterscheiden. Dahinter verbirgt sich jedoch offensichtlich ein noch viel schwierigeres Problem. Haben wir uns erst einmal auf die Definition einer Klasse von Personen geeinigt, in unserem Fall auf die des Geschlechts, dann erscheint uns leicht jedes passende Etikett, das wir ihren Mitgliedern anheften – in unserem Fall "Männer", "Frauen", "männlich", "weiblich", "er", "sie" – zur Charakterisierung, Symbolisierung und erschöpfenden Abbildung dieser Klasse angemessen. So erklärt man eine Eigenschaft zum Eimer, in den die anderen Eigenschaften lediglich hineingeleert werden.

Die zweite Mahnung bezieht sich auf die Begriffe "Charakterzüge", "Eigenschaften" und "Handlungsweisen". Ein Beispiel: Buben prügeln sich auf normalen amerikanischen Mittelschichtsspielplätzen häufiger als Mädchen, und darum könnte man Prügeln als eine Handlungsweise der männlichen Geschlechtsklasse ansehen. Wenn ich hier von einer Handlungsweise "der männlichen Geschlechtsklasse" spreche, meine ich damit, daß dieses Verhalten nicht nur irgendwie von einzelnen männlichen Körpern ausgeführt wird, sondern daß es auch durch etwas motiviert und gestaltet ist, das den einzelnen Körpern innewohnt. Ich meine, daß dieses Verhalten nicht bloß als eine Reaktionen der Individuen auf eine formal festgesetzte Regel angesehen werden kann. Man könnte hier von einem Genderismus42 sprechen, das heißt von einer geschlechtsklassengebundenen individuellen Verhaltensweise. Erinnern wir uns an die in der letzten Generation auf Schulhöfen übliche Praxis, Schüler und Schülerinnen, bevor sie nach einer Pause wieder die Schule betraten, vor der Tür in zwei nach Geschlechtern getrennten Schlangen aufzustellen, vermutlich damit sie beim Eintreten Zucht und Ordnung bewahrten. Obwohl nun eine solche Aufstellung zweifellos Glaubensvorstellungen über die Unterschiede der Geschlechtsklassen zum Ausdruck brachte und obwohl sie sicherlich aus geschlechtsklassenabhängigem Verhalten gebildet war, können die von den jeweiligen Geschlechtsgenossen und -genossinnen gebildeten Schlangen dennoch nicht einfach als eine Verhaltensweise angesehen werden, die von Personen verantwortet und ausgeführt wurde, also als ein Genderismus. Wenn überhaupt, dann haben wir es hier höchstens mit einem institutionalisierten Genderismus zu tun, mit dem Verhaltensmerkmal einer Organisation und nicht mit dem einer Person. Das In-der-Schlange-stehen könnte zwar als von Individuen vollzogen gelten, es bliebe dann aber als solches nicht länger geschlechtspezifisch, da es sich ja um eine Verhaltensweise handelt, die beide Klassen gleichermaßen aufweisen. Wir könnten hinzufügen, daß die Schlangen selbst nur ein einfaches – sogar ein geometrisches – Beispiel für eine parallele Organisation sind, für ein Arrangement, in dem ähnliche Dienstleistungen, ähnliche Rechte und Pflichten aufgeteilt werden. Wie bei den parallelen Organisationen, die sich an anderen binären sozialen Klassifizierungen festmachen – Schwarze-Weiße, Erwachsene-Kinder, Offiziere-Rekruten und so weiter –, bietet die auf dem Geschlecht basierende parallele Organisation einen leicht handhabbaren Ausgangspunkt für die Etablierung einer unterschiedlichen Behandlung der Geschlechter, wobei die angedeuteten Entwicklungen mit den behaupteten Charakterunterschieden zwischen den beiden Klassen vereinbar und stimmig zu sein scheinen. Um wieder auf das einfache Beispiel zurückzukommen: Wenn Kinder einmal dazu gebracht wurden, nach Geschlechtern getrennte Schlangen zu bilden, dann kann auch leicht veranlaßt werden, daß die weibliche vor der männlichen Schlange ins Haus geht, vermutlich um dem "zarteren" Geschlecht beim Verlassen der rauhen Außenwelt den Vortritt zu geben und um so beiden Geschlechtern eine kleine Lektion über die korrekte Rücksichtnahme auf das soziale Geschlecht zu erteilen.

In beinahe allen bekannten Gesellschaften scheinen sich Schlafen, Kindererziehen und (in geringerem Ausmaß) Nahrungsaufnahme tendenziell in kleinen Haushalten abzuspielen, wobei diese Funktionen – besonders in modernen Gesellschaften – um ein verheiratetes, sich fortpflanzendes Paar herum erfüllt werden. Auf diese Weise werden im allgemeinen die sozialen Rollen von Männern und Frauen deutlich ausdifferenziert. Ganz nebenbei erhalten Frauen dabei den niedrigeren Rang und weniger Macht, wird ihr Zugang zum öffentlichen Raum eingeschränkt, werden Frauen von der Kriegführung und der Jagd, häufig auch von religiösen und politischen Ämtern ausgeschlossen; insgesamt wird das Leben der Frauen in weitaus größerem Maß als das der Männer von Haushaltspflichten bestimmt. Dieses Bündel von Arrangements zieht sich als ein zentrales Kennzeichen durch alle menschlichen sozialen Organisationen hindurch, so daß die übliche Unterscheidung von primitiven und zivilisierten Gesellschaften schwierig wird. Es wäre interessant, die Ursachen dieser Tatsachen zu kennen, falls sie tatsächlich jemals enthüllt werden können. (Die enorme Vereinfachung sozialer Organisation durch die Aufgliederung nach Geschlecht und Abstammungslinien spielt dabei vielleicht eine Rolle).
Von noch größerem Interesse ist aber der ideologische Nutzen, zu dem diese Phänomene beigetragen haben. Denn dieses in allen Gesellschaften vorkommende Muster hat uns in die Lage gesetzt, die Verhältnisse in unserer eigenen industriellen Welt mit dem Verweis auf die Verhältnisse in kleinen, schriftlosen Gesellschaften zu erklären – dies gibt uns in der Tat erst ein gewisses Recht dazu, den Begriff "Gesellschaft" überhaupt zu verwenden, und hält uns dazu an, die ganze Entwicklungslinie bis zu den nichtmenschlichen Primaten zurückzuverfolgen und so zu einer grundlegend biologischen Betrachtung der menschlichen Natur zu gelangen. Meiner Meinung nach wurde die Lehre, die uns andere Gesellschaften – von anderen Gattungen ganz zu schweigen – erteilen können, bislang noch nicht stimmig genug in Form gesicherter Aussagen formuliert, die zu Lehrzwecken verwendet werden könnten, und so werde auch ich mich auf das Hier und Jetzt beschränken.
Wenn wir Frauen nur als eine unter anderen in modernen Gesellschaften benachteiligte Gruppe ansehen – was wir meiner Meinung nach tun sollten –, dann bietet sich der Vergleich mit anderen Gruppen dieser Art von selbst an. Dadurch können wir eine Antwort auf die Frage finden, wo Frauen auf der Skala der ungerecht Behandelten zu verorten sind. Vermutlich lautet die Antwort auf diesen Versuch der Verortung: nicht sehr weit unten. In der ethnischen und sozialen Schichtung der amerikanischen Gesellschaft sind die Frauen den Männern mehr oder weniger gleichgestellt; welche sozialen Vor- oder Nachteile diese Variablen auch immer für Männer haben mögen, sie gelten in gleicher Weise für Frauen. Ebenso besteht ein hohes Maß an Gleichheit zwischen den Geschlechtern im Hinblick auf die Erbregelungen, Bildungschancen (wenigstens bis zum niedrigsten akademischen Grad), individuelle Konsummöglichkeiten, die meisten gesetzlichen Rechte und die Liebe und Achtung ihrer Kinder. Die Frauen sind im Nachteil, wenn es um die Bezahlung ihrer Arbeit und um erreichte Dienstgrade geht, um den Zugang zu bestimmten Berufen und zu Kreditquellen, um das Namensrecht und um den Anspruch auf die Nutzung öffentlicher Straßen und Plätze. (Einige dieser Benachteilungen verlieren sich infolge der Modernisierung und der Bevölkerungskontrollmaßnahmen.) Und wir könnten sogar behaupten, daß Frauen in gewisser Hinsicht bevorzugt werden: Sie sind in der Regel vom Militärdienst befreit, sie werden teilweise oder ganz von bestimmten Arten körperlicher Arbeit ausgenommen, und sie genießen angenehme Höflichkeiten verschiedener Art – doch auch diese Vorteile fallen vermutlich der zunehmenden Modernisierung zum Opfer.
Diese Betrachtung der Lage der Frauen mag für die Sozialpolitik und für politische Aktionen einigen Nutzen haben, sie ist jedoch für unsere Zwecke zu grob. (Der soziologisch interessante Aspekt an einer benachteiligten Gruppe ist nicht die Schmerzlichkeit ihrer Benachteiligung, sondern der Einfluß der Sozialstruktur auf die Entstehung und Stabilität der Benachteiligung). Der interessante Punkt ist also nicht, daß Frauen weniger bekommen, sondern in welchen Arrangements dies geschieht und welche symbolische Bedeutung diesen Arrangements zukommt.

Wenn wir davon ausgehen, daß der private Haushalt mit der vollständigen oder unvollständigen Kernfamilie eine Grundeinheit unserer Gesellschaft bildet und daß diese Grundeinheiten in eine hinsichtlich Klasse, Hautfarbe und Ethnie einigermaßen homogene Gemeinschaft eingebettet sind, und wenn wir Zwangsinstitutionen einmal beiseite lassen, dann können wir mit gutem Grund zwei Typen von benachteiligten Gruppen unterscheiden: solche, die als ganze Familien oder Wohnviertel ausgegrenzt werden können und selbst auch dazu tendieren, und solche, die das nicht tun. Schwarze sind ein Beispiel für die erste Kategorie, Körperbehinderte für die zweite. Unter den nicht-ausgegrenzten Gruppen von Benachteiligten stehen die Frauen eher am Rand. Andere nicht-ausgegrenzte Gruppen von Benachteiligten, wie etwa Blinde, stark Übergewichtige oder ehemals Geisteskranke, sind einigermaßen gleichmäßig über die Sozialstruktur verstreut. (Gewisse Konzentrationen können innerhalb bestimmter ethnischer Gruppen, Altersklassen, Schichten oder Geschlechtsklassen auftreten, ihr Vorkommen ist jedoch eher selten.) Das trifft auf Frauen nicht zu: Sie sind als Mädchen gleichmäßig auf die Haushalte verteilt und dann später, noch immer gleichmäßig, auf andere Haushalte als Ehefrauen. Im ersten Fall stellt die Natur ein Gleichgewicht zwischen den Geschlechtern her; im zweiten erlauben Gesetz und Sitte nur eine Frau pro Haushalt, fordern aber auch nachdrücklich die Anwesenheit dieser einen.

...

Download
zurück zu Goffman