Auszüge aus Erving Goffman's
"Verhalten in sozialen Situationen"

Strukturen und Regeln der Interaktion im öffentlichen Raum

zurück zu Goffman

 

Geleitwort zur deutschen Ausgabe

Unsere Gesellschaft entdeckt ihre Zukunft. Die in den Medien, in der Tagungsindustrie und auf dem Büchermarkt gängigen Themen weisen das aus. Der Exodus aus der leidigen Gegenwart, von dem bisher wirkungsvollsten aller Soziologen, Karl Marx begonnen, gewinnt an Breite. Die Faszination, die noch heute von Namen wie Kennedy ausgeht, hat nicht zuletzt in deren Orientierung an der Zukunft ihren Grund.

Als die Methode, Zukunft zu bewältigen, gilt die Planung. Geplant wird heute allerorten, und immer mehr Ordnungsvollzüge werden Planung genannt. Daher steigt die Zahl der Planer. Weitaus schneller noch steigt die ihnen gegenüber gehegte Erwartung. Von ihnen wird erhofft, daß sie die Last der bestehenden Probleme wegplanen und die Gesellschaft der Zukunft errichten. Wie groß man den Abstand zwischen Erwartung und möglicher Realisierung auch einschätzen mag, sicher scheint zu sein, daß räumliche und städtebauliche Planung ein härteres Geschäft wird. Schon beginnt sich abzuzeichnen, daß Planer zu Zielfiguren allgemeinen Unmuts werden.

Für dieses Umschlagen angesichts zunehmender Erwartungen gibt es Gründe. Zum einen sehen sich die Planungsbemühungen mit immer komplexeren Umwelten konfrontiert. Zum anderen sind technische, vor allem aber soziale Entwicklungen in immer geringerem Maße prognostizierbar. Jede veröffentlichte Prognose sozialer Trends wirkt über das Bewußtsein auf das soziale Verhalten zurück. Manche Prognosen werden geradezu mit der Absicht aufgestellt, entsprechendes Verhalten zu erzeugen. Der schlichte Sachverhalt, daß Prognosen ihre wie auch immer gearteten Auswirkungen haben, vernichtet ihre Objektivität.

Derartige Schwierigkeiten entlassen nicht aus der Pflicht zur Vorausschau. Geplant muß werden. Andere an sich denkbare Wege, in der von uns hervorgebrachten Welt zu überleben, sind nicht mehr gangbar. Der sich beschleunigende technische und soziale Wandel muß, sozusagen als Materialkonstante, in die Planung mit aufgenommen werden. Das gilt in besonderer Weise gerade dort, wo unsere Gesellschaft ihrer eigenen Zukunft schon seit eh und je harte und langlebige Formen vorgegeben hat, nämlich in den Bereichen der rechtlichen und der baulichen Fixierung. Gesellschaftliche Normierungen und institutionalisierte Erwartungen, umbaute Räume und trassierte Verkehrswege legen Entwicklungen auf nur schwer veränderbare Weise fest. Einbeziehung des Wandels kann hier nur heißen, daß bestimmte Möglichkeiten der Entwicklung nicht völlig zugebaut werden. Entfaltungsräume und Fortschreibungsmöglichkeiten sind mit einzuplanen.

Hier entstehen immense Datenerfassungs- und Informationsverarbeitungsprobleme. Welche Faktoren sind für eine Entwicklung überhaupt relevant? Wie können sie erfaßt werden? Ehe sich Datenmassen, wie sie heute zum Beispiel in der Astronomie oder Meteorologie laufend anfallen, sinnvoll verwenden lassen, mußten in zäher Kleinarbeit die belangvollen Dimensionen eröffnet werden, in denen Informationen gesammelt werden können. Am Anfang eines solchen Vorhabens stehen Beobachtungen und Definition sogenannter Fakten. Eine Fülle von Versuchsanordnungen muß durchgespielt, Unmengen mehr oder weniger wichtiger Beobachtungen müssen registriert werden, bevor die Matrizen erstellt werden können, die die relevanten Informationen kanalisieren. Das gilt insbesondere für den so lange vernachlässigten sozialwissenschaftlichen Bereich. Gerade die hier zu erhebenden Daten sind für räumliche und städtebauliche Entwicklung von entscheidender Bedeutung. Die Steuerung solcher Entwicklungen setzt damit Forschungsvorhaben gigantischen Ausmaßes voraus.

Informationsbeschaffung ist mit Kosten verbunden. Sie können im einzelnen Fall so hoch ansteigen, daß sie den erstrebten Nutzen verzehren. Es gibt demnach Grenzen, über die hinaus weitere Informationsbemühungen nicht mehr vertretbar sind. Statt alles zu bedenken, wird man sich entscheiden müssen, was man für wesentlich halten will. Die vorliegende Untersuchung hat ihre Wahl angesichts der bisherigen thematischen Schwerpunkte der klassischen Soziologie und der heutigen soziologischen Forschung getroffen. Sie wendet sich mikrosozialen Zusammenhängen zu. Was sie untersucht, ist eher alltäglich als exzeptionell. Beim Herauspräparieren der Strukturen des Alltäglichen dient ihr das Abnorme als Folie.

Das Ergebnis dieses sozialwissenschaftlich geschulten Hinsehens besteht im wesentlichen darin, daß die Härte der Reglementierung von Verhalten sichtbar wird. Was für Familie, Schule, Militäreinheit oder Produktionsbetrieb hinlänglich belegt ist, gilt offenbar auch für Situationen im vorinstitutionellen Raum. Unser Verhalten erweist sich als sozial bedingt, auf der belebten Straße, im öffentlichen Waschraum oder auf der Ruhewiese eines Parks. Was sich als spontaner und unmittelbarer Ausdruck seiner selbst darstellt, ist disziplinierte, durch soziale Kontrolle gesicherte Reaktion auf präformierte Situationen. Derartige Reglementierungen sind dabei so gründlich internalisiert, daß dem Einzelnen im Vollzug der Handlung gar nicht mehr bewußt wird, wie sehr er damit festliegenden Vorschriften folgt. So konnte für das alltägliche Verhalten in sozialen Situationen der Eindruck des Selbstverständlichen vorherrschen, das zu geläufig ist, um noch wissenschaftlich interessant zu sein.

Die sozialen Funktionen einer solchen Reglementierung sind dem soziologisch Interessierten aus anderen Zusammenhängen bekannt. Die Eingrenzung von Verhalten auf bestimmte Verhaltensvorlagen wird in der Regel nicht als Beengung empfunden. Der Rückgriff auf repetitiv zu vollziehende Muster befreit vom Zwang zur Originalität. Arnold Gehlen hat aufgewiesen, welche Bedeutung dieser "Entlastung" durch Routinisierung für die Entwicklung des Einzelnen und der Kultur zukommt.

Die Reglementierung von Verhalten hat neben der entlastenden eine ordnende Funktion. Arbeitsteilung, Verteilung von Chancen und Lasten, Periodisierung des Lebens, Wahrung der Positionen, all das wird durch darstellendes Verhalten gesichert und legitimiert. Reglementiertes Verhalten als Einverständnis über Situationen sichert den Beteiligten darüber hinaus ihre Selbstidentität. Die Zerbrechlichkeit und grundsätzliche Gefährdung der subjektiven Identität wird etwa bei Georg H. Mead oder bei Anselm Strauss angesprochen. Wer wir sind, das erfahren wir vom "signifikanten Anderen". Letztlich wird uns, wer wir "wirklich" sind, aus symbolischen Sinnwelten zugesprochen. Das weiß für uns – wie Berger/Luckmann treffend formulieren – die Kirche oder die Psychiatrie oder die Partei. Was dort vorgehalten wird, wird in sozialen Situationen vermittelt, in denen sich Menschen tausendfältig gegenseitig ihre Selbstidentität garantieren.

Schließlich sichert Reglementierung von Verhalten in sozialen Situationen auch vor der direkten Bedrohung durch den Anderen. Körperliche Anwesenheit bedeutet eine grundsätzliche Gefährdung. Erst die Ordnung der Situation macht die beruhigenden Signale des Anderen verständlich. Reglementierung ermöglicht damit überhaupt erst Zusammensein.

Für die Reglementierung von Verhalten im öffentlichen Raum weist Goffman auch bei unterschiedlichen sozialen Situationen durchgängige Strukturen auf. Damit wird ein Raster angeboten, wie er für eine andere soziologische Formation – nämlich die Gruppe – von George Homans, allerdings viel eingehender, erarbeitet worden ist. Im Zusammenwirken der Arbeiter eines Elektroapparatesaals, im Leben einer Südseeinsel-Großfamilie wie auch im Umgang von dreizehn jugendlichen Bandenmitgliedern einer US-Großstadt lassen sich jeweils ein inneres und ein äußeres System und die gleichen Mechanismen mit denselben Kategorien beschreiben. Aktivität, Interaktion, Gefühl und Norm werden seitdem in der Analyse von Gruppensituationen als Begriffe mit spezifischem Inhalt verwendet. Goffman unternimmt einen ähnlichen Versuch, und zwar für eine Form der Gesellung, die gemeinhin als unverbindlich und unstrukturiert oder vielleicht gar nicht als Gesellung gilt, nämlich für die "Zusammenkunft". Das Fazit ist immerhin bemerkenswert. Auch hier gibt es eine angebbare Struktur und präzise Erwartungen. Das Maß der Zuwendung in bestimmten Situationen liegt genau fest. Daraus läßt sich eine Typologie der Ablehnung oder Zustimmung zu situationellem Verhalten entwickeln. Dabei scheint die in diesem Zusammenhang verwendete Kategorie des "Engagements" brauchbarer als einige andere begriffliche Differenzierungen, die im Fortgang der Untersuchung vorgeschlagen werden.

Inwiefern ist nun das hier vorgelegte Material für Planer und Architekten von Interesse? Planen und Bauen heißt Räume auszugrenzen und zu fixieren. Man kann diese Verfestigungsfunktion sehr wörtlich nehmen. Allein in den Großstädten der Bundesrepublik Deutschland sind in den letzten beiden Jahrzehnten zweieinhalb Milliarden Kubikmeter Beton verarbeitet worden; das entspricht, wie Münchens Oberbürgermeister Dr. Vogel ausrechnet, achtmal dem Montblanc-Massiv. Die erstellten Räume und Anlagen bilden die Bühne für das, was hier Zusammenkunft genannt wird. Institutionen sind ein vielbeachteter Gegenstand soziologischer Forschung. Die sozialen Abläufe in Gruppen sind sehr genau beschrieben worden. Räume und Anlagen dienen jedoch weniger als vermutet Institutionen und Gruppen. Sie haben es, quantitativ gesehen, vor allem mit schlichtem Anwesendsein, mit von mehreren gleich definierten sozialen Situationen, mit Zusammenkünften zu tun. Was mit diesen Kategorien eingefangen wird, kommt einfach häufiger vor. Es bedarf der räumlichen Bühne.

Eine Anhäufung solcher Bühnen ist die Stadt. Vielleicht macht das heute am ehesten noch ihr Wesen aus. Sie ist eine Apparatur zur Vermittlung von Kontaktalternativen. Diese Qualität von Stadt ist in bestimmten ihrer Bereiche konzentriert, in anderen verdünnt vorhanden. Man kann fragen: wie sehen diese Räume aus, wo sind sie, zu welchen Zeiten sind sie das und was kostet es, daß sie das sind? Derartige Fragen werden hier nicht als explicite angeschnitten. Sie liegen aber für den Architekten und Planer nicht allzu fern, wenn ihm dargelegt wird, wo sich soziale Kontakte ergeben und wie und unter welchen Bedingungen sie ablaufen.

Über derartige Bühnen werden eine Reihe von Feststellungen getroffen. Bühnen entsprechen der räumlichen Reichweite der wahrnehmenden Sinne. Mitunter hat auf ihnen eine ganze Hierarchie von Anlässen Platz. In ihrer Auslegung und räumlichen Struktur haben sie rollenverändernde Auswirkungen. Verteilung und Abgrenzung solcher Bühnen sind keine absolute Setzung. Wir erleben heute mit, wie sie sich verschieben. Besonders auffällige Faktoren für solche Verlagerungen sind das zur Zeit gängige Konzept städtebaulicher Verdichtung und die Entwicklung neuer Techniken im Bau- und Kommunikationswesen. Verdichtete Bebauung wird mit ihren Terrassenhäusern und Stadtsystemen mehr von außen einsehbare und behörbare Räume schaffen. Das wird neue Absprachen über Verhaltensweisen notwendig machen und entstehen lassen. Was als "Wand" gelten soll, wird mancherorts neu definiert werden müssen. Neue Techniken in der Verwendung von Kunststoffen oder auch Glas werden die Zahl frei begehbarer, wetterunabhängiger Bereiche erhöhen. Solche Bühnen werden sich über Straße und Platz hinaus öffnen. Vielleicht ist der, etwa von Katrin Zapf, mancherorts registrierte Rückzug aus der öffentlichen Sphäre nur eine Übergangserscheinung, die mehr, als wir bisher bemerkt haben, mit den heute praktizierten Bauweisen zusammenhängt.

Manches von dem, was im folgenden vorgetragen wird, stellt methodisch gesehen ungesichertes Material dar. Es beruht auf einzelnen Beobachtungen. Aber gerade hier liegt auch ein spezieller Wert der Darstellung: sie ist eine Anleitung zum Sehen, ein Stück Schule für Beobachtungstechnik. Damit ist sie möglicherweise geeignet, eine Basisfertigkeit zu vermitteln, die sich in den Schlüsselpositionen der Zementierung von Zukunft heute als immer notwendiger erweist. Der Planer muß für das Einsammeln solcher relativ preiswerter Daten sensibilisiert werden: Was tut sich eigentlich in der Situation, die ich zu problematisieren habe? Was tut sich in vergleichbaren sozialen Situationen? Wenn das Buch auch streckenweise nicht leicht lesbar erscheint – schließlich sind seine Informationen weitgehend in einer bestimmten Schicht der Vereinigten Staaten gewonnen: diesen Impuls und diese Befähigung will es in der vorliegenden Reihe vermitteln. Für manchen wird hier ein neues Feld der Datengewinnung eröffnet.
Ein so in den Zwischenräumen konventionellen Denkens angesiedeltes Untersuchungsvorhaben ist zwangsläufig nicht nur für Planer interessant. In Verbänden, in Politik oder Verwaltung werden sich manche der vorgelegten Einsichten als genau so ergiebig erweisen wie für die Psychiatrie oder die Kommunikationswissenschaft. Zum anderen gewinnen die Themenkreise "Stadt" und "Umwelt" heute auch weit über Planerkreise hinaus an Attraktion. Das Großvorhaben, diese Welt menschlicher zu gestalten, hat seine eigene Faszination. Es kann mit Attitüden rechnen, die massenhaft wahrgenommen werden. Der Planung steht viel guter Wille ins Haus. Wenn aber diese Energien auf die richtigen Turbinen fließen sollen, so wird das nicht zuletzt davon abhängen, ob der persönliche Einsatz der Vielen mit der Fähigkeit zum Sehen und Verstehen ausgerüstet ist, von der die hier vorgelegte Untersuchung Zeugnis ablegt.

Wer solches liest, ist – so darf man hoffen – fürs erste verdorben für das naive Gesellschaft-an-sich-vorbei-und-ablaufen-Lassen. Er wird sich dabei ertappen, daß ihm Straßen, durch die er promeniert oder hastet, auf andere Weise ins Bewußtsein dringen als bisher. Vielleicht ergeben sich so eines Tages auch Bauten, denen man abempfindet, daß in ihre Konstruktion solche Erfahrungen eingegangen sind.

Vorbemerkung

Ein großer Teil des Materials, das diesem Bericht zugrunde liegt, wurde in den Jahren 1954-1957 zusammengetragen; ich war während dieser Jahre hospitierendes Mitglied des Laboratory of Socio-environmental Studies des National Institute of Mental Health. Die Belege aus den psychiatrischen Anstalten verdanke ich in der Hauptsache der Teilnahme an einer einjährigen Beobachtungsstudie über das soziale Zusammenleben Geisteskranker, für die das oben genannte Institut die Schirmherrschaft übernommen hatte. Ich danke dem damaligen Chef, John A. Clausen, und dem Superintendenten des Saint Elizabeths Hospital in Washington, D.C., Dr. Winfred Overholzer, daß sie mir Gelegenheit gaben, alles zu sehen, was ich zu sehen wünschte, und daß sie mir erlaubten, meine Notizen darüber zu publizieren. In gleicher Weise danke ich der Society for the Study of Human Ecology, deren Unterstützung mir es ermöglichte, im Sommer 1959 das Manuskript abzufassen. Das Center for the Integration of Social Science Theory an der Universität of California entband mich dankenswerterweise in den Jahren 1958-1960 von meinen Lehrverpflichtungen, damit ich weiter an meinem Bericht arbeiten konnte.

Ich möchte nicht versäumen, auch David Schneider, Charlotte Green Schwartz, Gregory Stone und Fred und Marcia Davis Dank zu sagen; sie alle haben an der schnellen Fertigstellung des Buches erheblichen Anteil.

Fragestellung

Wenn Psychiater Geistesstörung diagnostizieren und den klinischen Verlauf der Krankheit darstellen, sprechen sie bezeichnenderweise von Momenten im Verhalten ihrer Patienten, welche "in der Situation inadäquat" sind. Da in dieser speziellen Art von Fehlverhalten ein klares Symptom für "geistige Krankheit" gesehen wird, haben Psychiater auf solche Inadäquanzen viel Zeit verwendet. Sie haben den zu ihrer Untersuchung erforderlichen Ansatz entwickelt und die notwendigen Fähigkeiten für ihre Beobachtung erworben; sie haben sie eingehend beschrieben, sie haben versucht, ihre Bedeutung für den Patienten zu verstehen, und sich so hinreichend legitimiert, um in der wissenschaftlichen Presse darüber schreiben zu können – sich auszuweisen war deshalb notwendig, weil viele der Verstöße entweder trivial oder peinlich sind und Tabus verletzen. Wir Soziologen sollten dankbar sein für diese Ernte, um so mehr als sie von feinfühligen Händen sorgfältig eingebracht wurde. Wir können unsere Dankbarkeit bekunden, indem wir versuchen, die Früchte auf unseren eigenen Markt zu übernehmen, im Austausch mit etlichen Beobachtungen über soziale Situationen, die wir bereits vor langer Zeit aus der Anthropologie übernommen haben.

Im großen und ganzen hat die psychiatrische Erforschung situationeller Inadäquanzen dazu geführt, daß eher derjenige untersucht wird, der Regeln verletzt und soziale Kreise stört, als daß die verletzten Regeln selber unter die Lupe genommen würden. Mit ihren Untersuchungen haben die Psychiater indessen unabsichtlich und quasi nebenbei einen wichtigen Bereich des sozialen Lebens uns deutlicher bewußt gemacht – den von Verhalten an öffentlichen und halböffentlichen Orten. Auch wenn dieser Bereich der Soziologie bislang nicht als besonderes Forschungsgebiet galt, sollte man ihn vielleicht doch zu einem solchen machen, denn die Regeln für Verhalten auf Straßen, in Parks, Restaurants, Theatern, Geschäften, Tanzlokalen, Kongreßhallen und an anderen Treffpunkten, wo irgendeine Öffentlichkeit sich versammelt, sagen eine Menge über deren diffuseste Formen sozialer Organisation.

Die Soziologie bietet keinen fertigen Rahmen, in den diese Daten sich einordneten, sieht man einmal ab von äußerlichen Vergleichen und äußeren Zusammenhängen mit dem Verhalten an privaten Versammlungsorten wie Büro, Betrieb, Wohnzimmer und Küche. Zwar ist eine bestimmte Spielart "kollektiven Verhaltens" – Aufstände, Tumulte, Paniken – als Forschungsgegenstand anerkannt. Aber der restliche Teil des Bereichs, der ganz normale Umgang miteinander, die Struktur einfacher sozialer Kontakte, ist bis jetzt kaum beachtet worden. Man weiß zum Beispiel, daß die Massen plötzlich aus dem friedlichen Fluß menschlichen Umgangs ausbrechen können, wenn die Verhältnisse danach sind. Aber man verwendet kaum Aufmerksamkeit auf die Frage, welche Struktur dieser friedliche Umgang hat, solange die Formierung der Massen kein Problem darstellt. Ziel dieses Buches ist es, einen solchen Rahmen zu entwickeln. Unsere Daten entnehmen wir zum Teil einer Untersuchung über eine psychiatrische Klinik (in der Folge Central Hospital genannt), zum Teil der Untersuchung einer Gemeinde auf der Insel Shetland (zitiert als "Shetland Isle"), einige stammen aus Handbüchern über Anstand und Wohlverhalten und andere aus meinem Zettelkasten, in dem ich Zitate festhalte, die mich frappiert haben. Sicherlich sind viele dieser Daten von zweifelhaftem Wert, und auch meine Interpretationen – zumindest einige – mögen fragwürdig sein, aber ich möchte meinen, daß ein tastender und vielleicht großzügiger spekulativer Ansatz zur Erforschung eines fundamentalen Verhaltensbereichs besser ist als totale Blindheit ihm gegenüber.

Ich gehe aus von der geläufigen Unterscheidung zwischen Handlungen, die Billigung haben, und Handlungen, die als falsch und ungehörig angesehen werden. Diese einfache Dichotomie ermöglicht eine ökonomische Darstellung, unlösbar erscheinende Fragen können wir beiseite lassen, um dafür solche in den Mittelpunkt zu stellen, die vielleicht zu beantworten sind. Ehe wir uns diese Freiheit nehmen, sollten allerdings noch einige der darin implizierten Probleme erwähnt werden.

Die vorliegende Abhandlung enthält zwar einige spezifische Beispiele, die Quellen über nicht-westliche Gesellschaften entstammen, aber die meisten meiner Kommentare beziehen sich auf meine eigenen, in Amerika gesammelten Erfahrungen in Bezug auf Mittelschichtenverhalten.

Eine Handlung kann richtig oder falsch natürlich nur sein im Hinblick auf das Urteil einer besonderen sozialen Gruppe; und selbst innerhalb der kleinsten und intimsten Gruppe gibt es zuweilen Unstimmigkeiten und Zweifel. Der Grad der Unstimmigkeit oder Konsensus innerhalb einer Gruppe hinsichtlich der Angemessenheit einer Handlung – ja, sogar die Grenzen der Gruppe selbst – können nicht an meinen Behauptungen gemessen, sondern nur in systematischer empirischer Forschung konstatiert werden. Nun ist diese Abhandlung aber voll von solchen nicht-verifizierten Behauptungen; doch möchte ich diese eingestandene Schwäche nicht verwechselt sehen mit einer anderen, die ich von mir weise: an keiner Stelle in diesem Buch will irgendeine Handlung von mir persönlich als richtig oder falsch beurteilt sein, auch wenn die Darstellungsmethode diesen Eindruck gelegentlich vermitteln könnte.

Im Kontext des eben erwähnten mittelständischen Bezugspunkts sind auch meine Zitate aus Handbüchern des "Guten Benehmens" zu verstehen. Wenn Mrs. Emily Post sich darüber äußert, wie kultivierte Menschen sich verhalten und wie sich deshalb die übrigen zu verhalten haben, so werden Soziologen häufig ärgerlich. Sie haben einen guten Grund, Mrs. Post’s Äußerungen abzutun, denn sie liefert kaum Beweise dafür, daß der Kreis, von dem sie spricht, irgendeine numerische oder soziale Signifikanz aufweist, daß die ihm Zugehörigen tatsächlich so handeln und sich so verhalten, wie sie es von ihnen behauptet, oder daß diese Personen – oder x-beliebige andere – auch nur denken, man müßte sich so verhalten. Solche Zweifel unterstellen indes denjenigen, die die Etikette schriftlich fixieren, weit mehr Kreativität, als sie überhaupt besitzen. Wenn diese Autoren ihre Forderungen, was als richtig einzusehen sei, auch nicht empirisch überprüfen, so scheinen sie mir doch immer wenigstens einige der Normen zu beschreiben, die das Verhalten unserer Mittelschichten beeinflussen, auch wenn bei vielen Gelegenheiten andere Faktoren bestimmend sind. Zudem gehören diese Bücher zu den wenigen Quellen, aus denen man etwas über die Struktur öffentlichen Verhaltens in Amerika erfahren kann. Ihr Hauptnachteil – will man sie als Datenmaterial für die Sozialwissenschaft benutzen – scheint uns nicht darin zu liegen, daß die enthaltenen Statements nicht validiert sind – denn Statements lassen sich immer empirisch überprüfen –, sondern eher darin, daß diese Bücher einen bloßen Katalog adäquater Verhaltensweisen liefern, das heißt einen Katalog dessen, was sich gehört, statt eine Analyse des Normensystems, das diesen Anstandsformen zugrunde liegt.

In Amerika haben nur wenige Soziologen, darunter W. Lloyd Warner, und einige Historiker, wie Arthur M. Schlesinger, Handbücher der Etikette überhaupt beachtet; es fiele mir noch schwerer, unter den Psychiatern einen zu nennen, der bedächte, daß er mit denselben Problemen umgeht wie diese Bücher. Dabei könnte man sagen, daß ganz wesentliche Anhaltspunkte für ein systematisches Verständnis beobachtbaren Verhaltens psychisch Kranker in und außerhalb von Kliniken und der Reaktion anderer auf dieses Verhalten in solchen Handbüchern über Etikette zu finden sind.

Neben dem Problem der Beschaffung von Belegmaterial ergibt sich aus dem Gebrauch der naiven Unterscheidung zwischen gebilligtem und mißbilligtem Verhalten noch ein weiteres Problem; der Begriff der Billigung selbst ist nämlich keineswegs unschuldig, er umfaßt eine stattliche Reihe unzureichend erforschter Variablen.
Eine der Variablen betrifft das Maß an Billigung, die das Einhalten einer Regel begleitet. Manche gebilligten Handlungen werden, kaum ausgeführt, mit Beifall bedacht, so wenn Heroismus oder große Fertigkeiten im Spiele sind. Andere werden kaum wahrgenommen und stellen keinerlei Ereignis dar; so wenn eine amerikanische Schülerin statt zu ihren flachen Schuhen Nylonstrümpfe zu tragen Wadenstrümpfe anzieht.

Eine zweite Variable betrifft die Konsequenz des Versäumnisses, einer geltenden Regel zu entsprechen. Am einen Extrem stehen dabei Handlungen, die niemand verlangt und keiner erwartet, die aber dennoch zuweilen, wenn auch selten statthaben. Einige solcher Handlungen sind in Anstandsbüchern als exemplarische Fälle extremer Höflichkeit verzeichnet; sie sollen eher idealtypisch zeigen, wie die Gesellschaft aussehen sollte, denn als Rezept für den Alltag gelten. Am anderen Extrem finden wir obligatorische Handlungen, deren Versäumnis ins Gefängnis führen kann, wie etwa das Zahlen von Geldstrafen. Zwischen diesen Extremen liegen "tolerierte" Handlungen, die im Einzelfall höchstens mit Stirnrunzeln bedacht werden, sie stellen Kränkungen und Ärgernisse dar, die die betroffene Person, ausgehend vom allgemein Üblichen, durchgehen lassen muß.

Allerdings geben die beiden Variablen, Billigung und Mißbilligung, in ihren verschiedenen Kombinationen kein vollständiges Bild. Das ganze Problem wird nämlich dadurch weiter kompliziert, daß diese beiden Variablen häufig nicht einzelne konkrete Handlungen betreffen, wie das Ziehen des Huts vor einer Dame, sondern ganze Klassen von Handlungen, die sich zwar phänomenologisch unterscheiden, normativ jedoch gleich und im Normensystem austauschbar sind. Und selbst diese Kategorien unterscheiden sich wieder im Umfang. So kann zum Beispiel die Information "Abendkleid erforderlich" eine Frau zwingen, ihr einziges Abendkleid zu tragen, während die Aufforderung "Nachmittagskleid" – gleichermaßen eine normative Bestimmung – von der einzelnen Frau erfüllt werden kann in dem Gefühl der freien Auswahl zwischen ihren drei Nachmittagsensembles. Freie Wahl innerhalb einer Kategorie vorgeschriebenen Verhaltens vermag das Individuum blind zu machen gegenüber dem Zwang, den die Klasse als Ganzes ausübt.

Diese Überlegung zeigt, wieviel Schaden sich anrichten läßt, wenn zwei Situationen gleichgesetzt werden, einfach weil in beiden die gleiche Handlung "gebilligt" ist; Billigung per se kann signifikant Unterschiedliches bedeuten. Wir werden in unserer Abhandlung einer bestimmten Spezies von gebilligter Handlung zentrale Bedeutung zumessen: der "negativ bedeutsamen", die, wird sie unterlassen, negative Sanktionen auslöst, praktiziert jedoch als irgendeine Begebenheit unbeachtet bleibt.

Einleitend ist noch eine Bemerkung zu den Begriffen zu machen. Ein Begriffsmodell, das gegenwärtig in den Sozialwissenschaften eine erhebliche Rolle spielt, ist das des "geschlossenen natürlichen Systems". Solch ein System konkreten Verhaltens verlangt und bedeutet die Unterscheidung von Aktivitäten, deren gegenseitige Integration das Entstehen umfassender Funktionen ermöglicht, die erhalten werden durch ein Gleichgewicht der Interaktion zwischen den einzelnen konstitutiven Aktivitäten. Dabei kann das Gleichgewicht vermutlich ganz verschiedene Formen haben – die von Selbstkorrektur, von Initiative und ähnlichem.

Weniger kompliziert als Begriffsmodell ist das "Spiel". Beim Standardtypus, dem "Aufgehspiel" ("zero-sum"), findet ein geregelter Austausch von Initiativen zwischen einer kleinen Zahl von Mannschaften statt, wobei die Initiativen nach restringierenden [einschränkenden] Regeln verlaufen. Alle Schritte, welche die eine Mannschaft tut, summieren sich zu einer einzigen Anstrengung, die darauf abzielt, die Intention, welche der Aktivität der andern Gruppe zugrunde liegt, zu durchkreuzen – das ganze Spiel ist eine einzige entfaltete Geschichte von wechselseitig aneinander orientierten, antagonistischen [gegensätzlichen] Handlungssträngen.

Unserer Erörterung hier möchte ich einen Rahmen zugrunde legen, der viel einfacher ist als der von natürlichem System oder Spiel und der doch zugleich mehr umfaßt: das Modell der "sozialen Ordnung". Soziale Ordnung läßt sich kurz definieren als die Konsequenz jedes moralischen Normensystems, das die Art regelt, in der Personen irgendwelche Ziele verfolgen. Das Normensystem bestimmt weder die Ziele, die seine Betroffenen verfolgen, noch die Struktur, die sich in der Koordination oder Integration dieser Ziele und durch sie herausbildet, es gibt einzig die Wege an, die dorthin führen. Verkehrsregeln und die daraus sich ergebende Verkehrsordnung sind ein gutes Beispiel dafür. Zu Recht kann jedes soziale System und jedes Spiel als Beispiel einer sozialen Ordnung angesehen werden, auch wenn uns der Blick auf die sozialen Ordnungen nicht vermittelt, was an den Systemen das bezeichnend Systemhafte und an den Spielen der Spielcharakter ist.

Offensichtlich gibt es vielerlei Arten von sozialer Ordnung; wichtige Beispiele sind die rechtliche und die ökonomische. In jeder solchen Ordnung wird einfaches Verhalten transformiert in einen entsprechenden Typus von Betragen, von Verhaltensweisen. Einzelne konkrete Handlungen können dabei durchaus mit den Reglements von mehr als nur einer dieser Ordnungen übereinstimmen.

In der vorliegenden Untersuchung wollen wir versuchen, uns auf nur einen Typus von Reglementierung zu konzentrieren, und zwar auf jenen, welcher bestimmt, wie ein Mensch mit sich und anderen umzugehen habe während und auf Grund seiner unmittelbaren physischen Präsenz unter eben diesen andern, auf das also, was wir als Interaktion "von Angesicht zu Angesicht" oder als unmittelbare Interaktion bezeichnen.

An dieser Stelle ist einiges zum Terminus "öffentlich" zu sagen. Die Normen, welche die öffentliche Ordnung aufrechterhalten, und zwar öffentliche Ordnung in ihrem herkömmlichem Sinne, regeln nicht nur die unmittelbare Interaktion, sondern auch Angelegenheiten, die nicht notwendig unmittelbaren Kontakt zwischen Personen zur Folge haben: wie zum Beispiel die Auflage im Mittelalter (oft mißachtet), die Schweine nicht auf die Straße zu lassen, auch wenn es dort eine Menge für sie zu fressen gab, oder die Auflage, Licht und Feuer zu einer bestimmten Stunde zu löschen, damit die Stadt nicht der Feuergefahr ausgesetzt sei. Heutzutage ist ein Hauseigentümer verpflichtet, Straße und Trottoir in gutem Zustand und sein Stadtgrundstück frei von Müll zu halten. Außerdem betrifft die öffentliche Ordnung herkömmlich eher die Reglementierung der unmittelbaren Interaktion zwischen jenen Gliedern einer Gemeinschaft, die nicht sosehr vertraut miteinander sind, als die Interaktion, welche sich an privaten, eingehegten Orten abspielt, wo nur Bekannte zusammentreffen. Der Tradition nach gilt der Begriff "öffentliche Orte" (public places) für alle jene Areale einer Gemeinde, die ihren Mitgliedern frei zugänglich sind; "private Orte" (private places) meinen dagegen geschlossene, schalldichte Orte, an denen nur Angehörige oder dorthin Eingeladene sich versammeln. Und der Tradition nach erhält die öffentliche Ordnung erst an dem Punkt ihre Funktion, wo eine private Zusammenkunft die Nachbarn zu belästigen beginnt. Wenn wir auch diese Termini in ihrem traditionellen Sinne verwenden, so möchten wir ihnen dadurch doch keinerlei analytische Signifikanz beigemessen wissen. Für die Untersuchung von Gruppen mag die Unterscheidung zwischen primärer und sekundärer und zwischen privaten und öffentlichen Versammlungsorten sehr wohl signifikant sein, bei der Untersuchung von Zusammenkünften jedoch lassen sich zunächst alle Gelegenheiten, wo zwei oder mehrere Personen beieinander sind und kommunizieren, als eine Kategorie behandeln.

Wir werden uns also mit jener Komponente von Verhalten befassen, die im direkten Kontakt zwischen Menschen eine Rolle spielt. Wenn man auch meinen könnte, es handele sich dabei um ein Verhalten mit nur trivialem Gewicht, nur um eine Frage der Etikette und des Benimms, so hat es doch immer schon Autoren gegeben, wie etwa Della Casa, die auf seine Bedeutung und deren Grund hinwiesen:

Denn auch wenn Großzügigkeit, Loyalität und Zivilcourage zweifellos noblere und rühmlichere Qualitäten sind als Charme und Höflichkeit, so kommen doch höfliche Umgangsformen und eine korrekte Sprech- und Verhaltensweise denen, die sie praktizieren, nicht weniger zustatten als anderen ein vornehmer Geist und ein weites Herz. Denn da jeder von uns täglich mit anderen Menschen zusammen sein und mit ihnen kommunizieren muß, sind wir immer wieder auf unsere Umgangsformen verwiesen. Gerechtigkeit, Standhaftigkeit und jene anderen Tugenden von höherem und vornehmerem Rang werden viel seltener gebraucht. Nicht in jeder Minute werden Generosität oder Barmherzigkeit von uns gefordert, und niemand könnte sie ständig üben. Gleichermaßen sind jene, die Mut und Stärke besitzen, selten aufgefordert, Tapferkeit in Form von Taten zu dokumentieren.

Ehe wir fortfahren, sollten wir einige Antworten auf die Frage, was denn angemessenes öffentliches Verhalten sei, kurz erwähnen.
Es gibt viele soziale Schauplätze, die Personen von bestimmtem Status versperrt sind. Hier scheint es sich darum zu handeln, ein Eindringen in die Persönlichkeits-Grenzen, eine Störung durch unerwünschte Personen und physische Bedrohung zu verhindern.

Regeln über befugtes und unbefugtes Betreten hindern beispielsweise nicht-autorisierte Personen daran, ein privates Domizil zu jedem Zeitpunkt zu betreten und ein halböffentliches außerhalb der Öffnungszeiten. Weit weniger bekannt sind die vielen Bestimmungen, die das Recht einschränken, an frei zugänglichen, nicht eingehegten öffentlichen Orten sich aufzuhalten: So zum Beispiel das Verbot im London des 19. Jahrhunderts, welches bestimmte Massen davon ausschloß, sich in diesem oder jenem Park zu ergehen, oder der informelle Ausschluß der Allgemeinheit von Reitwegen wie Rotten Row; so die Verordnung in islamischen Städten, die in Quartiere eingeteilt sind, nach Einbruch der Dunkelheit sich aufs eigene Viertel und die eigene Nachbarschaft zu beschränken; die jeweiligen Verbote zu Zeiten, da das Kriegsrecht galt, abends und nachts außer Haus zu gehen; abendliche Polizeistunden, die es Jugendlichen unter einer bestimmten Altersgrenze verboten, ohne Begleitung durch Erwachsene unterwegs zu sein; Internatsbestimmungen, die es den Schülern untersagten, spät noch in der Stadt zu bleiben; militärische Bestimmungen, die es bestimmten Chargen verwehrten, sich da oder dort aufzuhalten; informelle Polizeibestimmungen, die nächtliche Rassentrennung auf öffentlichen Straßen in bestimmten Stadtgebieten vorsahen.

Wo solche Ausschlußbestimmungen gelten, ist es klar, daß die einfache Anwesenheit einer Person, ganz gleich welches Verhalten sie währenddessen an den Tag legt, entweder ihre Qualifikation zum Eintritt oder aber Regelwidrigkeit dokumentiert. Hierin liegt auch eines der Motive für den Wunsch, einen bestimmten Ort aufzusuchen oder dort nicht gesehen zu werden.

Ich habe gesagt, daß es bestimmten Kategorien von Personen in vielen Situationen nicht verstattet ist, anwesend zu sein, und daß, sind sie dennoch anwesend, dies in sich eine ungehörige Handlung darstellt. Der gesunde Menschenverstand hat indessen auch etwas beizutragen hinsichtlich derer, denen die Anwesenheit gestattet ist. Die Verhaltensregel, die für die Situationen zu gelten scheint und sie gleichzeitig exklusiv macht, ist die Regel, die es den Beteiligten zur Auflage macht, "dazuzupassen". Die Worte, die man an ein Kind richtet, welches zum ersten Mal ein Restaurant besucht, dürften für jeden und immer gelten: der Mensch soll "brav" sein und keine Szene oder Störung verursachen; er soll nicht in ungebührlicher Weise die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, indem er sich entweder der versammelten Gesellschaft aufdrängt oder sich allzu sehr von ihr zurückzuziehen versucht. Er soll sich dem Geist oder Ethos der Situation entsprechend verhalten; kein Zuviel und kein Zuwenig. Es wird sogar Gelegenheiten geben, wo jemand aufgerufen ist, sich zu verhalten, als passe er in die Situation, auch wenn er selber und einige Anwesende wohl wissen, daß dies in Wirklichkeit keineswegs der Fall ist; um der harmonischen Situation willen ist er zum Kompromiß aufgefordert, er soll es sogar auf sich nehmen, die Miene dessen zur Schau zu tragen, der dazu gehört, obwohl sich nachweisen läßt, daß dies nicht stimmt. Ein treffendes Beispiel findet sich in einem frühen amerikanischen Buch über Etikette:
Wenn man zufällig bei einer Familie einen Abendbesuch macht und dort zur eigenen Überraschung auf eine kleine Gesellschaft trifft, sollte man eintreten und sich genauso geben, wie man es im Falle einer Einladung getan hätte. Sich überstürzt mit einer Entschuldigung auf den Lippen zurückzuziehen, würde eine Szene heraufbeschwören und wäre außerordentlich peinlich. Man trete deshalb ein, pflege entspannt einige Augenblicke Konversation und ziehe sich dann zurück. Außerdem richte man es am nächsten Tage ein, daß die betreffende Familie erfährt, man habe nicht gewußt, daß Gäste zugegen sein würden.

Zweifellos ist die Ausgesprochenheit, mit der Mitglieder in solchen Begriffen denken, bei verschiedenen sozialen Gruppierungen unterschiedlich intensiv, ebenso wie die Formulierungen differieren, in die sie ihre Gebote kleiden; aber alle Gruppierungen legen vermutlich wert auf solches "Dazupassen".

Der gesunde Menschenverstand kennt nicht nur die Vorstellung des "Dazupassens", er stellt eine weitere Überlegung zum Problem an: was in der einen Situation richtig sein mag, kann in einer anderen durchaus unangemessen sein. So kann es geschehen, daß die generelle Grundhaltung des Einzelnen – so er tatsächlich eine solche hat – den Erfordernissen der Situation weichen muß. Dieses Thema taucht in der sozialwissenschaftlichen Literatur in der Form des "situationellen Determinismus" auf, zum Beispiel in Untersuchungen über Rassenbeziehungen, wo nachgewiesen wird, daß kastengleiche Tabus in dem einen Lebensbereich einhergehen können mit der Lehre von der Gleichheit aller in anderen Bereichen, auch wenn der gleiche Kreis von Personen betroffen ist.

Zweifellos hat hier die Forschung zu beginnen und nicht zu enden. Wenn es auch sein mag, daß jemand sich nur deshalb in einer bestimmten Weise verhält, weil er den Druck der Anstandsformen verspürt, so sagt dies doch nur etwas aus über ein mögliches Motiv seines konformen Verhaltens. Noch wissen wir nicht, warum gerade diese besondere Form von Verhalten an dieser Stelle gebilligt ist, das heißt, wie das Reglement historisch sich entwickelt hat und was seine gegenwärtige soziale Funktion ist. Um diese Fragen anzugehen, müssen wir zu einer etwas umfassenderen Analyse ausholen.

Offenes Schneiden

Jemanden direkt ansehen und seine Verbeugung nicht beachten, ist ein so eklatanter Bruch der Höflichkeitsregeln, daß nur unverzeihliches Fehlverhalten solche Maßregelung rechtfertigen kann. Gleichermaßen kann eine Dame nur mit dem allerernstesten Grund einen Gentleman "schneiden"; es gibt jedoch keinerlei Umstände, die es einem Gentleman gestatten, eine Frau zu schneiden, die – und sei es nur aus reiner Höflichkeit – eine Dame zu nennen ist.

"Schneiden" unterscheidet sich sehr von schlechtem Sehen oder einem schwachem Gedächtnis. Es ist der direkte Ausdruck offener Zurückweisung, nicht nur voller Kränkung für sein Opfer, sondern auch peinlich für jeden Zeugen. Glücklicherweise ist es in gebildeten Gesellschaften praktisch unbekannt.

Aus dieser Regel folgt, daß jemand, der einen anderen nicht begrüßen möchte, sich normalerweise so verhält, daß der andere annehmen kann (oder zumindest diesen Ausweg hat), die Nichtachtung sei durch unbeabsichtigtes Nicht-Sehen seiner Initiative zustande gekommen; umgekehrt wird derjenige, der die Initiative ergreift, seinem Gruß nicht soviel offenkundigen Nachdruck verleihen, wenn er Zweifel hinsichtlich seiner Aufnahme hat; er kann sich, sollte er wirklich nicht durchdringen, in eine soziale Fiktion retten. Weiß man, daß sich einer gezwungen sieht, einen andern zu schneiden, so werden andere und die beiden Betroffenen selber peinlich darauf achten, nicht zusammenzutreffen; sie etablieren daher eine Vermeidungsbeziehung.

Das Tabu, das auf Schneiden liegt, ist indessen nicht nur eine Frage der offiziellen Etikette. Selbst wenn zwei Menschen einen gewichtigen moralischen Grund zu gegenseitiger Animosität haben, werden sie wahrscheinlich ein paar höfliche Worte miteinander wechseln, sollten sie einander gegen ihren Willen begegnen. Und selbst wenn es so mit ihnen steht, daß sie nicht mehr miteinander reden können, fühlen sie immer noch den unkontrollierbaren Drang, ein erkennendes Nicken auszutauschen. Diese minimale Höflichkeit hat eine spezielle Bedeutung für uns; denn das Unterlassen dieser Art von Begrüßung stellt solche Leute der Gesamtsituation dar als zwei, die voller Haß aufeinander sind und sich einfach nicht in der Lage sehen, der Stimmung des sozialen Anlasses zu entsprechen. Jemanden zu schneiden ist insofern gleichbedeutend mit einem Mangel an Respekt der gesamten Zusammenkunft gegenüber; hier erweist sich ein flagranter Mangel an Empfindsamkeit für jene minimale Solidarität, welche die Versammlung von all ihren Teilnehmern fordert.

Bekanntschaft verlangt von den Einzelnen, sich kontaktfreudig zu zeigen, und sei es nur in Form eines winzigen Lächelns. Diese Regel zeigt wiederum, wie die Kommunikationsregeln der Gemeinschaft momentane Einzelinteressen verletzen können. Doch es ist anzunehmen, daß es etliche Übereinkommen gibt, die jedes auf seine Weise weiteres Licht auf die Kommunikationsreglements werfen.

Es gibt zum Beispiel Umstände, in denen die Rücksicht auf den anderen es verlangt, daß man ihm das Recht zugesteht zu entscheiden, ob soziales Erkennen und ein Gruß statthaben sollen oder nicht. Wo der Kontext sehr zuungunsten von jemandem ausschlägt, (besonders, wenn der Betroffene eine Frau ist und von einem Bekannten gesehen wird), kann man ihm, der viel zu verlieren hat, wenn er hier sich zu seiner Anwesenheit bekennen muß, die Entscheidung überlassen, ob eine Begegnung stattfinden soll oder nicht. Einige Autoren, die über Etikette schreiben, haben erkannt, daß die Initiative zur Kontaktaufnahme zwischen einem Mann und einer Frau deshalb immer von der Frau auszugehen habe, weil ein Gentleman nie sicher wissen könne, wann eine Dame sich in einer Situation befinde, in der sie nicht erkannt werden möchte:

Es ist ein Zeichen von feiner Erziehung, eine Dame auf der Straße nicht anzusprechen, ehe man durch ein Kopfnicken von ihrer Seite die Bestätigung erhielt, daß sie einen bemerkt hat.

Andere Autoren modifizieren diese Einschränkung:

Unter formellen Umständen verbeugt sich eine Dame zuerst; Menschen aber, die sich gut kennen, verbeugen sich gleichzeitig, ohne diese Etikette zu beachten.

In einigen Gesellschaften, dies sei hinzugefügt, kann soziales Erkennen zwischen den Geschlechtern offensichtlich den Ruf einer Frau gefährden; es ist aus diesem Grunde durchgängig restringiert. Die Hindugesellschaft liefert ein Beispiel:

Außerhalb der Familie sind Beziehungen zwischen den Geschlechtern in der Tat sehr begrenzt. Frauen tragen lange Schleier, sie müssen züchtig zu Boden blicken, wenn ein Mann sich nähert. Als Korrelat dieser strengen Einschränkung von Zusammentreffen zwischen jungen Männern und Mädchen ergibt sich, daß auch die leiseste Begegnung so betrachtet wird, als führe sie direkten Wegs zum Geschlechtsverkehr.

Das bäuerliche Paraguay liefert ein weiteres Beispiel:

Eine Frau muß außerordentlich umsichtig sein, und zwar immer. Sie sollte stets den Anschein vermeiden, als sei sie in einer privaten Unterhaltung mit einem Manne, selbst auf der Straße am hellichten Tag.

Takt im Hinblick auf soziales Erkennen und auf Blickkontakte ist natürlich nicht beschränkt auf Beziehungen zwischen den Geschlechtern, sondern findet sich auch überall dort, wo die eine Partei im Erkennenskontakt als mit Sonderrechten ausgestattet gilt oder als einer Sonderbehandlung für würdig erachtet wird.

Die Annahme, jemand könne einen Bekannten absichtlich erkennen oder ihn schneiden oder auf vielerlei Weise ein Erkennen vermeiden, ist eine allzu vereinfachte Sicht des Problems. Wie bereits gesagt, ist der gesamte Vorgang nicht so leicht durch Überlegung zu kontrollieren; ein Mangel an Kontrolle ist in Rechnung zu stellen, will man über Handlungsstrategien entscheiden. Ein Gefühl von adäquatem Erkennensverhalten scheint den Menschen auszufüllen, sobald er es gelernt hat, und das bedeutet, daß seine momentane Ansicht darüber, welche Aktivität in dieser oder jener Situation als ratsam sich anbiete, durchaus seiner spontanen Neigung innerhalb der Situation widersprechen kann. Bei einer rationalen Entscheidung über den aktuellen Ablauf einer Aktion muß er zuweilen schon suchen, eher automatische Tendenzen zu unterdrücken – oder besser das, was für ihn automatische Tendenzen geworden sind. (Dieser Faktor ist im gesamten Kommunikationsverhalten wiederzufinden.) Wenn ein Mensch einen andern, der seine spontane Aufmerksamkeit sehr wohl erregt, absichtlich nicht ansieht, hat dieses Meiden einen besonderen und befangenen Zug. Wenn man jemanden nicht anschaut, der spontan die Aufmerksamkeit auf sich zieht, macht man meist eine linkische, gehemmte Bewegung auf ihn zu; besonders gut ist dies zu beobachten, wenn man einen Blickkontakt mit ihm vorausahnt, aber sozial nicht in der Lage ist, selbst die Begegnung zu initiieren.

Der äußere Charakter vieler Szenen sozialer Interaktion hat Einfluß auf die Diskrepanz zwischen dem, was man zu tun beabsichtigt, und dem, was man unbewußt zu tun beginnt. Innerhalb der Situation stehen der Augen- und Ohrenkommunikation häufig etliche Hindernisse im Weg – in der Gestalt der Körper anderer Leute oder in deren Aktivitäten. Diese Hindernisse geben für den Nicht-Seher Entschuldigungen her, und seien sie noch so durchsichtig; umgekehrt kann vom Nicht-Gesehenen diese Entschuldigung bereitwillig aufgegriffen werden. Während solche Barrieren die Kommunikationsregeln elastischer machen, erhöht sie auch die Zahl der Gelegenheiten, wo jemand auf eine Begegnung mit einem anderen hinaus will, aber zögert, weil er nicht sicher weiß, ob der andere verfügbar ist. Ein Beispiel aus einem Roman:

Als Rigault die Rue Gustave-le-Bon betrat, sah er Maitre Marguet am anderen Ende der Straße auf dem Trottoir gegenüber. Er begegnete ihm nie, ohne einen Stich von Angst zu verspüren. Das lag daran, daß der Anwalt ihn zuweilen erkannte und seinen Gruß zurückgab oder ihm sogar zuvorkam, zuweilen aber an ihm vorbeiging, ohne ihn zu beachten. Das konnte Zufall sein, aber auch launische Absicht (er selber versäumte nie, die führenden Leute der Stadt zu erkennen, ein Instinkt ermahnte ihn, selbst wenn seine Gedanken wo ganz anders waren, eine Hand an den Hut zu führen). Rigault hielt seinen Kopf sorgfältig gerade und blickte verstohlen zur Seite, um zu erkunden, was der andere machte. Der Anwalt ging und hielt die Augen gesenkt, er schien völlig in Gedanken verloren. Zu dem Schluß kommend, daß ein Zeichen des Hutes wahrscheinlich unbemerkt bleiben würde, entschied Rigault, zu dieser Geste erst im letzten Moment anzusetzen, um so die Möglichkeit zu haben, sie entweder zu vollenden oder abzubrechen, indem er vorgab, sich am Ohr zu kratzen. Aber dann hieß eine grundlose, fast religiöse Ahnung ihn seine Bewegungen beschleunigen. Sie waren noch vier Schritte entfernt von der konventionellen Ebene, als seine Hand sich zum Kopfe bewegte. Maitre Marguet, auf der andern Straßenseite, blickte auf und antwortete mit einer ausladenden Bewegung: Rigault augenblicklich entspannt, spürte, wie eine Welle des Wohlgefühls ihn durchflutete. Es war mehr als geschmeichelte Eitelkeit: es war die Süße einer Reaktion, die Erfüllung eines sozialen Instinkts.

Haben wir die Rolle von Bekanntschaft im sozialen Leben begriffen, müssen wir fragen, wie diese Beziehung sich zwischen zwei Individuen entwickeln kann. Vermutlich kann sich Bekanntschaft "informell" entwickeln, etwa wenn Personen im selben Büro oder Betrieb "voneinander wissen" und dies einander allmählich bekunden, so daß sie beide wissen, daß sie voneinander wissen. Ein Sonderfall dieser Art findet sich bei ins Ritual nicht eingeweihten Personen, zum Beispiel bei kleinen Kindern. Um automatisch eine Bekanntschaft anzunehmen, genügt es ihnen, voneinander zu wissen, daß sie in dieselbe Schule gehen. Bekanntschaft kann auch informell sich herstellen durch gemeinsame Teilnahme an derselben Begegnung, obwohl Statusunterschiede unter den Beteiligten hier einschränkend wirken können. Eine Schilderung der Reaktion eines Pförtners auf die Art, wie ein Chirurg aus dem Krankenhaus ihn behandelte, dem Forscher erzählt von einem zweiten Pförtner, mag diesen Fall illustrieren:

Natürlich sind sie (die Ärzte) nicht alle so. Manche sagen nicht guten Tag, und wenn sie über einen stolpern. Nehmen Sie Dr. Zeigler. Eines Tages kam er runter und bat Al, etwas für ihn anzubringen. Al legte seine Arbeit beiseite und machte die Sache. Zeigler war unheimlich nett, stand herum und quatschte mit Al, während der montierte. Nun sagte mir Al, er habe den Doktor am Tag darauf in der Eingangshalle getroffen, der sei an ihm vorbeigegangen, als habe er ihn nie gesehen. Al sagt, er sei ihm seither öfter über den Weg gelaufen, der Doktor habe ihm nie gestattet, ihn zu erkennen. Al sagte, "was glaubst du, hat der?" Ich sagte, "ich weiß nicht, Al, vielleicht meinen einige von diesen Ärzten, sie seien was Besseres als wir. Nimm einfach keine Notiz von ihm".

Die Beziehung einer Bekanntschaft kann sich in unserer Gesellschaft auch "formell" entwickeln, so wenn zwei Leute einander vorgestellt werden, meist durch einen Dritten, zuweilen aber auch, wenn die Umstände es gestatten, dank ihrer eigenen Initiative. Sich Vorstellen oder Vorgestelltwerden sollte, so wird empfunden, mehr noch als eine sich informell entwickelnde Bekanntschaft einen Dauereffekt haben, der die einander Vorgestellten für immer in eine besondere und füreinander erreichbare Position bringt. Der Unterschied zwischen formeller und informeller Bekanntschaft besteht darin, daß die informelle sich ergeben kann, ohne daß die Beteiligten voneinander die Namen wissen, während die formelle höchstwahrscheinlich den Austausch von Namen und die Verpflichtung impliziert, sich von nun an auf den andern mit dessen Namen zu beziehen. Dementsprechend kann bei Personen, die einander formell vorgestellt sind oder die einander auf Grund von informeller Bekanntschaft beim Namen nennen, eine Kränkung durch Vergessen in zweierlei Weise geschehen: nicht zu wissen, daß man eine bestimmte Person kennen müßte (die schwerere der beiden Sünden); und zu wissen, daß man die Person kennt, sich aber an ihren Namen nicht mehr erinnern kann.

Wenn Bekanntschaft Menschen in eine bevorrechtigte Kommunikationsbeziehung versetzt, oder besser: wenn sie eine bevorrechtigte Kommunikationsbeziehung ist, dann verstehen wir, warum manche Leute Orte und Gelegenheiten meiden, wo es vermutlich zu unliebsamen Vorstellungen kommen wird. Und – noch wichtiger – es ist gut zu verstehen, daß derjenige, der es unternimmt, Leute miteinander bekannt zu machen, sich verpflichtet fühlt, dafür zu sorgen, daß ihnen, deren Kommunikationsbeziehung er verändert hat, aus der neuen Beziehung nichts Ungutes erwachsen möge. Da solches Ungute dem Wohlhabenden vom Armen, der Frau vom Mann und dem Mächtigen vom Schwachen zu drohen scheint, wird derjenige, der vorstellt, die Verpflichtung spüren, sich zunächst dessen zu versichern, der etwas zu verlieren hat, und annehmen, daß der, welcher etwas gewinnt, gegen die Beziehung sowieso keine Einwände hat. Wo der Rahmen eng und dicht ist und es für die miteinander Bekanntgemachten dadurch schwer wird, von der Höflichkeit zwischen Bekannten wieder abzusehen, wird der Initiator der Bekanntschaft vermutlich besondere Sorgfalt walten lassen. Ein Anstandsbuch schreibt:

Man stellt Leute einander an öffentlichen Orten auf keinen Fall vor, ohne ganz sicher zu sein, daß die Vorstellung beiden Seiten angenehm ist. Man kann keinen größeren sozialen Fauxpas begehen, als einer notablen [der Oberschicht angehörigen] Person jemanden vorzustellen, für den sie sich nicht interessiert, besonders etwa auf einem Schiff, im Hotel oder in anderen sehr kleinen, aber öffentlichen Gruppen, wo die Leute so eng zusammen sind, daß es entsprechend schwierig ist, aufdringlichen Bekanntschaften aus dem Wege zu gehen, hat man ihnen erst einmal den kleinen Finger gereicht.

Komplizierend für die Einsicht in die Institution des Bekanntmachens in unserer Gesellschaft wirkt sich unser interpersonelles hierarchisches System von Hochachtung und Ehrerbietung aus, denn gegenseitiges Vorstellen ist sein rituelles Kleingeld. Ist man "mit" jemandem und ein zweiter Bekannter kommt zufällig hinzu, so müssen die beiden miteinander bekanntgemacht werden, es sei denn, der Kontakt zum Neuankömmling soll offensichtlich nur ganz kurz sein. Nicht-Vorstellen bedeutet in der Mittelstandsgesellschaft einen offenen Affront gegen einen der einander nicht Vorgestellten, oder auch gegen beide. Dieser Konvention liegt die Regel zugrunde, daß unter normalen Umständen jeder das Recht hat, zwei ihm Bekannte miteinander bekanntzumachen (eine Regel, die einen Menschen unter Druck oder Zwang setzen kann, "eine Vorstellung zu arrangieren").

Den Problemen, die durch obligates Bekanntmachen von Leuten entstehen, ist auf verschiedene Weise zu begegnen. Abgesehen von dem grundlegenden Gebot, seine Bekanntschaften zum einen auf sozial Gleiche zu beschränken, auf Leute also, die es nicht geniert, miteinander bekanntgemacht zu werden, und zum andern auf vertrauenswürdige Leute, die keinen Mißbrauch damit treiben, zeigt Mrs. Post, daß es sehr wohl eine Etikette auch für den Mittler gibt:

Wenn zwei Menschen – Fremde oder Bekannte – zusammen spazierengehen und einen Dritten treffen, der anhält, um mit einem von ihnen zu sprechen, geht der andere langsam weiter, statt linkisch herumzustehen in der Erwartung, vorgestellt zu werden. Wird der Dritte von seinem Bekannten aufgefordert mitzukommen, holen die beiden den schlendernden Freund ein, und die einander bisher Unbekannten werden einander vorgestellt. Der Dritte indes darf sich ohne Einladung nicht anschließen.

Übrigens werden Vorstellungen dieser Art und selbst solche, die flüchtig auf großen Veranstaltungen erfolgen, zuweilen von beiden Seiten als reine Höflichkeit gewertet. Sie bleiben folgenlos, sollten sich dieselben Leute in einer ähnlichen Situation wiedertreffen, es sei denn, beide bekunden dann durch irgendwelche Zeichen ihre Neigung, etwas daraus zu machen. Schließlich kann man dort, wo ein erheblicher Unterschied im Status der nicht miteinander bekannten Personen vorliegt, so verfahren, daß man Bekanntschaft herstellt ohne vorherige Vorstellung:

Zuweilen geschieht es, daß man bereits im Gespräch mit jemandem noch eine andere Person darin einschließen möchte, ohne sie groß vorzustellen. Sie sprechen zum Beispiel gerade mit Ihrem Samenhändler, da betritt ihre Freundin den Garten, sie begrüßen sie und schließen sie ins Gespräch ein, indem Sie sagen, "Mr. Smith empfiehlt mir gerade, die Cannas herauszureißen und Rittersporn anzupflanzen." Ob ihre Freundin nun einen Kommentar über die Farbveränderung Ihres Beets abgibt oder nicht, sie wurde in das Gespräch einbezogen. Zum gleichen Manöver, einer Vorstellung aus dem Wege zu gehen, nimmt man Zuflucht, wenn man nicht sicher ist, ob Bekanntschaft angenehm ist für die eine oder für beide Personen, die der Zufall und die Umstände zusammengeführt haben.

Die gleiche "halbwegs"-Vorstellung wird praktiziert, wenn Bedienstete den Gästen des Hauses vorgestellt werden.

Begegnungsabgrenzung per Konvention

Der Definition nach füllt eine zugängliche Begegnung die Situation nicht völlig aus. Es gibt keine situationelle Abgrenzung, weder eine konkret-räumliche, noch eine vereinbarte, welche Nicht-Beteiligte aussperren würde. Was wir statt dessen vorfinden, ist eine Art Verpflichtung und Bemühung auf seiten der Teilnehmer wie auch der Zuschauer, so zu handeln, als sei die Begegnung räumlich vom Rest der Situation abgetrennt. Kurz, es gibt eine "Begegnungs-Abgrenzung per Konvention". Ich möchte nun einige der Elemente sozialer Organisation untersuchen, die diese Abgrenzung mit sich bringt.

a) Zuschauer bekunden eine Art höflicher Gleichgültigkeit, aber eine, welche Begegnungen und nicht einzelnen Personen gilt. Zuschauer dürfen keinesfalls die Kommunikationsposition ausbeuten, in der sie sich befinden, sie müssen den Beteiligten der Zusammenkunft visuell deutlich machen, daß ihre Aufmerksamkeit anderswo zentriert ist; solche Höflichkeit bringt einige Schwierigkeit mit sich: eine allzu einstudierte Gleichgültigkeit demgegenüber, was man nur allzugut mithören kann, verdirbt leicht den Anschein von Indifferenz.

Da es vielerlei Gründe gibt, warum jemand den Inhalt einer Begegnung, der er nicht angehört, kennen möchte, wird er in vielen Fällen Gleichgültigkeit simulieren, um den Eindruck zu erwecken, er halte sich an die vereinbarte Abgrenzung, während er heimlich dem Gespräch folgt. Wieviel in Wirklichkeit gehorcht wird, und in welchen Situationen, ist schwierig zu bestimmen.

Sichtbare Indifferenz und Nicht-Engagement, von jenen bekundet, die einer Begegnung, der sie nicht angehören, räumlich nah sind, läßt sich in extremer Form beobachten in jenen Momenten, da jemand in die Begegnung durchaus eintreten könnte (soweit es von den andern Beteiligten abhängt), "psychologisch" aber außerstande ist, es zu tun. Ergebnis ist dann oft eine Art Konversations-Parasitentum, auf Krankenstationen häufig zu beobachten. Eine psychotische junge Frau zum Beispiel, die ich beobachtete, pflegte neben ihrer Mutter zu sitzen und stur geradeaus zu blicken, während die Mutter ein Gespräch mit einer Schwester führte; dabei legte sie gegenüber dem neben ihr stattfindenden Kontakt scheinbar höfliche Gleichgültigkeit an den Tag. Aber während sie versuchte, die Miene der Unbeteiligten, der uninteressierten Zuschauerin aufzusetzen, gab sie ständig höhnische Kommentare zu dem, was gesprochen wurde; ihr lautes Geflüster kam ihr dabei nur gequält aus dem Mundwinkel. Das psychologische Problem war hier vermutlich das von "Bewußtseinsspaltung". Die Richtung aber, die die beiden gespalteten Verhaltenslinien nahmen – konversationelle Beteiligung und höfliche Gleichgültigkeit – schienen gänzlich bestimmt von jener Art Kommunikationsstruktur, welche die Norm darstellt für soziale Situationen in unserer Gesellschaft. In einer sozialen Situation kann demnach ein Einzelner sich zerrissen fühlen, aber zerrissen durch eine Art von standardisierter quälender Forderung, die standardisiert artikuliert ist.

Es gibt Umstände, unter denen es für die Beteiligten schwierig ist, Zuschauern taktvolles Vertrauen zu zeigen, wie es schwierig für die Zuschauer ist, höfliche Gleichgültigkeit zu bekunden; kurz, es gibt Zeiten, wo Abgrenzung auf Vereinbarung schwierig zu handhaben ist. Als Beispiel hierzu bemühen wir nochmals so kleine abgeschlossene Orte wie Aufzüge, wo Menschen in solcher Nähe beieinander sind, daß es nicht mehr möglich ist, vorzugeben, sie hörten nichts. In solchen Augenblicken scheint zumindest im mittelständischen Amerika bei den an einer Begegnung Beteiligten die Tendenz zu bestehen, ihre Kommunikation in der Schwebe zu halten und nur gelegentlich ein Wort fallenzulassen, um ihre halb darniederliegende Begegnung zu stabilisieren. Ein ähnliches Problem ergibt sich in fast leeren Bars; Romanciers haben das zuweilen recht pointiert herausgearbeitet:

Wir waren allein in der Bar, es war noch früher Vormittag, und die Anwesenheit des Barkeepers war unangenehm. Er mußte uns einfach hören. In seinem weißen neutralen Sacko war er eine Gestalt von zurückhaltender Autorität. Er bemerkte dies wohl selbst, denn er war so freundlich, sich am Boden hinter der Theke an Gläsern und Eisschalen zu schaffen zu machen. Harry bestellte noch zwei, sozusagen bei niemand, die auch alsbald auftauchten.

Der Taxifahrer befindet sich in einer ähnlich problematischen Lage wie der Barkeeper. Und jemandem, der für einen Moment sich selbst überlassen bleibt, weil sein bisheriger Gesprächspartner einen Telefonanruf beantwortet, geht es nicht anders; dem anderen räumlich nahe und erkennbar unbeschäftigt, muß er doch irgendwie höfliche Gleichgültigkeit anzeigen.

Wo höfliche Gleichgültigkeit aus räumlichen Gründen schwierig wird, ist die Szenerie bereitet für eine besondere Art von Herrschaft. In einem Aufzug zum Beispiel können jene, die engagiert sind, voll engagiert bleiben und den anderen Anwesenden die Rolle von Unpersonen aufzwingen. Oder wenn zwei einander fremde Paare gezwungen sind, im Restaurant am gleichen Tisch zu sitzen, und keinen umfassenden Kontakt anstreben, dann kann sich das eine Paar stillschweigend der lauteren Interaktion des andern beugen. Das sich unterordnende Paar kann in solchen Situationen versuchen, Unabhängigkeit und höfliche Gleichgültigkeit zu zeigen, indem es ein Gespräch für sich beginnt. Aber während dies auf das andere Paar durchaus überzeugend wirken mag, ist es im eigenen Fall keineswegs so; die Bescheidenen gestehen durch das eigene leise Gespräch einander ein, daß sie in den Hintergrund gedrängt wurden; aber nicht nur das – sie wollen außerdem auch so tun, als sei dies nicht der Fall. Hinzuzufügen ist, daß "Stärke" in diesen Fällen nicht von den Muskeln herrührt, sondern bezeichnenderweise von der sozialen Schicht.

b) Ausgehend von der Tatsache, daß Teilnehmer und Zuschauer die Integrität der Begegnung bewahren sollen, und ausgehend von der komplizierenden Tatsache, daß die Zuschauer dieser Begegnung zugleich an einer anderen Begegnung beteiligt sein können, dürfen wir eine stillschweigende Kooperation erwarten in der Einhaltung der vereinbarten Abgrenzung. Wenn Zuschauer auf gewisse Weise ihre Kommunikationschancen nicht nutzen sollen, dann liegt es bei den Beteiligten, sich auf solche Handlungen und Worte zu beschränken, die es den Zuschauern relativ leicht machen, wegzuhören und wegzusehen. Und tatsächlich ist auch allenthalben zu beobachten, wie die Reizschwelle niedrig gehalten wird. Diese Tendenz wird übrigens aufgefangen durch eine andere gegenläufige, nämlich durch ein Verhalten, welches Vertrauen in die Bereitschaft der Zuschauer bezeugt, ihre Situation nicht auszunutzen. So gilt Flüstern und Gebrauch von Geheimwörtern meist als unhöflich, vor allem, weil sich darin Zweifel ausdrückt am Willen der Zuschauer, indifferent zu sein.

Eine der Folgen aus der Kombination dieser Regeln über konventionelle Abgrenzung möchten wir herausstellen. Es gilt die Norm, daß Beteiligte Rücksicht aufeinander zu nehmen haben, indem sie zum Beispiel vermeiden, Themen zu berühren, die den anderen nahegehen, oder indem sie sich mit Kritik zurückhalten usw. Dagegen ist Schimpfen über Abwesende recht gebräuchlich, es dient als beliebte Solidaritätsbasis für die Anwesenden. Außerdem kann das Gespräch sich um geschäftliche Belange drehen, in die der betreffende Abwesende nicht gefahrlos einzuweihen wäre. Daraus folgt, daß in manchen Fällen der Gesprächsverlauf einer konversationellen Begegnung strategisch geändert werden muß, weil und wenn eine aus wichtigen Gründen ausgeschlossene Person sich nähert, damit der weitere Inhalt des Gesprächs nicht gar zu schwere Anforderungen stellt an die Bereitschaft, höfliche Gleichgültigkeit zu bekunden; kommt jemand in der ausdrücklichen Absicht, an der Begegnung teilzunehmen, so bedarf es noch größerer Delikatesse. Bekanntes Beispiel: jemand betritt einen Raum und muß bemerken, daß das Gespräch plötzlich stockt und die bereits Anwesenden hilflos und nervös nach einem neuen, unverfänglichen Thema suchen. Zuweilen ist man auch, wenn ein aus wichtigen Gründen Ausgeschlossener sich nähert, so günstig placiert, daß das Gesprächsthema gewechselt werden kann, ohne daß der Ankömmling hört, was ihn verlegen machen würde (oder was die Sprechenden seinetwegen in Verlegenheit brächte, hörte er zu), und ohne daß er den Eindruck gewinnt, etwas für ihn Peinliches sei gerade noch unterdrückt worden. Die räumliche Distanz, innerhalb der dies möglich ist, variiert natürlich je nach der sozialen Geschicklichkeit der Beteiligten. Zuweilen hat ein Raum auch eine besondere "sichere Ecke", aus der jeder Neuankömmling früh genug wahrzunehmen ist, um das Thema so zu wechseln, daß der Wechsel nicht zu bemerken ist. Unter solchen Umständen wird zuweilen eminente Geschicklichkeit entwickelt: die sich Unterhaltenden wenden sich kühn, gelassen und äußerst gewandt erst im letzten Moment einem anderen Thema zu.

c) Die Sorgfalt, die ein Zuschauer einer zugänglichen Begegnung gegenüber an den Tag zu legen hat, geht über höfliche Gleichgültigkeit hinaus bis zu der Überlegung, wie und wann er sich zu offizieller Beteiligung präsentieren kann. Selbst auf Geselligkeiten, wo jede Begegnung so sein sollte, daß jeder Gast daran teilnehmen kann, wird vom Eintretenden Takt erwartet, und wenn er irgendwelche entsprechenden Hinweise erhält, sollte er seine Rechte nicht in Anspruch nehmen. Stößt er irgendwo dazu, sollte er das aktuelle Thema und den herrschenden Ton aufnehmen, um so die Störung, die er verursacht, auf ein Minimum zu beschränken. Frühe amerikanische Etikette rät an:
Unterhalten sich eine Dame und ein Herr auf einer Abendgesellschaft miteinander, wäre es rüde, wenn ein Dritter an sie heranträte und sie unterbräche, indem er ein neues Thema aufwirft. Ist man sicher, daß zwischen ihnen nichts von besonderem und privatem Interesse vorgeht, kann man an ihrer Unterhaltung sich beteiligen und den gerade anliegenden Gegenstand weiterverfolgen; stellt man aber fest, daß sie so sehr in ihrer Diskussion stecken, daß deren Beendigung oder auch nur eine Veränderung ihres Charakters unwillkommen ist, sollte man sich zurückziehen. Wenn jedoch zwei Personen miteinander beschäftigt sind in einer erkennbar delikaten und speziellen Weise, sollte man sie von vornherein mit seiner Gesellschaft verschonen.

Willkommen oder nicht, der Eintretende hat im Normalfall an der Türe anzuklopfen, hinter der eine Begegnung stattfindet, ehe er hineingeht; er läßt so den an der Begegnung schon Beteiligten einen Hinweis auf seine Absicht einzutreten zukommen und verschafft ihnen einen kurzen Augenblick, ihr Haus für den Ankömmling in Ordnung zu bringen.

d) Eine der interessantesten Phänomene von Kooperation bei der Einhaltung konventioneller Abgrenzung ist, was man räumliches Aufteilen nennen könnte: die Tendenz von Einheiten Beteiligter innerhalb der Situation – entweder im Blickkontakt oder als isolierte Individuen–, sich kooperativ über den verfügbaren Raum zu verteilen, um rein körperlich die konventionelle Abgrenzung zu erleichtern. (Häufig scheint dies eine räumliche Distanz von der höchstmöglichen Quadratmeterzahl zwischen den verschiedenen Einheiten zu bedeuten. Wo die Gruppen einander den Ausdruck wechselseitigen Vertrauens und der Kameradschaft schulden, wird genaue Raumaufteilung natürlich absichtlich vermieden.

Raumaufteilung garantiert übrigens, daß "Gesprächslinien" offen verlaufen, d. h. zwischen Personen, die innerhalb einer Begegnung zueinander sprechen, gibt es kein physisches Hindernis, das den freien Austausch von Blicken vereitelte. Ein Zuschauer, der auf solch eine Linie gerät (zumindest in Amerika), wird sich entschuldigen und rasch seine Position verändern.

Während das Phänomen der Raumaufteilung schwer mit Händen zu greifen ist, weil es einem einfach als selbstverständlich gilt, ist ein Aufriß davon leicht zu gewinnen durch die Beobachtung von Kindern und geistig Kranken, – jenen Kommunikationsdelinquenten, die zuweilen ein Spiel spielen, das man "Angriff auf die Begegnung" nennen könnte. Auf vielen Abteilungen zum Beispiel folgt ein Patient zweien, die sich im Gespräch befinden, durchs ganze Zimmer, bis jene nicht weitergehen, dann stellt er sich dicht an den "Rand" der Begegnung und hängt sich schließlich hinein. Eine junge Patientin, die ich beobachtete, unterbrach Gesprächslinien, indem sie ihre Stricknadeln dazwischen schwang, ihre Arme hochwarf, ihr Gesicht vor die Gesichter der anderen hielt oder sich jemandem auf den Schoß setzte.

Mit räumlicher Aufteilung geht die Kontrolle von Lautstärke einher, damit die verschiedenen Gruppen in der Situation ihrer Tätigkeit nachkommen können, ohne sich gegenseitig zu behindern. In vielen Fällen bedeutet das eine Beschränkung der Lautstärke, obwohl bei manchen Anlässen – etwa geselligen Einladungen, wo Menschen dicht beisammen sein können, ohne an derselben Begegnung teilzunehmen – oft die Stimmen allgemein erhoben werden; dies gestattet den Beteiligten, sich gegenseitig zu verstehen, verhindert jedoch Lauschen. Auch hier sind präzis geplante Verstöße zu beobachten, etwa wenn eine junge geisteskranke Patientin, in einem Anflug von Ulk, ihr Gesicht vor das irgendeines anderen hält, der gerade zu einem weiter entfernt Sitzenden spricht, und dann so schreit, daß dieser weder etwas hören noch selbst gehört werden kann.

Das Erfordernis, visuell offene Gesprächswege zu haben und mit der Lautstärke so zu verfahren, daß sie nicht mit anderen Begegnungen, die gerade stattfinden, in Konflikt gerät, begrenzt die Distanz, über die sich gesprochene Begegnungen normalerweise erstrecken können. Sollten zum Beispiel zwei Personen ein Gespräch führen wollen vom einen Ende eines überfüllten Straßenbahnwagens zum andern, müßten alle dazwischen befindlichen Fahrgäste sich aus der Gesprächslinie heraushalten und ihre eigenen Unterhaltungen so dämpfen, daß jene eine nicht blockiert würde. Solch ein Gespräch wäre zudem für jedermann zwischen den beiden Gesprächspartnern hörbar und würde dadurch wahrscheinlich zu einer Peinlichkeit, selbst dann, wenn einer der beiden der Fahrer wäre. So werden Kontakte, die eine große, bevölkerte Distanz überbrücken müssen, meist auf den Austausch stummer Gesten beschränkt; denn diese stören weder andere Begegnungen, noch stellen sie allzusehr zur Schau, was übermittelt wird. Taubstumme, die in eine Straßenbahn steigen und nicht nebeneinander sitzen können, brauchen deshalb den Austausch von Mitteilungen nicht zu unterbrechen, sondern sind in der Lage, ihr "Gespräch" solange fortzuführen, wie die Sicht zwischen ihnen frei ist; ihr Austausch stört niemanden und ist für niemanden zugänglich. Während räumliche Aufteilung und Kontrolle der Lautstärke bereits erhebliche Bedeutung haben für gesellige Treffen, die sich in einem räumlich relativ engen Rahmen abspielen, sind sie wahrscheinlich noch wichtiger auf öffentlichen Straßen und Wegen und in halböffentlichen Bereichen. In der westlichen Gesellschaft kommt die Entfaltung mittelständischer Herrschaft darin zum Ausdruck, daß sich ein relativ egalitärer Gebrauch öffentlicher Orte herausgebildet hat. Aber selbst heute noch dürfen Begräbnisse, Hochzeiten, Paraden und einige andere Feierlichkeiten momentan der Gesamtöffentlichkeit ihren Stempel aufdrücken. Technische Einrichtungen wie Ambulanzen, Polizeiwagen und Feuerwehr kreischen durch den öffentlichen Verkehr mit einer Lautstärke, wie sie niemandem sonst gestattet ist; Gäste einer Stadt erhalten zuweilen eine Motorradeskorte. Manche dieser Privilegien sind indes nur kleine Überbleibsel von Praktiken, die einst viel allgemeiner waren, wie etwa das Mitführen von Troß und Gefolge, mit denen einst ein Würdenträger sich umgab; er demonstrierte seinen Status, indem er eine ganze Truppe abhängiger Anhänger mit sich durch Stadt und Parlament führte, die ihm den Weg bahnte, wo immer er hinzu gehen wünschte. Diese Regeln sind in der westlichen Gesellschaft keineswegs einheitlich, wie aus einer Reaktion König Edwards (von England) und seiner Partei auf den Besuch des deutschen Kaisers im Jahr 1906 deutlich wird:

Der Kaiser hatte einen Stander am Wagen und einen Trompeter bei sich, der an jeder Straßenecke lang und kräftig blies. Dadurch war es für die Bevölkerung nicht schwierig auszumachen, wo der Kaiser sich jeweils befand, und der gesamte übrige Verkehr gab sofort den Weg frei, wenn die Trompetenstöße erschallten. Dem König dagegen war verhaßt, was er "theatralische Praktiken" nannte, er fuhr umher wie jeder andere Mensch auch.

e) Zum Schluß dieser Erörterung vereinbarter Abgrenzung möchte ich noch auf die Art von Umstrukturierung hinweisen, die möglich ist, wenn eine Situation mit vielen Begegnungen – eine multizentrierte Situation – umgewandelt wird in eine, die von einem einzigen, alles umgreifenden Geschehen ausgefüllt ist. Der Wärter zum Beispiel, der zur Mittagszeit auf der Abteilung des Central Hospital "Essen!" ruft, richtet sich an alle, und soweit der Klang seiner Stimme trägt, sollen seine Worte auch aufgenommen werden. Ähnlich kann sich auf einer kleinen Einladung die Gastgeberin durch die Ankunft eines Paares veranlaßt sehen, die Isolierung aller vereinzelten Begegnungen zu durchbrechen, um die Neuankömmlinge allgemein vorzustellen.

Auch bei offiziellen Essen gibt die Gastgeberin den Zeitpunkt an, da die Unterhaltung "allgemein" wird, sie sagt etwas, was alle Gäste angeht. Und bei offiziellen Reden sollen die Worte des Redners, wie auch die Wärme, mit der er sie äußert, natürlich die Gesamtsituation durchdringen. In solchen Fällen ist man sich darin einig, daß die Situation im ganzen offen zu sein hat für das, was ein einzelner fähiger Sprecher zu sagen hat; er hat, wie wir sagen, das Wort.

Die Transformation einer multizentrierten Situation in eine, die durch eine einzige enge Begegnung ausgefüllt ist, stellt einen interessanten Prozeß dar. Auf geselligen Parties ist zu beobachten, wie ein Sänger oder Gitarrespieler sich bemüht, immer mehr Anwesende seinem Auditorium einzuverleiben, bis der Punkt erreicht ist, wo sein Gesang oder sein Spiel offiziell den Raum ausfüllt und die Party für eine Zeitlang in eine Darbietung umgewandelt ist. Zur gleichen Zeit, da eine bestimmte Begegnung eine immer größere Anzahl von Personen einschließt, kommt es zunehmend zu Nebenbetätigungen, in denen eine untergeordnete Nebenhandlung zuweilen heimlich und nach Umfang und Charakter so gedämpft abläuft, daß die Haupthandlung in ihrer Rolle unangefochten beherrschend bleibt.

In Heilanstalten gibt es eine besondere Art von "symptomatischem" Verhalten, welches davon Notiz nimmt, wie die Situation als ganze angesprochen werden kann. Viele Patienten sprechen zu jemandem, sei er nun anwesend oder nicht, mit einer Stimme, die laut genug ist, daß jeder in der Situation sie hören kann und dadurch auch abgelenkt wird. Aber die Kranken auf der Station unterscheiden implizite diese Art von Fehlverhalten von jener, wo ein Patient "die Situation anspricht", d. h. jeden Anwesenden in Ton und Stimmrichtung in einer Weise angeht, die zeigt, er durchbreche absichtlich die Schranken, die die einzelnen Gruppen von Sprechenden und Spielenden in ihrer zentrierten Interaktion schützen sollen. (Obwohl übrigens die tatsächliche Lautstärke in dem Fall, in dem ein Patient seinen Beitrag zu einer privaten Unterhaltung nicht genügend dämpft ,größer sein kann, als im Falle des Patienten, der "die gesamte Situation anspricht", ruft doch letzterer die größere Störung hervor.

...

Download
zurück zu Goffman