Auszüge aus Karlpeter Arens'
"Manipulation"

Kommunikationspsychologische Untersuchung mit Beispielen aus Zeitungen des Springer-Konzerns

zurück zur Seite über Manipulation

Vorwort

Es gibt in der Sprache der politischen Auseinandersetzung kaum einen Ausdruck, der das in den Konsum- und Leistungsgesellschaften herrschende System der social control so exakt bezeichnet und gleichzeitig so vieldeutig, abgenutzt und mangels konkreter analytischer Daten derart positiv oder negativ fetischisiert als realitätsentrücktes Abstraktum in der politischen Rede herumschwirrt, wie der Begriff "Manipulation".

Die vorliegende Untersuchung soll mit ihren verschiedenartigen Frageansätzen einen interdisziplinären Beitrag für ein besseres Verständnis der politischen und sozialen Rolle manipulativer publizistischer Prozesse und ihrer subtilen Verankerung in systembedingten sozialen Mechanismen liefern.

Die Textbeispiele stammen mit Ausnahme der Belege in dem "Exkurs über den bürgerlichen Journalismus" ausschließlich aus Zeitungen des SPRINGER-KONZERNS, der mit seinen Blättern BILD, BZ (Berlin), BERLINER MORGENPOST, HAMBURGER ABENDBLATT, DIE WELT, BILD am SONNTAG und WELT AM SONNTAG auf dem westdeutschen und westberliner Zeitungsmarkt wirtschaftlich wie kommunikativ eine monopolähnliche Herrschaft ausübt.

Die entsprechenden Textbeispiele hätten ohne langes Suchen auch nahezu jeder anderen nicht in der Axel Springer Verlag AG konzentrierten westdeutschen und westberliner Zeitung entnommen werden können. Denn die besonderen ökonomischen und psychologischen Gesetze des bestehenden Presse-Kommunikationsmarktes, die einmal von der privatwirtschaftlichen Organisationsform des Zeitungsgewerbes und zum anderen von dem Widerspruch zwischen der realen gesellschaftlichen Klassenstruktur und der Konflikte tabuierenden Gemeinschaftsideologie der formierten Konsumenten-Gesellschaft geprägt sind, haben unter dem Vorwand des "öffentlichen Interesses" oder des "flotten" Journalismus ökonomisch vermittelte journalistische Auswahl- und Bearbeitungskriterien hervorgebracht, die den (zumeist unreflektierten) Rückgriff auf manipulative publizistische Techniken allgemeinverbindlich für "guten" Journalismus machen.

Wieviel unbemerkte herrschaftsgebundene Ideologie und manipulative Beeinflussung liegt beispielsweise in der von jedem gestandenen Journalisten bei der Information über einen möglichen Arbeitskampf geradezu stereotypisiert vorgenommenen Verbindung des Begriffs "Streik" mit den Vokabeln "drohen" und "Gefahr". – "In der Metallindustrie droht Streik!" oder "Streikgefahr in der Metallindustrie!": Hinter diesen scheinbar sachlich-objektiven Überschriften steckt in Wahrheit die Diskriminierung eines verfassungsmäßig verbrieften Rechts der von Besitz und Verfügen ausgeschlossenen Arbeitnehmer, steckt eine autoritäre Abwehrhaltung gegen den offenen Austrag von gesellschaftlichen Konflikten und steckt eine wirtschaftsromantische Demokratiefeindlichkeit, die den Menschen zum Objekt einer mythisierten Wirtschaft degradiert.

Man mag es als wirtschaftliche Notwendigkeit oder demokratische Anpassung an die Bedürfnisse und das Verständnisniveau der Leser drehen und wenden wie man will: Unter dem institutionalisierten Druck der verlegerischen Profitorientierung, die redaktionell sowohl eine konsumgerechte Informationsauswahl und Informationsaufbereitung als auch eine nahtlose Anpassung an die Interessen der Werbewirtschaft – d.h. an die Moral der Warengesellschaft – impliziert, hat sich hinter dem Anschein der qualifizierten Informationsleistung die journalistische Zielformation praktisch auf eine ökonomische Aufgabe, die marktkonforme und marktstabilisierende Verkaufsleistung, verschoben.

Das bedeutet im redaktionellen Alltag natürlich nicht, daß der einzelne Journalist die Filterung und Bearbeitung des Nachrichtenstoffes bewußt und zielgerichtet auf verkaufsträchtige Symbole der Identifikation und auf ein für die Absatzinteressen der werbetreibenden Industrie sozialpsychologisch normgerechtes redaktionelles Umfeld hin vornimmt, sondern heißt nur, daß der Journalist durch Übernahme der formalen und informalen Mitgliedschaftsregeln der Zeitungsorganisation einem in welchem Sinne auch immer rationalisierten Normensystem untersteht, das systemadäquat auf dem Profitinteresse der privatwirtschaftlichen Zeitungsorganisation und der sie überwiegend finanzierenden Anzeigenkunden basiert und damit unter den verschiedensten Vorzeichen eben diese publizistische Praxis der Produktion und Reproduktion konformistisch eingeschliffener und integrationsfördernder Reizstereotypen herbeiführt.

Die ehrenwertesten politischen Absichten taugen gesellschaftlich wenig, solange der Journalist im Verband des redaktionellen Kollektivs oder einer externen Bezugsgruppe diesen Hintergrund seines Rollenbilds nicht reflektiert, den er mit dem subjektiven Gefühl von Freiheit und Unabhängigkeit leugnen kann, weil er in der Alltäglichkeit seines Berufslebens die Normen des unternehmerischen Journalismus unter Gruppen-, Konkurrenz- und Leistungsdruck rasch verinnerlicht, den er zudem leugnen muß, will er den hinter der Fassade einer "öffentlichen Aufgabe" versteckten Prozeß der Verdinglichung seiner "Seele" zur Ware ohne Selbstwertverlust überdauern.

Die institutionalisierte Unabhängigkeit und Freiheit der Redaktion von dem Druck partikularer Macht- und Profitinteressen – eine elementare Voraussetzung für eine demokratisch verfaßte Presse – ist auf dem Presse-Kommunikationsmarkt so weit aus der politischen Verkehrsgeltung geraten, daß diese Norm der inneren Pressefreiheit von den Interessenten des wirtschaftlichen und politischen Status quo bereits als Auswurf eines wahnwitzigen Radikalismus denunziert werden kann.

So legte zum Beispiel der Präsident des Bundesverbandes Deutscher Zeitungsverleger im Oktober 1970 der unternehmerischen Struktur der Presse nicht einmal mehr deklamatorisch ein demokratisches Korsett über, wenn er Verleger und Öffentlichkeit gegen die Forderung nach Redaktionsstatuten mit der Warnung davor alarmierte, "extremen Kräften auf den Leim zu kriechen, die im Grunde die Verleger entmachten und die Redaktionen allmächtig machen wollten" (DIE WELT, 22.Oktober 1970).

Dieser einleitende Hinweis auf die Verankerung manipulativer publizistischer Prozesse in den wirtschaftlichen und sozialen Strukturen der kapitalistischen Warengesellschaft, auf denen und mit denen die privatwirtschaftlich konkurrierenden Zeitungsverlage am Kommunikationsmarkt funktional für den Gesamtmarkt operieren, ist für das Verständnis der vorliegenden Studie ausserordentlich wichtig, damit sich bei der Lektüre des Textes unter der Hand nicht eine von den eigentlichen Ursachen des gesteigerten Konformitäts- und Manipulationsdruckes gefährlich ablenkende Dramatisierung des für die Gesetze der bestehenden Produktionsverhältnisse nur symptomatischen Komplexes "Springer-Presse" vollzieht. ...

Die Ideologie der Manipulation – Eine Technik der Entwirklichung

Manipulation und Manipulation bedeutet für den Bürger der Warengesellschaft zweierlei. Er goutiert seine Manipulation, solange er sie nicht durchschaut, er leugnet die Realität der Manipulation, wo er sich in ihren Zusammenhang gerückt sieht und dennoch beruft er sich auf Manipulation, wo ihn seine Gesellschaft verwirrt. Obwohl unsere Alltagsrede den Begriff "Manipulation" mit großer Geläufigkeit hervorbringt – etwa in der klischierten Formel, im Grunde sei heutzutage doch alles manipuliert – existiert Manipulation offensichtlich nur in unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit, aber nicht im Bewußtsein der Mehrheit unserer Mitbürger. Denn kommt der Begriff aus der unverbindlichen Allgemeinheit des Klischees in die gesellschaftskritische Rede, die den konkreten Zusammenhang aufzeigt zwischen manipulativen Steuerungstechniken und individuellem Bewußtsein, so weist der manipulierte Souverän entsprechend seinem gelernten Selbstbild in der Regel jeden Bezug zwischen persönlicher Bewußtseinshaltung und gesellschaftlichen Manipulationsmechanismen entschieden zurück.

Es gibt außer den real existenten Prozessen der Manipulation offenbar auch eine Ideologie der Manipulation, vergleichbar der Ideologie der Angst. Manipulation als Ideologie hat für das Individuum eine Entlastungsfunktion gegenüber einer von seinem niedrigen Informationsniveau und seinen unausgebildeten intellektuellen Fähigkeiten her undurchschaubaren sozialen Umwelt, der es sich unter einem von dem Prinzip individueller Verantwortlichkeit geprägten Selbstbild in ohnmächtiger Verantwortunglosigkeit hilflos ausgeliefert fühlt. Wo der Bürger in der repressiven Gesellschaft daher abstrakt und global von Manipulation redet und den Begriff als inhaltsleere Chiffre einsetzt, die ein diffuses Unbehagen an der Kultur markiert, bewahrt er sich vor der schmerzhaften Einsicht in die Wirklichkeit seiner manipulierten psychischen Gleichschaltung.

Mit der Beschwörung des Stereotyps "Manipulation" gelingt es den Individuen, sich von dem Widerspruch der Gefühle zu entlasten, den das etablierte System bei ihnen wachruft, das sie akzeptieren, weil es Wohlstand hervorbringt, das sie bedroht, weil sie sich schutzlos seinem unanschaulichen und inhumanen technokratischen Prinzip ausgeliefert fühlen.

Wo dem Verstand, der außerhalb der gesellschaftlich zugelassenen Problemfelder nicht fragen darf, die Erklärungen für die komplizierte Welt ausgehen, findet die Phantasie Zuflucht bei der mythischen Figur. Im Mythos erscheint "die" Manipulation gewissermaßen als anonyme Macht, auf die der erlebte Konflikt zwischen ideologisch überhöhtem Selbstbild und der depressiven Wirklichkeit politischer Ohnmacht ungelöst abgeschoben werden kann. Je mehr sich der Begriff Manipulation als abstrakte Bezugsgröße, als Klischee für eine entfremdete und bedrohende Kultur in den Köpfen und der Sprache der Individuen einnistet, desto mehr ist ihnen die kritische begriffliche Durchdringung ihrer manipulierten und ausgebeuteten Existenz versperrt.

Denn Manipulation als Ideologie, als kulturell akzeptiertes Schema betrifft immer nur allgemein "die" Gesellschaft, "das" System, "die" Kultur, ohne den einzelnen Menschen konkret einzubeziehen. Das Problem der Manipulation wird aus dem persönlichen Erfahrungsbereich des Einzelnen auf ein ritualisiertes Schema kollektiver "Weltanschauung" abgeschoben und in dieser abstrakten Allgemeinheit gesellschaftlich entwirklicht.

Wie ungenügend der herrschende Begriff von Manipulation durch sachliches Verständnis für den realen manipulativen Zusammenhang der Gesellschaft gedeckt ist, wird deutlich, wenn wir uns vergegenwärtigen, daß Manipulation – als Steuerung der Individuen auf prärationale Verhaltensweisen wider ihre eigenen objektiven Interessen und Bedürfnisse – sich in unserer Gesellschaft ja nicht unter direkter äußerer Terroreinwirkung vollzieht, sondern von den Individuen in subjektiver Freiheit nach verinnerlichtem sozialem Leitwert und konditionierten Vorurteilsreaktionen auf gelernte Signale hin selbsttätig vollzogen wird.

Das herrschende System der social control, das sich im Bürger durch ein seinem Verstand vorgeschalteten Normensystem als Selbstzensur repetiert, funktioniert nur solange, wie der manipulativ korrumpierte Souverän sich die Ausbeutung seiner Sehnsüchte und seines Bewußtseins nicht vergegenwärtigt und seine subjektive Freiheit durch sichtbare oder erkannte Manipulation nicht zur Farce wird.

Die Aussicht auf wachsende kritische Einsicht der Individuen in die manipulativen Techniken der sozialen Strategie ist zweifellos gering. Nicht nur, weil die Menschen bei der Abwesenheit von spürbaren von außen aufgenötigten Zwängen in der etablierten Gesellschaft jene Glücks-, Freiheits- und Befriedigungsmöglichkeiten erleben, die ihnen durch Erziehung, Sozialisation und Reklame als präfabrizierte Leitbilder eingeimpft worden sind, sondern auch, weil mit der Entleerung (und Verharmlosung) des Begriffs Manipulation zur stereotypen Schablone die Realität der Manipulation gegen begriffliche Erkenntnis ebenso abgedichtet wird wie gegen konkrete Erfahrung.

Der überragende Vorzug der unsichtbaren Verhaltenssteuerung durch verinnerlichte Moral, Abwehrmechanismen und konditionelle Reize liegt für die gesellschaftlich herrschenden Gruppen darin, daß die Individuen in der Befangenheit ihres falschen Bewußtseins bei der Begegnung mit kritischer Reflexion und Aufklärung, die ihr Problembewußtsein in der Regel überfordert, selbständig jene erlernten Abwehrmechanismen einleiten, die sie gegen unliebsame Realität und ihrem Selbstwertgefühl zuwiderlaufende Einsichten schützen.

Die Ideologie der Ideologielosigkeit – Exkurs über den bürgerlichen Journalismus

In der Überflutung mit isolierten Fakten und ohne die kritischen Fähigkeiten, politische und ökonomische Zusammenhänge zu durchschauen und zu beurteilen, entwickelt der moralisch überangepaßte Bürger aus Orientierungsangst in der Mitläuferhaltung zunehmend das Bedürfnis nach Belieferung mit präformierter Öffentlichkeit, nach realitätsentlastenden und passenden Nachrichten, die ihn in seinen Vorurteilshaltungen bestätigen. Es scheint, als beginne der Bürger als Objekt der sozialen Steuerung, die ihn in der aktuellen Vermittlung über die Massenmedien erreicht, nun selbst wiederum das Instrument der social control auf Übereinstimmung mit seinen verinnerlichten sozialen Leitwerten und Vorurteilen zu kontrollieren.

Die schlechte Identität des Bürgers der Warengesellschaft erheischt ein Nachrichtenangebot, das mit dem kognitiven Stand seines standardisierten Bewußtseins harmonisiert und ihn vor dem Schock der kognitiven Dissonanz schützt:

Auch unser Fernsehen, daß trotzdem Neven DuMont über Breslau berichten ließ, produziert in seinen sonstigen Sendungen gleich den Hörer mit, der sich gegen Neven DuMont empört und ihn von der Tribüne zerrt. Nicht nur seine Meinung, auch der Mann, der sie äußert, ist der Feind: Sobald nämlich sich der einzelne Bürger aus dem Kulturschutzgebiet allgemein akzeptierter Vorurteile entfernt, wird die uralte Intoleranz gegenüber dem Andersgesinnten plötzlich wieder spürbar; der soziale Friede endet, seit sie selten wurde, an der entgegengesetzten Meinung.

So gerät der Journalist in eine fatale Abhängigkeit nach zwei Richtungen, in einen Teufelskreis der Gleichschaltung von Kommunikatoren und Rezipienten. Denn will sich der Journalist seine beruflichen Aufstiegchancen nicht selbst verbauen, so hat er seine journalistischen Qualitäten weniger durch kritisch analytischen Verstand und sachlich fundierte, auf Strukturzusammenhänge zielende Berichterstattung auszuweisen, als durch marktgerechtes ökonomisches Denken nach den Interessen seines Verlegers, d.h. durch Anpassung seiner Ware an die konfektionierten Konsumgewohnheiten des Publikums. Entfernt sich der Journalist im Bewußtsein seiner politisch-informatorischen Verantwortung aber aus der klischierten Welt popularisierter Abziehbilder der Wirklichkeit, so verliert er leicht jede Resonanz und Aufmerksamkeit bei einem konformistisch eingestimmten Publikum, das als "Anhängsel der Maschinerie öffentlicher Meinung" nicht über die kritischen Kategorien und Fähigkeiten zur Verarbeitung der angebotenen Informationen und Erklärungen verfügt.

Der kollektiv geäußerte Widerstand gegen neue Einsichten, die das Individuum in seiner durch Überanpassung ohnehin stets gefährdeten Identität bedrohen, entmutigt zweifellos viele Journalisten, auf die erkannte Wahrheit hin in der Rolle des Outsiders die belastende Spannung zu Verleger, Kollegen und Publikum zu ertragen, sich der tradierten Ausbeutung von Vorurteilshaltungen, Unwissenheit und Ängsten der Leser zu widersetzen und die gesellschaftliche Wirklichkeit unverschleiert und strukturiert darzustellen.

Die Moral der kritischen Vernunft will abdanken, wenn der Bürger in seinem positivistischen und auf präparierte Imagines der Wirklichkeit fixierten Bewußtsein nicht belehrt, sondern in seinen defensiven Abwehrmaßnahmen unterstützt werden möchte, die ihn von der Last der entfremdeten Realität befreien. Es ist offensichtlich kein weiter Schritt, bis der Journalist unter dem Druck von Verlag, Redaktion und Publikum der gründlichen, umfassenden, wahrhaftigen und kritisch strukturierten Information entsagt und dafür den Markterfolg seiner publizistischen Ware zum Kriterium journalistischer Tüchtigkeit aufwertet. Zumal dann, wenn er von keinem redaktionsinternen oder externen Kollektiv politisch Gleichgesinnter reflektiv und affektiv getragen wird, das seine durch Organisationsdruck überstrapazierte psychische Ökonomie stützt.

Der Zwang zur Manipulation wird zur Moral der "Lebenshilfen" (C. Ahlers), wenn der Journalist zwischen die Mühlsteine von Publikum und politischer Herrschaft gerät, deren Interessen sich aus unterschiedlichen Motiven decken in dem gemeinsamen Wunsch nach konformen (integrationsfördernden) Nachrichten, deren Zirkulation durch keine unpassenden Informationen gestört werden darf, die den Einklang der sozialen Stimmung und die Sicherheit des vorurteils- und tabubesetzten Gesellschafts- und Weltbildes beeinträchtigen. Folgerichtig heißt es in einer vom Verlag Axel Springer u. Sohn zu Werbezwecken herausgegebenen qualitativen Inhaltsanalyse der BILD-Zeitung:
... der einzelne sieht sich einer Welt gegenüber, die in ihrer Unüberschaubarkeit, in ihrer Vielseitigkeit, in ihren komplizierten Wirkungszusammenhängen rational kaum zu fassen und zu durchschauen ist. Um sich dennoch in dieser Situation zurechtzufinden, ist eine Instanz unbedingt erforderlich, die beim Sichten und Einordnen des komplizierten Weltgeschehens hilft, die Maßtäbe und Verhaltensnormen setzt, an denen sich der einzelne orientieren [...] Die BILD-Zeitung erhält die Aufgabe, Ordnung und Zusammenhänge in den Geschehnissen zu finden, sie einerseits in einer faßbaren Form zu übermitteln und andererseits die Ansprüche des einzelnen zu vertreten – im Vertrauen, daß BILD diese Aufgabe zum besten des Individuums löst.

Das ist eine deutliche Absage an den Bürger als entscheidungsfähigen und selbstbestimmenden Souverän. Auf dem Programm steht die autoritätsgebundene Ich-schwache Persönlichkeit, die sich mit der BILD-Zeitung als dem Über-Vater identifiziert, oder wie es in der zitierten BILD-Analyse lautet: BILD übernimmt "voll und ganz die Rolle und Funktion jener Persönlichkeitsinstanz, die als ›Über-Ich‹ elterliche Autorität und die Ansprüche der Gesellschaft im Individuum repräsentiert und gegen die egoistischen Ansprüche des Individuums durchzusetzen hat."

Wo es in Wahrheit um eine verhandelnde Auseinandersetzung zwischen Ich und Über-Ich ginge, tritt BILD als mächtige Vaterfigur auf, die um den Preis regressiver Gehorsamsleistungen "dank ihrer Autorität [...] dem Leser das Ordnen, Sichten, Bewerten der Ereignisse, welche die gegenwärtige Welt repräsentieren", abnimmt und ihm mit ihrer aggressiven Haltung zugleich die faszinierende Möglichkeit gibt, "sich mit diesem überlegenen Angreifer zu identifizieren, in BILD die Realisierung dessen zu erleben, was ihm selbst immer unmöglich sein wird zu verwirklichen.

Die psychologische Dramaturgie der BILD-Zeitung zielt auf eine infantile Stufe der Weltbegegnung ab, auf eine Ebene der behinderten denkerischen Aktivität, auf der die Leser durch Ansprechen ihrer primär-prozeßhaften Phantasien leicht zu manipulieren sind. Der Leser der BILD-Zeitung unterliegt einer rüden und ausbeuterischen Moral, die nicht seine innere ist, sondern ein Zwangsjackett aus Angst, Unwissenheit, Realitätsverkennung und Entfremdung, das ihn hilflos aus Furcht vor Sanktionen und Orientierungslosigkeit der manipulativen Indoktrination und Ablenkung ausliefert und für sie zurichtet. Der Preis für Spannungsentlastung und "Orientierungshilfen", die BILD seinen Lesern verschafft, ist die fortschreitende Desorientierung des Individuums in der durch Abwehrmechanismen entstellten und zum Surrogat verfremdeten Wirklichkeit. In diesem manipulativen Ohnmachtsverhältnis gerät der BILD-Leser in zunehmende Abhängigkeit von den zynischen Hilfeleistungen des "Großen Bruders" BILD, der die Unlust aus Triebversagungen, Einschränkungen, Unwissenheit und Orientierungslosigkeit durch Markierung von Abwehrmechanismen und Objekten der Ersatzlust rasch beseitigt.

In der Gezieltheit ihres manipulativen Konzepts des gesteuerten Konformismus und der gesteuerten Ablenkung des Lesers über ein konditionelles Reizangebot auf ein konditioniertes Reaktionssystem stabil gewordener Wahrnehmungstäuschungen, fällt die BILD-Zeitung zweifellos aus dem Rahmen des bürgerlich-liberalen Journalismus in Westdeutschland. Doch unübersehbar spiegelt sich in der Grundtendenz der BILD-Zeitung, dem autoritären Gestus der Objektivität von hoher Warte, ein typisches Merkmal des bürgerlichen Journalisten wider, eine Attitüde, die ihn – wie vermutlich auch manche seiner Kollegen von BILD – im Bewußtsein höchster Wahrheit und Sachlichkeit in Manipulation und Affirmation treibt.

Denn der bürgerliche Journalist schreibt "sachlich" und "objektiv", wenn er manipuliert, genauer: er manipuliert, weil er einem trügerischen Begriff der Sachlichkeit und Objektivität unterliegt, den er antithetisch zu dem definiert, was seine Gesellschaft "Ideologie" nennt. Der positivistische Ansatz seines Denkens bedingt, daß der bürgerliche Journalist subjektive Werturteile, die sich mit der besonderen Form und Organisation der gegebenen gesellschaftlichen Tatsachen decken, in der Form objektiver Ist-Aussagen ausspricht und daß er objektive Feststellungen (z.B. über die Klassenstruktur der Gesellschaft), die den herrschenden funktionalen Gleichgewichts- und Sachlichkeitsvorstellungen zuwiderlaufen, als "unsachlich" – weil in der unmittelbaren Erfahrung nicht erscheinend – als "Ideologie" zurückweist.
Der bürgerliche Journalismus vertritt eine Ideologie der Ideologielosigkeit, die sich für ideologiefrei hält, weil ihr Träger die herrschende Ideologie unter dem Vorzeichen des Pragmatismus längst verinnerlicht hat. Ein an dem status quo der Gesellschaft orientierter Pragmatismus bedeutet in einer Klassengesellschaft aber nichts anderes als Parteinahme für die gesellschaftlich herrschenden Gruppen, Stabilisierung der bestehenden antagonistischen Struktur und Verewigung von Unrecht und Ungleichheit hinter der trügerischen Fassade von "Sachzwängen" und "funktionalen Erfordernissen".

In der falschen "Sachlichkeit" seines ideologischen Pragmatismus richtet der bürgerliche Journalist den Vorwurf der Ideologie gegen alle politischen Aussagen und Entwürfe, die nicht funktional von der Erhaltung der bestehenden Strukturen ausgehen, sondern politisch von der Herrschaftproblematik der etablierten Gesellschaft:
Die Naivität dieser Vorstellung von Ideologie liegt darin, daß sie alles Denken als ideologiefrei annimmt, sofern es sich nur [an den unmittelbaren Tatsachen. K.A.] der Wirklichkeit orientiert und keine Spuren von den großen Denksystemen des 19. Jahrhunderts aufweist, die nicht nur auf Erklärungen, sondern auf Abänderung, das heißt Verbesserung der bestehenden Verhältnisse hinzielten. Finden sich solche Spuren in Form von Reformvorschlägen, so werden sie teils triumphierend, teils kopfschüttelnd als Ideologie entlarvt.

Der bürgerliche Journalist weist seine Orientierung an der Wirklichkeit dadurch aus, daß er die Kategorien zur "sachlichen" und "objektiven" Beurteilung der politischen und ökonomischen Prozesse aus den funktionalen Erfordernissen des bestehenden gesellschaftlichen Funktionszusammenhanges ableitet. Durch dieses funktionale Verfahren, bei dem strukturell bedingte gesellschaftliche Phänomene in Funktionen (z.B. "Klassenschichtung" in "Funktionshierarchien") übersetzt, also von ihren strukturellen Grundlagen isoliert werden, erhalten die gegebenen gesellschaftlichen Tatsachen eine trügerische Allgemeinheit und Objektivität. Vermutlich unbemerkt von der Mehrheit der bürgerlichen Journalisten verfängt sich ihr Bemühen um Sachlichkeit und Objektivität leicht in den selbstgelegten Schlingen der Ideologie: Was in der funktionalen Argumentation und Sprache als empirische Aussage über etwas Unabänderliches und Gesetzmäßiges auftritt, ist in Wahrheit eine normative Stellungnahme, ist die Ratifizierung der bestehenden Wirklichkeit als ihre eigene Norm.

Wo der bürgerliche Journalist die gesellschaftliche Machtproblematik hinter funktional definierten "sachlichen" Gesichtspunkten aus dem Blick verliert, wo er seine "Objektivität" an die Normen und Bedingungen der etablierten gesellschaftlichen Verhältnisse bindet, besorgt er in der Praxis nicht selten das Gegenteil von dem, was er anstrebt: Wo er auf Objektivität zielt, verharrt er ungewollt im Bereich subjektiver Wertungen, wo er unparteiischer Berater und Beobachter im politischen Geschehen sein möchte, wird er zum Parteigänger der Herrschaft, wo er jede Ideologie vermeiden will, verstrickt er sich zutiefst in die herrschende, wo es ihm um Sachlichkeit und gründliche Analyse geht, kapituliert er vor den unmittelbaren Tatsachen und "Persönlichkeiten", wo er von Realismus redet, leugnet er in seinem positivistisch strukturierten Bewußtsein die Faktoren hinter den Dingen. ...

zurück zur Seite über Manipulation