Auszüge aus Theo Löbsack's
"Die manipulierte Seele"

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Vorwort

Wenn es wahr ist, daß Freude und Leid, Liebe und Haß, Aggression, Güte und ähnliche Regungen für unser Menschsein bezeichnend sind, und wenn dieses Menschsein bisher für eine gezielte Veränderung unzugänglich war, so wissen wir heute: Diese Gewißheit gibt es nicht mehr.

Denn Gefühle wie Zuneigung und Wut, Angst und Wonne lassen sich seit jüngster Zeit auch unabhängig von äußeren Umständen mit der Präzision eines chirurgischen Eingriffs im Gehirn künstlich hervorrufen. Damit scheint es nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis wir sogar Vertrauen und Hoffnung, ja den Glauben an etwas in Form einer chemischen Substanz ins Gehirn träufeln oder als Medikament zu uns nehmen können.

Was das bedeutet, läßt sich heute nur erst ahnen. Man denke nur an die Psychologie der Massenführung. Noch immer hat sich das bittere Wort bewahrheitet, daß alle Möglichkeiten, die ins die Technik erschließt, auch irgendwo und irgendwann einmal verwirklicht werden. Wir stehen heute an einer Wende nicht nur in der Biologie, die daran denkt, die Erbanlagen des Menschen nach eigenem Gutdünken zu verändern – also "nach einem Markierungszeichen am eigenen Bug zu segeln", wie es der englische Kybernetiker McKay ausdrückte. Wir stehen auch an einer Wende in der Steuerung des menschlichen Verhaltens unabhängig von den Erbanlagen. Ist es nicht ein Einbruch in die intimsten Bereiche der menschlichen Person, wenn Betriebsangestellte anregende oder beruhigende Mittel erhalten, damit ihre Arbeitsleistung steige? Von einer jungen, sexuell zurückhaltenden Frau ist bekannt, daß sie unter dem Einfluß einer elektrischen Hirnreizung ihr Wesen tiefgreifend änderte, und ein amerikanischer Wissenschaftler hat ausgerechnet, daß es vermutlich billiger wäre, ein neugeborenes Kind mit Elektroden im Gehirn zu versehen und als "lebenden Roboter" aufzuziehen, als etwa einen mechanischen Roboter mit den gleichen Eigenschaften zu konstruieren.

Heute noch tun wir es als reines Phantasieprodukt ab, daß einst "ferngesteuerte Menschen" existieren könnten, Menschen mit Drähten im Kopf, die aus einer Zentrale mit Funksignalen versorgt werden, Menschenheere vielleicht, die sich in dröhnendem Gleichschritt in Bewegung setzen könnten, um künftigen Diktatoren zu dienen. Aber die Zeit, da solche Pläne durchführbar würden, mag näher sein als erwartet, wie auch der erste "eingefrorene Mensch" – von der Aussicht auf Unsterblichkeit fasziniert – überraschend schnell Wirklichkeit geworden ist.

Man mag einwenden, solche Heere entmenschlichter Menschen seien im Zeitalter der Atombombe eine kaum ernstzunehmende Gefahr. Wie aber, wenn es sich nicht um Massenauftritte solcher Wesen handelte? Wenn sie einzeln tätig würden? Wenn man sie zu gefahrvollen Einzelaktionen "dressierte", zu Terrorakten, zur Spionage, zu tollkühnen Einzelkämpfen im Krieg, kurz zu solchen Unternehmen, die zur technischen Beherrschung einer Aufgabe noch ein Höchstmaß an Mut, Spannkraft und Ausdauer erfordern, oder die extreme Haßgefühle voraussetzen? Welche strategischen oder persönlichen Wünsche blieben dem unerfüllbar, der über elektrodisierte oder durch chemische Massen-Beeinflussungsmittel gesteuerte Menschen befiehlt?

Für viele noch erschreckender ist der religiöse Aspekt. Die Diskussion um Gott bewegt heute die ganze christliche Welt. Gott als allmächtiges, allgütiges und allwissendes persönliches Wesen ist uns schon lange nicht mehr vorstellbar. Schwerer wiegt, daß uns Gott auch als Geistwesen nicht mehr glaubwürdig erscheint, seit wir erkannt haben, daß die Seele nichts anderes sein kann als eine Funktion des Körperlichen. Was blieb, sind mehr oder weniger nebelhafte Definitionen der Theologen wie die, Gott sei "Der ganz Andere" oder "Die Tiefe der Wirklichkeit". Gänzlich aufgeben mag man IHN also nicht, und zum Beweise Gottes verweist man nun beharrlich auf jenen "Erfahrungsbereich tief in uns Menschen", der "jenseits des wissenschaftlichen Zugriffs" die Gegenwart Gottes anzeige. Man pocht auf das transzendente Erleben schlechthin, auf die unveräußerlichen Werte unserer Gefühle, auf Nächstenliebe, Schuldempfinden, auf Freude, Geborgensein und Kunstgenuß – also auf das, was "Gott" in unseren Herzen lebendig werden lasse.

Welchen Stürmen ist nun aber auch diese Bastion des christlichen Glaubens ausgesetzt? Dieses Buch wird sich mit Glaubensfragen nicht beschäftigen, dennoch werden gerade sie überall zwischen den Zeilen stehen. Wenn Liebe und Haß, Vertrauen und Angst zurückgehen auf chemische Umsetzungen im Gehirn, wenn sie unabhängig von äußeren Erlebnissen steuerbar, wenn sie beliebig hervorzurufen oder "abstellbar" sind, wenn man einem Menschen Glück und Schmerz eingeben kann wie eine Arznei oder aufzwingen kann durch einen elektrischen Reiz in seinem Gehirn – was bleibt dann noch von der "Göttlichkeit" zurück, die der "transzendente Erfahrungsbereich" angeblich offenbart? Dann ist Gott auch aus diesem Rückzugswinkel verdrängt. Dann leben wir in einer verteufelt verstehbar gewordenen Seelenwelt, die Gott zur Erklärung selbst unserer Moral nicht mehr braucht.

Auch der medizinisch-juristische Aspekt eröffnet uns neue Möglichkeiten, liefert aber auch ganz neue und unheimliche Probleme: "Wir werden uns noch in den Tod hinein beruhigen", erklärte einst ein weiser Zeitgenosse angesichts der gegenwärtigen Schwemme hochwirksamer "Tranquilizer". Wie wahr dieses Wort werden sollte, erwies sich Mitte des Jahres 1978 in den beiden größten Heil- und Pflegeanstalten New Yorks, als dort Überdosen von Beruhigungsmitteln zum Tod zahlreicher Kranker beitrugen. Viele Patienten, so der medizinische Examinator im Bezirk Rockland County, seien "zur Bequemlichkeit der Ärzte" so sehr unter Psychopharmaka gesetzt worden, daß sie keine Schmerzen mehr als Warnzeichen schwerer Krankheiten spürten.

Was die Psychopharmaka außer ihrer gewünschten und auch segensreichen Wirkung noch alles bewirken, ist weniger bekannt. Sie können die Persönlichkeit eines Menschen verändern, sein Verantwortungsgefühl, seine körperliche und geistige Reaktionsfähigkeit, sein Pflichtbewußtsein, sein Gefühl für Schuld und Sühne beeinflussen und – was das Unheimlichste ist: Sie können dies schleichend tun, unbewußt für den Betroffenen, so daß er unschuldig schuldig werden kann. Es hat einen Fall gegeben, in dem ein Arzt wegen Abtreibungen verurteilt wurde, dann aber im Gutachten eines Psychiaters gezeigt werden konnte, daß der Mann Jahre zuvor – medizinisch zu Recht – regelmäßig bestimmte Arzneien zu nehmen begonnen hatte. So hatte sich seine Persönlichkeit allmählich verändert, ohne daß ihn dafür ein Schuldvorwurf treffen konnte. Auch zur Tatzeit war er damit für seine Handlungen nicht mehr verantwortlich zu machen.

Welche Probleme kommen hier auf die Justizbehörden zu? Welcher Verantwortung werden sich die Ärzte ausgesetzt sehen, wenn sie ihren Patienten für längere Zeit Beruhigungsmittel verschreiben?

Schließlich das Verhältnis von Mensch zu Mensch: Ein leidenschaftlich diskutiertes pharmazeutisches Präparat ist das Lysergsäurediäthylamid, das LSD. Über seine Wirkung sind abenteuerliche Berichte veröffentlicht worden. Vieles an diesen Berichten trifft zu – manche Beschuldigungen aber haben das LSD zu Unrecht in Verruf gebracht.
Zwei Eigenschaften des LSD hat man bisher zu wenig beachtet. Die eine ist seine Wirkung im sexuellen Bereich. Man hat sie hier und da bestritten, dennoch ist sie vorhanden und vermag den Beteiligten völlig neue Welten zu erschließen. Die andere Eigenschaft ist der Einfluß des LSD auf die geistig-seelischen Beziehungen zweier Menschen zueinander. Timothy Leary, der umstrittene amerikanische "LSD-Apostel", hat vor den starken zwischenmenschlichen Bindungen gewarnt, die ein LSD-Rausch zustande bringen kann, und durch die zwei Menschen aneinander gekettet werden können – im Guten wie im Bösen. Auch mit dem LSD und seinen neu entdeckten chemischen Verwandten steht die Unantastbarkeit der Person auf dem Spiel, auch hier ist ein Einbruch ins innerste Ich erfolgt, tiefer noch, als wir es ahnen konnten: Die Entscheidungsfreiheit, ein scheinbar so gut gesichertes Bollwerk des Menschen, ist in Gefahr.

Wir fragen uns heute, warum der moderne Mensch von Neurosen geplagt wird und versuchen, Erklärungen dafür zu finden. Doch würden wir wenig gewinnen, wenn wir diesem Menschen das "Zurück zur Natur" empfehlen wollten. Denn eine "natürliche Lebensweise" läßt unser technisches Massenzeitalter nicht mehr zu. Auch dieses Buch kann keine Patentrezepte zur Lösung seelischer Probleme liefern. Vielleicht wird der Leser aber auf einen noch unausgeschöpften Reichtum in seinem Innern aufmerksam werden. Er wird von Erkenntnissen hören, die dazu führten, daß unsere Seele heute "manipulierbar" geworden ist. Wir werden von der Gehirnforschung sprechen, von den Experimenten Pawlows, den Praktiken der Gehirnwäsche und der Entdeckung von "chemischen Sieben-meilen-Stiefeln". Auch von den Möglichkeiten und Grenzen wird die Rede sein, die uns mit den modernen Seelenarzneien und einigen vorschnell verurteilten Rauschgiften gegeben sind.

Sollen wir uns gegen die neuen Methoden der Erforschung und Kontrolle unseres Ichs zur Wehr setzen? Längst haben wir uns an chirurgische Eingriffe, die Untersuchung des menschlichen Körpers mit Sezierinstrumenten, an Mikroskop und Medikamente gewöhnt – sollten uns dann nicht auch jene Hilfsmittel willkommen sein, die uns neue Seiten unserer Psyche erschließen helfen?

Wir, die wir eingespannt sind in den entnervenden Betrieb einer auf Leistung bedachten Welt, die wir an Verklemmungen und Verdrängungen leiden, die wir vielfach schon zur bloßen Funktion herabgewürdigt sind, wir haben vieles von unserem ursprünglichen Menschsein hergeben müssen. Um so mehr aber sehnen wir uns nach ihm zurück. Gilt uns die persönliche Freiheit noch etwas? Dann dürfte es beispielsweise nicht sein, daß wir einen Mitmenschen als gefährlich, asozial oder kriminell bezeichnen, weil er etwa bestimmte Drogen einnimmt, weil er sich mit Hilfe chemischer oder anderer Mittel künstlich in ein Reich begibt, in dem er – ganz für sich und ohne seine Mitwelt zu belästigen – dieses Menschsein wieder zu spüren vermeint. Wir sollten vielmehr versuchen, solch Verhalten zu verstehen und die Möglichkeiten, die uns die moderne Pharmakologie, die Gehirn- und Seelenforschung erschlossen haben, unserem westlichen Kulturerbe nutzbar zu machen, bevor die technische Zivilisation dieses Erbe vollends überwuchert.

Dieses Buch will vor allem informieren. Es will zum Verständnis einer Entwicklung beitragen, deren Gefahren und Verlockungen uns heute gleichermaßen bewegen. Darüber hinaus will es schlicht zum Nachdenken anregen.

Inhaltsverzeichnis

Einbruch ins innerste Ich (anstelle eines Vorworts)
Der Mensch im Massenzeitalter
Neurose und Verbrechen
Die innere Leere
Invasion der Wünsche
Immer mehr Erdbewohner: Die Seelenbelastung wächst
Verborgene Kräfte in uns
Sekundär-Gedächnisse
Sinnesleistungen, die verblüffen
Physik der Seele
Stationen der Hirnforschung: von Mumienschädeln und "protoplasmatischen Küssen"
Das Gehirn als Zielsuch-Maschine
Was das Gehirn sich nicht gefallen läßt
Sauerstoffmangel und künstliche Unterkühlung
Der Eingriff mit dem Zielgerät
Gehirnwäsche
Was ist die "Persönlichkeit?"
Pawlows Versuche
Die "ultraparadoxe Phase"
Die "Kampf-Erschöpfung" und das Mittel der Isolierung
Die manipulierte Seele
Liebesgefühle auf Kommando
Wut- und Wonnezentren im Gehirn
Chemie der Seele
Hunger und Durst auf chemischen Befehl
Die gefährlichen Paradiese
Tabak, Kaffee und Tee
Opium oder das Geheimnis des Glücks
Der Haschisch-Rausch: ein Ozean aus Tönen
Coca vertreibt die Müdigkeit
Die Sucht oder die Flucht aus der Wirklichkeit
Schmerz und Wehleid
Über sich hinauswachsen
"Psycho-Energizer"
Die Gedächtnis-Pille
Chemische Siebenmeilen-Stiefel
Die Leistung steigt im elektrischen Feld
Über sich hinauswachsen – auch sexuell?
Liebe im LSD-Rausch
Seelenarznei und Legalität
Mittel, die die Zunge lösen
Gefährliche Kombination: Arznei und Alkohol
Psychopharmakon und Strafrecht
Hilfe für die Ruhelosen
Der Verfolgungswahn verliert seine Schrecken
Lassen sich Verbrechen voraussagen?
Gegen Lampenfieber und Examensangst
Schattenseiten
Darf die Persönlichkeit verändert werden?
Das geweitete Bewußtsein
Meskalin und die mexikanischen Zauberpilze
LSD – die "Wasserstoffbombe" für die Seele
Reisen in die Vergangenheit
Vom blauben Windstoß und ungelösten Welträtseln
"Transzendentales Leben" auf dem Hängeboden
LSD in der Psychiatrie
Was geschähe, wenn ...?
Die Seele darf nicht verkümmern
Anmerkungen

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