Auszüge aus Douglas Rushkoff's
"Der Anschlag auf die Psyche"

Wie wir ständig manipuliert werden

Informationen zu Douglas Rushkoff bei Wikipedia

zurück zur Seite über Manipulation

Einleitung: "Sie" sagen

Sie sagen, daß die Menschen nur zehn Prozent ihres Gehirns nutzen. Sie sagen, daß mehrfach ungesättigte Fettsäuren besser für uns sind als gesättigte. Sie sagen, daß die winzigen Unebenheiten eines Steins beweisen, daß es auf dem Mars einmal Leben gab. Sie sagen, daß unsere Kinder bei Klassenarbeiten immer weniger Punkte erzielen. Sie sagen, daß Jesus ein direkter Nachkomme König Davids war. Sie sagen, wir könnten 25.000 DM pro Woche zusätzlich verdienen. Sie sagen, Marihuana zu rauchen führe geradewegs zu LSD und LSD in den Selbstmord. Sie sagen, wer im Eckbüro sitze, habe eine Machtposition. Sie sagen, ältere Menschen sollten sich im kommenden Winter gegen Grippe impfen lassen. Sie sagen, Homosexualität sei sozial erlerntes Verhalten. Sie sagen, Homosexualität sei genetisch bedingt. Sie sagen, Menschen würden in Hypnose alles tun. Sie sagen, Menschen in Hypnose würden nichts tun, was sie nicht auch bei vollem Bewußtsein täten. Sie sagen, Prozac helfe gegen Depressionen. Sie sagen, offene Investmentfonds seien auf Dauer die beste Geldanlage. Sie sagen, Computer könnten das Wetter vorhersagen. Sie sagen, wir bräuchten mehr Ausgaben, um einen höheren Betrag von der Steuer absetzen zu können.

Aber wer genau sind "sie", und warum sagen sie so viel? Und was noch erstaunlicher ist: Warum hören wir auf sie?

"Sie" sehen für jeden von uns anders aus, diese Vorgesetzten, Experten und Autoritäten (echte und vermeintliche), die offenbar über unser Leben und unser Schicksal bestimmen und unsere Zukunft gestalten. Im besten Fall vermitteln sie uns ein Gefühl der Sicherheit, wie wir es von unseren Eltern her kennen. "Sie" entscheiden für uns. Sie nehmen uns das Denken ab. Um den nächsten Schritt brauchen wir uns nicht zu kümmern – es ist alles schon für uns entschieden worden; und zwar nur zu unserem Besten. Hoffen wir wenigstens.

Tatsächlich aber verdient nicht jeder unser Vertrauen. Die junge hübsche Verkäuferin bei Gap ist vielleicht nicht die geeignetste Person, wenn es darum geht, ob uns diese Jeans steht oder welchen Gürtel wir bei einem Bewerbungsgespräch tragen sollten. Auch wenn es so aussieht, als sei sie ehrlich an unserem Wohlergehen interessiert, dürfen wir nicht vergessen, daß sie in der Kunst des "Turboverkaufens" unterwiesen wurde und einem Trommelfeuer von Prämien und Provisionen ausgesetzt ist, das man sich in den Vorstandsetagen des Konzerns ausgedacht hat. Einerseits wetteifert sie mit ihren Kollegen um Tagesprämien, andererseits muß sie eine Abmahnung oder gar Kündigung befürchten, wenn sie am Ende der Woche ein bestimmtes Soll an verkauften Artikeln nicht erreicht hat. Die Techniken des sanften Zwangs, mit denen sie traktiert wurde und mit denen sie ihrerseits uns traktiert, sind das Ergebnis jahrelanger beharrlicher Forschung.

Die zurecht Kritischen unter uns rechnen bei allen professionellen Dienstleistungen mit dieser Art von Behandlung. In dem Moment, in dem wir ein Einkaufszentrum betreten, ist klar, daß wir bestimmten Formen der Beeinflussung ausgesetzt sein werden. Wir wissen, daß der Einzelhandel in der Hierarchie ganz unten angesiedelt ist und die Ladeninhaber, um im Geschäft zu bleiben, darauf angewiesen sind, daß wir uns vorhersehbar und gefügig verhalten. Sollte sich die Menge der verkauften Waren dadurch steigern lassen, daß die Verkäuferin den zweiten Knopf ihrer Bluse öffnet, dann glaubt der Filialleiter, daß er es sich, seinen Vorgesetzen und den Aktionären schuldig ist, der Angestellten ein entsprechendes Verhalten nahezulegen. Man darf fast wetten, daß es so läuft.

Der Anwendungsbereich solcher Techniken läßt sich von der Ladentheke und dem Fernsehapparat auf fast alle anderen Bereiche unseres täglichen Lebens erweitern. Ob wir durch die Fußgängerzone schlendern, im Internet surfen oder einfach versuchen, in der nächsten Kneipe mit jemandem ins Gespräch zu kommen – unablässig werden wir von einer professionellen Kaste geheimer Verführer unter Beobachtung und Beschuß genommen. Daß der sanfte Zwang funktioniert, merken wir meist überhaupt nicht.
Es läßt sich nicht immer mit Bestimmtheit sagen, wann genau wir resignieren und die Entscheidung anderen überlassen. Je besser und raffinierter die Manipulation, desto weniger wird sie uns bewußt. Haben Sie nicht auch schon in einer bestimmten Laune eine Sportveranstaltung, ein Rockkonzert, eine politische Kundgebung besucht und sich unvermutet von der Stimmung der Menge mitreißen lassen? Wie oft sind Sie in ein Einkaufszentrum gegangen, um lediglich ein Paar Schuhe zu kaufen, und sind von Kopf bis Fuß neu eingekleidet und mit einigen Büchern und CDs unterm Arm zum Parkdeck zurückgekehrt?

Ist es Ihnen noch nie passiert, daß Sie ans Telefon gegangen sind und festgestellt haben, daß der Anrufer einer Organisation angehörte, die Sie nicht im Traum unterstützen wollten; und doch haben Sie weiter zugehört, sich schließlich auf eine Spende eingelassen oder eine Zeitschrift abonniert? Wie hat der Autoverkäufer Sie dazu gebracht, mehr für ein Auto auszugeben, als Sie ursprünglich vorgehabt hatten, mit mehr Extras als geplant, obwohl Sie sich vorher wohlweislich bei der Verbraucherzentrale informiert hatten?

Wie schafft es die Werbung in Modemagazinen, daß wir uns nie schlank und schön genug fühlen, und warum sehen wir uns gerade deswegen gezwungen, die darin angepriesenen Produkte zu kaufen? Wie kommt es, daß wir glauben, über die Wirkung von Werbung und Marketing Bescheid zu wissen – und ihnen doch immer wieder zum Opfer fallen?

Warum lassen sich unsere Kinder mit dem Logo der Marke Nike tätowieren? Treiben sie einen obskuren Firmenkult? Wenn junge Leute heutzutage über altmodisches Marketing angeblich nur noch lachen, warum haben sie dann das Gefühl, ausgerechnet eine Turnschuhmarke könne ihnen eine neue Identität verleihen?

So viele Techniken des sanften Zwangs wir auch als solche erkennen – es kommen immer wieder neue hinzu, die wir nicht kennen. Kaum sind wir immun gegen die aggressiven Verkaufsmethoden, wie sie der herkömmliche Autohändler praktiziert, hat sich ein hochbezahlter Werbestratege schon die nächste Marke ausgedacht, mit einem völlig neuen Image – wie den "Saturn" von General Motors, dessen Händler die "weiche" Verkaufstechnik pflegen, um dasselbe Ziel zu erreichen, aber eben auf subtilere Weise. Medienerfahrene junge Leute reagieren mittlerweile fast allergisch auf die Art von Werbung, die ihre Produkte als besonders "cool" ausgibt. Prompt produzieren die Firmen im Gegenzug ausgesprochen "uncoole" Werbung speziell für den kritischen Zuschauer, der sicher ist, daß jeder Versuch der Beeinflussung an ihm abprallt. "Image ist nichts, Durst ist alles" – damit gehen die Sprite-Werbeleute jetzt auf ihre Zielgruppe los, die der schicken Parolen überdrüssig geworden ist. Unser Versuch, dem sanften Zwang noch einen Schritt voraus zu sein, bringt sie höchstens dazu, noch raffiniertere, weniger sichtbare und dabei aber gefährlichere Verführungstechniken zu entwickeln. Hersteller und Konsumenten befinden sich in einem Rüstungswettlauf. Jede Anstrengung unsererseits, zu einem selbstbestimmten Handeln zurückzufinden, stößt auf immer größere Anstrengungen, dieses zu torpedieren.

Wenn wir aber nicht mehr über diese unsichtbare Hand nachdenken, die unser Beobachten und unser Handeln lenkt, dann laufen wir Gefahr, wahnsinnig zu werden. Zwar können wir gar nicht immer genau sagen, wann wir das Gefühl haben, unsere Handlungen würden von äußeren Kräften beeinflußt, doch es hilft nichts: Wir werden nervös. Immerhin laufen wir in Einkaufszentren herum, die von Psychologen entworfen wurden, und wir erleben die Wirkung ihrer Architektur- und Farbkonzepte auf unser Einkaufsverhalten. Wie geschickt der sanfte Zwang auch versteckt ist: Wir spüren doch, daß er uns dazu bringt, unsere Schritte anders zu lenken und etwas anderes zu tun als wir eigentlich wollen; mag die Wirkung auch noch so gering sein. Vielleicht gestehen wir es uns nicht ein, daß uns die Raumverteilung im Einkaufszentrum woanders hin geführt hat, als wir eigentlich wollten – die Orientierung verloren haben wir doch. Wir wissen nicht mehr, wie wir zum Auto zurück kommen und müssen womöglich an zwanzig weiteren Geschäften vorbei, um zum Ausgang zu gelangen.

Damit wir die Illusion der Selbstbestimmtheit aufrechterhalten können, verdrängen wir die aufkommende Panik. Leider unterdrücken wir auch um so mehr unseren Widerstand, je mehr wir die leise Stimme zum Schweigen bringen, die uns sagt, daß Gefahr im Verzug ist. Wir verleugnen das, was wir empfinden, und wir verlieren den Bezug zu dem, was von unserem freien Willen übrig geblieben ist. Und in der Folge werden wir sogar zu einer noch besseren Zielscheibe für die, die unser Handeln steuern möchten.

Ich war nicht immer dieser Auffassung. Im Gegenteil: Jahrelang war ich überzeugt, daß wir den Krieg gegen die gewinnen können, die unseren Willen zu formen versuchen. In den Achtzigern und frühen Neunzigern war ich optimistisch, weil mir Kabelfernsehen, Videospiele, der PC und das Internet ein neues Verhältnis zu den herkömmlichen Medien zu versprechen schienen und die Gelegenheit, den ihnen eigentümlichen sanften Zwang zu unterlaufen. Videokameras für den Privatbereich entzauberten die Fernsehnachrichten, und offene Fernsehkanäle boten jedem die Möglichkeit, seine Version des Weltgeschehens auszustrahlen. Der amerikanische Sender CSPAN deckte nicht nur die hohle Rhetorik unserer gewählten Volksvertreter auf, sondern auch, daß sie sich vor meist halbleeren Parlamentsbänken verausgaben.

Die geringen Kosten für Videoaufnahmen und die Zunahme der verfügbaren Kanäle riefen zahllose Billig-Fernsehshows ins Leben. Wie die Boulevardpresse posaunten diese Programme Geschichten hinaus, die seriöse Nachrichtenagenturen nie verbreitet hätten – was wiederum sämtliche journalistischen Grundregeln umstieß und neue Nachrichtenquellen und Präsentationsformen entstehen ließ. Boulevard- und Internet-Journalisten waren die ersten, die alles veröffentlichten, angefangen von Clintons Verabredungen mit Gennifer Flowers und Monica Lewinsky bis hin zu Prinz Charles’ kleinen schmutzigen Telefongesprächen mit Camilla Parker Bowles. Time und Newsweek taten ihr Bestes, auf dieser Welle mitzuschwimmen.

Diskussionsgruppen und Nachrichtensites im Internet haben uns ein neues Forum geschenkt, in dem wir über die Informationen sprechen konnten, die uns wichtig schienen. Online konnten wir uns über den neuesten Stand in der Bekämpfung von Aids und Krebs informieren und dann unsere Ärzte über eine mögliche Behandlungsmethode löchern. Auch wenn wir eigentlich nur etwas kaufen wollten, gab uns das Internet die Möglichkeit, auf der Stelle Preise und Angebotsprofile zu vergleichen und uns mit anderen über ein Produkt auszutauschen, bevor wir es erwarben.

Währenddessen hatten junge Computer-Hacker die Regie über die Kontrollschirme unserer elektronischen Gesellschaft übernommen. Bankauszüge und andere persönliche Daten, die früher nur Kreditinstitute und Bankangestellte zu Gesicht bekamen, konnten nun von jedem gewieften Vierzehnjährigen eingesehen werden. Und so wurde unsere Privatsphäre zu einem öffentlich diskutierten Thema. Langsam dämmerte uns, daß Informationen über uns ohne jede Einwilligung gesammelt, gekauft und verkauft wurden, und wir unterstützten Aktivisten, Organisationen und Kandidaten, die versprachen, mit ihrer Politik diese Invasion aufzuhalten.

Das Internet hat uns in stärkerem Maße bewußt gemacht, wie Nachrichten und Public Relations entstehen und verbreitet werden. Als wir an Presseverlautbarungen und Unternehmensdaten herankamen, bekamen wir aus erster Hand mit, wie leicht es PR-Fachleuten gemacht wird, die Abendnachrichten für ihre Zwecke zu gestalten. Anfang der neunziger Jahre stellte ein Mitarbeiter einer Internet-Nachrichtensite Auszüge aus den Regionalnachrichten Wort für Wort den vorbereiteten Pressemitteilungen der betreffenden Unternehmen oder Personen gegenüber: Das Ergebnis war beunruhigend – ganze Absätze waren direkt aus den Presseverlautbarungen in den Nachrichtentext übernommen worden.

Als uns bewußt wurde, mit welchen Mitteln die herkömmlichen Medien heute arbeiten, erlebten wir eine neue Form kultureller Aufklärung. Als wir die schamlose Habgier der Fernsehprediger durchschauten, sahen wir plötzlich auch das Ritual um die Sammelbüchse in der Kirche mit anderen Augen. Unsere Fähigkeit, die politischen Vorgänge zu zergliedern und zu "dekonstruieren", führte zum Triumph von hausgemachten, unabhängigen Präsidentschafts-Kandidaten wie Ross Perot und Jerry Brown, deren Kampagnen Bürgernähe und Verantwortungsbewußtsein versprachen.

In der Zwischenzeit demontierten Fernsehserien wie "Beavis und Butthead" und die "Simpsons" die Galaxie der Medien auch für unsere Kinder. Mit Bart Simpson als Vorbild bewahrte sich die Generation, die in den vergangenen zehn Jahren groß geworden ist, eine gewisse Distanz zu den Medien und Marketing-Methoden, denen ihre Eltern auf den Leim gegangen waren. Während Homer Simpson, Barts Vater, bei jeder Bierwerbung Stielaugen bekam, trainierte sein Sohn lieber auf dem Skateboard, um wendig und schnell zu bleiben. Dank Bart lernten unsere Kids, bewegliche Ziele zu sein.

Als glücklicher Zeuge dessen, was sich in unserer Kultur abspielte, fing ich an, Bücher zu schreiben, in denen die Befreiung durch die neuen Medien gefeiert wurde. Cyberia pries Wissenschaftler, Hacker und Idealisten, die entschlossen waren, mit diesen neuen Instrumenten eine bessere Gesellschaft zu schaffen. Die technologische Revolution schien mir wie eine alle Schichten umfassende Renaissance, in der die Menschheit nach Jahrhunderten gnadenloser Manipulation endlich erwachen würde. Hierarchien und soziale Steuerung würden bald der Vergangenheit angehören – in dem Maße, in dem jeder seine Rolle innerhalb der sich entfaltenden Zivilisation erkennen würde. Meine Vision schien sich zu bestätigen, als das Internet immer populärer wurde und die vielbelächelten Freaks des Silicon Valley die kommunikative Infrastruktur der Weltwirtschaft umzustrukturieren begannen. Das Internet würde nicht der Vergessenheit anheimfallen wie der CB-Funk. Unsere Kultur verdrahtete sich allmählich.

Ich begeisterte mich für die innere Logik und die interaktiven Merkmale dieser neuen Medienlandschaft. Genau so, wie unsere Chaosmathematiker und Quantenphysiker es prophezeit hatten, wagten wir uns in unbekannte Regionen vor, in denen größte Veränderungen des Systems durch winzige Handlungen herbeigeführt werden konnten. In einem so dynamischen System wie dem Wetter, lernten wir dabei, konnte ein einziger Schmetterling, der in Brasilien mit den Flügeln schlug, in New York einen Orkan auslösen. Analog dazu verlieh das Zauberwort von "Rückkopplung und Iteration" jedem einzelnen Mitglied des ganzen Netzwerks furchterregende Macht. Da nun die Medien zu einem solchen System geworden waren, konnte ein einziges, mehrfach kopiertes und immer wieder ausgestrahltes Camcorder-Band mit einer einzigen Szene, in der ein Schwarzer in Los Angeles von weißen Polizisten verprügelt wurde, zu Aufständen in Dutzenden von amerikanischen Städten führen.

Durch diese Entwicklungen ermutigt, schrieb ich in den frühen Neunzigern eine optimistische Abhandlung über die neuen Möglichkeiten einer "organischen Medienlandschaft". Ich schlug allen, die Internet-Zugang oder eine Videokamera hatten, vor, provokative Ideen in mutierende Medienpäckchen – auch "Viren" genannt – zu packen und auf die Menschheit loszulassen. Durch den Wildwuchs des Werbefernsehens hatte jeder auf der Welt in der einen oder anderen Form Zugang zu den Medien erhalten. Was die Leute, die all die Kabel verlegen und Fernsehsatelliten aufstellen, nicht begriffen, war, daß die Elektronen in beide Richtungen reisen können. Medien für den Hausgebrauch wie Camcorder, Faxgeräte und Internetanschlüsse ermöglichten es uns, unsere Ideen in die Medienlandschaft einzubringen.

Groß angelegte, teure PR-Kampagnen für das große Publikum erübrigten sich. Jetzt konnte jeder eine Idee vom Stapel lassen, und sie würde sich von selbst verbreiten, solange sie in ein neues, nicht sofort erkenntliches Medium verpackt war. Diese "anderen" Medien, die man auch "Medien-Mutanten" nennen könnte, stießen auf Aufmerksamkeit, weil sie einfach schräg waren. Und den Medien ist nichts lieber, als sich mit neu aufkommenden Medienformen zu beschäftigen. Das Rodney-King-Videoband (über den Schwarzen, der mißhandelt wurde) konnte sich so weit verbreiten, weil es zeigte, wie mächtig eine neue Technik – der Camcorder – sein konnte, und es also nicht ausschließlich um die Bilder ging, die sie transportierte. Einer der Gründe, warum die Story von O. J. Simpson zum größten Kriminalfall der amerikanischen Geschichte wurde, war der Umstand, daß an ihrem Beginn ein mutierendes Medienereignis stand: mit der landesweit übertragenen "Bronco"-Jagd, wobei die Fernsehzuschauer in Los Angeles ihre Häuser verließen, als die Autokolonne vorbeikam und so zu Darstellern auf ihrem eigenen Fernsehschirm wurden. Auch die Aktionen der "Öko-Terroristen" von Greenpeace oder unkonventioneller Politiker mit ihren medienwirksamen Eskapaden erlangten weltweite Aufmerksamkeit – einfach, weil sie ihre Kampagnen in Form von "Medien-Viren" abfeuerten.

Die Hegemonie der Medienmagnaten Hearst und Murdoch war vorbei. Wir waren in ein Zeitalter eingetreten, in dem eine Idee lediglich durch ihre Fähigkeit limitiert wurde, uns durch die Neuartigkeit ihrer Verbreitung zu fesseln. Eine Idee hing auch nicht länger von der Glaubwürdigkeit ihres Urhebers ab – es reichte, daß sie irgendwie unsere Fantasie ansprach und zu einigen unserer (manchmal recht merkwürdigen) Ansichten paßte, und schon erreichte sie eine gewisse Breitenwirkung. In einem fast darwinistischen Kampf ums Überleben, schlugen die "fitteren" Ideen die anderen aus dem Feld. Diese neuen, "mutierten" Medienformen brachten unsere kulturelle Evolution voran, gaben den Menschen wieder neuen Mut und denen eine Stimme, die vorher überhaupt keinen Zugang zur Bühne der Welt gehabt hatten.

Das Beste daran war, daß diese Entwicklung von ganz jungen Leuten angeführt wurde. Erwachsene waren in diesem neuen Reich der interaktiven Medien wie Einwanderer, die Kids hingegen, mit dem Joystick in der Hand aufgewachsen, die Einheimischen. Sie beherrschten die Sprache der neuen Medien und der Werbung besser als die Erwachsenen, die sie damit beeinflussen wollten. Mit welchen Medien kann man einen jungen Menschen manipulieren, wenn man im Vergleich zu ihm fast Medien-Analphabet ist? Er wird jeden unbeholfenen Versuch, ihn mit bedeutungslosen Assoziationen und angelernten Rollenmodellen zu überreden, sofort durchschauen. Hat diese Generation erst das Erwachsenenalter erreicht, dachte ich, würde das Zeitalter der Manipulation definitiv vorbei sein.

Nach dem Erscheinen eines Buches, in dem ich die Meinung geäußert hatte, die Zeit der Marketingfeldzüge neige sich dem Ende zu, bekam ich plötzlich Anrufe von Politikern, Medienunternehmen und Werbefachleuten sowie von den Vereinten Nationen, die es kaum erwarten konnten, sich von mir die neuen Regeln des interaktiven Zeitalters erklären zu lassen. Ich hatte keine Schuldgefühle dabei, ihnen Geld abzuknöpfen und gleichzeitig zu sagen, daß der Geist längst aus der Flasche geschlüpft und nicht mehr dorthin zurückzukriegen war. Ich kam mir vor wie ein Missionar, der die Nachricht verkündet, daß die Öffentlichkeit zu viel über das Geschäft der Medien weiß, um sich noch länger narren zu lassen. Den Leuten der Werbebranche bliebe nur eine Alternative: die Wahrheit. Diejenigen, die gute Ideen hätten oder nützliche Produkte herstellten, würden Erfolg haben, der Rest zugrundegehen.

Zuerst fiel es mir leicht, die Arbeiten von mäkelnden Cyber-Theoretikern wie Jerry Manders, Paul Virilio und Neil Postman beiseite zu schieben, die die Ansicht kritisierten, die neuen Medien würden kulturell, wirtschaftlich oder anderweitig positiv auf das Machtgefüge wirken. Es gab einfach zu viele Indizien, die für das Gegenteil sprachen. Zwar dämmerte mir, daß es ein paar Leute gab, die genau diese positiven Innovationen zu Manipulationszwecken ausnutzen wollten, doch war ich der Meinung, sich mit ihnen zu beschäftigen, würde ihre Macht nur stärken. Wenn wir sie einfach ignorierten, würden sie von selber verschwinden.

Zu meinem Optimismus und meiner Bereitschaft, mich mit dem Feind abzufinden, gesellte sich eine Reihe von persönlichen Angriffen. Als ich eines Morgens im November 1996 die New York Times aufschlug, fand ich ein Porträt von mir als "Gen-X-Guru", der den großen Medienfirmen für den Gegenwert von 7500 Dollar pro Stunde aufwärts Geheimnisse der Jugendkultur verriet. Viele meiner Freunde und Leser fragten sich, wie ich die "Bewegung" so verraten konnte, und schrieben mir zahlreich, um ihre Mißbilligung zum Ausdruck zu bringen. Andere Zeitungen, die früher zu mir gestanden hatten, nannten mich plötzlich einen Schwindler. Einige meiner Mentoren wie der Gründer virtueller Gemeinschaften, Howard Rheingold, und der Vorsitzende der Electronic Frontiers Foundation, Mitch Kapor, warnten mich vor unkritischem Enthusiasmus, der mich für die ziemlich realen Gefahren der demokratischen Erneuerung, an der wir alle arbeiteten, blind machen würde.

"Überwachung ist eine gefährliche Angelegenheit", schrieb ich damals, überzeugt davon, daß die Wachhund-Attitüde die Entwicklung der neuen Medien nur bremsen würde, was unseren Möchtegern-Unterdrückern und Manipulatoren eine Chance gäbe, aufzuholen. Ich konnte darin kein wirkliches Problem erkennen, auch wenn ich kaum besser war als die Vielzahl der Glücksritter, die an Unternehmen, die angesichts der neuen Trends in der Jugendkultur verunsichert waren, möglichst gut zu verdienen hofften. Schließlich konnten die Ideen, die ich vertrat, uns weiterbringen. Ich riet dem Vorstand von Sony, eine Konsole für Videospiele zu entwickeln, mit der Jugendliche ihr eigenes Videospiel basteln könnten. Ich riet den Leuten, die im neuen interaktiven Fernsehsender von TCI für den Inhalt verantwortlich waren, sich Programme auszudenken, die den Zuschauern die Möglichkeit eröffnen, ihre eigenen Nachrichten zu fabrizieren. Ich riet Telefongesellschaften, ihre Kunden nicht mehr wie Kriminelle zu behandeln, wenn sie einmal ihre Gebühren zu spät bezahlen.

Ich nahm an Konferenzen teil, saß auf dem Podium, und neben mir saßen die Helden meiner Medienbegeisterung, Michael Moore, Regisseur der umwerfenden Dokumentation Roger and Me, und Stewart Brand aus der Urbesetzung von Ken Keseys Merry Pranksters (Kesey ist Autor von Einer flog übers Kuckucksnest, die Merry Pranksters waren Freunde von ihm, die 1964 mit einer verrückten Busfahrt berühmt wurden.) Ich hielt Eröffnungsreden vor Tausenden von Werbefachleuten und Programmchefs von Fernsehsendern und sagte ihnen, sie sollten sich endlich eingestehen, daß sie das Monopol auf den Willen ihrer Zuschauer verloren hätten. Die älteren Teilnehmer warfen verzweifelt und abwehrend die Arme in die Höhe, während die jüngeren jedes meiner Worte mitschrieben. Ich hätte mich nicht geschmeichelter fühlen können. Wenigstens zum Teil schrieb ich mir die Verantwortung dafür zu, daß die Motoren der Propaganda zu stottern begannen und im Rüstungswettlauf der gegenseitigen Beeinflussung eine Abrüstung eingesetzt hatte. Was für mich noch besser war – ich verdiente gutes Geld damit. Meine Bücher kamen auf die Bestsellerlisten, und meine Honorare als Redner und Berater kletterten in die Höhe – auch wenn sie nie den legendären Stundensatz von 7500 Dollar erreichten. Ich schätze, es war einfach zu schön, um wahr zu sein.

Im Sommer 1997 sollte ich bei einem Kongreß von "Kampagnen-Planern" (sozusagen die Anthropologen der Werbeleute), der vom Amerikanischen Verband der Werbeagenturen gesponsert wurde, über mein Buch Media Virus sprechen. Ich packte meinen Laptop ein und brach zum Sheraton Bal Harbour in Miami auf, um die frohe Kunde zu verbreiten. Thema des Kongresses war "Mutierende Medien/Mutierende Ideen", und das spielte mit Motiven meines Buches. Hatten die Werber eingesehen, daß es mit ihrer Macht zu Ende ging?

Weit gefehlt! Diese freundlichen, gut gekleideten Menschen, die sich gut ausdrücken konnten, hatten mein Buch gekauft und gelesen – aber aus einem Grund, der meilenweit von dem entfernt war, aus dem ich das Buch geschrieben hatte. Zwar waren sie begierig darauf, alles über die veränderte Medienlandschaft zu erfahren, aber nur, um daraus Anregungen zu beziehen, wie sie Werbebotschaften entwerfen konnten, die selbst zum Medien-Virus würden! Media Virus war nicht darum ein Bestseller geworden, weil so viele Aktivisten, Produzenten von Bürgerfernsehen oder Computer-Hacker es lasen, nein: Es war zur Standardlektüre der Werbebranche geworden! Meine Arbeit wurde in der hohen Schule der Werbung gelehrt.

Noch bevor ich mir mein Namensschild ans Revers stecken konnte, fragte mich ein junger Kreativer nach meinen persönlichen Erfahrungen bei der Jeanswerbung für Calvin Klein – die Werbung, in der Jugendliche in einem Ambiente fotografiert worden waren, das einer "Location" für Pornofilme glich.

"Ein guter Medien-Virus", gratulierte er mir. "Gerade wegen der Proteste ist die Kampagne viel mehr beachtet worden! Calvin ist cool rübergekommen, weil seine Spots irgendwie in der Luft lagen." Es war schon richtig: Die Kampagne war erst dann zum Thema Nummer eins der Abendnachrichten geworden, als Anwälte "zum Schutz der Familie" die Spots wegen Ausbeutung Minderjähriger angeprangert hatten. Die Sendezeit, die das Unternehmen damit bekam, hätte es mit allem Geld der Welt nicht kaufen können. Aber mit dem Entwurf der Grundidee dieses Gedankens hatte ich doch nicht das Geringste zu tun!

Ich versicherte ihm, nie jemanden von Calvin Klein getroffen zu haben, aber es nützte nichts. Er war überzeugt, daß die Klein-Kampagne auf mein Buch zurückging, und nichts und niemand konnte ihn davon abbringen. Verhielt es sich womöglich wirklich so? Ich hoffte inständig, daß dem nicht so war.

Die Abfolge der angekündigten Redner ließ bald meine schlimmsten Befürchtungen wahr werden. Mit Titeln wie "Andere Spots – und das Geld sitzt locker" oder "Neue Ideen im kaufmännischen Umfeld lancieren" versuchten die Vortragenden, den Boden zurückzugewinnen, den sie an die Hacker, die für das Chaos verantwortlich waren, verloren hatten; denn diese hatten die Medienlandschaft erobert. Ziel war es, die Waffensysteme der Werbeindustrie zu modernisieren und sie für die neue Art der Kriegsführung fit zu machen.

Das schmeichelte mir – und schockierte mich. Es war eine Ehre, die eigene Leistung anerkannt zu wissen, aber wie sie angewandt wurde, war ein Alptraum. Kaum hatte ich die Revolution ausgerufen, wurde ich schon vom Gegner vereinnahmt. Obendrein hatte ich ihm noch geholfen und ihn angestachelt.

In genau diesem Augenblick, im Festsaal des Bal Harbour-Hotels, nahm ich mir vor, dieses Buch zu schreiben. Da ich seit neuestem Zugang zum Businesszentrum Madison Avenue hatte, würde ich als Doppelagent arbeiten – würde Sitzungen besuchen, mir Notizen machen, Strategien analysieren und meine Ergebnisse irgendwann der Öffentlichkeit vorlegen.

Also habe ich in den vergangenen zwei Jahren genau untersucht, wie Marketingexperten, Politiker, religiöse Führer und manipulative Kräfte jeglicher Art auf unsere Entscheidungen im Alltag Einfluß nehmen. Ich war zu Gast bei Sitzungen der Fernseh-, Werbe- und Marketing-Welt, in denen Strategien entwickelt wurden, und las in zahllosen Akten von Experten in Regierungs-, Gesetzes-, militärischen und Unternehmensangelegenheiten. Ich war nett zu Autoverkäufern und Händlern in den unterschiedlichsten Positionen, um ihnen über die Schulter sehen und dabei ihre Geheimnisse lüften zu können.

Auf meiner zwei Jahre währenden Odyssee habe ich gelernt: Wie fortgeschritten die Instrumente auch sind, die uns mit sanftem Druck umzustimmen versuchen, die grundsätzlichen Mechanismen, die für ihre Wirksamkeit verantwortlich sind, sind die gleichen geblieben. Manpiulatoren sind in diesem Sinne wie Jäger. Sie können sich zwar immer besser tarnen, immer bessere Methoden austüfteln, um ihre Beute aufzuspüren, noch weiter reichende Waffen entwickeln und das Auge besser schulen – müssen aber dennoch erst ihr Zielobjekt ausfindig machen und dann herausbekommen, wie es sich bewegt, damit sie das Gewehr "justieren" und ihr Ziel treffen können. Sonar, Radar und Nachtsichtgeräte gestalten die Jagd lediglich wirkungsvoller und kompensieren die ebenfalls geschickter gewordenen Ausweichmanöver der Beutetiere.

Die einzig echten Vorteile, die das Wild noch hat, sind sein Instinkt und seine Vertrautheit mit der Umgebung. Genau wie ein Reh "weiß", wann es in Sichtweite des Jägers ist, wissen wir, wann wir ins Visier genommen und unter Druck gesetzt werden. Je komplexer, technischer und unsichtbarer der sanfte Zwang wird, desto schwerer wird es, sich auf den eigenen Instinkt zu verlassen. Wir werden aus unserer natürlichen Umgebung fortgelockt und sind, wenn wir uns dann orientieren wollen, weitgehend abhängig von den Anweisungen des Schäfers oder dem Herdentrieb. Sobald wir mit dem neuen Terrain vertrauter werden – sei es das Einkaufszentrum, die Fernbedienung für den Fernseher oder das Internet –, bemühen sich die Strategen des sanften Zwangs, es wiederum weniger überschaubar zu machen oder uns woanders hinzulocken.

Der blitzartige Wandel, den wir während der letzten Jahrzehnte durchgemacht haben – vom Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit über das Weltraumzeitalter bis zur Computerära –, bot unseren Manipulatoren reichlich Gelegenheit, ihr Waffenarsenal auf den neuesten Stand zu bringen und aufzurüsten. Auch wenn eine neue Technologie wie das Internet uns die Chance bietet, im Namen der Gemeinschaft oder unserer Verantwortung als Bürger die neue Medienlandschaft für uns zu nutzen, wird sie schnell zu einer willkommenen Ressource für die Experten in Sachen Direktmarketing, Marktforscher und traditionelle Werber.

Das schlimmste daran ist, daß die Beschleunigung des Rüstungswettlaufs zwischen uns und unseren Manipulatoren das Fundament der demokratischen Gesellschaft untergräbt. Dank Telefonmarketing haben wir Angst, abends ans Telefon zu gehen. Werbegeschenke (die meist einen Haken haben) führen dazu, daß wir nur noch widerwillig Geschenke von Nachbarn annehmen. Habgierige Fernsehprediger, die ihren Verkaufssermon mit Bibelzitaten durchsetzen, und Wohltätigkeitsveranstaltungen von Seiten der Kirchen, die mit den neuesten Techniken des "Fundraising" – so nennt man Spendensammeln heute – arbeiten, verleiden uns jede Form von Religion. Die Regierungserklärung unseres Präsidenten wandert erst über den Tisch von PR-Fachleuten, den "Spin Doctors", bevor sie den Kongreß oder das Volk erreicht, was zu weitverbreitetem Zynismus gegenüber dem politischen Prozeß überhaupt führt. Unsere Sportereignisse sind dermaßen überfrachtet mit Werbung, daß wir eine Mannschaft nicht anfeuern können, ohne gleichzeitig auch dem Logo einer Firma zuzujubeln. Unsere Streifzüge durch die Kaufhäuser werden auf Video aufgezeichnet und analysiert, damit Regale und Ständer neu angeordnet und wir dazu gebracht werden, möglichst die optimale Menge hochpreisiger Produkte zu erwerben. Wissenschaftler untersuchen, welchen Einfluß Farben, Klänge und Gerüche auf unsere Kaufbereitschaft haben.

Das ist nicht etwa eine Verschwörung gegen uns, sondern einfach eine Wissenschaft, die aus dem Ruder gelaufen ist.

In einem verzweifelten Versuch, jedes verfügbare Instrumentarium zu nutzen, um unsere wachsende Anzahl von Filtern durchdringen zu können, haben sich Marketing-Strategen der Hochtechnologie zugewandt. Sie erfanden die persönliche Rabattkarte für den Supermarkt am Ort, die lediglich dazu dient, unsere Kaufentscheidungen in eine Datenbank einzuspeisen. Diese Informationen werden ohne unser Wissen an Firmen für Direktmarketing weiterverkauft, die unsere Briefkästen mit Angeboten vollstopfen, die auf unser individuelles psychologisches Profil zugeschnitten sind. Shopping Channels verändern automatisch und in Echtzeit graphische Darstellungen und Preise der Produkte entsprechend unserer momentanen Reaktion auf das Angebot.

Daß diese Praktiken der Manipulation dermaßen automatisiert werden, ist bedrohlicher als jeder menschliche Manipulator. Denn anders als bei menschlichen Interaktionen ist der Psycho-Dirigent nirgendwo zu entdecken. Hinter dem Vorhang steht niemand. Er hat sich unsichtbar gemacht.

Auch wenn der Psycho-Dirigent hinter der Maschinerie verschwunden ist – sind wir immer noch in der Lage zu bemerken, wann wir beeinflußt werden, und die Wirkung der Manipulation zu entschärfen: Es gibt Mittel und Wege, die subtilen Botschaften und kleinen Hinweise, die aus allen Richtungen auf uns eindringen, zu "dekonstruieren". Gleichgültig wie fortschrittlich und gewunden die Spielarten des sanften Zwangs sind, beruhen sie doch auf den immer gleichen fundamentalen Techniken: das Opfer aufzuspüren, ihm die Orientierung zu nehmen, es woanders hinzulocken und – schon hat man es im Sack. Trotzdem liegt es in unserer Macht, die einfachste, instinktiv in uns vorhandene Fähigkeit wiederherzustellen: die, zu erkennen, was wir wirklich wollen – ohne darauf zu hören, was man uns sagt.

Ein Beispiel: Denken Sie einmal darüber nach, was gerade mit Ihnen geschieht, während Sie die Worte dieser Seite lesen. Halten Sie sich das Bild vor Augen, wie Sie dieses Buch lesen, und denken Sie an Ihre Beziehung zum Autor. Verleiht die Tatsache, daß meine Worte in Form eines gebundenen Buches vorliegen, diesen Worten mehr Autorität, als denen eines x-beliebigen Unbekannten im Bus?

Bislang waren Sie schon einer ganzen Reihe von manipulativen Strategien ausgesetzt. Alles, was Sie bisher gelesen haben, ist nämlich zusammengestellt worden, um die wichtigsten Techniken zu demonstrieren, die Thema dieses Buches sind.

Der einleitende Abschnitt, eine Mischung aus Humor und Entsetzen, war ein rhythmisch aufgebauter Angriff, mit dem Ziel, vor den mächtigen Dunkelmännern – "ihnen" – Angst zu machen, die glauben, über unser Schicksal bestimmen zu können. Humor und Witz konnten Sie gerade rechtzeitig entwaffnen, ehe der nächste Pfeil traf.
Darauf folgte eine Reihe rhetorischer Fragen. Selbstverständlich waren die Antworten schon eingebaut, aber sie gaben Ihnen gleichwohl die Illusion von Interaktion und Interaktivität. Wie die vorgefertigten Antwortgesänge im Gottesdienst gaben sie Ihnen das Gefühl, aktiv an einem Deduktions-Prozeß teilzunehmen – Ihre Situation im Licht der allumspannenden Manipulation –, doch gleichzeitig lag das Drehbuch schon fertig vor. Es zu ändern, lag nicht in Ihrer Macht.

Ich hatte Sie gebeten, das von mir vorgetragene Dilemma aus persönlicher Sicht zu betrachten. Ich hatte Sie gebeten, an die Autoritäten in Ihrem eigenen Leben zu denken, die nicht unbedingt auf die gewünschte Art und Weise auf Sie Einfluß nehmen – und schon haben Sie verstanden, auf welche Weise Ihr Wohlbefinden bedroht wird, und identifizierten sich damit. Sie lasen nicht mehr einfach nur über ein Problem. Sie waren schon mitten drin.

Einmal eingewickelt, waren Sie ein leichtes Opfer der Angstmache. Ich gab dem Feind einen Namen, machte ihn an Personen fest: Gruppen von Psychologen, die bis spät in die Nacht über Grundrissen von Einkaufszentren brüten, um Sie in Verwirrung zu stürzen. Diese Teufel gäben sich der Hoffnung hin, Sie von Ihrer Seele zu trennen, stand zwischen den Zeilen.

Danach arbeitete ich mit einfachen Voraussetzungen. Ich machte einen Vorschlag, was passieren würde, wenn Sie weiterläsen. "Wie wir sehen werden", behauptete ich und setzte damit voraus, daß Sie bald die Dinge durch meine Augen sehen würden. Das stellte ich als unvermeidlich hin.

Jetzt war genau der richtige Zeitpunkt gekommen, auf meine eigene Sachkenntnis hinzuweisen. Ich zählte meine Qualifikationen auf – daß ich Jahre damit zugebracht hätte, die Manipulationstechniken führender Branchenkenner zu studieren, und daß ich Bücher über die Wirkung der Medien auf das menschliche Bewußtsein geschrieben hätte.
Nachdem die passende Grundstimmung erzeugt war, hatte ich den Weg gebahnt, Sie mit einer der ältesten Zwangstechniken einzuwickeln: meiner eigenen Geschichte. Sie sollten sich mit meinem Ehrgefühl identifizieren – hatte mich doch meine optimistische Naivität über Medien und Kultur in die Klauen der Werbebranche getrieben, wodurch sich meine Arbeit gegen ihre ursprüngliche Intention kehrte. Wie ein Spin Doctor, der die Geschichte vom Flugzeugabsturz oder dem auf sexuelle Abwege geratenen Politiker erzählt, bekannte ich meine Sünden – ich übertrieb sogar noch, um eine Katastrophe in eine Gelegenheit zur Wiedergutmachung umzumünzen: das "Comeback Kid".

Leider ist meine Geschichte wahr; was ich sagen will, ist, daß ich meine eigene Geschichte dazu benutzt habe, Ihr Vertrauen und Sie für meinen Kampf zu gewinnen. Die Technik ist einfach. Schaffen oder repräsentieren Sie eine Figur, mit der man sich identifizieren kann, und bringen Sie diese Figur anschließend in Gefahr. Wenn der Leser der Figur bis in die Gefahr hinein gefolgt ist, wird er sich an den Erzähler wenden, um nach einem Ausweg zu suchen, wie unglaubwürdig dieser auch ausfallen mag. Nur der Erzähler kann die Angst des Lesers lindern – wenn er sich dazu entschließt. Und den Trost, den ich anbot, war, in einen Krieg zu ziehen gegen den neuen Feind: die Psycho-Dirigenten, die uns wie Jäger aufspüren und zur Strecke bringen wollen.

Als nächstes wandte ich mich, um nicht den Eindruck zu erwecken, zuviel Zwang auszuüben, kurz in die andere Richtung. "Es ist keine Verschwörung", entschärfte ich das Problem, "nur eine Wissenschaft, die aus dem Ruder gelaufen ist." Ich lud Sie ein, sich zu entspannen, indem ich Ihnen weismachte, daß keine Verschwörung vorläge; doch dann warf ich die ganze wissenschaftliche und hochtechnisierte Gemeinschaft in einen Topf und unterstellte, sie seien an einer automatisierten Verschwörung gegen die Menschheit beteiligt.

Als meine Geschichte Sie endlich in die Rolle des passiven Zuschauers gedrängt hatte, konnte ich auf die nächst höhere Stufe zurückgreifen, Sie für meinen Einfluß empfänglich zu machen: Trance. Ich bat Sie, sich als Leser des Buches vorzustellen, das Sie gerade in Händen hielten. Wie ein Hypnotiseur, der von Ihnen verlangt, sich auf Ihren Atem zu konzentrieren, bediente ich mich einer einfachen Methode, um die Trance zu induzieren, die man auch "Dissoziation" nennt: Sie lesen nicht mehr das Buch, sondern Sie stellen sich vor, wie Sie das Buch lesen. Indem Sie Ihre Aufmerksamkeit von Ihren Handlungen abziehen, werden Sie zum Beobachter Ihrer eigenen Geschichte. Ihre Erfahrung mit dem eigenen Willen ist auf das reduziert, was New-Age-Therapeuten als "gesteuerte Visualisierung" bezeichnen. Sehr wohl wissen diejenigen Manipulateure, die sich "Neurolinguistische Programmierer" nennen (Hypnotiseure, die die Gewohnheiten des Nervensystems dazu benutzen, unsere Gedankenprozesse umzuprogrammieren), daß Sie dieser Bewußtseinszustand ziemlich anfällig für sie macht. In dem Augenblick, in dem Sie Ihre Aufmerksamkeit auf einer zweiten Ebene des Selbstbewußtseins neu ansiedeln, sind sie gegen Angriffe besonders wehrlos.

Dann wollte ich ein Ziel schaffen, das besonders schwer zu fassen war – man kann es auch die "Pyramiden"-Technik nennen –, wobei ich Ihnen in Aussicht stellte, daß es einen Weg gebe, der Tyrannei unserer sozialen Programmierer zu entkommen, wenn Sie nur daraus lernten, was ich im Text darlegen würde. Ähnlich wie der Guru einer Sekte präsentierte ich mich und meinen Text als Schlüssel zu Ihrem Erwachen und zu Ihrer Freiheit.

Schließlich kam der Abschnitt, in dem wir uns jetzt bewegen. Anscheinend schlage ich mir gerade selbst die Waffe aus der Hand, indem ich alle Taktiken, die ich bislang verwendet habe, als solche enttarne. Ich bin Ihr Freund, weil ich aufdecke, was ich mit Ihnen mache. Ich öffne den Vorhang für den Blick hinter die Kulissen und zeige Ihnen, wie der Trick funktioniert. Sie gehören jetzt dazu. In Wirklichkeit gehören wir beide dazu. Das Augenzwinkern des Einverständnisses; wir stoßen uns wissend mit den Ellenbogen an. Ihnen kann nichts mehr passieren, weil Sie nunmehr auf ironische Distanz zu den Techniken des Manipulierens gehen, die ich anwende. Zu allen, außer dieser hier.

Passen Sie noch auf? Fühlen Sie sich gut dabei? Natürlich nicht. Es geht nicht darum, Sie in den Verfolgungswahn abgleiten zu lassen. Meine Absicht ist, uns von den Manipulationstechniken frei zu machen und nicht immer nur einfach auf sie zu reagieren – vor allem, wenn wir so reagieren, daß wir ständig Verdacht schöpfen. So zu leben, wäre wenig erfreulich. Glauben Sie mir – dieses Buch zu recherchieren und zu schreiben, hat mich mehr als ein Mal in diesen Zustand versetzt. Außerdem lassen sich Leute, die ständig aufpassen, am leichtesten manipulieren. Es klingt vielleicht ironisch, aber: Je mehr Spaß Sie im Leben haben, je zufriedener Sie mit sich sind, desto schlechter sind Sie als Zielgruppe zu gebrauchen.

Es läßt sich nicht leugnen, daß alles mit Manipulation verbunden ist. Sogar ein Detail wie der Kursivdruck des Wortes "alles" ist kein Zufall und soll Sie beeinflussen. Es ist ganz in Ordnung, andere von der eigenen Meinung überzeugen zu wollen, vor allem, wenn wir wirklich überzeugt davon sind, Recht zu haben. Auf diese Weise lassen sich Beziehungen, Familien, Unternehmen und Gesellschaften verbessern. Wenn jemand eine bessere Idee hat, wie man ein Loch gräbt, die richtige Führungsperson wählt oder glückliche Kinder aufziehen kann, muß dieser Mensch uns überzeugen, weshalb er Recht hat.

All unseren Einfluß geltend zu machen, ist an sich nicht destruktiv. Es wird jedoch in dem Moment zum Problem, in dem die Argumentationskraft und der Einfluß eines Menschen oder einer Institution die Inhalte verdecken, zu denen wir überredet werden sollen. Mit geschickt gesteuerter Öffentlichkeitsarbeit kann etwa ein Chemiekonzern Wähler davon überzeugen, daß ein bestimmter Gesetzesvorschlag die Umwelt schützen hilft, obgleich er dazu angetan ist, die Bestimmungen über die Lagerung von toxischen Stoffen zu lockern. Ein fähiger Autoverkäufer kann uns glauben machen, er sei unser Freund und Bündnispartner gegen den Manager seiner Vertragsfirma, obgleich er nur daran denkt, seine eigene Provision einzustreichen. Wohltätigkeitsveranstaltungen können an unser Gewissen appellieren, während sie uns in Wirklichkeit beschwatzen, eine politische Sache zu unterstützen, mit der wir eigentlich nichts am Hut haben.

Die Techniken des sanften Zwangs haben sich in den vergangenen Jahrzehnten derart rapide weiterentwickelt, daß wir heute nicht mehr in einer Welt leben, in der der Beste triumphiert. Es ist eine Welt, in der derjenige triumphiert, der uns glauben macht, er sei der Beste. Werbeleute preisen nicht mehr die Eigenschaften eines Produkts, sondern vermarkten stattdessen das Image des Produkts. Dieses Image wird von Marketing-Psychologen unabhängig vom Produkt selbst festgelegt, und meistens hat das Image mehr mit der Zielgruppe zu tun als mit dem, was verkauft wird.

Nur zu oft werden die Entscheidungen, die wir als Individuen oder als Gesellschaft treffen, von Leuten dirigiert, denen nicht unbedingt unser Wohlergehen am Herzen liegt. Um Einfluß auf uns zu nehmen, beschneiden sie uns in unserer Fähigkeit, rationale Urteile zu fällen; dafür appellieren sie an tiefer liegende, ungelöste und nicht damit zusammenhängende Problemschichten. Clevere Leute in Sachen Einflußnahme können unser kritisches Urteilsvermögen beiseite schieben und uns dazu nötigen, so zu handeln, wie es ihnen gefällt, indem sie die unbewußten Prozesse begreifen, mit denen wir entscheiden, was wir kaufen, wo wir essen gehen, wen wir respektieren und wie wir uns fühlen. Man nimmt uns unsere eigene rationale, moralische oder emotionale Entscheidungsfähigkeit. Wir reagieren automatisch, unbewußt und oft so, als wollten wir uns selbst entmachten. Je weniger wir mit unseren Entscheidungen zufrieden sind, desto leichter sind wir manipulierbar.

Um unsere eigene Fähigkeit, aus freiem Willen zu handeln, wiederherzustellen, müssen wir uns eingestehen, daß wir selbst es sind, die sich aktiv dem Einfluß anderer unterwerfen. Wir werden beeinflußt, weil wir es in gewissem Sinn so wollen.

Fast alle Techniken des sanften Zwangs, die ich studiert habe, machen sich die eine oder andere gesunde psychologische oder soziale Verhaltensweise zunutze. Eltern zum Beispiel sind die ersten echten Autoritätspersonen in unserem Leben. Mutter und Vater sind die ersten "sies". In den meisten Fällen verdienen sie unseren Respekt in hohem Maße. Wir wollen ja überleben. Die wesentlichen Fähigkeiten des Lebens eignen wir uns an, indem wir das Verhalten unserer Eltern bewundern und nachahmen. Wir vertrauen auf ihre Autorität und können so die Welt um uns herum, ohne Angst haben zu müssen, erkunden.

Instinktiv sehnen wir uns danach, von unseren Eltern Anerkennung zu bekommen, und sie belohnen uns instinktiv mit Lob, wenn wir Fortschritte machen. Wenn wir stehen, gehen, sprechen oder Fahrrad fahren lernen, geschieht das weniger, um unabhängig zu werden, als um von ihnen gelobt zu werden. Der Einfluß, den sie auf unser Leben ausüben, ist absolut und absolut wichtig.

Wir werden größer und übertragen diese Autorität auf unsere Lehrer und Geistlichen. Dieser Vorgang ist wiederum alles in allem gesund. Eine Ausweitung der Rollenmodelle erlaubt es dem Kind, eine Vielzahl von Regeln und ein bestimmtes Verhalten zu erlernen. Auf diese Weise werden wir sozialisiert und schließlich in die Welt unserer Eltern eingeweiht. Wir werden erwachsen und sind in der Lage, unsere eigenen Entscheidungen zu fällen.

Doch auch als Erwachsene fühlen wir uns manchmal wieder als Kinder: hilflos und verzweifelt auf der Suche nach Anerkennung von oben. Manche Menschen vermitteln uns nur durch den Klang ihrer Stimme, die Art, sich zu kleiden, uns anzusehen oder ihren Schreibtisch am Arbeitsplatz zu stellen, das Gefühl, noch ein Kind zu sein. Eine aus dem Lautsprecher oder über die Sprechanlage ertönende Stimme kann sofort eine Autorität sein. Ein Mann in Polizeiuniform kann uns dazu bringen, eine Oktave höher zu sprechen als sonst.

Lehrbücher über Personalführung, Verkauf und Verhöre listen genaue Methoden auf, wie der emotionale Zustand eines Kindes herbeigeführt werden kann. Die Technik heißt "induzierte Regression" und bedient sich der Überreste unseres natürlichen Bedürfnisses aus der Kindheit, dem zufolge der Mensch elterliche Autorität auf den Kommandierenden überträgt. Das ist auch, um es anders zu formulieren, eine Technik, neue "sies" zu erschaffen. Unser eingebauter Instinkt, Autoritäten zu respektieren, wird mißbraucht, um uns auf einen unterwürfigen und nach Anerkennung suchenden Zustand der Kindheit zu reduzieren.

Es gibt wohl Hunderte von natürlichen und gesunden kognitiven Prozessen, die von denjenigen zu ihren Zwecken benutzt werden können, die sie gut kennen. Als Individuen, die gerne wieder selbst über ihr Leben bestimmen wollen, dürfen wir uns aber nicht aller psychologischen Mechanismen entledigen, damit sie nicht mehr gegen uns verwendet werden können. Man befreit sich nicht vom sanften Zwang, indem man seine sozialen und emotionalen Bedürfnisse leugnet – das gelingt nur dadurch, daß man sie zurückerobert.

Zum Beispiel gewähren Wohltätigkeitsveranstalter und Verkäufer dem potentiellen Spender oder Kunden gerne ein Geschenk. Viele Wohltätigkeitsvereine schicken uns zusammen mit ihrer Bitte um finanzielle Unterstützung einen Satz Grußkarten, und Versicherungsvertreter verschenken Kalender oder Notizbücher. Machen sie uns diese Geschenke aus reiner Nächstenliebe? Natürlich nicht. Sie versuchen ein Gefühl der Verpflichtung in uns wachzurufen. Mit der Annahme des Geschenks hat ein Geschäft begonnen. Wir schulden dem Geber etwas. Wenn wir das Geschenk annehmen, ohne etwas dafür zu bezahlen, haben wir ein schlechtes Gewissen. Ein Geschenk oder ein Gefallen verpflichtet uns dazu, etwas dafür zurückzugeben. Weshalb? Weil soziale und finanzielle Verpflichtungen überhaupt erst zu Gemeinschaftsbildung geführt haben. Ich helfe dir heute, deinen Stall zu bauen, und du hilfst mir nächsten Sommer, die Heuschrecken zu bekämpfen. Eine solche Beziehung ist nicht so berechnend, wie sie klingt. Abhängigkeiten und Verpflichtungen sind die Basis jeder Gemeinschaft. Das Überleben hängt von ihnen ab.

Auch heute noch stellen wir mit Geschenken soziale Beziehungen her. Wenn jemand neu in die Nachbarschaft zieht, bringen wir ihm vielleicht etwas zu essen vorbei, um ihm das Einleben zu erleichtern. Die neuen Nachbarn sind sicher dankbar dafür, außer sie sind besonders neurotisch und lehnen jegliche soziale Verpflichtung ab. Die Tatsache, daß wir ihnen gestattet haben, uns etwas zu schulden, ist ein Geschenk an sich. Wir haben sie in das Gewebe unserer gemeinschaftlichen Beziehungen einbezogen.
Die Taktik, einer Spendenaufforderung ein Gratis-Geschenk beizulegen, setzt auf eben diese bekannten Verhaltensmuster. Mittlerweile ist der Trick aber schon so überstrapaziert worden, daß er nicht mehr reibungslos funktioniert. Wir werfen die kostenlosen Grußkarten lieber weg, als bei jedem Kartengruß an die Tiere zu denken, die, weil wir geizig waren, leiden müssen. Wir sind es leid.

Tatsächlich ist aber alles noch viel schlimmer: Eine solche Abneigung weicht den Gemeinschaftsgeist auf, dessen sich die manipulative Technik bedient. Jetzt schöpfen wir schon Verdacht, wenn uns jemand ein Geschenk machen will. Ein Unbekannter, der uns etwas schenkt, will bestimmt etwas dafür. Und: Wir lassen uns nicht mehr so schnell zu guten Taten hinreißen, um bei denen, für die das gute Werk gedacht war, keinen Verfolgungswahn hervorzurufen.

Der zerstörerischste Nebeneffekt, den die Techniken des sanften Zwangs haben, ist der, daß sie uns unserer besten Instinkte berauben und uns in unserer Fähigkeit einschränken, sie jederzeit einsetzen zu können. Manche Menschen fühlen sich einfach betrogen. Andere fühlen sich unwohl. Die Gebildetsten und Wachsamsten unter uns werden zunehmend von Verfolgungswahn und unsozialen Gefühlen bedrängt.

Heute könnte man den berühmt gewordenen Spruch von P. T. Barnum (There is a sucker born every minute – jede Minute wird ein neuer Idiot geboren) etwas differenzieren: Derzeit gibt es drei Möglichkeiten, auf den sanften Zwang in unserer Kultur zu reagieren: Einige von uns gehen den einfachsten Manipulationstechniken auf den Leim. Diese Menschen, die ich als "Traditionalisten" bezeichnen will, sind von Politikerreden, die sich an die örtlichen Sportvereine richten, ergriffen und glauben nur zu gern, daß uns Regierungsorganisationen vor irreführenden Werbeanzeigen bewahren.

Die zweite Gruppe – Marketingleute nennen sie gern "das intellektuelle Publikum" – meint zu begreifen, wie die Medien sie gerne manipulieren möchten. Diese "coolen Kids" reagieren auf manipulative Techniken, die auf ihre ironische Haltung eingehen. Fernbedienung und Spielkonsole sind für sie mehr als nur passive Objekte. Diese Kids würden am liebsten jedes Bild, das ihnen ins Haus geliefert wird, verfremden und zerlegen. Doch dann fallen sie auf den angebotenen Schulterschluß des modernen Werbemenschen oder Verkäufers herein, den dieser – er kennt seine durch den jahrelangen Umgang mit den Medien gewitzten "Pappenheimer" – mit ironischem Augenzwinkern begleitet. Solange der Psycho-Dirigent durch einen bewußt eingesetzten "Seitenblick" erkennen läßt, daß er jetzt versucht Druck auszuüben, werden die coolen Kids die Herausforderung annehmen – und damit wird er für seine ironische Haltung belohnt.

Die dritte und letzte Gruppe hat die coole Kultur hinter sich gelassen und einfach die Nase voll von allem, was nach Manipulation riecht. Diese neuen "Simpletons" wollen geradlinige, schnörkellose Erklärungen für das, was sie kaufen oder tun möchten. Sie mögen Verkäufer, die auf ihren Verkaufssermon verzichten und einfach sagen, wie es ist. Sie kaufen den "Saturn" von General Motors, damit sie nicht verhandeln müssen, und sie schätzen eindeutige Werbebotschaften, die kurz und schmerzlos etwa behaupten: "Dieses Medikament wirkt." Sie schauen sich in Billigläden um und kaufen ihren Computer im World Wide Web, wobei sie ihre Entscheidung von RAM, Megahertz und dem Preis abhängig machen.

Diese drei recht unterschiedlichen Reaktionen auf den sanften Zwang, die gleichzeitig in ein und derselben Kultur nebeneinander bestehen, machen den Werbe- und Marketingleuten sowie den Public-Relations-Experten das Leben schwer. Appelliert man an das Feingefühl der einen, hat man die beiden anderen Gruppen schon verschreckt. (Andererseits könnte ein hausbackener Spot, der sich an die neuen "Simpletons" richtet, die Traditionalisten zunächst anziehen, letztlich aber verwirren.) Wie genau die Werbefachleute die Zielgruppe auch definieren mögen – die anderen werden dieselben Botschaften ebenfalls wahrnehmen. Zwei Drittel von uns lassen sich dabei nicht beeinflussen. Und die Leute, die uns hauptberuflich manipulieren, mögen das gar nicht.

Aus diesem Grund haben wir eine einmalige Möglichkeit, unsere Manipulatoren zu entwaffnen und unsere sozialen Beziehungen wiederherzustellen, die durch deren Anstrengungen – und unsere Komplizenschaft – mit der Zeit untergraben wurden. Noch wichtiger: Wir können dem Rüstungswettlauf des sanften Zwangs, der einen großen Teil unserer Zeit und unserer Energie auffrißt, ein Ende setzen.

Diese Erkenntnis ist für die Werbeleute und Public-Relations-Experten genauso wichtig wie für uns. Keinem der professionellen Manipulatoren, mit denen ich während der Arbeit an diesem Buch gesprochen habe, gefällt die gegenwärtige Richtung der Manipulations-Industrie. Viele leiden unter Migräne und Schlaflosigkeit und geben Unsummen für Psychotherapeuten oder Psychopharmaka aus. Sie würden nichts lieber tun als die Plackerei mit der Manipulation, die ihnen nur Schuldgefühle bereitet, durch den Spaß echter Kommunikation zu ersetzen. Viele von ihnen sehnen ein Ende dieses Wettlaufs herbei.

Wenn wir akzeptieren, daß Geschäfte, Anzeigen, das Telefon, Stundenpläne und Rituale nur Formen sind, zwischen den Menschen zu vermitteln, dann ist dieses Buch nichts anderes als eine Alphabetisierungskampagne im Reich der Medien. Denn sie haben heute, obwohl sie ursprünglich als Formen der Kommunikation gedacht waren, Verhaltens- und Gedanken-Steuerung möglich gemacht. Um sie wieder zu richtig interaktiven Medien werden zu lassen, müssen wir uns darüber klar werden, was wir selbst gerne kommunizieren wollen. Dieser Prozeß ist komplex und verlangt intensives Nachdenken und einen starken Willen.

Die Vereinigten Staaten sind die einzige entwickelte Nation der Welt, die im Lehrplan ihrer öffentlichen Schulen Kenntnisse im Umgang mit den Medien nicht vorsieht. Dafür gibt es Gründe. Wissen über die Medien ist gefährlich – nicht für die Menschen, die es erlangen, sondern für die Menschen und Institutionen, die davon leben, daß wir es nicht haben. Beherrschen wir erst einmal das ABC der Medien, können wir es nicht mehr selektiv einsetzen. Wenn wir die Techniken erlernt haben, die ein Werbefachmann benutzt, um uns hereinzulegen, kennen wir auch die Techniken, die eine Regierung benutzt. Wenn wir unsere High-Tech-Gurus entmystifiziert haben, könnte dasselbe möglicherweise auch unseren Geistlichen bevorstehen.

Natürlich laufen wir dadurch Gefahr, einem Verfolgungswahn (in vollem Ausmaße) zu erliegen. Haben wir einmal die Tag für Tag auf uns eindringenden Techniken des sanften Zwangs – aus scheinbar unschuldiger Quelle – ausgemacht, wird es schwieriger, die Handschrift eines Beeinflussungsexperten hinter jedem Titelblatt einer Zeitschrift zu übersehen. (Vermutlich gibt es die, aber das gehört nicht hierher.)

Werden die Techniken des sanften Zwangs erst einmal in die Praxis umgesetzt, neigen sie dazu, sich durchzusetzen und fortzupflanzen. Selbst wenn irgendwann in ferner Vergangenheit jemand eine Technik ersonnen hat, ist fast damit zu rechnen, daß sie wie vom Autopiloten gesteuert bis heute angewandt wird. Und haben wir diese Techniken in unserem computerisierten Marktplatz gespeichert, gibt es kein Zurück mehr. Auf welcher Seite des elektronischen Zauns wir auch stehen – ob als Psycho-Dirigent oder als Konsument: Wir sind beide Opfer, und wir sind beide schuld daran.

Deshalb wäre es unsinnig, die Kräfte hinter dem immer stärker wachsenden Druck zu personalisieren. Der Vorsitzende des Aufsichtsrats wird durch die Aktionäre und den Termin für den Quartalsbericht genauso zum Opfer gestempelt wie wir durch die Experten der Öffentlichkeitsarbeit. Die Kunst der Manipulation ist so übermächtig geworden, daß sie unsere Kultur mehr antreibt, als eine ihrer Organisationen es je tun könnte. Sinnvoller ist es, sich die Kräfte des Zwangs in unserer Gesellschaft als Teil einer großen Maschine zu denken, die außer Kontrolle geraten ist. Je mehr wir uns deren Wirkungsweise vor Augen führen, desto eher können wir damit beginnen, sie zu entlarven.

Wir leben in der Endzeit der Propaganda und somit in einer Kultur, in der so viel Autorität ausgeübt wird – wir programmieren so viel! –, daß sie schon krankhafte Symptome zu zeigen beginnt. Diejenigen unter uns, die durch den sanften Zwang in die Unterwerfung getrieben wurden, halten uns alle für machtlos, passiv und depressiv; sie geben sich nicht selten der Meditation hin. Diejenigen, die sich gegenüber den Autoritäten dem Widerstand verschrieben haben, werden immer argwöhnischer und kritischer. Wir glauben, daß "sie" tatsächlich existieren und sich gegen uns verbündet haben. "Sie" sind zu unserem Feind geworden.

Aber sie sind es nicht. Als einer der Menschen, die dafür bezahlt wurden, sich neue Strategien der Manipulation auszudenken, kann ich Ihnen versichern: Sie sind einfach wir.

Inhaltsverzeichnis

Einleitung: "Sie" sagen
Auge in Auge
Wickle ihn ein
Systematisch verkaufen – die Autoverkäufer
Werden Sie schon bedient?
Was uns verbindet
Die Kunst der Menschenführung
Atmosphäre
Die Geburtsstunde des Einkaufszentrums
Appelle an die Sinne
Die Musik-Experten
Geruch und Gefühl
Passive Manipulation
Mickymaus schluckt den Time Square
Das Spektakel
Die Stimme des Volkes
Sex and Drugs and Rock’n’Roll
Public Relations
Fremde Völker
Fakten aufpolieren
Lügen haben kurze Beine
Werbung
Marken machen Leute
Die Moral von der Geschichte: Auf der Bühne geht’s dem König ans Gewissen
Verstecken zwecklos
Pyramidensysteme
Nichts ist unmöglich
An der Tür zum Paradies
Irrationaler Überfluß – die automatische Pyramide
Virtuelles Marketing
Der Kampf um den Cyberspace
Die taktische Datenbank
Der elektronische Scheibenputzer
Mäuse im Labyrinth: Die Online-Schrittmacher
Das Servicetelefon-Phänomen
Postscriptum: Das schlechte Gewissen des Käufers
Literaturverzeichnis
Anmerkungen

zurück zur Seite über Manipulation