Auszüge aus Jürgen Wertheimer's
"Strategien der Verdummung"

Infantilisierung in der Fun-Gesellschaft

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Das Buch enthält zahlreiche Essays verschiedener Autoren über die Praxis der Volksverdummung.

Vorwort

Sie argumentieren uns in die Steinzeit zurück: keine Woche, ohne daß vermeintlich neue Erkenntnisse über die genetisch bedingte Determiniertheit des Menschen und die biogenetische Verankerung seines Tuns in den Leitmedien thematisiert würden. Den Joy-Stick in der einen und die Karriere-Keule in der anderen Hand, proben wir survival of the Fiesest-Strategien. Volksverdummung auf hohem ökonomischen und technologischen Niveau ist angesagt, während die mentalen, kommunikativen und emotionalen Fähigkeiten auf allen sozialen Niveaus spürbar tiefer gelegt werden. Das alles beginnt ganz "unten", zum Beispiel beim ritualisierten Ärger über den "Gaga-Grand-Prix" und "Maschendrahtzaun-Kuh", und es endet auch ganz unten, etwa mit den telegenen verbalen Wort-Keulen-Kaspereien eines Reich-Ranicki, den gefährlichen Denk-Blasen eines Sloterdijk, den dilettantischen Trotzposen der Politik und dem infantilen Potenzgehabe der neo-neolithischen Börsen-Neanderthaler. Längst ist das gutgemeinte Motto des "lifelong learning" zur Farce geronnen, und den aufklärerischen Appell, sich mutig seines Verstandes zu bedienen, beherzigen unglücklicherweise und mit besonderer Öffentlichkeitswirkung vorzugsweise jene, deren Stärke eben gerade nicht auf der Ebene kognitiver Fähigkeiten liegt.

Wir wollen hier nicht Gegenwartsekel in Szene setzen, Kulturschelte wiederkäuen. Doch nur weil früher nichts besser war, muß man nicht gegenwartsblind werden. Und es gibt Tendenzen, die einen erdrutschartigen Abbruch des kollektiven kritischen Bewußtseins spürbar werden lassen: kritische Haltungen, der Sinn für Nuancen erodiert: Willkür und zynische Beliebigkeit auf der einen, rigide Ein-Deutigkeit und Bedeutsamkeit auf der anderen Seite stehen sich unvermittelt und zeitgleich gegenüber, und das Vakuum dazwischen, der Raum der konkreten Alltagserfahrung, der eigenen kritischen, selbstkritischen Wirklichkeitswahrnehmung, verödet. An seinen Rändern erscheinen die großen Verdummungsstrategen und -propheten und machen Kasse mit der Masse. Satt-, Sauber- und Fit-Pflege für alle ist angesagt.

Demokratie, mißverstanden und rein ökonomisch unterhaltungslebensweltlich interpretiert, ist die Idealform zur systematischen Ausbildung degenerierter Lebensformen auf hohem Niveau: Die immer wieder angeführte "Politikmüdigkeit" zum Beispiel ist nicht, wie eilfertige Interpreten zu wissen glauben, "in Wirklichkeit eine ›Politikermüdigkeit‹, sondern bereits Indiz eines vielleicht notwendigen parteipolitischen Selbstauflösungsprozesses, der in der Natur der Sache liegt. In einer spätdemokratischen Phase kann dem Prinzip des Politikers keine Bedeutung mehr zukommen. Das Rotationsprinzip der Grünen war ein rührend ernsthafter Versuch, diese Problematik zu unterlaufen. Längst sind Politiker zu verderblichen Instant-Fix-Produkten der Mediengesellschaften geworden, an denen ausschließlich die Oberfläche von Interesse ist. Die Sucht nach dem Label steht auch hier für die Suche nach dem Programm, an das ohnehin längst keiner mehr glaubt.

Wo Haltungen die Konsistenz von Götterspeise haben, findet das Gespräch über Werte nurmehr (aber um so verbissener) in Akademien statt. Ethikkommissionen pflegen in politischen Gremien in der Regel irgendwelche "Weißbücher" zu irgendwelchen Problemen vorzulegen, die ungelesen in den Reißwolf der Massenpublikation wandern. Die großen Visionen sind ebenso ausgeblieben wie die großen Apokalypsen. Die Ängste vor dem "Big Brother" sind auf eine Containerladung "Spaß" geschrumpft, und Emotionen sind Mediensache. So leben wir einer Zukunft entgegen, die uns vermutlich nicht mal mehr einen sicheren Tod gönnt. Millionen unsterblicher, gesunder, wohlhabender, vergnügter Kretins könnten die wahre Apokalypse verkörpern.

Dennoch, den Alltagsärger über fehlerhafte Syntax, rudimentäre Sprachbeherrschung, abgedroschene Phrasen, leere Worthülsen, Stilblüten und plumpe Wahlslogans schluckt man meistens und geht zur universitären Tagesordnung über, in der man wieder mit fehlerhafter Syntax, rudimentärer Sprachbeherrschung usw. konfrontiert wird. Als die beiden Literaturwissenschaftler Wertheimer und Zima während eines Spargelessens wieder einmal auf dieses leidige Thema zu sprechen kamen, beschlossen sie, den Ärger diesmal nicht – mitsamt Spargel und Weißherbst – zu schlucken, sondern gegen die sich ausbreitende Verdummung zu wenden. Sie mögen an den klugen Rat der Mediziner gedacht haben, Aggressionen nicht in sich hineinzufressen, sondern gegen das unliebsame Objekt zu wenden.

Allerdings ist dieses Objekt nur schwer definierbar, weil die einen (zum Beispiel Werbefachleute) für unentbehrliche Information halten, was den anderen (zum Beispiel den Herausgebern) als Strategie der Verdummung erscheint. Tatsächlich wird es inmitten eines postmodernen Pluralismus immer schwieriger, bahnbrechende Einsichten von Dummheiten zu unterscheiden, etwa wenn der Philosoph Jacques Derrida in seinem Werk Glas den Namen Hegel mit dem französischen Wort aigle assoziiert, das ganz anders ausgesprochen wird, um eine Verbindung zwischen dem Philosophen und dem Reichsadler zu suggerieren. Daß solche Praktiken, durch die Autorität eines berühmten Dekonstruktivisten legitimiert, in die Seminardiskussionen Eingang finden und dort bizarre Stilblüten treiben, ist nicht weiter verwunderlich.

So wachsen Generationen von Philosophen, Literaturwissenschaftlern und Soziologen heran, die sinnvolle von unsinnigen Argumentationen kaum noch unterscheiden können und wohlmeinender Kritik mit Hinweisen auf Derrida, Deleuze oder Lacan begegnen. Gegen solche Einwände ist kein Kraut gewachsen, und allmählich setzt sich die Furcht vor einer sprachlichen Situation durch, in der richtig und falsch, gut und böse, schön und häßlich nicht mehr zu unterscheiden sind.

Diese eindimensionale "brave new world" der Sprache hat schon vor Jahrzehnten Jean-Paul Sartre folgendermaßen beschrieben: "Führen wir nicht eine Bewegung fort, die die ›reinen Münder‹, die wir verachten, begannen, treiben wir nicht den Wörtern ihren eigentlichen Sinn aus, und werden wir uns nicht, mitten in der Katastrophe, in einer Gleichwertigkeit aller Namen wiederfinden und dennoch gezwungen sein zu sprechen?"

Die Katastrophe ist möglicherweise schon da, weil gerade die Intellektuellen immer seltener in der Lage sind, das richtige vom falschen Wort zu unterscheiden. Denn wer es ablehnt, wertvolle von wertloser Literatur zu trennen, der wird bald nicht mehr in der Lage sein, im politischen Bereich zu differenzieren, wo in neuester Zeit Diskurse entstehen, die unliebsame Tatsachen wie Völkermord oder Folter schlicht leugnen.

Dies ist der Grund, weshalb der vorliegende Sammelband einerseits die Rolle der Intellektuellen in nachmoderner Zeit zu beleuchten sucht und sich andererseits mit dem Zustand der Sprache in einer von Ideologien und kommerzialisierten Medien beherrschten Gesellschaft befaßt. Es geht unter anderem darum, den Verblendungszusammenhang so weit aufzulösen, daß der Nexus von sprachmanipulierenden Medien, sozialer Aphasie und dem Niedergang der Kritik im Lager der Intellektuellen sichtbar wird. Der Weg von Sartres Streitschrift Pour les intellectuels (1972) zu Lyotards Tombeau de l'intellectuel (1983) ist lang und führt zu der Einsicht, daß die "idée universelle", von der sich die kritischen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts leiten ließen, tot ist. Übrig bleibt eine Pluralität von Standpunkten, die Kritik möglicherweise gar nicht mehr zuläßt. Denn Kritik ohne Anspruch auf Verallgemeinerungsfähigkeit verfällt der Kontingenz.

Aber kann Demokratie ohne mündige Subjekte und ohne Kritik überleben? Warten die Demagogen der Zukunft nicht auf den Augenblick, in dem, wie Sartre sagt, alle "Namen gleichwertig" sein werden, so daß es primär auf die mediale Macht des Diskurses ankommt und nicht auf dessen Wahrheitsgehalt? Um diesem Trend, der sich in der Medienlandschaft auf allen Ebenen bemerkbar macht, entgegenzuwirken (wenn auch von der gesellschaftlichen Peripherie aus und mit bescheidenen Mitteln), haben die Herausgeber beschlossen, den Stimmen einiger Andersdenkender auf diesem Wege Gehör zu verschaffen.

Peter V. Zima:
Wie man gedacht wird
(Die Dressierbarkeit des Menschen in der Postmoderne)

Sich denken lassen, statt selber nachzudenken, ist denkbar einfach. Es ist auch bequem, denn: "das Spruchzeug liegt nur so herum", erläutert Jürgen Becker den Sachverhalt und deutet an, daß die meisten mit vorfabrizierten Phrasen recht gut auskommen und sich den Aufwand ersparen, den die Konstruktion neuer Satzgefüge mit sich bringt. Nur noch Grüppchen von Intellektuellen, vor allem die "unhappy few" unter ihnen, halten Denkarbeit, Sprach- und Gesellschaftskritik für sinnvoll, obwohl sie längst wissen, daß die Aufklärung, daß Kant, Marx und Sartre die Katastrophen des 20. Jahrhunderts nicht nur nicht verhindert haben, sondern auch noch in das fatale Geschehen verstrickt wurden. "Ist es nicht weitaus vernünftiger und menschlicher", so könnte ein Gedankenloser sich rechtfertigen, wenn er denken könnte, "das verramschte Spruchzeug des 20. Jahrhunderts mühelos und gratis weiter zu benutzen, als eine neue Gesellschaftskritik à la Marx zu entwerfen, die schnurstracks in einen neuen Gulag führt?" Hat der kritische Intellektuelle Sartre mit seinem "engagement" für den Marxismus, die französische KP und die Sowjetunion nicht – wenigstens zeitweise – den Neostalinismus unterstützt?

Das Problem scheint darin zu bestehen, daß die Gedankenlosen des anbrechenden 21. Jahrhunderts nicht mehr in der Lage sind, diese simplen und zum Teil simplifizierenden Gedankengänge nachzuvollziehen, weil sie das Spruchzeug, das die Ideologen, die Medien- und Werbefachleute angehäuft haben, nicht benutzen, sondern von ihm benutzt, gesprochen werden. Dies meinte wohl Adorno, als er in den Minima Moralia notierte: "Bei vielen Menschen ist es bereits eine Unverschämtheit, wenn sie Ich sagen." Dieser Satz, der im Kontext der Kritischen Theorie nicht als elitäre Geste, sondern als kritische Provokation gedeutet werden sollte, schlägt eine Brücke zu den nachmodernen französischen Theorien der Subjektlosigkeit, die das individuelle Subjekt (nicht ganz zu Unrecht) als Epiphänomen der Sprache (Lacan), als ideologischen Effekt (Althusser) oder als flüchtige Imago einer Macht- und Strukturenkonstellation (Foucault) betrachten. Ihnen erscheint es als eine Schimäre des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die sich nach dem Scheitern des Existentialismus aufzulösen beginnt.

Bei oberflächlicher Betrachtung scheinen sie den Intellektuellen der machiavellischen Tradition (von Pareto und Lenin bis Goebbels) recht zu geben, die alle Kommentare zur individuellen Freiheit, Verantwortung und Subjektivität schon immer für Naivitäten, leeres Gerede oder Ideologie hielten und den einzelnen – in bewußtem Widerspruch zu Kant – als Mittel zum Zweck betrachteten: als "nützlichen Idioten" (Lenin). Von ihnen gilt, was Horkheimer und Adorno in frischer Erinnerung an die Kriegsereignisse von der mißratenen Aufklärung schrieben: "Die Aufklärung verhält sich zu den Dingen wie der Diktator zu den Menschen. Er kennt sie, insofern er sie manipulieren kann."

Wer trotz aller Rückschläge an der "alteuropäischen" (Luhmann) Tradition der Kritik festhält, der wird keine Sekunde lang mit dem instrumentellen Denken der manipulierenden Intellektuellen liebäugeln. Er wird auch angesichts der überwältigenden Machtfülle der verwalteten Sprache stets von neuem versuchen, im gedankenlosesten Individuum den letzten Funken Geist zu einer Flamme anzufachen: in der Hoffnung, daß sich irgendwann doch noch Adornos Gedanke aus Kritik, Kleine Schriften zur Gesellschaft bewahrheitet: "Was triftig gedacht wurde, muß woanders, von anderen gedacht werden: dies Vertrauen begleitet noch den einsamsten und ohnmächtigsten Gedanken." Zugleich wird er daran erinnert, daß es den französischen Kritikern der Moderne nicht darum ging, den einzelnen der Gewalt der Gegenwart zu opfern, sondern darum, Subjektivität als ideologische Illusion, die von manipulierenden Intellektuellen und Politikern ausgeschlachtet wird, zu zerlegen. Auf die Nähe seines Denkens zur Kritischen Theorie geht Foucault selbst ein, wenn er in einem Gespräch bemerkt: "Hätte ich die Frankfurter Schule gekannt, hätte ich sie rechtzeitig kennengelernt, hätte ich mir sicherlich viel Arbeit erspart." Es ist schlicht falsch, daß das nachmoderne französische Denken "en bloc" einer "strukturalistischen Technokratie" das Wort redet; es zerstört lediglich einige Illusionen, die zeitgenössischen Erben des deutschen Idealismus allzusehr ans Herz gewachsen sind. Auch im folgenden soll die Illusion vom autonom sprechenden, denkenden und entschiedenen "Bürger" oder "Konsumenten" als eine Form subtiler Manipulation erkennbar werden.

1. Gegen eine postmoderne Abwertung der Kritik

Längst hat sich die staatlich verwaltete Konzernwirtschaft des Demokratiegedankens bemächtigt: Kritik im Sinne des Marxismus, des Existentialismus, der Avantgarden oder der Kritischen Theorie soll als »elitär« erscheinen. Intellektuelle wie Leslie A. Fiedler tragen entscheidend zur Abwertung moderner Kritik und zur globalen Verdummung bei, sooft sie den Kompromiß mit der Wirtschaftsgesellschaft als mutiges Auftreten und als »dernier cri« der Postmoderne preisen. Über die kompromißbereiten postmodernen Romanciers schreibt er: »Sie fürchten nicht den Kompromiß des Marktplatzes, ganz im Gegenteil, sie wählen dasjenige Genre, das sich der Exploitation durch die Massenmedien am ehesten anbietet, den Western, Science-fiction und Pornographie. «6 Diese in jeder Hinsicht profitable Kompromißbereitschaft ist nicht eben neu: Schon Autoren des 18. und 19. Jahrhunderts entdeckten und praktizierten sie mit Erfolg. Möglicherweise waren sie postmodern »avant la lettre« ...

Fiedler ist zwar nicht so töricht, seinen politischen Standort zu bezeichnen und offen über die Funktion seiner Rhetorik im zeitgenössischen sozialen und kulturellen Kontext nachzudenken; aber dieser Funktionszusammenhang tritt auch ohne Fiedlers Kommentar klar zutage: Es handelt sich um eine Rhetorik, die die Interessen der Kulturmanager und der Kulturindustrie durch pseudodemokratische Gesten legitimiert und darauf aus ist, den Widerstand der noch verbleibenden kritischen Intellektuellen zu brechen. Sie sollen als zutiefst »undemokratisch« oder »elitär« diskreditiert und mit einer gefährlichen, weil aristokratischen Esoterik assoziiert werden. Dabei kommt die Ambivalenz des Demokratiebegriffs Fiedler zur Hilfe, die immer dann in Erscheinung tritt, wenn – wie im Italien der 20er und im Deutschland der 30er Jahre – der Wille der einfachen Mehrheit auf Täuschung beruht. Die im Kulturbereich »erst angekurbelte Nachfrage« (Adorno) legitimiert die anschließend mit Erfolg vermarkteten Stereotypen keineswegs; denn Demokratie als »Wille der Mehrheit« ist wertlos, ja sogar gefährlich, wenn sie nicht auf individueller Autonomie und Entscheidungsfähigkeit beruht.

Wer inmitten einer um sich greifenden sozialen Aphasie nicht mehr in der Lage ist, für sich zu sprechen, weil ihm im entscheidenden Augenblick nur noch das intermedial vermarktete Schlagwort einfällt, der ist zur politischen oder ästhetischen Willensbildung nicht mehr fähig und stellt als indifferenter, manipulierbarer Wechselwähler oder Konsument eine Gefahr für die Demokratie dar. »Nur das in Wahrheit entfremdete, das vom Kommerz geprägte Wort berührt (ihn) als vertraut«, schreibt Adorno und fügt hinzu: »Weniges trägt so sehr zur Demoralisierung der Intellektuellen bei.«

Zu diesen demoralisierten Intellektuellen gehört nicht nur Fiedler, der sich offen zum Anwalt einer amerikanisierten, eindimensionalen Gesellschaft macht, in der die zweite Dimension im Sinne von Marcuse nicht mehr »benannt« werden kann, weil die Worte fehlen, sondern auch Umberto Eco, der ihm mit echter oder gespielter Naivität beipflichtet: »Er will ganz einfach die Schranke niederreißen, die zwischen Kunst und Vergnügen errichtet worden ist.« Eco übersieht – aus welchen Gründen auch immer –, daß die heutige sprachliche Situation so einfach nicht ist: Das Niederreißen der Schranke wird stets zur Folge haben, daß der Kulturstrom bergab fließt, weil das Vergnügen als »global funhouse« fest im Griff der in Absatzraten und Einschaltquoten kalkulierenden Kulturmanager ist und weil die zunehmende soziale Aphasie die Rezeption anspruchsvoller Texte – von der kritischen Tageszeitung bis zu Lopes oder Shakespeares einst populären Dramen – verhindert. An dieser Hürde scheitert auch Brechts Episches Theater, das »die ganz unten« aus sprachlichen Gründen nicht mehr erreicht. Es erreicht nicht einmal mehr »die etwas weiter oben«, die mit entrüstetem Kopfschütteln (aber nicht ohne Genugtuung) in der Bild-»Zeitung« lesen: »Eltern zu dumm – Kinder weg«. Daß die Boulevardpresse mit ihren Slogans und Worthülsen die Dummheit der Eltern (und der Kinder) täglich festschreibt, ist bestenfalls zwischen den Zeilen zu lesen – und nur von denjenigen, die sich (der berechtigten Forderung: »Enteignet Springer!« eingedenk) noch nie eine Bild- »Zeitung« gekauft haben.

»Aber so etwas muß es doch auch geben! Es kann schließlich nicht jeder Dichter oder Philosoph sein! Und weshalb sollte man Ecos Roman nicht auf populäre Art verfilmen? Eine brennende Bibliothek sieht man schließlich nicht jeden Tag, und die Leute haben wenigstens auf diese Art Kontakt zu Büchern ...« Die Absurdität solcher Apologien tritt klar zutage, sobald man die Einstellung zu Konsumtexten mit der zu anderen Genußmitteln vergleicht. Daß Zigaretten der Gesundheit schaden, steht mittlerweile auf jedem Werbeplakat, auf jeder Zigarettenpackung; daß Fett und Chemikalien in »populären« Lebensmitteln (zum Beispiel Hamburgern) schädlich sein können, hat sich ebenfalls herumgesprochen. Aber der Tag, an dem eine Regierung die Boulevardpresse zwingt, ihre Produkte mit der Aufschrift Schadet dem Intellekt zu versehen, scheint noch in weiter Ferne zu liegen. Dabei wäre es zugleich einfach und informativ, die Blätter dieser Branche – wie Milchprodukte – mit einer analytischen Inhaltsangabe zu versehen: »enthält 60% hohle Phrasen und Slogans, 20% fehlerhafte Syntax, 10% Stilblüten, 5% Grammatikfehler und 5% widersprüchliche oder unsinnige Behauptungen«.

Daß die an solchen Texten geschulten Lesergruppen außerstande sind, den anspruchsvolleren Satzgefügen und Gedankengängen der FAZ oder der Frankfurter Rundschau zu folgen, ist nicht weiter verwunderlich. Die hilflose Geste eines niederländischen Bahnbeamten, der durch den leeren Zug schlendert, eine Volkskrant (= Volkszeitung) aufhebt und mit dem Ausruf »te moeilijk!« (»zu schwierig!«) verärgert in die Ecke wirft, spricht Bände.

Wie soll aber eine spätkapitalistische Demokratie als komplexes Gesellschaftssystem funktionieren, wenn die Gedankengänge, die ihren Funktionszusammenhang erhellen, von den meisten Wahlberechtigten nicht nachvollzogen werden können? Wer die Zusammenhänge nicht mehr begreift, weil ihm das syntaktisch-narrative Vermögen fehlt, der begnügt sich mit affektiven Reaktionen: auf das Wahlgrinsen von X, die Slogans von Y oder irgendein Feindbild, das zur Metapher für den opaken und unverstandenen Gesamtzusammenhang wird. Demagogen haben sich diese drastischen Reduktionen von Komplexität immer wieder zunutze gemacht und werden es auch künftig tun. Möglicherweise gehört ihnen das beginnende Jahrhundert.

Die Heuchelei einiger postmoderner Intellektuellengruppen besteht darin, daß sie diese soziale Aphasie als sprachlich-gedankliche Abwärtsbewegung zwar wahrnehmen, nicht aber mit Kritik reagieren, sondern mit einer »spéculation à la baisse«. Sie wissen sehr wohl, daß Kritik nicht populär ist, sondern als elitär gilt und daß der zeitgenössische Intellektuelle daher gut beraten ist, sich die Apologie der Kulturindustrie zu eigen zu machen, die in den USA Fiedler, in Italien Eco und in Deutschland der Romanist Hans Robert Jauß in die Wege geleitet haben.

Eco, der Ende der 60er Jahre noch verkündete, Literatur müsse auf die »Entfremdung« im Kapitalismus mit »Verfremdung« reagieren, hat dieses Vokabular – zusammen mit der Moderne und der Avantgarde – verabschiedet und sich einer Schreibweise zugewandt, die eher Horaz‘ delectare und prodesse verpflichtet ist. Die Entfremdung, von der er in Das offene Kunstwerk (1962) noch sprach, hält er anscheinend für überwunden. Sie ist nicht nur nicht überwunden, sondern tritt gegenwärtig als individuelle und kollektive Unmündigkeit besonders kraß in Erscheinung. Wer sprachlos ist und außerstande, eigene Gedanken zu artikulieren, der wird dazu neigen, sich die Diskurse anderer zu eigen zu machen: »Je est un autre«.

In dieser Situation erscheint es wichtig, die Positionen der Negativität, die die Vertreter der Kritischen Theorie in der Nachkriegszeit einnahmen, weiterhin zu verteidigen: nicht nur, um sich selbst »nicht dumm machen zu lassen«, wie Adorno sagt, sondern auch um denjenigen, die die Kulturindustrie im stillen ablehnen, Mut zu machen und vor allem »eine Stimme zu geben«. Daß es einen stillen Widerstand gibt, wird immer dann klar, wenn sich Menschen sehr unterschiedlicher Herkunft in allen Ländern der EU über die Dummheit »ihrer« Fernsehprogramme beklagen. Nur Zyniker unter den Intellektuellen können behaupten, daß die kommerzialisierte Massenkultur auch demokratisch ist.

2. Sprachkritik: Subjektivitätsverlust als soziale Aphasie

»L‘idéologie interpelle les individus en sujets«, »die Ideologie ruft die Individuen als Subjekte an«, schreibt Louis Althusser und faßt die Ideologie- und Sprachproblematik eines Jahrhunderts zusammen, das das Autonomiepostulat des liberalen Humanismus und des Individualismus zu widerlegen scheint. Denn die »totalitären Sprachen«, wie Jean-Pierre Faye die Diskurse des Nationalsozialismus und des Faschismus nennt, haben sich der Individuen und der Gruppen bemächtigt und das »Ich« zu einer leeren Worthülse gemacht.

Susanne zur Nieden, die Tagebücher deutscher Frauen im Nationalsozialismus erforscht hat, zitiert: »In letzter Zeit ist viel mit dem Krieg los. Es geht immer schiefer«, notierte
die vierzehnjährige Edelgard B. am 25.08.1944 in ihrem Tagebuch. »Jetzt hat Dr. Goebbels einen Aufruf ergehen lassen: ›Totaler Krieg‹. Wir, unsere Schule, wird wohl auch noch eingesetzt werden für irgendwelche Arbeiten. Das wäre auch richtig, denn wir müssen ja siegen!!! Besser jetzt alles hergeben, als in Sibirien landen.« Das individuelle
Subjekt macht sich nicht den Diskurs der Nationalsozialisten zu eigen, sondern wird von diesem Diskurs zum Subjekt gemacht. Es ist – zumindest zeitweise – außerstande, außerhalb dieses Diskurses zu denken und zu handeln. Insofern ist es durchaus angebracht, mit Faye von einem »language totalitaire« zu sprechen.

Es wäre allerdings verfehlt, die Tagebucheintragung in historischer Retrospektive mit mitleidigem Kopfschütteln zu verabschieden. Denn die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts ist keineswegs von kritischer Distanz, von intellektueller Eigenständigkeit oder Autonomie geprägt. Gerade die Intellektuellen, die am allerwenigsten mit der vierzehnjährigen Edelgard verglichen werden möchten, sprachen unbesehen von den »sozialistischen Ländern«, ohne zu fragen, wie Marx auf den »realen Sozialismus« reagiert hätte, und hielten (S. Mallet, L. Goldmann) das »jugoslawische Modell« für eine Alternative zu Stalinismus und Monopolkapitalismus. Sie machten sich nicht die Mühe, hinter die Kulissen zu schauen, mit Exilserben, Exilkroaten oder Exilslowenen zu reden, um sich zu informieren.

»Mundus vult decipi, intellectus vult decipi«: und zwar deshalb, weil es einfacher ist, sich im Rahmen einer diskursiven Formation kollektiv denken zu lassen, seine Ansichten von »Gleichgesinnten« ritualmäßig bestätigen zu lassen, als unermüdlich Andersdenkende aufzusuchen, um die Gleichgesinnten mit guten Gegenargumenten vor den Kopf zu stoßen, das heißt zu wecken. Noch im Jahre 1983 macht sich Michael Jäger über den Subjektivismus von Gert Mattenklotts Buch Der übersinnliche Leib lustig, indem er auf gut marxistische Art die »objektive Wirklichkeit« ins Feld führt, die Mattenklott mit einer Theorie des »geschwundenen Außen« zu leugnen scheint: »Nun ließe sich billig spotten, daß das geschwundene Außen leicht durch Öffnen der Vorhänge zurückgeholt werden könnte. Die Sowjetunion ist noch da. Aber im Ernst: ist nicht manches an Mattenklotts Modell anachronistisch?« Als anachronistisch erwies sich die Sowjetunion, denn acht Jahre nach Erscheinen von Jägers Artikel war sie nicht mehr da. So solide ist die »objektive Wirklichkeit«, die in Wirklichkeit nur eine Konstruktion des liberalen, marxistischen, faschistischen, nationalistischen oder fundamentalistischen Diskurses ist. Es käme darauf an, diese Diskurse, die sich der Subjekte bemächtigen und sie zu sozialer Aphasie verurteilen, zu zerlegen, um herauszufinden, wie sie funktionieren: what makes them tick.

Das geschieht zu selten, und wenn es geschieht, dann wirkt es kaum, weil sich die meisten nach wie vor denken lassen und Studenten mechanisch in Student/innen, Wissenschaftler in Wissenschaftler/innen überleiten, ohne sich über die komplexen Herrschaftsverhältnisse in Sprache und Gesellschaft diskurskritisch den Kopf zu zerbrechen. Ihnen fallen unsinnige Formen wie » Liebe Mitglieder/innen!« gar nicht mehr auf. Möglicherweise würden sie mit Verwunderung (eher mit Verunsicherung) reagieren, wenn sie ihre Lebensgefährtin mit der Nachricht überraschte, sie sei Mitgliederin bei den Grün-Alternativen: »Kann man denn das schon sagen?« Noch nicht, aber in zehn Jahren bestimmt: Die Strategien der Verdummung werden immer effizienter.

Hinter ihnen steht die geballte Macht der Technologie, die neue »Mythen des Alltags« (Barthes) entstehen läßt. Der Computer-Mythos stellt alles in den Schatten, weil er dem hilflosen Intellektuellen suggeriert, daß er natürliche Intelligenz durch künstliche potenzieren kann. Daß er das im Flugverkehr und im strategischen Bereich tut, soll nicht bezweifelt werden, zumal die Kombinationsmöglichkeiten, die ein strategisches Modell ausmachen, ohne Rechner nicht systematisch durchgespielt und quantifiziert werden könnten. In den Geisteswissenschaften hat der Einsatz künstlicher Intelligenz eher dazu geführt, daß die klare Gliederung auf argumentativer Ebene (für die ein Bleistift und ein Stück Papier völlig ausreichend sind) durch eine typographische Scheingliederung ersetzt wird, für die der Computer mit fettgedruckten Untertiteln, Kursivierung, Diagrammen und Randausgleich verantwortlich ist. Der Argumentationszusammenhang wird durch einen typographischen Zusammenhang ersetzt, der Zusammenhänge lediglich vortäuscht. Daß sich nicht nur Lernende, sondern auch Lehrende von der künstlichen Intelligenz auf diese Art betören lassen, versteht sich in einer immer demokratischer werdenden Gesellschaft fast von selbst. Schließlich haben sie – wie Ende der 60er Jahre schon festgestellt wurde – nur einen altersbedingten »Wissensvorsprung«. Gegen systembedingte Dummheit sind sie also nicht gefeit.

Während man an französischen und deutschen Universitäten in den 70er Jahren in den Gängen oder in der Mensa noch an Diskussionen über das »dépassement« oder die Systemüberwindung teilnehmen konnte, wird man heute mit Gesprächen über die Heldentaten des PC-Geräts vorliebnehmen müssen: »Meiner kann unterstreichen!« – »Meiner kann bunt unterstreichen!« – »Meiner kann Studenten durch Student/innen ersetzen und für einen geschlechtsneutralen Text sorgen.« Vom » dépassement« der 60er Jahre bleibt in solchen Fällen wenig übrig: bestenfalls ein »dépassement de l‘égran«, wenn der Kollege schließlich doch noch auf den »Titel« seines Artikels zu sprechen kommt, der nun (ein wahres Wunder!) kursiv gesetzt werden kann.

So manches dieser Gespräche erinnert an Buñuels Film Le Charme diseret de la bourgeoisie, in dem sich Partybesucher im Werbejargon reibungslos verständigen: »Ma Renault s‘énerve.« – »Mon parfum est d‘une élégance indépassable.« – »Votre vin a vraiment du corps.« Der Alltag sieht nicht viel anders aus, wenn der Nachbar uns vertraulich mitteilt: »Ein bißchen Power muß mein Wagen schon haben.« Auf die exotischen Konnotationen kommt es an, weil sie den Ausblick aufs Tatsächliche angenehm vernebeln. Wer statt Computer oder PC einfach Rechner sagt, irritiert so manchen Kollegen (Kolleginnen seltener), der die Bagatellisierung der von ihm verehrten künstlichen Intelligenz nur schwer erträgt. Ähnliche Erfahrungen macht, wer hartnäckig von Fluggesellschaft statt von Airline, vom Schwimmbecken statt vom Pool und vom Schnäpschen statt vom Drink spricht, weil Fluggesellschaft mittlerweile eine etwas schwerfällige Organisation konnotiert, deren Flugzeuge nicht jederzeit startbereit sind, das Schwimmbecken den Verdacht erregt, es könnte bloß Wasser drin sein, und das Schnäpschen nur noch den Kater evoziert, den uns Alkoholgenuß »post festum« beschert. Die Airline hingegen hat richtige Jets, die jederzeit startklar sind (außer wenn sie in einer Warteschleife oder einem Stau stecken), der Pool ist ein richtiges Erlebnis, und der Drink evoziert Hollywood und nicht die Allgäuer Sommerfrische.

Deshalb erscheint es auch unzweckmäßig, in einem Polyglott-Reiseführer einen banalen Regenbogen in Szene zu setzen. Als eine der wichtigsten Touristenattraktionen hat der isländische See Mývatn Besseres verdient. Deshalb ist auch von einer »himmlischen Lightshow über dem Mývatn« die Rede. An den Universitäten des 21. Jahrhunderts wird man sich mit einem Seminar zur »Literarischen Avantgarde« nur lächerlich machen. Seminare werden ausschließlich im »International English« und mit Titeln wie »The Avantgarde Show« oder »The Goethe-and-Schiller-Show« durchgeführt. (Schließlich sind auch Studierende aus den USA und Japan dabei!) Wer sich diesem Trend widersetzt, wird nicht nur von den Trendsettern mitleidig belächelt, weil er noch in einer Regionalsprache unterrichtet und den intermedialen Charakter der Literatur nicht begriffen hat, sondern als Relikt des 20. Jahrhunderts (»ergrauter 68er«) in den musealen Bereich relegiert.

Es geht hier nicht so sehr um Stereotypen und Amerikanismen, über die sich wöchentlich Journalisten, Literarten und Linguisten mokieren. Es geht darum, daß die Stereotypen nur selten cum grano salis oder selbstironisch verwendet werden, sondern dem sprechenden Subjekt vorgegeben sind. Wer sagt: »Wir wollen uns einen Drink einschenken und noch eine Weile draußen am Pool plaudern«, der denkt sich zwar nichts dabei, sofern er die Sprachmechanismen nicht durchschaut, er weiß aber genau, was er sagen will: »Seht, was wir nicht alles haben, bei uns ist es doch schön, bleibt noch 'ne Weile, vielleicht ergibt sich noch etwas« (was auch immer). »Die Sprache spricht«, sagte Heidegger und wollte etwas ganz anderes ausdrücken; sein Satz bezeichnet aber einen Zustand der Subjektlosigkeit, in dem »das Spruchzeug nur so herumliegt« (Bekker) und von den meisten gedankenlos, aber dankbar aufgegriffen wird.

Aber vielleicht geht es auch ohne Wörter, vielleicht wird sich die Verdinglichung bald in einem Zustand der Sprachlosigkeit voll durchsetzen. Jürgen Becker sieht es so: »Aber Barbara, Elfriede, Erena und Fanny, Nana, Ursula, Vicky und Wibke wissen mit neuem Küchenbewußtsein neue Wörter und die Dinge zu gebrauchen, welche die neuen Wörter bezeichnen. (...) Da haben wir den Filterautomat. Habt ihr auch einen Filterautomat? Hier ist das Elektromesser. Die Zitruspresse ist nicht weit. Wörter sind genügend vorhanden, und Gegenstände sind genügend vorhanden, und Wörter brauchen wir nicht, und der Umgang mit den Gegenständen lernt sich flugs und fast von allein.«

Freilich wird es die Sprache noch eine Weile geben, obwohl sie im Supermarkt kaum noch gebraucht wird (ebensowenig wie das Kopfrechnen an den Kassen) und das Geld bei internationalen Transaktionen die kommunikative Funktion zur Zufriedenheit aller Beteiligten erfüllt. Dazu bemerkte Stéphane Mallarmé schon im ausgehenden 19. Jahrhundert: »Erzählen, unterrichten, ja sogar beschreiben: all dies ist möglich, obwohl wir uns damit begnügen könnten, den anderen in aller Stille eine Münze in die Hand zu drücken (...).« Das In-die-Hand-Drücken der Münze ist im Internet-Zeitalter längst zum Anachronismus geworden, aber die im World Wide Web verfügbaren Zahlen drücken mittlerweile mehr aus als das Geplapper der Touristen, das ohnehin nur Zahlen, Prozente und Wechselkurse zum Gegenstand hat.

Postmoderne Sprachlosigkeit ist nicht nur marktbedingt, sondern auch aus der immer intensiver werdenden Arbeitsteilung ableitbar, die seit dem Zweiten Weltkrieg in zunehmendem Maße die Freizeit erfaßt: Der in die Fremde versetzte kontaktarme Jurist sehnt sich nach einer Partnerin und gibt eine Heiratsanzeige auf. Das erste Rendezvous beschert ihm eine Turnlehrerin, die – wie alle anderen kontaktsuchenden Damen – charmant und weltoffen ist: Er möge ihr doch – so nebenbei und nur zum Kennenlernen – von seinen Hobbys erzählen. Er sei leidenschaftlicher Schachspieler, habe aber – wie gesagt – kaum Kontakt in dieser Gegend ... Was sie denn so interessiere ... Sie sei leidenschaftliche Reiterin, besitze sogar ein Pferd, das zur Zeit leider krank sei: eine Erkältung, die ihr große Sorgen bereite, das Pferd sei schon älter. Ob er selbst hin und wieder ein Pferd besteige? – Nein, nein, überhaupt nicht: Er sei gegen Pferdehaar, Hundehaar, Katzenhaar, Heu und Stroh hoffnungslos allergisch ... Betretenes Schweigen. Der verzweifelt herbeigesehnte gemeinsame Nenner schrumpft in dieser – nicht eben idealen – Sprechsituation auf das Pferdchen am Schachbrett zusammen, auf dem man bekanntlich nicht reiten kann. Als nächste trifft er eine leidenschaftliche Windsurferin, auf deren Surfbrett die Aufschrift FANATIC leuchtet, die das baldige Ende der Kommunikation ankündigt. – Vielleicht ein andermal: In der Zwischenzeit füllt das Fernsehen weiterhin den grauen Alltag aus.

3. Fernsehen als organisierte Sprachlosigkeit

Die neuesten James-Bond-Filme haben einen – möglicherweise noch unentdeckten – Vorteil: Man kann sie auch als Stummfilme problemlos verstehen und genießen, sofern man nicht die Mühe scheut, den rudimentären Dialogen der ersten zwei oder drei Handlungssequenzen zu folgen. Anschließend kann man den Ton getrost abschalten. Denn im Gegensatz zu Hofmannsthals Konversationsdrama Der Schwierige, das dazu tendiert, Handlung durch Sprache zu ersetzen, besteht vor allem der neue James-Bond-Film vorwiegend aus Action (nicht aus Handlung, versteht sich, denn die gibt es im Heimatfilm auch): Die Schießerei mündet mit eiserner Logik in einen Faustkampf, und dieser wird mit erstaunlicher Regelmäßigkeit von einem technischen Makroereignis (Explosion, Rakete, Laserstrahl) unterbrochen oder abgelöst.

Solange man sich von der Action faszinieren läßt (und wer kann sich dieser Faszination schon entziehen?), kann man ihr auch dann folgen, wenn man den Ton ausschaltet und den Film als Stummfilm weiterlaufen läßt. Jürgen Becker hat einem seiner Bücher den Titel Zeit ohne Worte gegeben, wohl um anzudeuten, daß Fotografien etwas ausdrücken, was mit Worten nicht ohne weiteres wiederzugeben ist. Der neue James-Bond-Film illustriert Beckers Titel auf seine Art: wozu Sprache in »dürftiger Zeit«, wo doch die Action als einzige die Zuschauer in ihren Bann schlägt und hohe Einschaltquoten garantiert? Wozu subtile Dialoge, die keiner versteht, Wenn die Action als größter gemeinsamer Nenner (vom Entspannung suchenden Intellektuellen bis zum sprachlosen Fremdarbeiter) buchstäblich einen Bomben- bzw. Raketenerfolg garantiert?

Das Erfolgsrezept der Action besteht darin, daß sie die »psychotechnische Behandlung« der Massen, von der Adorno in seinem Essay über Valéry spricht, auf die Spitze treibt, indem sie die nervlich-psychischen Reflexe des einzelnen unmittelbar anspricht: von Schock zu Schock, von Sequenz zu Sequenz. Im Gegensatz zu den Schockerlebnissen des Epischen Theaters und der Avantgarde, von denen Walter Benjamin sagt, sie sollten den Leser oder Zuseher zum kritischen Nachdenken anregen, sind die Smashes und Blasts der James-Bond-Filme dazu angetan, den berauschten Zuseher bis an das banale Happy-End mitzuschleifen, an dem so manchem in katerhafter Stimmung klar wird: »Ich habe mich wieder ködern lassen und zwischendurch wieder alle Kekse gefuttert ...«

Es ist keineswegs so, daß die Produkte der kommerzialisierten Kultur von einer demokratischen Mehrheit bewußt gutgeheißen werden. Vielmehr werden sie halbbewußt, fast unwillkürlich aufgenommen: wie die dumme und verdummende Melodie, die im Kaufhaus aus den Lautsprechern lallt. Mit Licht- und Lauteffekten soll suggeriert werden, daß dort »etwas los ist«, daß die massenproduzierte Ware »Qualität« hat und der Turnanzug aus einem Billiglohnland ein Jogging-Set ist. Wer, einem postmodernen Trend folgend, behauptet, die kommerzialisierte Kultur sei für die Mehrheit gedacht, gehört zu jenen Apologeten der Marktgesetze, die Pierre Bourdieu ganz zu Recht als die »intellectuels hétéronomes« bezeichnet, als »heteronome Intellektuelle«, die die Rolle des »trojanischen Pferdes« spielen, »mit dessen Hilfe die Heteronomie, das heißt die Gesetze des Handels, der Wirtschaft in das kulturelle Feld eindringen«. Ein heteronomer Intellektueller dieser Art ist Leslie A. Fiedler, der die Heteronomie – auf gut amerikanische Art – offensiv vertritt, indem er etwa behauptet, kommerzialisierte Kulturformen wie die Pornographie seien subversiv. Aber wogegen soll sich ihre subversive Kraft richten? Sicherlich nicht gegen die amerikanische Konzernwirtschaft, die von ihnen in jeder Hinsicht profitiert. Möglicherweise gegen den fernen Papst.

Die Gegensätze berühren sich: Komplementär zum Action-Film, der die Sprache zu einer atrophierenden Randerscheinung werden läßt, verhält sich die Talk-Show, in der Sprache zum leeren Geschwätz verkommt. Auch sie kann als ein Instrument der »psychotechnischen Behandlung« im Sinne Adornos aufgefaßt werden. Sie schlägt die Zuschauer nicht so sehr durch Spannung und Nervenkitzel in ihren Bann, um so mehr aber durch den systematisch inszenierten Voyeurismus, den sie durch Indiskretionen und andere Einblicke in die Privatsphäre der Plaudernden anstachelt.

Die Talk-Shows beschreibt Bourdieu treffend als Synthesen von Voyeurismus und Exhibitionismus: »Lebensabschnitte, ungeschminkte Darstellung von Lebenserfahrungen, die oft extreme Formen annehmen und dazu angetan sind, eine Form von Voyeurismus und Exhibitionismus zu befriedigen.« Kein Wunder, daß diese Art von Konversation (was würden Mlle de Scudéry und Mme de Sévigné dazu sagen?) recht bald zum »Schmuddel-Talk« verkommt, der alle Beteiligten anekelt. Dazu Christoph Hirschmanns »Meinung« in TV-Media: »Die deutschen Privatsender reagierten auf den Unmut ihrer eigenen Klientel (es hagelte Klagen von Zusehern!) und bremsten ihre Talkstars ein. Die freiwillige Selbstkontrolle funktionierte.« Hier wird jenseits von allen gesellschaftskritischen Theorien deutlich, daß die »heteronomen Intellektuellen«, die behaupten, das Kulturangebot der Marktgesellschaft entspreche der Nachfrage, entweder nicht mehr wissen, wovon sie reden, oder heucheln. Die Zuseher können ihre Wünsche in sprachloser Zeit zwar nicht mehr klar artikulieren, aber daß sie den kommerzialisierten Verdummungszusammenhang nicht wortlos hinnehmen, kann man sogar in TV-Media nachlesen.

Wie sehr gerade in einer »Kritik« an der Talk-Show die Sprache auf der Strecke bleibt, läßt der Kommentar von Dieter Chmelar erkennen: »Das Format ›Talkshow‹ wird dank überwiegend wildgewordener, jedenfalls gegen ausreichendes Entgelt zum Äußersten entschlossener Teilalphabeten (sic!) bis zur Kenntlichkeit (sic!) entstellt. Es gibt in diesen Sendungen kaum Diskussionen, dafür Perkussionen. Kaum Argumente, nur Rudimente. Jeder morst, so laut er kann. Bla pour Bla!« Bis zur Unkenntlichkeit wird hier die deutsche Sprache entstellt, von der nicht bloß in der Talk-Show, sondern auch in deren »Kritiken« nur noch »Rudimente« oder »Spruchzeug« (Becker) übriggeblieben sind.

Das Zusammenwirken von wortloser Action und bezahltem Bla Bla ist eine der Hauptursachen für die sozial bedingte Aphasie der Subjekte. Sie büßen die Fähigkeit ein, ihre Interessen und Wünsche zu artikulieren und mit anderen zu sprechen. Deshalb ist seit Jahrzehnten von »Kommunikation«, »kommunikativer Kompetenz« und »kommunikativem Handeln« die Rede: Sie sind in der intermedialen Kommunikationsgesellschaft zur Atrophie verurteilt, weil die vom Tauschwert beherrschten Medien das sprachliche Vermögen nicht fördern, sondern ersticken. Denn das heimliche Ideal der Tauschgesellschaft ist Mallarmés Münze: »mettre dans la main d‘autrui en silence une pièe de monnaie «. Die dem System eingeschriebene Leitidee ist wortlose Kommunikation. In diesem Kontext sollte man die Klagen über den sich ausbreitenden Analphabetismus lesen, etwa die Artikel in der FAZ vom Sonntag: »Von den Lehrstellenbewerbern sind 10 bis 15 Prozent nicht vermittelbar, weil sie nicht richtig lesen und schreiben können. (...) Das einst hochgerühmte Bildungssystem zeigt Schwächen. In den Kindergärten schlagen sich Erzieherinnen mit sprachbehinderten Jungen und Mädchen herum, die oft mehr mit dem Fernseher kommunizieren als mit den Eltern.« Das Ergebnis ist einerseits Bla Bla, andererseits Action, das heißt Gewalt: Wer Meinungsverschiedenheiten, Konflikte oder einfache Mißverständnisse nicht ausdiskutieren kann, der schlägt zu wie ein unmündiges Kind.

Wie sehr Sprachlosigkeit und infantile Regression im Freudschen Sinne zusammenhängen, läßt die medial bedingte Kommunikationssituation erkennen, die kurz nach »Prinzessin« Dianas Tod in London entstand: Eine Londoner Richterin erwägt, einen zwanzigjährigen italienischen Touristen, der es gewagt hat, vom Opferaltar der toten Diana einen Teddybären für seine Freundin zu stehlen, einsperren zu lassen: »The court takes a serious view of this matter, Magistrate Lorraine Morgan told Mr. Piras. She initially sentenced him to seven days in an institution for young offenders but after giving ›further thought to the sentence‹ imposed a fine of £100 ($160), with the seven-day jail term to be reinstated if the fine is not paid in seven days.« Ein erwachsener Zwanzigjähriger hätte sich weder für Diana noch den Teddybären interessiert, und eine erwachsene Richterin hätte es strikt abgelehnt, ein englisches Gericht mit dieser Lappalie zu befassen: zumal der junge Tourist zuvor von einem aufgebrachten (infantilen) Patrioten einen Fausthieb ins Gesicht erhalten hatte ... Der einzige Lichtblick in dieser Angelegenheit scheint der »further thought« zu sein, den man der Richterin angesichts der medial organisierten Verblendung nicht mehr zugetraut hätte.

Sprachlosigkeit und infantile Regression werden im Fernsehen nicht nur durch Action, Talk-Show und Mythenbildung, sondern auch durch Anekdotisierung aller Ereignisse gefördert. Anfang der 70er Jahre verkündete Marie-Laure de Noailles mit souveräner Geste: »l‘histoire c‘est des histoires!« An diese undurchdachte, aber in mondänen Kreisen publikumswirksame These scheinen sich die für die Fernsehnachrichten Verantwortlichen zu halten. Sie zeigen den von sozialer Aphasie heimgesuchten Zuschauern isolierte »Highlights« und verzichten auf eine Darstellung der Zusammenhänge: Internationale Politik wird durchgehend personalisiert, privatisiert und vorwiegend anekdotisch erfaßt: Gorbi sitzt mit Reagan (»Hi, Ron«) am offenen Kamin im Weißen Haus und zeigt, daß er im Gegensatz zu Gromyko (»grim Grom«) oder Breschnew kein sturer Apparatschik ist. Bush mag aus irgendwelchen Gründen Saddam nicht und läßt ihn bombardieren. (Die Frage, weshalb es der britischen Regierung in den 60er Jahren gelang, durch die Entsendung einer Flotteneinheit in den Persischen Golf den damaligen irakischen Diktator Kassem an einem Einmarsch in Kuwait zu hindern, und weshalb sich die USA und Großbritannien in den Jahren 1990 und 1991 zu einer solchen präventiven Strategie nicht entschließen konnten, wird gar nicht gestellt: Der Name Kassem ist längst vergessen. Zur Aphasie gesellt sich Amnesie. Clinton wäre ein guter und netter Präsident, wenn er sich nur nicht mit einem gewissen Frl. Lewinsky eingelassen hätte! (Ob es Clinton wirklich gelang, das Außenhandelsdefizit der USA zu senken, wird bestenfalls in hochspezialisierten Spätnachrichten erörtert und von kaum jemandem zur Kenntnis genommen, weil der Musikantenstadl auf einen seiner Höhepunkte zusteuert, Schwarzenegger erzählt, weshalb es ihm in Hollywood besser gefällt als in Graz, oder ein Star gerade ihr Geheimnis für ewige Jugend preisgibt.) Über die Kubareise des Papstes wird anfangs recht ausführlich berichtet, aber kurz vor dem Höhepunkt versickert der Nachrichtenstrom, weil die CNN-Journalisten neue Peripetien im Clinton-Drama wittern und von Havanna nach Washington eilen, um den intermedialen Feuilleton-Roman über die oralen Abenteuer ihres Präsidenten fortsetzen zu können. Der Papst kann da nicht mithalten. (Die Frage, wie eine Demokratisierung Kubas mit Hilfe der EU und des Vatikans in die Wege geleitet werden könnte, damit das in vieler Hinsicht vorbildliche kubanische Gesundheitswesen jenseits vom Che-Guevara-Brimborium als Modell für andere Länder Lateinamerikas erhalten bleibt und verbessert wird, wird zusammen mit allen anderen wichtigen Fragen ausgeblendet.)

Übrig bleiben aus dem Zusammenhang gerissene Anekdoten, die der gebildete Zeitungsleser als zum Teil überflüssige Illustrationen des Gelesenen rezipieren kann, die aber von den an sozialer Aphasie und Amnesie Leidenden nicht mehr konkret verstanden werden. Denn symptomatisch für soziale Aphasie und Amnesie ist die Unfähigkeit, sich in Raum und Zeit, in Geographie und Geschichte zu orientieren. Wer Lexikon, Syntax und narrative Syntax nicht ausreichend beherrscht, der bringt Slowenien und Slawonien, Paraguay und Uruguay, möglicherweise sogar Marokko und Monaco, Budapest und Bukarest hoffnungslos durcheinander und kann sich auch nicht erklären, weshalb Lemberg einmal zu Österreich-Ungarn gehörte und weshalb Kaliningrad eine russische Enklave zwischen Polen und Litauen ist. Vergeblich sucht er Königsberg in den neuen Bundesländern oder in Österreich. (Wie wär‘s mit der Schweiz?)

4. Schlußbetrachtung: Die Rolle der Intellektuellen

Daß die Intellektuellen gegen Dummheit nicht gefeit sind, sondern als »intellectuels hétéronomes« oder als Ideologen (des Faschismus, des Nationalsozialismus, des Marxismus-
Leninismus – aber auch des Liberalismus oder einer pluralistischen Postmoderne) zu den Dummen gehören können, wurde schon angedeutet. Zum Abschluß soll kurz erläutert werden, weshalb die unter Intellektuellen so beliebte Negation des Subjekts und der Subjektivität integraler Bestandteil des zeitgenössischen Verblendungszusammenhangs ist.

In einer gesellschaftlichen und sprachlichen Situation, in der immer wieder und nicht zu Unrecht auf die Unterwerfung des Subjekts (subiectum) unter Sprache, Ideologie, Systemzwänge und Werbung hingewiesen wurde, wird die Versuchung übermächtig, den Subjektbegriff kurzerhand durchzustreichen, zumal es noch keine nuancierte Theorie des Subjekts gibt. So meint beispielsweise Luhmann, im Rahmen seiner Systemtheorie auf »alteuropäische« Begriffe wie Subjekt, Herrschaft und Handlung verzichten zu können: »Wir können damit auch den Subjektbegriff aufgeben.«

Mit dieser lapidaren Bemerkung ist das Problem jedoch nicht gelöst: Denn Subjektivität ist ein sprachliches Phänomen, das jedem Text (auch dem Luhmanns) innewohnt. Einerseits artikuliert sie sich auf der Ebene des Aussagevorgangs, weil stets jemand spricht, kritisiert, erzählt; andererseits tritt sie auf der Ebene der Aussage in Erscheinung, wo handelnde Instanzen oder Aktanten (Greimas) agieren, gegeneinander auftreten, einander bekämpfen. Im Märchen sind es Könige, Zauberer, Prinzessinnen oder Drachen; im Roman ehrgeizige, liebende oder rächende Helden und Antihelden; in der bisherigen Soziologie waren es handelnde Individuen (individuelle Aktanten) oder Gruppen, Klassen, Organisationen (kollektive Aktanten). Bei Luhmann handeln zwar keine individuellen oder kollektiven Aktanten mehr, dafür aber »Systeme als abstrakte Subjekt-Aktanten«, die immer wieder zu »mythischen Aktanten« werden.

Das sieht etwa so aus:

»Es muß sich um selbstreferentiell operierende Systeme handeln, also um Systeme, die bei der Änderung ihrer eigenen Zustände immer selbst mitwirken müssen. ( ...) Nur selbstreferentiellen Systemen erscheint eine Außeneinwirkung als Bestimmung zur Selbstbestimmung (...). Das System kann auf diese Weise Distanz von der Umwelt gewinnen und sich gerade dadurch der Umwelt aussetzen. Es kann sein Verhältnis zur Umwelt konditionieren und dabei doch der Umwelt die Entscheidung überlassen, wann welche Bedingungen gegeben sind«

Das System als Subjekt-Aktant »wirkt mit«, »gewinnt Distanz«, »setzt sich aus«, »konditioniert « und »überläßt jemandem eine Entscheidung«. Aus Luhmanns Sicht werden zwar Handlungen von Individuen und Gruppen irrelevant, dafür werden aber Systeme so weit anthropomorphisiert, daß sie als abstrakte und häufig mythische Aktanten auftreten. Aber kann zum Beispiel das in sich widersprüchliche Wirtschaftssystem etwas »tun«, »bewirken«, »veranlassen«? Luhmann hat den Subjektbegriff nicht aufgegeben, sondern mythisiert und verdinglicht: In seiner Theorie handeln Systeme wie Sonne und Mond im Märchen.

Das System-Märchen ist möglicherweise nicht ungefährlich, weil es die Diskurse der »heteronomen Intellektuellen« und der Ideologen auf geradezu phantastische Art ergänzt: Während diese Intellektuellen einerseits in die Apologie der alles durchdringenden Marktgesetze einstimmen, sich andererseits Individuen am liebsten als politisch »geschulte« Anhänger oder ergebene Sektenmitglieder vorstellen, erklärt Luhmann individuelles Handeln für theoretisch nichtig und ersetzt es durch das Handeln mythischer Instanzen: der Systeme.

In allen drei Fällen wird die soziale Aphasie des einzelnen bestätigt und festgeschrieben: Im ersten Fall entscheiden die Marktgesetze über Qualität, Bedeutung, Sinn und Aktualität; im zweiten Fall die ideologische Organisation, die für ihre Mitglieder denkt (»Die Partei oder Sekte hat tausend Augen, der einzelne eben nur zwei«); im dritten Fall das »Sinnsystem« (Luhmann), das jenseits aller individuellen Intentionen für Sinn sorgt. Nicht jedoch für Kritik: Denn Kritik ist eine rebellische Handlung des einzelnen, dem angesichts von Parteipropaganda, Werbung, Talkshow, action, Systemtheorie und World Wide Web wieder Adornos Satz aus den Minima Moralia einfällt: »Das Ganze ist das Unwahre.«

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