Auszüge aus Wilhelm Reich's
"Einführung in die Orgonomie"

Ausgewählte Schriften

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Vorwort von Mary Higgins

Diese Äthologie ausgewählter Schriften aus den Werken Wilhelm Reichs ist als Einführung in die Orgonomie gedacht. Aus der Überzeugung heraus, daß Wissensdurstige auf die Quelle zurückgehen sollten, wird sie ohne Kommentar oder Interpretation veröffentlicht.

Es war schwierig, diese Auswahl zu treffen. Der Umfang der wissenschaftlichen Leistung Wilhelm Reichs hat imemr das Problem des „zu viel“ aufgeworfen. Hier bestand das Problem hauptsächlich darin, was auszulassen war – wie man die durch den beschränkten Raum bedingten Streichungen vornehmen sollte. Es war von vornherein klar, daß der Verzicht auf irgendeine bereits veröffentlichte Arbeit den Leser möglicherweise der seltenen Gelegenheit berauben würde, die historische Entwicklung der Wissenschaft der Orgonomie kennenzulernen und diese Entwicklung als Beweis für die konsequente Anwendung der funktionellen Denkmethode zu verfolgen. Die Verantwortung für eine angemessene Auswahl wurde daher nicht leicht genommen. Ich möchte Chester M. Raphael, M. D., für seine wertvolle Unterstützung bei der Vorbereitung dieses Bandes danken.

Unter dem umfangreichen Material, das weggelassen wurde, befindet sich auch Wilhelm Reichs "Letzter Wille und Testament", das er drei Tage vor seiner Inhaftierung am 11. März 1957 unterzeichnet hat. Der Inhalt dieses Dokuments ist weitgehend unbekannt, was bei denen, die aus seinem Werk lernen möchten, häufig Verwirrung hervorgerufen hat, und viele, die das Werk erhalten wissen möchten, mit Sorge erfüllt. Um Klarheit zu schaffen und die Sorge zu beseitigen, möchte ich deshalb die Grundgedanken seines Testaments hier veröffentlichen.

Mit Ausnahme einiger weniger besonderer Legate hat Wilhelm Reich seinen gesamten Besitz einem Treuhandfonds übergeben, der unter der Bezeichnung „Wilhelm Reich Infant Trust Fund“ den Nachlaß zu folgenden Zwecken unterhält und verwaltet:

1.  Die Wahrheit über mein Leben und Wirken soll gegen Verdrehungen und Verleumdungen nach meinem Tod geschützt werden ...

Um in Zukunft all jenen, die sich dem Studium des primordialen kosmischen Energieozeans, der Lebensenergie, die ich entdeckt und entwickelt habe, widmen wollen, die Möglichkeit zu geben, ein wahrheitsgetreues Bild meiner Leistungen, Fehler und irrtümlichen Annahmen, meiner Pionierarbeit bei grundsätzlich neuen Entwicklungen, meines Privatlebens, meiner Kindheit usw. zu erhalten, ordne ich hiermit an, daß unter keinen Umständen und unter keinem Vorwand irgendein Dokument, Manuskript oder Tagebuch, das in meiner Bibliothek, in den Archiven oder sonstwo gefunden wird, geändert, gekürzt, zerstört, ergänzt oder sonstwie verfälscht wird. Die aus Angst geborene Neigung des Menschen, um jeden Preis „mit seinen Mitmenschen auszukommen“ und unangenehme Dinge verborgen zu halten, Ist überwältigend stark. Um dieser Neigung, die für die historische Wahrheit verheerende Konsequenzen hat, vorzubeugen, ist mein Arbeitszimmer einschließlich meiner Bibliothek und der Archive sofort nach meinem Tod behördlicherseits zu versiegeln, und niemand soll Einblick in meine Papiere erhalten, bis mein Treuhänder, der untenstehend benannt ist, rechtmäßig ernannt und eingesetzt ist und die Kontrolle und Aufsicht übernimmt.

Diese Dokumente sind für die Zukunft neugeborener Generationen von entscheidender Bedeutung. Es gibt viele emotional kranke Menschen, die versuchen werden, meinen Ruf zu zerstören ohne Rücksicht darauf, was aus den Kindern wird, wenn nur ihr persönliches Leben im Dunkel des untergegangenen Zeitalters der Stalins und Hitlers verborgen bleibt.

Ich weise daher meinen Treuhänder und seine Nachfolger an, an keinem der Dokumente etwas zu ändern. Sie sind fünfzig Jahre lang sorgfältig unter Verschluß zu halten, um sie vor Zerstörung und Verfälschung durch alle jene zu bewahren, die an der Verfälschung und Zerstörung der historischen Wahrheit interessiert sind.
Diese Anweisungen treffe ich nur deshalb, damit die Wahrheit, so wie ich sie zu meinen Lebzeiten gelebt habe, auch in den Dokumenten erhalten bleibt.

2.  Der Besitz in Orgonon soll erhalten bleiben und unter den Namen und im Stil des Wilhelm Reich Museums weitergeführt werden ..., damit etwas von der Atmosphäre bewahrt wird, in der in jahrzehntelanger Arbeit die Lebensenergie entdeckt wurde.

3.  Ich habe mein ganzes Leben lang Kinder und Jugendliche geliebt, und auch sie haben mich immer geliebt und verstanden. Kleine Kinder haben mich oft angelächelt, weil ich einen innigen Kontakt mit ihnen hatte, und Zwei- und Dreijährige wurden oft nachdenklich und ernst, wenn sie mich anblickten. Dies war eines der großen, beglückenden Privilegien meines Lebens, und ich möchte meiner Dankbarkeit für die Liebe, die mir meine kleinen Freunde geschenkt haben, irgendwie Ausdruck verleihen. Möge das Schicksal ünd der große Ozean der Lebensenergie, aus dem sie kamen und in den sie früher oder später zurückkehren müssen, ihnen Glück, Zufriedenheit und Freiheit während ihres ganzen Lebens bescheren. Ich hoffe, zu ihrem künftigen Glück meinen Teil beigetragen zu haben ...

... alle Einkünfte, Erträge und Einnahmen, die mir oder dem Treuhandfonds aus Lizenzen für Geräte, die auf meine Entdeckungen zurückgehen, erwachsen, sollen für die Versorgung von Kindern überall auf der Welt verwendet werden, für die gesetzliche Sicherstellung von Säuglingen, Kindern und Jugendlichen, die in emotionaler, sozialer, familiärer, medizinischer, gesetzlicher, erzieherischer, beruflicher etc. Not sind. Ein Teil der Einkünfte kann auch für die orgonomische Grundlagenforschung verwendet werden.

Seit dem Jahre 1960, als diese Anthologie zum ersten Mal publiziert wurde, hat sich der Wilhelm Reich Infant Trust Fund bemüht, seiner Verantwortung gerecht zu werden und den von Reich in seinem Testament in so bewegenden Worten niedergeschriebenen letzten Willen zu schützen und zu erfüllen. Es war keine leichte Aufgabe: Wenige wollten helfen; viele wollten nehmen, ohne etwas zu geben; andere, die Eigennützigen und Habgierigen, haben keine Anstrengung gescheut, Reichs letzten Willen zu hintertreiben und seine Stiftung zu zerstören. Daß sie keinen Erfolg gehabt haben, ist in großem Maße auf die unermüdliche Hilfe einiger weniger loyaler Freunde zurückzuführen. Einer von ihnen ist Roger W. Straus jr., Reichs amerikanischer Verleger, von dem auch die Idee dieser Anthologie stammt.

Die zweite Ausgabe von "Selected Writings" ist gegenüber der ersten nur unwesentlich verändert und stellt die endgültige Ausgabe dar.

Zur Technik der Charakteranalyse

Unsere therapeutische Methode ist von folgenden theoretischen Grundauffassungen bestimmt. Der topische [örtliche, äußerlich wirkende] Gesichtspunkt bestimmt den technischen Grundsatz, daß Unbewußtes bewußt gemacht werden muß. Der dynamische Gesichtspunkt bestimmt die Regel, daß dieses Bewußtmachen des Unbewußten nicht direkt, sondern auf dem Wege der Widerstandsanalyse zu erfolgen habe. Der ökonomische Gesichtspunkt und die Strukturerkenntnis zwingen uns bei der Widerstandsanalyse die Einhaltung einer jedem Fall entsprechenden Ordnung auf.

Solange man im Bewußtmachen des Unbewußten, also im topischen Prozeß, die alleinige Aufgabe der analytischen Technik sah, bestand die Formel, daß man dem Patienten alle seine unbewußten Äußerungen in die Sprache des Bewußtseins, in der Reihenfolge, in der sie auftauchen, zu übersetzen habe, zu Recht. Man überließ dann die Dynamik der Analyse mehr oder minder dem Zufall, ob das Bewußtsein auch wirklich den entsprechenden Affekt auslöste oder die Deutung den Patienten über das intellektuelle Verständnis hinaus beeinflußte. Schon die Einbeziehung des dynamischen Moments, das heißt der Forderung, daß der Patient nicht nur zu erinnern, sondern auch zu erleben habe, komplizierte die einfache Formel, daß man „das Unbewußte bewußt zu machen“ habe. Da die Dynamik der analytischen Wirkung nicht von den Inhalten, die der Patient produziert, sondern von den Widerständen, die er ihnen entgegensetzt, und von der erlebnishaften Intensität ihrer Überwindung abhängt, verschiebt sich die Aufgabe dadurch um nicht Geringes. Während es vom topischen Standpunkt aus genügt, dem Patienten der Reihe nach die deutlichsten und deutbarsten Elemente des Unbewußten zu Bewußtsein zu bringen, man sich also hier an die Linie des inhaltlichen Materials hält, muß man bei Mitberücksichtigung des dynamischen Faktors diese Linie als Orientierungsmittel in der Analyse zugunsten einer anderen aufgeben, derjenigen, die sowohl das inhaltliche Material als auch die Affekte erfaßt, nämlich der Linie der aufeinanderfolgenden Widerstände. Doch dabei ergibt sich eine Schwierigkeit bei den allermeisten Patienten, die wir bei den bisherigen Ausführungen vernachlässigten.

Charakterliche Panzerung und Charakterwiderstand

Unsere Patienten sind nämlich selten von vornherein analysefähig, die wenigsten sind geneigt, die Grundregel zu befolgen und sich dem Analytiker völlig zu eröffnen. Abgesehen davon, daß sie ihm als einem Fremden nicht sofort das nötige Vertrauen entgegenbringen können, haben jahrelange Krankheit, dauernde Beeinflussung durch ein neurotisches Milieu, schlechte Erfahrungen mit den Nervenärzten, kurz, die gesamte sekundäre Verzerrung des Ichs eine Situation geschaffen, die der Analyse entgegentritt. Die Beseitigung dieser Schwierigkeit wird eine Vorbedingung der Analyse und ginge wohl leicht vonstatten, wenn sie nicht unterstützt wäre durch die Eigenart, wir dürfen ruhig sagen: den Charakter des Kranken, der selbst zur Neurose gehört und sich auf neurotischer Basis entwickelt hat. Sie ist unter der Bezeichnung „narzißtische Schranke“ bekannt. Es gibt nun prinzipiell zwei Wege, diesen Schwierigkeiten, insbesondere der Auflehnung gegen die Grundregel, beizukommen. Der eine, wie mir scheint gewöhnlich geübte, ist die direkte Erziehung zur Analyse durch Belehrung, Beruhigung, Aufforderung, Ermahnung, Zureden und ähnliches mehr. In diesem Falle trachtet man durch Herstellung einer entsprechenden positiven Übertragung den Patienten im Sinne der analytischen Aufrichtigkeit zu beeinflussen. Das entspricht etwa der von Nunberg vorgeschlagenen Technik. Gehäufte Erfahrungen haben aber gelehrt, daß dieser erzieherische oder aktive Weg sehr unsicher ist, von unbeherrschbaren Zufälligkeiten abhängt und der sicheren Basis der analytischen Klarheit entbehrt; man ist allzusehr den Schwankungen der Übertragung ausgesetzt und bewegt sich mit seinen Versuchen, den Patienten analysefähig zu machen, auf unsicherem Terrain.

Der andere Weg ist umständlicher, derzeit auch noch nicht bei allen Patienten gangbar, aber weitaus sicherer; er besteht darin, daß man versucht, die erzieherischen Maßnahmen durch analytische Deutungen zu ersetzen. Das ist ja gewiß nicht immer möglich, bleibt aber das ideale Ziel der analytischen Bemühungen.

Statt also den Patienten durch Zureden, Ratschläge, Übertragungsmanöver usw. zur Analyse zu bringen, wird in mehr passiver Haltung das Hauptaugenmerk der Frage zugewendet, welchen aktuellen Sinn das Benehmen des Kranken hat, warum er zweifelt, zu spät kommt, hochtrabend oder verworren spricht, nur jeden dritten Gedanken mitteilt, die Analyse kritisiert oder ungewöhnlich viel und tiefes Material bringt. Man kann also etwa einen narzißtischen, hochtrabend in terminis technicis sprechenden Patienten entweder zu überzeugen versuchen, daß sein Gehaben der Analyse schädlich sei und er besser daran täte, es sich abzugewöhnen, keine analytischen Ausdrücke zu gebrauchen, seine Abgeschlossenheit aufzugeben, weil sie der Analyse im Wege stehe; oder man verzichtet auf jede Überredung und wartet, bis man versteht, warum sich der Patient so und nicht anders benimmt. Man wird dann vielleicht erraten, daß er ein Minderwertigkeitsgefühl vor dem Analytiker auf diese Weise kompensiert, und ihn durch konsequente Deutung des Sinnes dieses Verhaltens beeinflussen. Die zweite Maßnahme entspricht im Gegensatz zur ersten ganz dem analytischen Prinzip.

Aus diesem Bestreben, womöglich alle durch die Eigenart des Patienten notwendig werdenden erzieherischen oder sonstigen aktiven Maßnahmen durch reine analytische Deutung zu ersetzen, ergab sich ungesucht und unerwartet ein Weg zur Analyse des Charakters.

Gewisse klinische Rücksichten nötigen uns, unter den Widerständen, denen wir bei der Behandlung unserer Kranken begegnen, eine besondere Gruppe als „Charakterwiderstände“ zu unterscheiden. Sie erhalten ihr besonderes Gepräge nicht durch ihren Inhalt, sondern von der spezifischen Wesensart des Analysierten. Der Zwangscharakter entwickelt formal spezifisch andere Widerstände als der hysterische Charakter, dieser wieder andere als der genital-narzißtische, triebhafte oder neurasthenische Charakter. Die Form der Reaktionen des Ichs, die je nach dem Charakter bei gleichbleibenden Erlebnisinhalten verschieden ist, läßt sich ebenso auf kindliche Erlebnisse zurückführen wie der Inhalt der Symptome und Phantasien.

Woher stammen die Charakterwiderstände?

Vor längerer Zeit hat sich Glover um die Unterscheidung von Charakterneurosen und Symptomneurosen bemüht. Auch Alexander operierte auf der Basis dieser Unterscheidung; ich bin ihr in früheren Arbeiten gefolgt, aber beim genauen Vergleich der Fälle ergab sich, daß diese Unterscheidung nur insofern Sinn hat, als es Neurosen mit umschriebenen Symptomen und Neurosen ohne solche gibt: jene wurden dann „Symptomneurosen“, diese „Charakterneurosen“ genannt; bei jenen fallen begreiflicherweise die Symptome mehr auf, bei diesen die neurotischen Charakterzüge.

Aber gibt es denn Symptome ohne eine neurotische Reaktionsbasis, mit anderen Worten, ohne einen neurotischen Charakter? Der Unterschied zwischen den Charakter- und den Symptomneurosen ist nur der, daß bei diesen der neurotische Charakter auch noch Symptome produzierte, sich sozusagen in solchen konzentriert hat. Daß der neurotische Charakter das eine Mal in umschriebenen Symptomen exazerbiert, das andere Mal andere Wege zur Entlastung von der Libidostauung findet, bedarf an anderer Stelle noch eingehender Untersuchung. Erkennt man aber den Tatbestand an, daß die Grundlage der Symptomneurose immer ein neurotischer Charakter bildet, so ist auch klar, daß wir in jeder Analyse mit charakterneurotischen Widerständen zu tun haben; die einzelnen Analysen werden sich nur durch die verschiedene Bedeutung unterscheiden, die man der Charakteranalyse im Einzelfalle beimessen muß. Ein Rückblick auf die analytischen Erfahrungen warnt aber davor, diese Bedeutung in irgendeinem Falle zu unterschätzen.

Vom Standpunkt der Charakteranalyse verliert die Unterscheidung von Neurosen, die chronisch sind, das heißt seit der Kindheit bestehen, und solchen, die akut sind, also spät auftraten, jede Bedeutung; denn es ist nicht so bedeutungsvoll, ob die Symptome früh oder spät aufgetreten sind, wie daß der neurotische Charakter, die Reaktionsbasis für die Symptomneurose, sich wenigstens in den Grundzügen bereits mit dem Abschluß der Ödipusphase gebildet hat. Ich erinnere bloß an die klinische Erfahrung, daß sich die Grenze, die der Patient zwischen Gesundheit und Krankheitsausbruch zieht, in der Analyse stets verwischt.

Da uns die Symptombildung als deskriptives Unterscheidungsmerkrnal im Stiche läßt, müssen wir uns nach anderen umsehen. Als solche kommen in erster Linie die Krankheitseinsicht und die Rationalisierungen in Betracht.

Fehlende Krankheitseinsicht ist zwar kein absolut verläßliches, aber doch ein wesentliches Zeichen der Charakterneurose. Das neurotische Symptom wird als Fremdkörper empfunden und erzeugt ein Krankheitsgefühl. Der neurotische Charakterzug hingegen, etwa der übertriebene Ordnungssinn des Zwangscharakters oder die ängstliche Scheu des hysterischen Charakters, ist in die Persönlichkeit organisch eingebaut. Man beklagt sich vielleicht darüber, daß man scheu ist, aber man fühlt sich deshalb nicht krank. Erst wenn sich die charakterologische Scheu zum krankhaften Erröten oder wenn sich der zwangsneurotische Ordnungssinn zum Zwangszeremoniell steigert, wenn also der neurotische Charakter symptomatisch exazerbiert, fühlt man sich krank.

Freilich, es gibt auch Symptome, für die keine oder nur geringe Krankheitseinsicht besteht und die vom Kranken wie schlimme Gewohnheiten oder hinzunehmende Gegebenheiten betrachtet werden (z. B. chronische Obstipation [Verstopfung], leichte ejaculatio praecox); manche Charakterzüge wieder werden gelegentlich als krankhaft empfunden, wie etwa heftige Zornausbrüche, die einen überrumpeln, oder krasse Unordentlichkeit, Neigung zum Lügen, Trinken, Geldausgeben und ähnliches mehr. Trotzdem empfiehlt sich die Krankheitseinsicht als wesentliches Kriterium des neurotischen Symptoms, ihr Fehlen als Kennzeichen des neurotischen Charakterzuges.
Der zweite praktisch wichtige Unterschied besteht darin, daß die Symptome niemals so vollständige und glaubwürdige Rationalisierungen aufweisen wie der neurotische Charakter. Weder das hysterische Erbrechen oder die Abasie [Unfähgkeit zu gehen], noch das Zwangszählen oder Zwangsdenken lassen sich rationalisieren. Das Symptom erscheint sinnlos, während der neurotische Charakter rational genügend motiviert ist, um nicht krankhaft oder sinnlos zu erscheinen.

Ferner gibt es für neurotische Charakterzüge eine Begründung, die sofort als absurd abgelehnt würde, wenn man sie für Symptome verwendete; es heißt oft: „Es ist halt so.“ Dieses „ist halt so“ will besagen, der Betreffende sei so geboren, das ließe sich nicht ändern, das sei „halt“ sein Charakter. Und doch ist diese Auskunft unrichtig, denn die Analyse der Entwicklung zeigt, daß der Charakter aus bestimmten Gründen so und nicht anders werden mußte, er ist also prinzipiell ebenso wie das Symptom analysierbar und änderbar.

Gelegentlich haben sich Symptome im Laufe der Zeit derart in die Gesamtpersönlichkeit eingenistet, daß sie Charakterzügen ähnlich werden. So etwa, wenn sich ein Zwangszählen nur im Rahmen des Ordnungsstrebens auswirkt oder ein Zwangssystem sich der Tageseinteilung bedient; das gilt besonders für den Arbeitszwang. Solche Verhaltungsweisen gelten dann mehr für absonderlich, übertrieben als für krankhaft. Wir sehen also, daß der Krankheitsbegriff ein durchaus fließender ist, daß es vom Symptom als isoliertem Fremdkörper über den neurotischen Charakterzug und die „üble Gewohnheit“ bis zum realitätstüchtigen Handeln alle Übergänge gibt; da wir aber mit diesen Übergängen nichts anfangen können, empfiehlt sich die Unterscheidung zwischen Symptom und neurotischem Charakter auch hinsichtlich der Rarionalisierungen, trotz des Künstlichen aller Einteilung.

Unter diesem Vorbehalt fällt uns noch ein Unterschied im Aufbau des Symptoms und des neurotischen Charakterzuges auf. Bei der analytischen Zergliederung zeigt es sich, daß das Symptom, was seinen Sinn und seine Herkunft anlangt, im Vergleich zum Charakterzug sehr einfach gebaut ist. Gewiß, auch das Symptom ist überdeterminiert; aber je tiefer wir in seine Begründungen eindringen, desto mehr entfernen wir uns aus dem eigentlichen Symptombereich, desto reiner tritt die charakterologische Grundlage zutage. So kann man – theroretisch – von jedem Symptom aus die charakterologische Reaktionsbasis entwickeln. Das Symptom ist unmittelbar nur von einer begrenzten Zahl unbewußter Haltungen begründet; das hysterische Erbrechen hat etwa einen verdrängten Fellatio- und einen oralen Kindeswunsch zur Grundlage. Beide wirken sich auch charakterlich aus, jener in einer gewissen Kindlichkeit, dieser in einer mütterlichen Haltung; aber der das hysterische Symptom begründende hysterische Charakter ruht auf einer Vielheit – zum großen Teil antagonistischer [gegensätzlicher] – Strebungen und drückt sich meist in einer spezifischen Haltung oder Wesensart aus. Die Haltung läßt sich lange nicht so einfach zerlegen wie das Symptom, ist aber prinzipiell ebenso wie dieses aus Trieben und Erlebnissen abzuleiten und zu verstehen. Während das Symptom nur einem bestimmten Erlebnis, einem umgrenzten Wollen entspricht, stellt der Charakter, die spezifische Wesensart eines Menschen, einen Ausdruck der gesamten Vergangenheit dar. Ein Symptom kann daher auch ganz plötzlich entstehen, während jeder einzelne Charakterzug viele Jahre zu seiner Ausbildung braucht. Dabei vergessen wir aber nicht, daß auch das Symptom nicht hätte plötzlich entstehen können, wenn seine charakterliche bzw. neurotische Reaktionsbasis nicht bereits vorhanden gewesen wäre.

Die Gesamtheit der neurotischen Charakterzüge erweist sich nun in der Analyse als kompakter Schutzmechanismus gegen unsere therapeutischen Bemühungen, und wenn wir die Entstehung dieses charakterlichen „Panzers“ analytisch verfolgen, zeigt es sich, daß er auch eine bestimmte ökonomische Aufgabe hat: Er dient nämlich einerseits dem Schutze gegen die Reize der Außenwelt, andererseits erweist er sich als ein Mittel, der aus dem Es ständig vordrängenden Libido Herr zu werden, indem in den neurotischen Reaktionsbildungen, Kompensationen und so weiter libidinöse und sadistische Energien aufgezehrt werden. In den Prozessen, die der Bildung und der Erhaltung dieses Panzers zugrunde liegen, wird ständig Angst gebunden, in der gleichen Weise, wie etwa nach der Beschreibung Freuds Angst in den Zwangssymptomen gebunden wird. Wir kommen auf die Ökonomie der Charakterbildung noch zurück.

Da der neurotische Charakter in seiner ökonomischen Funktion als schützender Panzer ein gewisses, wenn auch neurotisches Gleichgewicht hergestellt hat, bedeutet die Analyse eine Gefahr für dieses Gleichgewicht. Von diesem narzißtischen Schutzmechanismus des Ichs gehen daher die Widerstände aus, die der Analyse des Einzelfalles ihr besonderes Gepräge verleihen. Wenn sich aber die Verhaltungsweise als ein analysier- und auflösbares Resultat der gesamten Entwicklung darstellt, so haben wir auch die Möglichkeit, die Technik der Charakteranalyse daraus abzuleiten.

Zur Technik der Analyse des Charakterwiderstandes

Neben den Träumen, den Einfällen, den Fehlleistungen, den übrigen Mitteilungen der Patienten verdienen ihre Haltungen, das heißt die Art und Weise, wie sie ihre Träume erzählen, Fehlleistungen begehen, Einfälle bringen und Mitteilungen machen, besondere Beachtung6. Die Befolgung der Grundregel ist ein seltenes Kuriosum, und es bedarf monatelanger charakteranalytischer Arbeit, um den Patienten zu einem halbwegs ausreichenden Maß an Aufrichtigkeit zu bringen. Die Art des Patienten, zu sprechen, den Analytiker anzusehen und zu begrüßen, auf dem Sofa zu liegen, der Tonfall der Stimme, das Maß an konventioneller Höflichkeit, das eingehalten wird, und so weiter, sind wertvolle Anhaltspunkte für die Beurteilung der geheimen Widerstände, die der Patient der Grundregel entgegensetzt, und ihr Verständnis ist das wichtigste Mittel, sie durch Deutung zu beseitigen. Das „Wie“ steht als zu deutendes „Material“ gleichberechtigt neben dem, was der Patient sagt. Man hört oft Analytiker klagen, die Analyse gehe nicht, der Patient bringe kein „Material“. Darunter wird gewöhnlich nur der Inhalt der Einfälle und Mitteilungen verstanden. Aber die Art des Schweigens oder etwa der sterilen Wiederholungen ist ebenfalls „Material“, das auszuwerten ist. Es gibt wohl kaum eine Situation, in der der Patient „kein Material“ brächte, und wir müssen uns sagen, daß es an uns liegt, wenn wir das Verhalten des Analysierten nicht als „Material“ auswerten können.

Daß auch das Benehmen und die Form der Mitteilungen analytische Bedeutung haben, ist ja nichts Neues. Aber daß sie uns den Zugang zur Analyse des Charakters in einer ganz bestimmten und relativ vollkommenen Weise eröffnen, soll hier behandelt werden. Böse Erfahrungen, die man bei der Analyse mancher neurotischer Charaktere macht, lehren, daß es bei solchen Fällen zunächst immer mehr auf die Form als auf den Inhalt der Mitteilungen ankommt. Wir erwähnen nur andeutungsweise die geheimen Widerstände, die die affektlahmen, die „braven“, die überhöflichen und korrekten Patienten produzieren, ferner die Kranken, die stets eine täuschende positive Übertragung zeigen, oder gar die, die stürmisch immer gleichartig Liebe fordern, diejenigen, die die Analyse spielerisch auffassen, die stets „Gepanzerten“, die innerlich über alles und jeden lächeln; man könnte beliebig fortfahren und ist daher auf die mühevolle Arbeit vorbereitet, die aufzuwenden sein wird, um den unzähligen individuellen technischen Problemen beizukommen.

Nehmen wir, vorläufig zum Zwecke allgemeiner Orientierung und um das Wesenhafte der Charakteranalyse im Gegensatze zur Symptomanalyse besser hervortreten zu lassen, zwei Vergleichspaare vor; wir hätten gleichzeitig in analytischer Behandlung zwei Männer mit ejaculatio praecox; der eine wäre ein passiv-femininer, der andere ein phallisch-aggressiver Charakter. Wir hätten ferner zwei Frauen etwa mit Eß-Störung in Behandlung; die eine wäre ein Zwangscharakter, die andere eine Hysterika.
Nehmen wir nun weiter an, daß die ejaculatio praecox der beiden männlichen Patienten den gleichen unbewußten Sinn hätte: Angst vor dem in der Scheide des Weibes vermuteten (väterlichen) Phallus. Beide brächten nun in der Analyse auf Grund der Kastrationsangst, die das Symptom begründet, eine negative Vaterübertragung zustande. Beide würden den Analytiker (Vater) hassen, weil sie in ihm den lusteinschränkenden Feind erblickten, und beide hätten den unbewußten Wunsch, ihn zu beseitigen. In diesem Falle wird der phallisch-sadistische Charakter die Kastrationsgefahr durch Beschimpfen, Herabsetzen und Drohungen abwehren, während der passiv-feminine Charakter in dem gleichen Falle immer zutraulicher, passiv-hingebender, freundlicher werden wird. Bei beiden ist der Charakter zum Widerstand geworden: Jener wehrt die Gefahr aggressiv ab, dieser geht ihr durch Opfer an persönlicher Haltung, durch täuschendes Wesen und Hingabe aus dem Wege. Natürlich ist der Charakterwiderstand des Passiv-Femininen gefährlicher, weil er mit geheimen Mitteln arbeitet: Er bringt reichlich Material, erinnert infantile Erlebnisse, scheint sich glänzend zu fügen – aber im Grunde täuscht er über einen geheimen Trotz und Haß hinweg; er hat, solange er diese Haltung beibehält, gar nicht den Mut, sein wahres Wesen zu zeigen. Geht man, ohne diese seine Art zu beachten, nur auf das ein, was er bringt, so wird – erfahrungsgemäß – keine analytische Bemühung oder Klärung seinen Zustand ändern. Er wird vielleicht sogar seinen Haß gegen den Vater erinnern, aber er wird ihn nicht erleben, wenn man ihm nicht in der Übertragung konsequent den Sinn seiner täuschenden Haltung deutet, ehe man mit der tiefen Deutung des Vaterhasses einsetzt.

Beim zweiten Vergleichspaar wäre, so wollen wir annehmen, der Fall einer akuten positiven Übertragung eingetreten. Der zentrale Gehalt dieser positiven Übertragung wäre bei beiden der gleiche wie der des Symptoms, nämlich eine orale Fellatiophantasie. Aus dieser inhaltlich gleichartigen positiven Übertragung ergibt sich aber ein formal ganz verschiedener Übertragungswiderstand:

Die Hysterika wird etwa ängstlich schweigen und sich scheu benehmen, die Zwangsneurose wird trotzig schweigen oder dem Analytiker ein kaltes, hochfahrendes Benehmen zeigen. Die Abwehr der positiven Übertragung bedient sich verschiedener Mittel, hier der Aggressivität, dort der Angst. Wir werden sagen, das Es habe bei beiden den gleichen Wunsch übertragen, während das Ich verschieden abwehrt. Und die Form dieser Abwehr wird bei beiden Patientinnen stets die gleiche bleiben; diese Hysterika wird stets ängstlich, die zwangsneurotische Patientin wird stets aggressiv abwehren, welcher Inhalt des Unbewußten immer im Begriffe sein wird, durchzubrechen; das heißt, der Charakterwiderstand bleibt bei ein und demselben Patienten stets gleich und verschwindet erst mit den Wurzeln der Neurose.

Der charakterliche Panzer ist der formierte, in der psychischen Struktur chronisch konkretisierte Ausdruck narzißtischer Abwehr. Zu den bekannten Widerständen, die gegen jedes neue Stück unbewußten Materials mobilisiert werden, gesellt sich ein konstanter Faktor formaler Art hinzu, der vom Charakter des Patienten ausgeht. Wegen dieser Herkunft nennen wir den konstanten formalen Widerstandsfaktor „Charakterwiderstand“.

Fassen wir auf Grund des Bisherigen die wichtigsten Eigenschaften des Charakterwiderstandes zusammen:

Der Charakterwiderstand äußert sich nicht inhaltlich, sondern formal in typischer, gleichbleibender Weise im allgemeinen Gehaben, in Sprechart, Gang, Mimik und besonderen Verhaltungsweisen (Lächeln, Höhnen, geordnet oder verworren sprechen, Art der Höflichkeit, Art der Aggressivität usw.).
Für den Charakterwiderstand ist bezeichnend, nicht was der Patient zeigt und tut, sondern wie er spricht und handelt, nicht was er im Traume verrät, sondern wie er zensuriert, entstellt, verdichtet usw.

Der Charakterwiderstand bleibt bei ein und demselben Patienten bei verschiedenen Inhalten gleich. Verschiedene Charaktere bringen gleiche Inhalte verschieden vor. Die positive Vaterübertragung einer Hysterika kommt anders zum Ausdruck und wird anders abgewehrt als die einer weiblichen Zwangsneurose. Die Abwehr ist etwa dort ängstlich, hier aggressiv.

Der formal zum Ausdruck kommende Charakterwiderstand ist ebenso inhaltlich auflösbar und auf infantile Erlebnisse und triebhafte Interessen zurückzuführen wie das neurotische Symptom.

Der Charakter des Patienten wird im geeigneten Augenblicke zum Widerstand; das heißt, der Charakter spielt im gewöhnlichen Leben eine ähnliche Rolle wie als Widerstand in der Behandlung: den eines psychischen Schutzapparates. Wir sprechen daher von „charakterlicher Abpanzerung“ des Ichs gegen die Außenwelt und das Es.
Die Verfolgung der Charakterbildung bis in die frühe Kindheit ergibt, daß sie seinerzeit aus den gleichen Gründen und zu demselben Zwecke erfolgte, denen der Charakterwiderstand in der aktuellen analytischen Situation dient. Das Hervortreten des Charakters als Widerstand in der Analyse spiegelt seine infantile [kindlich unterentwickelte] Genese [Entstehung, Werdegang] wider. Und die wie zufällig erscheinenden Situationen, die den Charakterwiderstand in der Analyse hervortreten lassen, sind genaue Klischees jener Situationen der Kindheit, die die Charakterbildung in Gang setzten. So kombiniert sich auch im Charakterwiderstand die Abwehrfunktion mit der Übertragung infantiler Beziehungen zur Umwelt.

Ökonomisch dient sowohl der Charakter im gewöhnlichen Leben als auch der Charakterwiderstand in der Analyse der Vermeidung von Unlust, der Herstellung und Aufrechterhaltung des psychischen (wenn auch neurotischen) Gleichgewichts und schließlich der Aufzehrung verdrängter oder der Verdrängung entgangener Triebquantitäten. Bindung frei flottierender Angst oder, was dasselbe von anderer Seite betrachtet bedeutet, Erledigung gestauter psychischer Energie ist eine seiner kardinalen Funktionen. Wie in den neurotischen Symptomen das Historische, das Infantile aktuell konserviert ist, lebt und wirkt, so auch im Charakter. So erklärt es sich, daß die konsequente Auflockerung der Charakterwiderstände einen sicheren und unmittelbaren Zugang zum zentralen infantilen Konflikt schafft.
Was folgt nun aus diesen Tatbeständen für die analytische Technik der Charakteranalyse? Gibt es wesenhafte Unterschiede zwischen ihr und der gewöhnlichen Widerstandsanalyse?

Es gibt Unterschiede, und sie betreffen

a) die Auswahl bei der Reihenfolge des zu deutenden Materials
b) die Technik der Widerstandsdeutung selbst.

a)  Wenn wir von „Auswahl des Materials“ sprechen, haben wir einen wichtigen Einwand zu gewärtigen: Man wird sagen, jede Auswahl widerspreche den psychoanalytischen Grundprinzipien, man habe dem Patienten zu folgen, sich von ihm führen zu lassen und laufe bei jeder Auswahl Gefahr, seinen eigenen Neigungen zu verfallen. Dazu ist zunächst zu bemerken, daß es sich bei dieser Auswahl nicht etwa um Vernachlässigung von analytischem Material handelt, sondern lediglich um die Wahrung einer – der Struktur der Neurose entsprechenden – gesetzmäßigen Reihenfolge bei der Deutung. Alles Material kommt zur Deutung dran, nur ist das eine Detail momentan wichtiger als ein anderes. Man muß sich auch klarmachen, daß der Analytiker immer auswählt; denn man hat schon eine Auswahl getroffen, wenn man einen Traum nicht der Reihe nach analysiert, sondern einzelne Details heraushebt. Man hat natürlich auch parteiisch Auswahl getroffen, wenn man nur den Inhalt, nicht aber die Form der Mitteilungen beachtet. Man ist also allein durch die Tatsache, daß der Patient in der analytischen Situation Material verschiedenster Art bringt, gezwungen, eine Auswahl des zu deutenden Materials zu treffen; es kommt nur darauf an, daß man der analytischen Situation entsprechend richtig auswähle.

Bei Patienten, die infolge einer besonderen Charakterentwicklung die Grundregel konsequent nicht befolgen, wie überhaupt bei jedem charakterologischen Hindernis der Analyse, wird man genötigt sein, den entsprechenden Charakterwiderstand ständig aus der Fülle des Materials herauszuheben und analytisch durch Deutung seines Sinnes zu bearbeiten. Das bedeutet natürlich nicht, daß man das übrige Material vernachlässigt oder nicht beachtet; im Gegenteil, alles ist wertvoll und willkommen, was uns über den Sinn und die Herkunft des störenden Charakterzuges Aufklärung gibt; man schiebt nur die Zergliederung und vor allem die Deutung des Materials, das nicht unmittelbar zum Übertragungswiderstand gehört, auf, bis der Charakterwiderstand wenigstens in den Grundzügen verstanden und durchbrochen wurde. Welche Gefahren damit verbunden sind, bei unaufgelösten Charakterwiderständen tiefgehende Deutungen zu geben, versuchte ich an anderer Stelle klarzumachen.

b)  Wir wollen uns nun einigen besonderen Fragen der charakteranalytischen Technik zuwenden. Vor allem müssen wir einem drohenden Mißverständnis vorbeugen. Wir sagten, die Charakteranalyse beginne mit der Heraushebung und konsequenten Analyse des Charakterwiderstandes. Das heißt nicht, daß man den Patienten etwa auffordert, nicht aggressiv zu sein, nicht zu täuschen, nicht verworren zu sprechen, die Grundregel zu befolgen und so weiter. Das wäre nicht nur unanalytisch, sondern vor allem fruchtlos. Es kann nicht oft genug betont werden, daß das, was wir hier beschreiben, mit Erziehung oder dergleichen nichts zu tun hat. Wir legen uns bei der Charakteranalyse die Frage vor, warum der Patient täuscht, verworren spricht, affekt-abgesperrt ist usw., versuchen sein Interesse für seine Charaktereigenschaften zu wecken, um mit seiner Hilfe analytisch deren Sinn und Herkunft aufzuklären. Wir heben also bloß den Charakterzug, von dem der kardinale Widerstand ausgeht, aus dem Niveau der Persönlichkeit heraus, zeigen dem Patienten, wenn möglich, die oberflächlichen Bziehungen zwischen dem Charakter und den Symptomen, überlassen es aber natürlich im übrigen ihm, ob er seine Erkenntnis auch zur Änderung seines Charakters benützen will. Wir verfahren dabei prinzipiell ja nicht anders als bei der Analyse eines Symptoms; bei der Charakteranalyse kommt nur hinzu, daß wir den Charakterzug dem Patienten wiederholt isoliert vorführen müssen, solange, bis er Distanz gewonnen hat und sich dazu so einstellt wie etwa zu einem quälenden Zwangssymptom. Denn durch die Distanzierung und Objektivierung des neurotischen Charakters bekommt dieser etwas Fremdkörperhaftes, und schließlich bildet sich auch eine Krankheitseinsicht heraus.

Bei dieser Distanzierung und Objektivierung des neurotischen Charakters zeigt sich überraschenderweise, daß sich die Persönlichkeit – zunächst vorübergehehend – verändert, und zwar taucht bei fortschreitender Charakterannlyse automatisch diejenige Triebkraft oder Wesensart unverhüIlt auf, aus der der Charakterwiderstand in der Übertragung hervorging. Um beim Beispiel vom passiv-femininen Charakter zu bleiben: Je gründlicher der Patient seine Neigung zur passiven Hingabe objektiviert, desto aggressiver wird er. War doch sein feminines, täuschendes Wesen in der Hauptsache eine energische Reaktion gegen verdrängte aggressive Impulse. Mit der Aggressivität stellt sich aber auch die infantile Kastrationsangst ein, die seinerzeit die Wandlung vom Aggressiven zum Passiv-Femininen bedingte. So gelangen wir mit der Analyse des Charakterirwiderstandes direkt zum Zentrum der Neurose, zum Ödipuskomplolex.

Man darf sich aber keinen Illillusionen hingeben; die Isolierung und Objektivierung sowie die analytische Durcharbeitung eines solchen Charakterwiderstandes brauchen gewöhnlich viele Monate, erfordern viel Mühe und vor allem ausdauernde Geduld. Allerdings, wenn der Durchbruch einmal gelungen ist, so pflegt von da ab die analytische Arbeit flott, getragen von affektiven analytischen Erlebnissen, vorwärtszuschreiten. Läßt man hingegegen solche Charakterwiderstände unbearbeitet, geht man dem Patienten bloß in seinem Materiale, ständig alle Inhalte deutend, nach, so bilden sie mit der Zeit einen kaum mehr zu beseitigenden Ballast. Man bekommt dann im Laufe der Zeit das sichere Gefühl, daß jede Inhaltsdeutung verschwendet war, daß der Patient nicht aufhört, an allem zu zweifeln, oder zum Scheine zu akzeptieren oder innerlich alles zu belächeln. In späteren Stadien der Analyse, wenn die wesentlichsten Deutungen des Ödipuskomplexes bereits gegeben wurden, steht man dem hilflos gegenüber, wenn mit der Aufräumung dieser Widerstände nicht gleich im Anfang begonnen wurde.

Ich habe bereits früher den Einwand zu widerlegen versucht, daß man Widerstände nicht angehen könne, ehe man ihre infantile Determinierung kenne. Wesentlich ist, daß man zunächst nur den aktuellen Sinn des Charakterwiderstandes durchschaut, wozu man das infantile Material nicht immer benötigt. Dieses brauchen wir zur Auflösung des Widerstandes. Begnügt man sich zunächst damit, den Widerstand dem Patienten vorzuführen und seinen aktuellen Sinn zu deuten, so stellt sich sehr bald auch das infantile Material dazu ein, mit dessen Hilfe wir dann den Widerstand auch beseitigen können.

Wenn man eine bisher vernachlässigte Tatsache hervorhebt, ruft man ungewollt den Eindruck hervor, als ob man dadurch das übrige seiner Bedeutung beraubte. Wenn wir hier die Analyse der Reaktionsweise so sehr betonen, so bedeutet das keine Vernachlässigung der Inhalte. Wir fügen nur etwas hinzu, was bisher nicht beachtet wurde. Unsere Erfahrung lehrt, daß die Analyse charakterlicher Widerstände allem anderen vorangestellt werden muß; das heißt aber nicht, daß man etwa bis zu einem bestimmten Datum nur den Charakterwiderstand analysiert, dann mit der Inhaltsdeutung beginnt. Die zwei Phasen, Widerstandsanalyse und Analyse der frühinfantilen Erlebnisse, überdecken einander zum größten Teile; es handelt sich lediglich um ein Überwiegen der Charakteranalyse im Beginne, das heißt um „Erziehung zur Analyse durch Analyse“, während in späteren Stadien der Hauptakzent auf das Inhaltliche und Infantile fällt. Das ist aber gewiß keine starre Regel, sondern ergibt sich aus der Verhaltungsweise der einzelnen Patienten. Bei dem einen wird die Deutung des infantilen Materials früher, beim anderen später einsetzen. Grundsätzlich betont muß nur die Regel werden, tiefgehende analytische Deutungen auch bei an sich klarem Material zu vermeiden, solange die Patienten nicht reif sind, sie zu verarbeiten. Das ist zwar nichts Neues, aber es kommt offenbar bei der Verschiedenheit analytischer Arbeitsweisen sehr darauf an, was man unter „reif zur analytischen Deutung“ versteht. Wir werden dabei wohl auch jene Inhalte unterscheiden müssen, die unmittelbar zum Charakterwiderstand gehören, und die, die anderen Erlebnissphären angehören. Der Normalfall ist der, daß der Analysand im Beginne zur Kenntnisnahme der ersteren, nicht aber für die letzteren reif ist. Im ganzen bedeutet ja unser charakteranalytischer Versuch nichts anderes als das Streben, größtmögliche Sicherheit bei der Vorbereitung der Analyse und bei der Deutung des infantilen Materials zu gewinnen. Hier erwächst uns die wichtige Aufgabe, die verschiedenen Formen der charakterlichen Übertragungswiderstände zu studieren und systematisch zu beschreiben. Ihre Technik ergibt sich dann von selbst aus ihrer Struktur.

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