Auszüge aus Howard S. Becker's
"Außenseiter"

Zur Soziologie abweichenden Verhaltens

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Zu diesem Buch

Gesellschaftliche Gruppen stellen zur Eigenstabilisierung Verhaltensregeln auf, die in bestimmten Situationen bestimmte Handlungen als "richtig" oder "falsch", "konform" oder "abweichend" definieren. Wer sich nicht an diese Regeln hält, wird als "Außenseiter" etikettiert, gleichgültig, ob er sich selbst als solcher empfindet oder nicht. Regelverletzendes Verhalten ist also das Produkt einer Interaktion zwischen einem Menschen, der eine bestimmte Handlung begeht, und Menschen, die, an die Normen ihrer jeweiligen Gruppe gebunden, diskriminierend darauf reagieren.

Howard S. Becker, einer der bekannten Vertreter der soziologischen Richtung des "symbolischen Interaktionismus", geht im vorliegenden Buch, das in der angloamerikanischen Welt inzwischen als Klassiker gilt, von dieser nüchtern-deskriptiven Definition des Begriffs "Außenseiter" aus. Welche Situationen und welche Prozesse, so fragt er, führen Menschen dazu, Regeln zu brechen bzw. regelverletzendes Verhalten als "Außenseiterverhalten" negativ einzuschätzen?

Wissenschaftler verschiedener Disziplinen haben vom Außenseiter mitunter behauptet, unwandelbare Charaktereigenschaften, ja pathologische Züge zwängen ihn, sich außerhalb seiner sozialen Gruppe zu stellen. Dieser statischen These setzt Becker, indem er sie gleichsam auf den Kopf stellt, ein Stufenmodell entgegen: abweichendes Verhalten entwickelt sich im sozialen Kontext über eine komplizierte Folge von Einstellungsveränderungen erst allmählich. Obgleich die meisten Menschen häufig Impulse zu abweichendem Verhalten verspüren, werden nur vergleichsweise wenige tatsächlich zu Außenseitern, durchlaufen also konsequent jenen Lernprozeß, durch den sich aus der Selbsterfahrung des eigenen abweichenden Verhaltens schließlich die permanente abweichende Motivation ergibt.

Becker zeigt dies höchst anschaulich an den Ergebnissen seiner empirischen Untersuchung an Drogensüchtigen, Marihuana-Rauchern: Der Neuling muß zunächst die richtige Rauchtechnik studieren, um die Droge zur Wirkung zu bringen. Danach muß er die von ihr ausgelösten körperlichen Symptome an sich wahrnehmen und als lustvoll erleben lernen. Und erst dann kann man von einer Motivation zum Drogenkonsum sprechen. Eine wichtige Rolle spielt dabei der Umgang mit erfahrenen anderen, den "Insidern" der Drogensubkultur, die Teilhabe an ihren Regeln, ihrer Sprache. Beim Gewohnheitskonsumenten haben die moralischen Standards seiner Herkunftsgruppe ihre kontrollierende Kraft weitgehend eingebüßt, ein neuer Normenkatalog ist verbindlich geworden. – Ähnliche Phänomene hat Becker noch in einer anderen Außenseitergruppe studieren können, der er selbst jahrelang zugehört hat, den Jazz- und Tanzmusikern. Auch hier erprobt er seine bedeutsamen theoretischen Konzepte an einem illustrativen Beispiel.

Der Autor sieht abweichendes Verhalten – und das gilt für menschliches Verhalten generell – also stets als kompliziertes Schauspiel, an dem sich viele Akteure beteiligen.

Infolgedessen untersucht er nicht nur die Außenseiter, sondern, im letzten Teil des Buches, auch die andere Seite der Interaktion, nämlich diejenigen, die Regeln setzen und durchsetzen.

In einem zusätzlichen neuen Kapitel befaßt sich Becker insbesondere mit der Reaktion auf seine Interaktionstheorie, z.B. dem Vorwurf, sie sei "subversiv", "radikal", untergrabe die bestehende Ordnung. Becker bekennt sich dazu, daß es ihm tatsächlich nicht nur um eine Entmystifizierung des Regelverletzers gehe, daß er vielmehr auch bestimmte Formen von Machtausübung aufdecken wolle, indem er zeige, mittels welcher Techniken Regelsetzer und -durchsetzer ihren Absichten eine Aura von Normalität und Legitimität verleihen. Dies führt ihn zu der grundsätzlichen Frage nach der gesellschaftlichen Funktion von Soziologie.

Manchmal denk’ ich, keiner von uns ist völlig verrückt und keiner von uns völlig gesund, eh’ nicht die Meinung der andern das Gleichgewicht nach dieser oder jener Seite verlagert. Fast als käm’s weniger drauf an, was einer tut, als vielmehr auf die Art und Weise, nach der die Leute ihn betrachten, wenn er was tut. William Faulkner (Als ich im Sterben lag, deutsch von Albert Hess und Peter Schünemann, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1963)

Einleitung von Thomas Luckmann

Die meisten Menschen verbringen den größeren Teil ihres wachen Lebens in geordneten Verhältnissen. Dies empfinden sie als normal. Während Normalität keineswegs ein durchgehendes Kennzeichen aller menschlichen Erfahrung ist, herrscht sie nahezu unumstritten in der Welt des Alltags. In anderen Wirklichkeitsschichten, wie z.B. derjenigen des Traums und anderen Realitäten vornehmlich privaten Charakters, fällt es hingegen schwer, Normalität überhaupt zu bestimmen. Die Ordnungen, die es da geben mag, weichen allzu stark von der Alltagsordnung und der Sprache des Alltags ab.

In der Alltagswirklichkeit sind also normal geordnete Verhältnisse die Regel: sie stehen im Erwartungshorizont aller auf sie bezogenen Erfahrung. Diese Wirklichkeit ist eine menschliche Konstruktion. Menschlich heißt hier nicht "der Mensch" als Individuum (das war eine idealistische Voreingenommenheit), auch bezieht sich das Wort nicht auf die Gattung als solche (das ist eine materialistische Vereinfachung). An der Konstruktion geordneter Verhältnisse in der Alltagswirklichkeit ist etwas anderes "menschlich": Menschen werden zu Menschen in intersubjektiven Vorgängen, im gesellschaftlichen Handeln, das sowohl Arbeit wie Kommunikation in Einheit umfaßt. Spezifische Gruppen von Menschen, miteinander und gegeneinander handelnd und denkend, suchen – in der Bemühung zu überleben und Bedürfnisse zu befriedigen – in ihrem Handeln und Denken einen über diese Bemühung hinausgehenden Sinn – und verleihen ihm somit einen Sinn. Die Ordnungen, die hierbei geschaffen werden, umspannen sowohl die Bedürfnisse und die Organisation ihrer Befriedigung wie den Sinn, der ihnen im Gang der menschlichen Geschichte zugesprochen – bzw. in ihnen "gefunden" wurde.

Die Ordnungen der Verhältnisse weichen also voneinander ab, obwohl sie formal auf bestimmte Grundstrukturen menschlicher Existenz in Natur und Geschichte als Rahmenbedingungen historischen Handelns rückführbar sind. Die Abweichungen dieser Art werden nur in völlig isolierten Gesellschaften (und wo gibt es noch solche?) nicht bemerkt. Aber auch der Mensch, der in Gesellschaften lebt, die mit anderen Ordnungen in Berührung kommen, nimmt deren Andersartigkeit im allgemeinen nicht allzu besorgt zur Kenntnis. Seine geordneten Verhältnisse werden meist gesellschaftlich (durch Mitmenschen und Institutionen) und subjektiv (durch die Strukturierung seiner Person und ihrer Vorgeschichte) so massiv in ihrem Wirklichkeitscharakter gestützt, daß sie durch die Tatsache, daß es andere Ordnungen gegeben hat und gibt, nur unter besonderen zusätzlichen Umständen problematisiert werden, wie z.B. katastrophalen Umweltveränderungen, revolutionärem sozialen Wandel und dergleichen. Ansonsten können solche Abweichungen von den eigenen geordneten Verhältnissen nach dem Schema "andere Menschen, andere Sitten" oder auch "andere Zeiten, andere Sitten" hinreichend erklärt werden. Die Normalität der eigenen Ordnung bewahrt weiterhin ihre subjektive Plausibilität.

Die jeweilige Ordnung der Verhältnisse ist aber für jedermann – gleichgültig in welcher vertraut-normalen Alltagswelt er lebt – in einer anderen Weise in Frage gestellt. Es brechen Ereignisse, naturhaften oder naturhaft scheinenden gesellschaftlich-historischen Charakters, über uns herein, die uns als einzelnem unzumutbar erscheinen. Sie führen uns mit Nachdruck unsere Vereinzelung und unsere Endlichkeit vor. Im Abstrakten weichen solche Ereignisse zwar nicht vom Herkömmlichen ab. Sie können grundsätzlich in eine verständliche Weltordnung eingefügt werden. Dafür stehen sozial produzierte und approbierte Kategorien jedermann und jederzeit zur Verfügung. Aber solche Ereignisse weichen von meinem vertrauten Alltag dennoch dramatisch ab. Zu unumkehrbaren Abweichungen dieser Art persönlichen Abstand zu gewinnen erfordert darum schließlich mehr als eine gedankliche Leistung, die brav vorgegebenen sozialen Ordnungsmustern folgt. Um Nestroys Ausspruch über die Heirat abzuwandeln: Am Tod eines anderen findet man meist nichts Grausliches – jedenfalls dann nicht, wenn der andere nicht ein Teil des eigenen Selbst war und wenn das Sterben ordnungsgemäß verläuft. Aber am eigenen? Diese Abweichung von der Ordnung, an der man in so vertrauter Weise teilhatte und jetzt nicht mehr teilhaben soll, hat dann doch etwas ungewöhnlich Grausliches an sich.

Die Abweichungen von geordneten Verhältnissen vom Typ: "andere Menschen" oder: "andere Zeiten" sind im Prinzip weder für den einzelnen noch für die Gesellschaft, die die jeweils geordneten Verhältnisse zu erhalten und zu garantieren versucht, in bedrohlicher Weise problematisch. Der Wissenssoziologie sind verschiedene recht erfolgreiche institutionelle und kognitiv-symbolische Einrichtungen bekannt, mit denen das Problem mehr oder minder erfolgreich gelöst wird. Abweichungen von geordneten Verhältnissen, die den einzelnen bedrohen, wie z.B. der Tod oder andere endgültige Unumkehrbarkeiten, sind für die Gesellschaft, auf deren Institutionen die geordneten Verhältnisse beruhen, schon eher problematisch. Das Problem ist in den gesellschaftlich geschaffenen religiösen Legitimierungssystemen zwar außerordentlich eindrucksvoll "gelöst", aber die Plausibilität dieser Lösungen hält subjektiven Krisensituationen nicht immer und nicht für jedermann stand. Sie erfordert oft massive institutionelle Abstützung. Aber davon abgesehen, sind Ereignisse und Erfahrungen, die "nur" persönlich-subjektiv von geordneten Verhältnissen abweichen, wie z.B. der Tod, gesellschaftlich ordnungsgemäß und der Regel entsprechend.

Es gibt aber noch eine andere Art von Abweichungen von geordneten Verhältnissen, die für jede Gesellschaft und für jeden einzelnen, der mit ihnen konfrontiert wird, auf eine ganz bestimmte Weise problematisch sind. Das sind Abweichungen, die sich unmittelbar weder aus der natürlichen Verfassung des Menschen noch aus der gesellschaftlichen Organisation der Bedürfnisbefriedigung ableiten lassen, sondern von der Gesellschaft in ihren Sinnsetzungstätigkeiten so eigentlich erst geschaffen werden. Jede Setzung einer Ordnung ist selektiv: aus einer großen Anzahl möglicher Verknüpfungen von "materieller" Bedürfnisbefriedigung, deren gesellschaftlicher Organisation und deren Sinndurchwirkung konstitutiert sich in einer historischen Gesellschaft eine als die obligate. Sie mag vielleicht mit einigen Alternativen angereichert sein, muß aber gegenüber Abweichungen ihrem Sinn nach abgesichert bleiben. Sonst verliert die vertraute Ordnung insgesamt und auch ihr Legitimierungsschema an Plausibilität – ganz abgesehen davon, daß es spezifische Gruppen- und Herrschaftsinteressen geben mag, die zu ihrer eigenen Legitimation auf eine ganz bestimmte Ordnung setzen und Abweichungen von ihr als Kriegserklärung auffassen.

Anders besehen: normal geordnete Verhältnisse (über deren lebens- und geschichtswichtige Funktion ich hier nicht zu reden brauche) sind nicht naturgegeben, sondern prekäre menschliche Konstruktionen. Sie setzen wahlweise (aber nicht willkürlich) und obligat (aber nicht subjektiv unumstößlich) Denk- und Handlungsweisen fest. Anders-Denken und Anders-Handeln ist hierbei logisch und empirisch impliziert.

Mit Abweichungen von historisch-sozialen Setzungen treten auch "Abweichler" auf: Menschen, die von den geordneten Verhältnissen anscheinend eigenwillig nichts wissen "wollen" oder sich ihnen nicht einfügen "können". Abweichungen und Abweichler dieser Art können – in verschiedenen Vermischungen – sowohl bedrohlich wie reizvoll erscheinen. Auf jeden Fall sind sie ein Problem für die gesellschaftliche Praxis – und also ein Problem für die Theorie der gesellschaftlichen Praxis.

Erst diese Art der Abweichung gehört zum Bereich dessen, was in der Soziologie unter dem Titel "abweichendes Verhalten" oder kurz – und fremd – "Devianz" läuft. Die Beschäftigung mit diesem Bereich war traditionell in ein akademisches Randgebiet abgedrängt. Kriminologen waren zumeist innerhalb der Disziplinen, in denen sie arbeiteten, bei aller staatserhaltenden Respektabilität, verhältnismäßig unbedeutende Leute, während andere, die sich mit "Außenseitern", z.B. Prostituierten beschäftigten, mit der Aura von Neuerern und Reformern behaftet waren oder, falls sie sich zu intensiv mit exotisch scheinenden Subkulturen einließen, in den Verdacht gerieten, selber nicht mehr ganz gesellschafts- bzw. wissenschaftsfähig zu sein.

Von den großen "Klassikern" der Soziologie sah nur Emile Durkheim ganz deutlich, daß Abweichung ein zentrales Problem jeder Gesellschaftstheorie darstellt.

Erst mit dem symbolischen Interaktionismus, der sich in den USA am Denken George H. Meads entwickelt hatte, und mit den intensiven Beobachtungen und Feldforschungen, vor allem im Bereich der Berufs- und Stadtsoziologie, der sogenannten Chicagoer Schule, mit der sich die Namen von Everett Hughes und Louis Wirth verbinden, veränderte sich diese Situation. Becker vereinigt in seinen Arbeiten die Einsichten und Methoden der Chicago-Schule mit dem theoretischen Ansatz des symbolischen Interaktionismus. Mit Hilfe langjähriger eigener teilnehmender Beobachtung und Feldforschung entwickelte er diesen Ansatz ein gutes Stück weiter – in der Anwendung auf die Subkulturen bestimmter Berufe, andererseits aber auf die Probleme "abweichenden Verhaltens", mit denen er sich in dem hier vorliegenden Buch beschäftigt. Es ist vor allem sein Verdienst, wenn die gesellschaftstheoretische Bedeutsamkeit und zugleich die konkrete menschliche Bedeutung von Abweichungen von normal geordneten Verhältnissen deutlicher als zuvor ins Bewußtsein gerückt ist. Es ist sein Verdienst und das anderer aus ähnlichen Traditionen stammender Soziologen, wenn marginale und exotisch anmutende Subkulturen präziser beschrieben und adäquater begriffen werden können.

Becker verbindet in seiner Arbeit Einfühlungsvermögen und menschliche Sympathie mit wissenschaftlicher Neugier und theoretischem Distanzierungsvermögen. Diese Kombination leitet ihn auf einen Weg, der über den schmalen Pfad zwischen moralischer Entrüstung und romantischer Identifikation – und zwischen Detailbeobachtung und theoretischer Abstraktion – führt. Daß es sich bei seinen "Außenseitern" u.a. um Marihuana-Raucher handelt, braucht also im Leser keine falschen Erwartungen zu wecken.

In der vorliegenden Ausgabe findet sich als letztes Kapitel und als eine Art Nachwort ein Aufsatz hinzugefügt, in dem Becker auf verschiedene Probleme der von ihm mitgeschaffenen sogenannten Etikettierungstheorie (labelling theory) eingeht. Seine besonnene Abgrenzung der Aussagekraft dieser Theorie muß besonders hervorgehoben werden, da manche enthusiastischen Vertreter dieses Ansatzes weit über das Ziel hinausgeschossen waren, was zu allzu romantisierenden idealistisch-subjektivistischen Vorstellungen von "Außenseitern" führte.

Vorbemerkung

Vier Kapitel dieses Buches sind in etwas anderer Form ursprünglich anderswo erschienen. Kapitel 3 erschien im American Journal of Sociology, LIX, November 1953; Kapitel 5 in derselben Zeitschrift, LVII, September 1951. Beide Kapitel sind hier mit Erlaubnis der Zeitschrift American Journal of Sociology und des Verlages University of Chicago Press aufgenommen worden. Kapitel 4 erschien in Human Organisation, 12, Frühjahr 1953, und wurde hier mit Erlaubnis der Society for Applied Anthropology nachgedruckt. Kapitel 6 erschien in Social Problems, 3, Juli 1955, und wurde hier mit Erlaubnis der Society for the Study of Social Problems aufgenommen.

Das Material der Kapitel 3 und 4 war ursprünglich für eine soziologische Magisterarbeit unter Anleitung von Everett C. Hughes, W. Lloyd Warner und Harvey L. Smith an der University of Chicago vorbereitet worden. Dan C. Lortie versah einen früheren Entwurf einer der Arbeiten mit Anmerkungen.

Die Forschungsarbeit, auf der die Kapitel 5 und 6 beruhen, unternahm ich als Mitglied des Mitarbeiterstabes des Chicago Narcotics Survey, eines von der Chicago Area Projects, Inc., mit finanzieller Unterstützung des National Institute of Mental Health durchgeführten Projekts. Harold Finestone, Eliot Freidson, Erving Goffman, Solomon Kobrin, Henry McKay, Anselm Strauss und R. Richard Wohl haben frühere Fassungen meiner Arbeiten mit kritischen Anmerkungen versehen.

Blanche Geer, die mehrere Fassungen des gesamten Manuskripts gelesen und mit mir erörtert hat, bin ich zu großem Dank verpflichtet. Mein Nachdenken über Fragen der Verhaltensabweichung wie über alle soziologische Themen hat meinem Freund und Lehrer Everett C. Hughes viel zu verdanken.

Dorothy Seelinger, Kathryn James und Lois Stoops haben die verschiedenen Fassungen des Manuskripts mit Geduld und Sorgfalt abgeschrieben.

Außenseiter

Alle gesellschaftlichen Gruppen stellen Verhaltensregeln auf und versuchen sie – zu gewissen Zeiten, unter gewissen Umständen – durchzusetzen. Gesellschaftliche Regeln definieren Situationen und die ihnen angemessenen Verhaltensweisen, indem sie einige Handlungen als "richtig" bezeichnen, andere als "falsch" verbieten. Wenn eine Regel durchgesetzt ist, kann ein Mensch, der in dem Verdacht steht, sie verletzt zu haben, als besondere Art Mensch angesehen werden, als eine Person, die keine Gewähr dafür bietet, daß sie nach den Regeln lebt, auf die sich die Gruppe geeinigt hat. Sie wird als Außenseiter angesehen.

Doch der Mensch, der so als Außenseiter abgestempelt ist, kann darüber durchaus verschiedener Ansicht sein. Er könnte die Regel, nach der er verurteilt wird, nicht akzeptieren und den Menschen, die über ihn urteilen, Kompetenz und Berechtigung absprechen. Damit taucht eine zweite Bedeutung des Begriffes auf: Der Regelverletzer kann seine Richter als Außenseiter empfinden.

Im folgenden werde ich versuchen, Situationen und Prozesse zu klären, auf die der doppelsinnige Begriff hinweist: Die Situationen des Regelverletzens und des Regeldurchsetzens sowie die Prozesse, die einige Menschen dazu führen, Regeln zu brechen, und andere, sie durchzusetzen.

Einige vorläufige Unterscheidungen sind angebracht. Regeln können von sehr unterschiedlicher Art sein. Sie können formal zum Gesetz erhoben sein, und in diesem Fall kann der Staat seine Polizeimacht aufbieten, um sie durchzusetzen. In anderen Fällen repräsentieren sie informelle Vereinbarungen, die entweder erst kurz zuvor getroffen wurden oder die von Sanktionen des Alters und der Tradition überkrustet sind; Regeln dieser Art werden mit informellen Sanktionen durchgesetzt.

Je nachdem, ob eine Regel die Kraft des Gesetzes oder der Tradition besitzt oder einfach das Ergebnis eines Konsenses ist, kann eine besondere Körperschaft, etwa die Polizei oder das Ehrengericht eines Berufsverbandes, die Aufgabe übernehmen, ihr Geltung zu verschaffen. Regeldurchsetzung kann andererseits die Aufgabe jedermanns sein oder zumindest die Aufgabe eines jeden Mitglieds der Gruppe, auf welche die Regel angewandt werden soll.

Viele Regeln werden nicht durchgesetzt; sie sind in keinem Sinne, ausgenommen dem formalsten, die Art von Regeln, um die es mir geht. Ein Beispiel sind die puritanischen Moralgesetze, die weiterhin in den Gesetzestexten stehen, obwohl sie seit einem Jahrhundert nicht mehr durchgesetzt werden. (Es ist jedoch wichtig, sich daran zu erinnern, daß ruhendes Recht aus verschiedenen Gründen wiederbelebt werden kann und seine ursprüngliche Kraft zurückgewinnt, wie im Falle der Gesetze zur Regelung der Geschäftsöffnungszeiten am Sonntag im amerikanischen Bundesstaat Missouri.) Ebenso können informelle Regeln aufgrund mangelnder Durchsetzung jede Bedeutung verlieren. Ich werde mich in der Hauptsache mit Regeln beschäftigen, die wir als aktuell wirksame Gruppenregeln bezeichnen können, also mit Regeln, die aufgrund von Durchsetzungsversuchen lebendig bleiben.

Schließlich ist noch von Fall zu Fall verschieden, wie weit "draußen", in beiden Bedeutungen, die ich erwähnt habe, ein Mensch sich befindet. Einen Menschen, der gegen eine Verkehrsregel verstoßen oder auf einer Party ein wenig zuviel getrunken hat, halten wir trotz allem immer noch für unseresgleichen und behandeln seinen Verstoß nachsichtig. Im Dieb sehen wir schon weniger uns selbst und bestrafen ihn hart. Verbrechen wie Mord, Vergewaltigung oder Hochverrat lassen uns den Gesetzesbrecher als wahren Außenseiter ansehen.

Auch glauben manche Regelverletzer keineswegs, sie seien ungerecht beurteilt worden. Verkehrssünder erkennen gewöhnlich die Regeln an, die sie verletzt haben. Alkoholiker haben häufig eine ambivalente Einstellung; manchmal haben sie das Gefühl, von denen, die sie verurteilen, nicht verstanden zu werden, und bei anderer Gelegenheit stimmen sie zu, daß zwanghaftes Trinken eine schlimme Sache sei. In Extremfällen entwickeln manche Menschen mit abweichendem Verhalten (Homosexuelle und Rauschgiftsüchtige sind gute Beispiele) regelrechte Ideologien, um erklären zu können, warum sie im Recht sind und jene, die ihr Verhalten mißbilligen und sie bestrafen, im Unrecht.

Definitionen abweichenden Verhaltens

Der Außenseiter – der von Gruppenregeln Abweichende – ist Gegenstand vieler Spekulationen, Theorien und wissenschaftlicher Untersuchungen. Laien möchten von Menschen mit abweichendem Verhalten wissen: Warum verhalten sie sich so? Wie können wir uns ihre Regelverletzungen erklären? Was führt sie dazu, verbotene Dinge zu tun? Wissenschaftliche Forschung hat versucht, Antworten auf diese Fragen zu finden. Sie hat dabei die allgemein gebilligte Voraussetzung übernommen, daß bei Handlungen, die Sozialregeln verletzen (oder zu verletzen scheinen) etwas inhärent Abweichendes (qualitativ Verschiedenes) im Spiel ist. Sie hat auch die allgemeine Annahme akzeptiert, daß die gesellschaftlich abweichende Handlung deshalb eintritt, weil etwas Charakteristisches am Menschen, der sie begeht, ihr Eintreten notwendig oder unausweichlich macht. Wissenschaftler stellen gemeinhin die Bezeichnung "abweichend" nicht in Frage, sofern sie auf bestimmte Handlungen und Menschen angewandt wird, sondern nehmen sie vielmehr als gegeben hin. Dabei übernehmen sie die Wertvorstellungen der Gruppe, der sie angehören.

Es ist leicht zu beobachten, daß verschiedene Gruppen verschiedene Dinge als abweichend beurteilen. Dies sollte uns nachdrücklich auf die Möglichkeit hinweisen, daß sowohl der Mensch, der eine Handlung als abweichendes Verhalten beurteilt, wie der Vorgang, durch den dieses Urteil erzielt wird, und schließlich die Situation, in der dieses Urteil gefällt wird, auf innige Weise mit dem Phänomen Verhaltensabweichung zusammenhängen. Die allgemeine Vorstellung von Verhaltensabweichung und die wissenschaftlichen Theorien, die von der gleichen Vorstellung ausgehen, lassen in dem Maße, wie sie annehmen, daß Handlungen, die gegen Regeln verstoßen, inhärent abweichend sind, und wie sie die Situationen und Beurteilungsprozesse als erwiesen ansehen, eine wichtige Variable außer acht. Wenn Wissenschaftler den variablen Charakter von Beurteilungsprozessen nicht beachten, begrenzen sie durch diese Unterlassung unter Umständen die Theorien, die sich entwickeln lassen, und das Maß des erreichbaren Verständnisses.

Unser erstes Problem ist demnach, eine Definition abweichenden Verhaltens zu bilden. Betrachten wir jedoch zunächst einige Definitionen, die Wissenschaftler heute verwenden, und machen wir uns klar, was unserer Aufmerksamkeit entginge, wenn wir sie zum Ausgangspunkt für das Studium von Außenseitern wählten.

Die simpelste Auffassung von abweichendem Verhalten ist ihrem Wesen nach statistisch: Sie definiert alles als abweichend, was sich zu weit vom Durchschnitt entfernt. Wenn ein Statistiker die Ergebnisse eines agrarwissenschaftlichen Experiments analysiert, dann beschreibt er den Kornhalm, der außergewöhnlich lang, und den Kornhalm, der außergewöhnlich kurz ist, als Abweichung vom Mittelwert oder Durchschnitt. Entsprechend kann man alles, was sich vom Gewöhnlichen unterscheidet, als Abweichung bezeichnen. Unter diesem Aspekt ist es abweichend, linkshändig oder rothaarig zu sein, weil die meisten Menschen rechtshändig und braunhaarig sind.

So gesehen, erscheint das statistische Verfahren einspurig und trivial. Außerdem simplifiziert es das Problem, indem es viele Fragen von Bedeutung beiseite läßt, die gewöhnlich bei der Erörterung über die Natur abweichenden Verhaltens auftauchen. Bei der Betrachtung eines bestimmten Falles braucht man nur die Entfernung des Verhaltens vom Durchschnitt abzuschätzen. Das ist denn doch eine zu simple Lösung! Wenn wir uns mit einer solchen Definition auf die Suche machen, werden wir mit Funden der verschiedensten Art zurückkehren – übermäßig dicke und dünne Menschen, Mörder, Rothaarige, Homosexuelle und Verkehrssünder. Die bunte Mischung enthält sowohl einige Menschen, die gewöhnlich als abweichend angesehen werden, wie auch andere, die gar keine Regel gebrochen haben. Die statistische Definition liegt mit einem Wort zu weit außerhalb der Beschäftigung mit Regelverstößen, die zu wissenschaftlichen Untersuchungen von Außenseitern führen kann.

Eine weniger simple und viel weiter verbreitete Auffassung definiert abweichendes Verhalten als etwas seinem Wesen nach Pathologisches, welches das Vorhandensein einer "Krankheit" anzeigt. Diese Auffassung beruht offensichtlich auf einer medizinischen Analogie. Wenn der Organismus effizient arbeitet und kein Unbehagen verspürt, gilt er als "gesund". Wenn er nicht effizient arbeitet, ist er von einer Krankheit befallen. Das Organ oder die Funktion, die gestört ist, wird als pathologisch bezeichnet. Natürlich herrscht nicht gerade Einigkeit darüber, was den gesunden Zustand eines Organismus ausmacht. Doch die Einigkeit ist noch weit geringer, wenn es darum geht, den Begriff der Pathologie in analoger Weise zu verwenden, um Verhaltensweisen zu beschreiben, die als abweichend angesehen werden. Denn die Menschen sind sich keineswegs darüber einig, was gesundes Verhalten ausmacht. Es ist schwierig, eine Definition zu finden, die selbst eine so ausgewählte, begrenzte Gruppe wie Psychiater zufriedenstellt. Unmöglich ist es, eine Definition zu finden, die so allgemein akzeptiert wird, wie Kriterien für die Gesundheit des Organismus akzeptiert werden.

Gelegentlich verwenden Leute die Analogie in noch strengerem Sinne, weil sie nämlich abweichendes Verhalten für das Ergebnis einer psychischen Krankheit halten. Das Verhalten eines Homosexuellen oder eines Rauschgiftsüchtigen wird als Symptom einer psychischen Krankheit aufgefaßt, genauso wie beim Diabetiker das schwierige Ausheilen von Verletzungen als Symptom seiner Krankheit angesehen wird. Doch psychische Krankheit ähnelt physischer Krankheit nur in metaphorischem Sinne:

Wir haben zunächst mit solchen Dingen wie Syphilis, Tuberkulose, Typhus, Fieber sowie mit Karzinomen und Knochenbrüchen die Begriffsklasse "Krankheit" geschaffen. Zu Anfang setzte sich diese Klasse nur aus wenigen Elementen zusammen, von denen alle das Merkmal gemeinsam hatten, daß sie sich auf einen Zustand gestörter Struktur oder Funktion des menschlichen Körpers als einer physio-chemischen Maschine bezogen. Mit der Zeit wurden der Klasse zusätzliche Elemente hinzugefügt. Sie wurden jedoch nicht deswegen hinzugefügt, weil es sich um neu entdeckte körperliche Störungen handelte. Die Aufmerksamkeit des Arztes war vielmehr von diesem Kriterium abgekommen und hatte sich statt dessen auf Unvermögen und Leiden als neue Auswahlkriterien konzentriert. Zunächst langsam wurden so neue Dinge wie Hysterie, Hypochondrie, Zwangsneurose und Depression in die Kategorie Krankheit aufgenommen. Dann begannen die Ärzte und vor allem die Psychiater alles und jedes "Krankheit" (d.h. natürlich "Geisteskrankheit") zu nennen, bei dem sie irgendein Zeichen von Funktionsstörung – auf der Grundlage welcher Norm auch immer – entdecken konnten. Seither ist Platzangst eine Krankheit, weil man vor offenen Plätzen keine Angst haben sollte. Homosexualität ist eine Krankheit, weil Heterosexualität die gesellschaftliche Norm ist. Scheidung ist eine Krankheit, weil sie das Scheitern der Ehe anzeigt. Verbrechen, Kunst, unerwünschte politische Führung, Teilnahme an gesellschaftlichen Angelegenheiten oder Rückzug aus solcher Teilnahme – all dies und noch vieles mehr ist als Zeichen für psychische Erkrankung erklärt worden.

Die medizinische Metapher beschränkt den Blick kaum weniger als die statistische Auffassung. Sie macht sich die laienhafte Vorstellung von abweichendem Verhalten zu eigen, sucht dessen Ursprung mit Hilfe eines Analogieschlusses im Individuum selbst und verstellt uns so die Möglichkeit, diese Vorstellung als entscheidenden Bestandteil des Phänomens selbst zu erkennen.

Auch manche Soziologen arbeiten mit einem Modell abweichenden Verhaltens, das im wesentlichen auf den medizinischen Begriffen Gesundheit und Krankheit beruht. Sie beobachten eine Gesellschaft oder einen Ausschnitt aus einer Gesellschaft und gehen der Frage nach, ob in ihr Prozesse ablaufen, die ihre Stabilität zu gefährden und damit ihre Überlebenschancen zu verringern drohen. Derartige Prozesse erklären sie dann als Abweichungen oder als Symptome für soziale Desorganisation. Sie unterscheiden zwischen Eigenschaften der Gesellschaft, die ihre Stabilität fördern (und also "funktional" sind) und solchen, die sich störend auf die Stabilität auswirken (und also "dysfunktional" sind). Eine solche Auffassung hat den großen Vorzug, auf Bereiche möglicher Störungen in einer Gesellschaft hinzuweisen, die man sonst vielleicht nicht bemerken würde.

In der Praxis ist es jedoch schwieriger, als es in der Theorie zu sein scheint, im einzelnen genau anzugeben, welches Verhalten für eine Gesellschaft oder eine gesellschaftliche Gruppe funktional oder dysfunktional ist. Die Frage, welche Absicht oder welches Ziel (Funktion) eine Gruppe verfolgt und welche Verhaltensweisen folglich die Durchsetzung dieser Absicht fördern oder behindern, ist sehr häufig eine politische Frage. Fraktionen innerhalb der Gruppe sind darüber unterschiedlicher Meinung und suchen ihre eigenen Begriffe von Gruppenfunktion durchzusetzen. Über die Funktion der Gruppe oder Organisation wird dann in einem politischen Konflikt entschieden, der in der Natur der Organisation zunächst nicht angelegt ist. Wenn dies richtig ist, dann ist auch richtig, daß Fragen danach, welche Regeln durchgesetzt werden, welche Verhaltensweisen als abweichend gelten und welche Menschen als Außenseiter angesehen werden sollen, ebenfalls als politische Fragen behandelt werden müssen. Die funktionalistische Auffassung von abweichendem Verhalten begrenzt unser Verständnis, weil sie den politischen Aspekt des Phänomens ignoriert.

Eine andere soziologische Betrachtungsweise ist eher relativistisch. Sie identifiziert abweichendes Verhalten als Ungehorsam gegenüber Gruppenregeln. Sobald wir die Regeln, die eine Gruppe ihren Mitgliedern auferlegt, beschrieben haben, können wir mit einiger Sicherheit angeben, ob ein Mensch gegen sie verstoßen hat oder nicht und ob er unter diesem Aspekt ein Mensch mit abweichendem Verhalten ist.

Diese Auffassung kommt meiner eigenen am nächsten, doch sie versäumt es, die Problematik der Mehrdeutigkeit ausreichend zu berücksichtigen, die sich bei der Entscheidung darüber einstellt, welche Regeln als Maßstab genommen werden sollen, an dem Verhalten gemessen und nach dem es als abweichend beurteilt wird. Eine Gesellschaft hat viele Gruppen, jede besitzt eine Menge von eigenen Regeln, und die Menschen gehören vielen Gruppen gleichzeitig an. Es kann geschehen, daß ein Mensch die Regeln einer Gruppe nur durch das Festhalten an den Regeln einer anderen Gruppe verletzt. Ist er in einem solchen Fall ein Mensch mit abweichendem Verhalten? Befürworter dieser Definition können einwenden, daß zwar hinsichtlich der Regeln, die für die eine oder andere Gruppe eigentümlich sind, Mehrdeutigkeit auftauchen kann, daß es aber einige Regeln gibt, denen im großen und ganzen jeder zustimmt, und daß sich in diesem Falle die Schwierigkeit nicht einstellt. Dies ist natürlich eine Frage von Fakten, die durch empirische Forschung gelöst werden kann. Ich bezweifle, daß es viele derartige Bereiche gibt, über die ein Konsens besteht, und halte es für klüger, eine Definition zu verwenden, die es uns erlaubt, ein- und mehrdeutige Situationen zu betrachten.

Verhaltensabweichung und die Reaktionen anderer

Die soziologische Auffassung, die ich zuletzt erörtert habe, definiert abweichendes Verhalten als Verstoß gegen eine vereinbarte Regel. Sie fragt dann weiter, wer diese Regel verletzt, und sucht nach Faktoren in der Persönlichkeit der Regelverletzer und in ihren Lebensumständen, die für eine Regelverletzung verantwortlich sein können. Diesem Vorgehen liegt die Annahme zugrunde, daß Regelverletzer eine homogene Kategorie bilden, weil sie die gleiche abweichende Handlung begehen.

Eine solche Annahme scheint mir jedoch das zentrale Faktum zu übersehen: Abweichendes Verhalten wird von der Gesellschaft geschaffen. Ich meine dies nicht in der Weise, wie es gewöhnlich verstanden wird, daß nämlich die Gründe abweichenden Verhaltens in der sozialen Situation des in seinem Verhalten abweichenden Menschen oder in den "Sozialfaktoren" liegen, die seine Handlung auslösen. Ich meine vielmehr, daß gesellschaflliche Gruppen abweichendes Verhalten dadurch schaffen, daß sie Regeln aufstellen, deren Verletzung abweichendes Verhalten konstituiert, und daß sie diese Regeln auf bestimmte Menschen anwenden, die sie zu Außenseitern abstempeln. Von diesem Standpunkt aus ist abweichendes Verhalten keine Qualität der Handlung, die eine Person begeht, sondern vielmehr eine Konsequenz der Anwendung von Regeln durch andere und der Sanktionen gegenüber einem "Missetäter". Der Mensch mit abweichendem Verhalten ist ein Mensch, auf den diese Bezeichnung erfolgreich angewandt worden ist; abweichendes Verhalten ist Verhalten, das Menschen so bezeichnen.

Was haben nun Menschen gemeinsam, deren Verhalten als abweichend bezeichnet wird? Zumindest die gleiche Bezeichnung und die Erfahrung, als Außenseiter abgestempelt zu sein. Ich möchte meine Analyse mit dieser fundamentalen Gleichheit beginnen und abweichendes Verhalten ansehen als Produkt einer Transaktion, die zwischen einer gesellschaftlichen Gruppe und einer von dieser Gruppe als Regelverletzer angesehenen Einzelperson stattfindet. Ich werde mich weniger mit persönlichen oder gesellschaftlichen Merkmalen von verhaltensabweichenden Individuen beschäftigen als mit dem Prozeß, der dazu führt, daß sie für Außenseiter gehalten werden, sowie mit ihren Reaktionen auf dieses Urteil. Malinowski hat schon vor vielen Jahren bei seinem Studium der Trobriand-Inseln die Brauchbarkeit dieser Auffassung für das Verständnis der Natur abweichenden Verhaltens entdeckt:

Eines Tages sagte mir ein Ausbruch von lautem Wehgeschrei und allgemeiner Erschütterung im Dorfe, daß sich irgendwo in der Nachbarschaft ein Todesfall ereignet haben müsse. Ich erfuhr, daß Kima’i, ein junger Bursche von ungefähr 16 Jahren, den ich selber kannte, von einer Kokospalme gefallen sei und dabei den Tod erlitten habe ... Ich erfuhr, daß durch ein mysteriöses Zusammentreffen ein anderer junger Bursche schwer verwundet worden war. Und bei den Begräbnisfeierlichkeiten herrschte eine offensichtliche Erregung, eine Stimmung der Feindschaft zwischen dem Dorf, in welchem der Bursche gestorben war, und demjenigen, in dem er zu Grabe getragen wurde.

Erst viel später kam ich in die Lage, die wahre Bedeutung dieser Ereignisse aufzuklären. Der Bursche hatte Selbstmord begangen. Die Wahrheit war die, daß er die Gesetze der Exogamie übertreten hatte. Die Partnerin in diesem Verbrechen war seine Base mütterlicherseits, die Tochter der Schwester seiner Mutter. Dies war allgemein bekannt und wurde mißbilligt, aber man unternahm nichts, bis der verlassene Liebhaber des Mädchens, der sie hatte heiraten wollen und der sich persönlich schwer verletzt fühlte, die Initiative ergriff. Erst drohte er, die schwarze Magie gegen den schuldigen Burschen anzuwenden, aber das hatte keine Wirkung. Eines Abends beschimpfte er den Verbrecher vor allem Volk, indem er ihn in Gegenwart des ganzen Dorfes des Inzests beschuldigte und ihm einige Ausdrücke zuschrie, die für einen Eingeborenen untragbar sind.

Daher gab es nur noch ein Mittel für den unglücklichen Jungen, nur einen einzigen Ausweg : Am nächsten Morgen zog er sein Festkleid an, schmückte sich, erkletterte eine Kokospalme, versammelte die Gemeinde, hielt inmitten der Palmblätter eine Ansprache an die Versammelten und nahm von ihnen Abschied. Er erklärte die Gründe für seine verzweifelte Tat und erhob eine verschleierte Anklage gegen den Mann, der ihn in den Tod getrieben und an dem ihn zu rächen die Pflicht seiner Klan-Leute war. Dann wehklagte er laut, wie es der Brauch erfordert, sprang von der Palme etwa 60 Fuß tief hinunter und war augenblicklich tot. Darauf folgte ein Kampf im Dorf, in welchem der Rivale verwundet wurde, und der Streit wiederholte sich während der Begräbnisfeier ...

Wenn man die Verhältnisse unter den Trobriandern erforscht, so ergibt sich ..., daß die Eingeborenen den Gedanken, die Regeln der Exogamie zu übertreten, verabscheuen und daß sie glauben, daß Unheil, Krankheit und sogar der Tod die Folgen eines Klan-Inzests sein können. Das ist die Idee des Eingeborenenrechts, das Ideal. Und in moralischen Dingen ist es leicht und angenehm, einem Ideal strikte Folge zu leisten, wenn es gilt, das Verhalten der anderen zu beurteilen oder seine Meinung über ein grundsätzliches Verhalten zu äußern.

Wenn es aber auf die Anwendung der Moral und der Ideale im praktischen Leben ankommt, so nehmen die Dinge allerdings ein anderes Aussehen an. Im beschriebenen Falle war es offensichtlich, daß die Tatsachen mit den Idealen des Verhaltens nicht im Einklang standen. Die öffentliche Meinung war durch die Kenntnis von dem Verbrechen weder besonders verletzt, noch reagierte sie direkt darauf – sie mußte durch eine "offizielle" Bekanntmachung des Verbrechens und durch die Beschimpfung des Verbrechers von seiten der Gegenpartei mobilisiert werden. Dann sogar noch mußte der Schuldige seine Strafe selbst ausführen ... Als ich mich tiefer in das Problem versenkte und weiterhin konkrete Informationen sammelte, fand ich, daß der Bruch der Exogamie – was den Verkehr, nicht was die Heirat betrifft – in keiner Hinsicht etwa ein seltenes Vorkommnis ist und daß die öffentliche Meinung wohl ein Auge zudrückt, aber entschieden heuchlerisch ist. Wenn das Verhältnis sub rosa mit einer gewissen Diskretion unterhalten wird, und wenn niemand ein besonderes Aufheben macht, so wird die "öffentliche Meinung" wohl im stillen kritisieren, aber keine strenge Bestrafung verlangen; wenn aber, im Gegenteil, Skandal ausbricht, dann stürzt sich alles auf das schuldige Paar, und durch ein Scherbengericht oder durch Beleidigungen kann der eine oder andere zum Selbstmord getrieben werden.

Ob eine Handlung abweichend ist, hängt also davon ab, wie andere Menschen auf sie reagieren. Man kann Inzest innerhalb eines Clans begehen und braucht nur Klatsch über sich ergehen zu lassen, solange niemand öffentlich Anklage erhebt; doch man wird in den Tod getrieben, wenn Anklage erhoben wird. Der springende Punkt ist, daß die Reaktion anderer als problematisch angesehen werden muß. Nur weil jemand gegen eine Regel verstoßen hat, heißt das noch nicht, daß andere so reagieren werden, als sei dies geschehen. (Umgekehrt heißt nicht, daß jemand, nur weil er keine Regel verletzt hat, nicht unter Umständen so behandelt wird, als hätte er dies getan.)

Die Menschen reagieren auf eine von ihnen als abweichend angesehene Handlung graduell sehr unterschiedlich. Einige Variationen erscheinen mir der Erwähnung wert. Das ist in erster Linie die zeitliche Variation. Eine Person, von der angenommen wird, eine gegebene "abweichende" Handlung begangen zu haben, kann zu einem bestimmten Zeitpunkt erheblich nachsichtiger behandelt werden, als dies zu einem anderen Zeitpunkt der Fall wäre. Die Tatsache von "Feldzügen" gegen die verschiedensten Formen abweichenden Verhaltens illustriert dies deutlich. Zu bestimmten Zeiten können die Sicherheitsbeamten zu dem Entschluß kommen, durchgreifende Maßnahmen gegen eine bestimmte Art abweichenden Verhaltens wie Glücksspiel, Rauschgiftsucht oder Homosexualität zu ergreifen. Eine dieser Aktivitäten zu entfalten ist offensichtlich weit gefährlicher, wenn ein Feldzug im Gange ist, als zu irgendeiner anderen Zeit. (In einer sehr interessanten Studie über Meldungen von Verbrechen in den Zeitungen des amerikanischen Bundesstaates Colorado hat Davis herausgefunden, daß die Häufigkeit der in diesen Zeitungen gemeldeten Verbrechen nur in geringer Beziehung steht zu den tatsächlichen Häufigkeitsänderungen der in Colorado verübten Verbrechen. Und daß ferner die Schätzungen der Bevölkerung über die Verbrechenszunahme in Colorado in Verbindung stehen mit der Zunahme von Meldungen über Verbrechen, jedoch in keiner Weise mit der tatsächlichen Zunahme der Verbrechenshäufigkeit.)

Bis zu welchem Grade eine Handlung als abweichend behandelt wird, hängt auch davon ab, wer sie begeht und wer das Gefühl hat, von ihr geschädigt worden zu sein. Regeln scheinen auf einige Menschen unnachgiebiger angewandt zu werden als auf andere. Studien über jugendliche Delinquenz zeigen dies ganz deutlich. Jungen aus Mittelschicht-Vierteln werden nicht so weit in rechtliche Vorgänge verwickelt, wenn sie festgenommen werden, wie Jungen aus Slum-Vierteln. Bei einem Jungen aus der Mittelschicht ist es weit weniger wahrscheinlich, daß er zur Polizeistation mitgenommen wird, wenn die Beamten ihn aufgegriffen haben; wenn er doch mitgenommen wird, ist es weniger wahrscheinlich, daß seine Personalien aufgenommen werden; und es ist höchst unwahrscheinlich, daß er verurteilt und bestraft wird. Diese unterschiedliche Behandlung ist selbst dann zu beobachten, wenn der Verstoß gegen die Regel in beiden Fällen gleich ist. In ähnlicher Weise wird das Gesetz auf Neger und Weiße unterschiedlich angewandt. Es ist bekannt, daß ein Neger, von dem angenommen wird, er habe eine weiße Frau angegriffen, mit größerer Wahrscheinlichkeit bestraft wird als ein Weißer, dem das gleiche Vergehen zur Last gelegt wird; es ist kaum weniger bekannt, daß ein Neger, der einen anderen Neger ermordet, mit geringerer Wahrscheinlichkeit bestraft wird als ein Weißer, der einen Mord begeht. Einer der Hauptpunkte der von Sutherland durchgeführten Analyse der Wirtschafts-Kriminalität [white-collar crime] ist fraglos: Von Körperschaften begangene Verbrechen werden fast immer als Zivilrechtsfälle verfolgt, während das gleiche Verbrechen, von einem Individuum begangen, gewöhnlich als Strafrechtssache behandelt wird.

Einige Regeln werden nur dann durchgesetzt, wenn sich daraus bestimmte Folgen ergeben. Die uneheliche Mutter ist ein deutliches Beispiel. Vincent weist nach, daß verbotene sexuelle Beziehungen selten schwere Bestrafung oder gesellschaftliche Ächtung des Missetäters zur Folge haben. Wenn jedoch ein Mädchen als Folge solcher Handlungen schwanger wird, dürfte die Reaktion anderer wahrscheinlich streng sein. (Verbotene Schwangerschaft ist auch ein interessantes Beispiel für die unterschiedliche Regeldurchsetzung gegenüber verschiedenen Kategorien von Menschen. Vincent bemerkt, daß unverheiratete Väter der strengen Verurteilung entgehen, die der Mutter auferlegt wird.)

Warum dieser Hinweis auf alltägliche Beobachtungen? Weil sie zusammen die Behauptung stützen, daß abweichendes Verhalten nicht einfach eine Qualität ist, die bei einigen Verhaltensweisen vorkommt, bei anderen nicht. Es ist vielmehr das Produkt eines Prozesses, der die Reaktionen anderer Menschen auf das Verhalten mit einschließt. Das gleiche Verhalten kann zu diesem Zeitpunkt ein Verstoß gegen Regeln sein, zu einem anderen nicht; kann ein Verstoß sein, wenn eine bestimmte Person dies Verhalten zeigt, und kein Verstoß, wenn eine andere es zeigt; einige Regeln werden straflos verletzt, andere nicht. Kurz, ob eine gegebene Handlung abweichend ist oder nicht, hängt zum Teil von der Natur der Handlung ab (d.h., ob es eine Regel verletzt oder nicht), zum Teil davon, was andere Menschen daraus machen.

Einige Leute konnten einwenden, dies sei lediglich terminologische Haarspalterei, man könne danach Begriffe in jeder gewünschten Weise definieren; wenn einige Leute von einem regelverletzenden Verhalten als einem abweichenden sprechen wollten, ohne auf die Reaktionen anderer Bezug zu nehmen, dann stehe ihnen dies frei. Das ist natürlich richtig. Doch es könnte sich lohnen, von einem derartigen Verhalten als einem regelverletzenden zu sprechen und den Begriff abweichend für solches Verhalten zu reservieren, das von einem Teil der Gesellschaft als abweichend bezeichnet wird. Ich bestehe nicht darauf, daß dieser Sprachgebrauch befolgt wird. Doch es sollte klar sein, daß ein Wissenschaftler aufgrund der Verschiedenheit der beiden Kategorien in Schwierigkeiten geraten wird, falls er "abweichend" verwendet, um sich auf regelverletzendes Verhalten zu beziehen, und zum Thema seines Studiums nur Menschen wählt, die als abweichend abgestempelt worden sind.

Wenn wir zum Gegenstand unserer Aufmerksamkeit Verhalten nehmen, das als abweichend bezeichnet wird, müssen wir erkennen, daß wir erst dann wissen können, ob eine gegebene Handlung als abweichend einzuordnen ist, wenn die Reaktion anderer darauf erfolgt ist. Abweichendes Verhalten ist keine Qualität, die im Verhalten selbst liegt, sondern in der Interaktion zwischen einem Menschen, der eine Handlung begeht, und Menschen, die darauf reagieren.

Wessen Regeln?

Ich habe den Ausdruck "Außenseiter" benutzt, um Menschen zu bezeichnen, die von anderen als abweichend beurteilt werden und damit außerhalb des Kreises der "normalen" Gruppenmitglieder stehen. Aber der Begriff hat noch eine andere Bedeutung, deren Analyse zu einem weiteren wichtigen Bereich soziologischer Probleme führt: Vom Standpunkt des Menschen, der als abweichend etikettiert wird, können jene Menschen "Außenseiter" sein, welche die Regeln aufgestellt haben, deren Verletzung er für schuldig befunden wurde.

Gesellschaftliche Regeln sind das Werk spezifischer sozialer Gruppen. Moderne Gesellschaften sind keine einfachen Organisationen, in denen jedermann der gleichen Ansicht darüber ist, welches die gültigen Regeln sind und wie sie in bestimmten Situationen angewandt werden sollen. Sie sind vielmehr höchst differenziert hinsichtlich ihrer sozialen Klassenmerkmale sowie ihrer ethnischen, beruflichen und kulturellen Grundlagen. Die Gruppen benötigen nicht die gleichen Regeln, haben in der Tat oft auch nicht die gleichen Regeln. Die Probleme, die sich ihnen stellen bei der Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt, ihrer Geschichte und den Traditionen, die sie mit sich schleppen – alle diese Probleme führen zur Entwicklung verschiedener Regelkataloge. Insofern die Regeln verschiedener Gruppen einander widersprechen und sich ausschließen, werden Meinungsverschiedenheiten über die Art des Verhaltens bestehen, das in einer gegebenen Situation angemessen ist.

Italienische Einwanderer in den Vereinigten Staaten, die während der Prohibition für sich selbst und ihre Freunde Wein herstellten, verhielten sich nach den Rechtsvorstellungen italienischer Einwanderer korrekt, brachen jedoch das Gesetz ihres neuen Heimatlandes (wie natürlich viele ihrer alteingesessenen amerikanischen Nachbarn auch). Patienten, die von einem Arzt zum anderen laufen, tun unter dem Blickwinkel ihrer eigenen Gruppe, was notwendig ist, um ihre Gesundheit zu schützen, indem sie sichergehen wollen, den Arzt zu finden, der ihnen als der beste erscheint; doch vom Standpunkt des Arztes ist es falsch, was sie tun, weil es das Vertrauen verhindert, das der Patient in seinen Arzt setzen sollte. Der Straftäter aus der Unterschicht, der seinen "Anteil" ergattern will, tut nur, was er für notwendig und richtig hält, doch Lehrer, Sozialarbeiter und die Polizei sehen dies anders.

Mag auch das Argument vorgebracht werden, über viele oder die meisten Regeln herrsche bei allen Mitgliedern einer Gesellschaft Einverständnis, empirische Forschung über eine gegebene Regel fördert im allgemeinen Unterschiede in der Einstellung der Menschen zutage. Formale Regeln, die von einer eigens gebildeten Gruppe durchgesetzt werden, können sich von denen unterscheiden, die von den meisten Menschen tatsächlich für angemessen gehalten werden. Fraktionen innerhalb einer Gruppe können über die von mir so genannten aktuell wirksamen Regeln verschiedener Ansicht sein. Doch am wichtigsten für das Studium von gewöhnlich als abweichend bezeichnetem Verhalten ist: Der Blickwinkel der Menschen, die ein solches Verhalten annehmen, ist wahrscheinlich ganz verschieden von dem jener Menschen, die das Verhalten verurteilen. Im letzteren Fall kann ein Mensch das Gefühl haben, daß er nach Regeln verurteilt wird, an deren Aufstellung er nicht beteiligt war und die er nicht akzeptiert, nach Regeln, die ihm von Außenseitern aufgezwungen werden.

Bis zu welchem Ausmaß und unter welchen Umständen versuchen Menschen, ihre Regeln anderen aufzuzwingen, die sie nicht anerkennen? Wir wollen zwei Fälle unterscheiden. Erstens haben nur tatsächliche Gruppenmitglieder irgendein Interesse daran, bestimmte Regeln aufzustellen und durchzusetzen. Wenn ein orthodoxer Jude die Speisegesetze bricht, werden nur andere orthodoxe Juden dies als eine Übertretung betrachten; Christen und nichtorthodoxe Juden werden es nicht als abweichendes Verhalten ansehen und hätten kein Interesse an einer Einmischung. Im zweiten Fall halten es Mitglieder einer Gruppe für wichtig hinsichtlich ihres Wohlergehens, daß Mitglieder bestimmter anderer Gruppen bestimmten Regeln folgen. So halten Leute es für äußerst wichtig, daß sich an bestimmte Regeln hält, wer die Heilkunst ausübt; aus diesem Grund erteilt der Staat Ärzten, Krankenschwestern und anderen die Genehmigung zur Berufsausübung und verbietet jedem, der keine Genehmigung besitzt, sich heilend zu betätigen.

Umfang und Nachdruck, mit dem eine Gruppe versucht, anderen Gruppen der Gesellschaft ihre Regeln aufzuzwingen, stellen uns vor eine zweite Frage: Wer kann tatsächlich andere zwingen, seine Regeln zu akzeptieren, und welches sind die Gründe seines Erfolges? Das ist natürlich eine Frage politischer und wirtschaftlicher Macht. Wir werden später die politischen und wirtschaftlichen Prozesse untersuchen, die zur Bildung und Durchsetzung von Regeln führen. An dieser Stelle genügt der Hinweis, daß Menschen tatsächlich immer anderen Menschen ihre Regeln aufzwingen und sie mehr oder weniger gegen den Willen und ohne die Zustimmung der anderen anwenden. Allgemein werden zum Beispiel Regeln für Jugendliche von Älteren aufgestellt. Obwohl die Jugend der Vereinigten Staaten kulturell einen starken Einfluß ausübt – die Massenmedien sind beispielsweise auf ihre Interessen zugeschnitten –, werden viele wichtige Arten von Regeln für die Jugend von Erwachsenen aufgestellt. Regeln hinsichtlich des Schulbesuchs und des Sexualverhaltens werden ohne Bezug zu den Problemen der Heranwachsenden festgesetzt. Mehr noch: Jugendliche sehen sich umgeben von Regeln über diese Fragen, die von älteren und etablierteren Menschen aufgestellt wurden. Es wird als legitim erachtet, so zu verfahren, denn Jugendliche werden weder für verständig noch verantwortlich genug gehalten, um passende Regeln für sich selbst aufstellen zu können. Ebenso entspricht es in vieler Hinsicht der Wahrheit, daß in unserer Gesellschaft Männer die Regeln für Frauen aufstellen (auch wenn sich das in Amerika schnell ändert). Neger sehen sich Regeln unterworfen, die Weiße für sie aufgestellt haben. Im Ausland geborene Amerikaner und Menschen mit sonstigen ethnischen Eigentümlichkeiten leben häufig nach Regeln, die von der protestantischen angelsächsischen Minderheit für sie aufgestellt wurden. Die Mittelschicht stellt Regeln auf, denen die Unterschicht gehorchen muß – in den Schulen, den Gerichten und anderswo.

Unterschiede in der Fähigkeit, Regeln aufzustellen und sie auf andere Leute anzuwenden, sind ihrem Wesen nach Machtunterschiede (entweder legale oder äußerlegale). Die Gruppen, deren soziale Stellung ihnen Waffen und Macht gibt, sind am besten imstande, ihre Regeln durchzusetzen. Alters-, Geschlechts-, ethnische und Klassenunterschiede sind sämtlich bezogen auf Machtunterschiede, die ihrerseits verantwortlich sind für Gradunterschiede in der Fähigkeit verschiedenartiger Gruppen, für andere Menschen Regeln aufzustellen. Außer der Einsicht, daß abweichendes Verhalten durch die Reaktionen von Menschen auf einzelne Verhaltensweisen geschaffen wird, nämlich durch die Kennzeichnung dieses Verhaltens als abweichend, müssen, wir noch festhalten, daß die durch solche Kennzeichnung geschaffenen und aufrechterhaltenen Regeln nicht universell anerkannt werden. Sie sind vielmehr Gegenstand von Konflikt und Auseinandersetzung und mithin Teil des politischen Gesellschaftsprozesses.

Arten abweichenden Verhaltens – ein Stufenmodell

Es ist nicht meine Absicht, hier zu beweisen, daß nur Handlungen, die von anderen als abweichend angesehen werden, "wirklich" abweichend sind. Doch es sollte anerkannt werden, daß dies eine wichtige Dimension ist, die bei jeder Analyse abweichenden Verhaltens in Rechnung gestellt werden muß. Durch Verbindung dieser Dimension mit einer weiteren – ob eine Handlung mit einer bestimmten Regel übereinstimmt oder nicht – sind wir in der Laga, das folgende Diagramm von Kategorien zur Unterscheidung verschiedener Arten abweichenden Verhaltens zu bilden.
Zwei dieser Verhaltenstypen erfordern nur wenig Erklärung. Konformes Verhalten ist einfach ein Verhalten, das der Regel entspricht und das von anderen als der Regel entsprechend empfunden wird. Als Extrem auf der Gegenseite ist der Typ rein abweichenden Verhaltens ein sowohl gegen die Regel verstoßendes wie auch als so empfundenes Verhalten.

Tabelle 1 : Typen abweichenden Verhaltens

 

Gehorsames Verhalten

Regelverletzendes Verhalten

Als abweichend empfunden

fälschlich beschuldigt

rein abweichend

Nicht als abweichend empfunden

konform

heimlich abweichend

Die beiden anderen Möglichkeiten sind interessanter. Das "fälschlich beschuldigt" kennzeichnet eine Lage, von der Kriminelle oft als von einem "bum rap" [amerik. Slang, etwa: "den Falschen verdonnern"] sprechen. Die betreffende Person hat in den Augen anderer eine ungehörige Handlung begangen, die sie in Wirklichkeit nicht begangen hat. Zu falschen Beschuldigungen kommt es zweifellos auch in Gerichtshöfen, wo die Person durch Regeln ordentlicher Prozeß- und Beweisführung geschützt wird. Sie kommen wahrscheinlich noch viel häufiger unter illegalen Umständen vor, wo verfahrensmäßige Sicherungen nicht vorhanden sind.

Ein noch interessanterer Fall ist das andere Extrem der heimlichen Verhaltensabweichung. Da begeht jemand eine ungehörige Handlung, doch niemand nimmt Notiz davon oder reagiert darauf wie auf eine Verletzung der Regeln. Wie im Fall der falschen Beschuldigung weiß niemand genau, wie häufig dieses Phänomen ist, doch ich bin überzeugt, die Zahl ist sehr groß, viel größer, als wir uns vorstellen mögen. Eine kurze Beobachtung überzeugt mich, daß dies der Fall ist. Die meisten Menschen halten wahrscheinlich den Fetischismus (den sado-masochistischen Fetischismus im besonderen) für eine seltene und exotische Perversion. Ich hatte jedoch vor mehreren Jahren Gelegenheit, den ausschließlich für Liebhaber dieser Spezialität bestimmten Katalog eines Händlers mit pornographischen Bildern einzusehen. Der Katalog enthielt keine Bilder von Nackten, keine Bilder irgendeiner Version des Sexualaktes. Statt dessen enthielt er Seite für Seite Bilder von Mädchen in Zwangsjacken, von Mädchen, die Stiefel mit zentimeterhohen Absätzen tragen, von Mädchen, die Peitschen in den Händen halten, von Mädchen in Handschellen und von Mädchen, die sich gegenseitig schlagen. Jede Seite diente als Muster für bis zu 120 Bilder, die der Händler vorrätig hielt. Eine schnelle Kalkulation ergab, daß der Katalog zwischen fünfzehn- und zwanzigtausend Fotografien zum sofortigen Verkauf anpries. Der Katalog war in teurem Druck hergestellt, und diese Tatsache zusammen mit der Zahl der Fotografien war ein klarer Hinweis, daß der Händler ein gutes Geschäft machte und eine sehr große Kundschaft hatte. Dennoch trifft man nicht jeden Tag auf sado-masochistische Fetischisten. Offensichtlich sind sie in der Lage, die Tatsache ihrer Perversion geheimzuhalten ("Alle Bestellungen werden ohne Absenderangabe verschickt").

Wissenschaftler haben bei Untersuchungen über Homosexualität ähnliche Beobachtungen gemacht und festgestellt, daß viele Homosexuelle in der Lage sind, ihr abweichendes Verhalten vor Bekannten mit nicht-abweichendem Verhalten geheimzuhalten. Und viele Konsumenten narkotischer Drogen sind, wie wir später sehen werden, in der Lage, ihre Sucht vor Nichtkonsumenten, mit denen sie bekannt sind, zu verbergen.

Die vier theoretischen Typen abweichenden Verhaltens, die wir durch kreuzweises Klassifizieren von Verhaltensweisen mit den von ihnen hervorgerufenen Reaktionen gewonnen haben, unterscheiden zwischen Phänomenen, die in wichtigen Bereichen verschiedenartig sind, jedoch gewöhnlich für gleichartig gehalten werden. Wenn wir diese Unterschiede nicht beachten, könnten wir dem Irrtum verfallen, mehrere verschiedenartige Sachverhalte auf gleiche Weise erklären zu wollen, und so die Möglichkeit übersehen, daß sie verschiedene Erklärungen erfordern können. Ein Junge, der sich unschuldig mit einer Gruppe von Straffälligen einläßt, kann eines Abends auf bloßen Verdacht hin zusammen mit einigen Gruppenmitgliedern festgenommen werden. Dann wird er mit Sicherheit genauso in der amtlichen Statistik auftauchen wie jene Festgenommenen, die tatsächlich in Straftaten verwickelt waren, und Sozialwissenschaftler, die Theorien zur Erklärung von Straffälligkeit zu entwickeln suchen, werden womöglich sein Auftauchen in den amtlichen Unterlagen in der gleichen Weise berücksichtigen wollen wie das Auftauchen der anderen. Doch die Fälle sind unterschiedlich; die gleiche Erklärung reicht für sie nicht aus.

Simultan- und Stufenmodelle der Verhaltensabweichung

Die Unterscheidung von Typen abweichenden Verhaltens kann uns zur Einsicht in den Ursprung abweichenden Verhaltens verhelfen. Denn wir sind so imstande, ein Stufenmodell für Verhaltensabweichung zu entwickeln, ein Modell, das zeitliche Änderungen zuläßt. Doch bevor wir das Modell selbst erörtern, wollen wir die Unterschiede zwischen einem Stufenmodell und einem Simultanmodell an der Entwicklung individuellen Verhaltens aufzeigen.

Zunächst wollen wir festhalten, daß sich fast alle Untersuchungen abweichenden Verhaltens mit der Fragestellung beschäftigen, die sich aus der Einschätzung dieses Verhaltens als eines pathologischen ergibt. Das heißt, in den Untersuchungen wird versucht, die "Ätiologie" der "Krankheit" zu entdecken. Es wird versucht, die Ursachen unerwünschten Verhaltens herauszufinden.

Forschung in diesem Bereich wird bezeichnenderweise mit den Instrumenten der Multivariations-Analyse durchgeführt. In der Sozialforschung benutzte Techniken und Instrumente enthalten unterschiedslos einen theoretischen wie auch einen methodologischen Ansatz, und das ist auch hier der Fall. Die Multivariations-Analyse geht von der Annahme aus (selbst wenn ihre Benutzer anderer Meinung sein sollten), daß alle bei der Entstehung des untersuchten Phänomens beteiligten Faktoren gleichzeitig wirksam sind. Sie sucht herauszufinden, welche Variablen oder Kombinationen von Variablen das zu untersuchende Verhalten am besten "vorhersagen". Demnach könnte eine Untersuchung über jugendliche Delinquenz herauszufinden suchen, ob der Intelligenzquotient, der Lebensbereich des Kindes, Herkunft aus einer zerrütteten oder intakten Familie oder eine Kombination all dieser Faktoren für seine Straffälligkeit verantwortlich sind.

Tatsächlich jedoch sind nicht alle Ursachen zur gleichen Zeit wirksam, und wir brauchen ein Modell, welches das Faktum berücksichtigt, daß Verhaltensmuster sich in regelmäßiger Abfolge entwickeln. Wie wir später sehen werden, müssen wir bei der Erklärung des individuellen Marihuana-Gebrauchs eine Abfolge von Schritten, eine Abfolge von Verhaltens- und Einstellungsänderungen des Individuums berücksichtigen, um das Phänomen verstehen zu können. Jeder Schritt erfordert eine Erklärung, und was bei einem Schritt in der Abfolge als Ursache wirksam sein mag, kann bei einem anderen Schritt von nebensächlicher Bedeutung sein. Wir brauchen z.B. eine Erklärung dafür, wie eine Person in eine Lage kommt, in der Marihuana leicht beschaffbar ist, und eine andere Erklärung dafür, warum die Person unter der Voraussetzung leichter Beschaffbarkeit von Marihuana gewillt ist, damit zum erstenmal zu experimentieren. Und wir benötigen eine weitere Erklärung dafür, warum jemand nach dem ersten Versuch mit Marihuana fortfährt, es zu benutzen. In gewissem Sinne bildet jede Erklärung eine notwendige Ursache des Verhaltens. Das heißt, niemand wird ein chronischer Marihuana-Konsument, der nicht jeden Schritt hinter sich gebracht hat. Er muß sich die Droge beschaffen können, sie ausprobieren und sie weiter nehmen. Die Erklärung für jede Stufe ist somit Teil der Erklärung für das endgültige Verhalten.

Die bei jedem Schritt wirksamen Variablen können jedoch für sich genommen nicht den Unterschied zwischen Benutzern und Nichtbenutzern von Marihuana erklären. Die Variable, die eine Person dafür disponiert, einen bestimmten Schritt zu tun, köhnte nicht zur Wirkung kommen, wenn die Person noch nicht das Stadium des Prozesses erreicht hätte, in dem es möglich ist, den Schritt zu unternehmen. Wir wollen als Beispiel annehmen, daß einer der Schritte in der Ausbildung gewohnheitsmäßigen Drogengebrauchs – Bereitschaft zum Experiment mit dem Gebrauch der Droge – wirklich das Ergebnis einer Variable der Persönlichkeit oder persönlicher Orientierung wie Entfremdung von konventionellen Normen ist. Die Variable der persönlichen Entfremdung wird jedoch Drogengebrauch nur bei Menschen zur Folge haben, welche die Möglichkeit zum Experiment haben, weil sie einer Gruppe angehören, in der Drogen verfügbar sind; Menschen mit Entfremdungsgefühlen, für die Drogen nicht erreichbar sind, können nicht mit dem Experiment beginnen und somit keine Drogenbenutzer werden, wie stark ihre Entfremdungsgefühle auch sein mögen. So kann Entfremdung durchaus eine notwendige Ursache für Drogenkonsum sein, sie kann jedoch den Unterschied zwischen Konsumenten und Nichtkonsumenten nur in einem bestimmten Stadium des Prozesses erklären.

Als nützlich zur Entwicklung von Stufenmodellen für verschiedene Formen abweichenden Verhaltens erweist sich der Begriff der Laufbahn. Ursprünglich entwickelt bei der Untersuchung von Berufen, bezieht sich der Begriff auf die Abfolge von Bewegungen, die ein Individuum innerhalb eines Berufssystems von einer Position zur anderen vollführt. Der Begriff schließt die Vorstellung von "Laufbahn-Bedingungen" ein, von Faktoren also, welche die Bewegung von einer Position zur anderen bedingen. Laufbahn-Bedingungen sind sowohl objektive Fakten der Sozialstruktur wie auch Änderungen der Einstellungen, Motivationen und Wünsche des Individuums. Beim Studium von Berufen verwenden wir den Begriff gewöhnlich, um zwischen Personen mit "erfolgreicher" Laufbahn oder Karriere (wie immer Erfolg innerhalb eines Berufszweiges definiert sein mag) und Personen ohne eine solche Laufbahn zu unterscheiden. Er kann aber auch unter Vernachlässigung der Frage des "Erfolges" zur Unterscheidung verschiedener anderer Folgen der Laufbahn dienen.

Das Modell kann leicht umgeformt und dann zum Studium abweichender Laufbahnen verwendet werden. Bei der Transformation des Modells sollten wir unser Interesse nicht auf Menschen beschränken, die eine Laufbahn einschlagen, die sie in immer stärker abweichendes Verhalten führt, und die schließlich eine extrem abweichende Identität und Lebensweise annehmen. Wir sollten in unsere Überlegungen auch Menschen einbeziehen, die einen flüchtigeren Kontakt mit abweichendem Verhalten haben und deren Laufbahn sie von diesem Verhalten zu konventionellen Lebensweisen führt. So können uns z.B. Untersuchungen über Straffällige, die nicht zu erwachsenen Verbrechern werden, mehr Aufschlüsse vermitteln als Untersuchungen über Straffällige, die im Verbrechen fortschreiten.

Im letzten Teil dieses Kapitels werde ich die Möglichkeiten erörtern, die sich bei der Erforschung abweichenden Verhaltens mit Hilfe des Laufbahnbegriffs bieten. Anschließend werde ich mich der Untersuchung einer besonderen Form abweichenden Verhaltens zuwenden: dem Gebrauch von Marihuana.

Abweichende Laufbahnen

Der erste Schritt bei den meisten abweichenden Laufbahnen ist das Begehen einer nonkonformen Handlung, einer Handlung, die gegen einen besonderen Regelkatalog verstößt. Inwieweit sind wir für diesen ersten Schritt verantwortlich zu machen?

Man stellt sich die abweichende Handlung gewöhnlich als motiviert vor. Man glaubt, daß die Person, die eine abweichende Handlung verübt, dies selbst beim erstenmal (und vielleicht sogar besonders beim erstenmal) absichtlich tut. Diese Absicht mag gänzlich bewußt sein oder nicht, doch hinter der Handlung steht, so wird angenommen, eine motivierende Kraft. Wir werden uns gleich der Erörterung von Fällen absichtlicher Nonkonformität zuwenden, doch zunächst möchte ich betonen, daß viele nonkonforme Handlungen von Menschen begangen werden, die nicht die Absicht haben, so zu handeln; diese Handlungen erfordern offensichtlich eine andere Erklärung.

Unbeabsichtigt abweichende Handlungen können wahrscheinlich relativ einfach erklärt werden. Sie implizieren die Unkenntnis der Regelexistenz oder der Tatsache, daß die Regel in diesem Fall oder auf diese Person anwendbar war. Doch es ist notwendig, den Wahrnehmungsmangel zu erklären. Wie kann es geschehen, daß die Person nicht weiß, daß ihre Handlung ungehörig ist? In eine besondere Subkultur (etwa eine religiöse oder ethnische) tief hineingezogene Menschen könnten ganz einfach nicht bemerken, daß nicht jeder "so" handelt, und daher eine Ungehörigkeit begehen. Es mag in der Tat strukturierte Bereiche von Unkenntnis bestimmter Regeln geben. Mary Haas hat auf den interessanten Fall interlingualer Sprachtabus hingewiesen. Wörter, die in einer Sprache völlig korrekt sind, haben in einer anderen eine "schmutzige" Bedeutung. So kann die Person, die unschuldig ein Wort benutzt, das in ihrer eigenen Sprache allgemein gebräuchlich ist, die Erfahrung machen, daß sie ihre Zuhörer, die aus einer anderen Kultur stammen, schockiert und erschreckt.

Bei der Analyse von Fällen absichtlicher Nonkonformität wird gewöhnlich folgendermaßen nach der Motivation gefragt: Warum will die Person diese Handlung begehen? Die Frage enthält die Annahme, der grundlegende Unterschied zwischen Menschen mit abweichendem und Menschen mit konformem Verhalten liege im Charakter ihrer Motivation. Es wurden viele Theorien vorgelegt, um zu erklären, warum einige Menschen abweichende Motivationen haben und andere nicht. Psychologische Theorien suchen die Ursache abweichender Motivationen und Handlungen in den frühen Erfahrungen des Individuums, die unbewußte Wünsche wecken, die befriedigt werden müssen, wenn das Individuum sein Gleichgewicht aufrechterhalten will. Soziologische Theorien suchen nach sozial bedingten Ursachen für "Spannungen" in der Gesellschaft, nach derart mit widersprüchlichen Forderungen behafteten sozialen Positionen, daß das Individuum einen ungesetzlichen Weg zur Lösung seiner Probleme sucht, die seine Position ihm auflädt. (Mertons bekannte Theorie der Anomie fällt unter diese Kategorie.)

Doch die Annahme, auf der diese Erklärungsversuche sich gründen, kann völlig falsch sein. Es gibt keinen Grund zu der Annahme, daß nur jene Menschen, die schließlich eine abweichende Handlung begehen, tatsächlich den Impuls dazu verspüren. Es ist viel wahrscheinlicher, daß die meisten Menschen häufig abweichende Impulse verspüren. Zumindest in der Phantasie sind die Menschen viel abweichender, als sie scheinen. Anstatt zu fragen, warum Menschen mit abweichendem Verhalten Dinge tun, die mißbilligt werden, sollten wir besser fragen, warum konventionelle Menschen ihren abweichenden Impulsen nicht nachgeben.

Eine Teilantwort auf diese Frage können wir in dem Prozeß der Sozialbindung finden, durch den der "normale" Mensch in ständig steigendem Maße in konventionelle Institutionen und Verhaltensweisen eingespannt wird. Mit dem Wort Bindung meine ich den Prozeß, durch den verschiedenartige Interessen gebunden werden an die Einhaltung gewisser Verhaltensrichtlinien, denen gegenüber die Interessen formal unwichtig erscheinen. Was geschieht, ist dies: Als Folge von Handlungen in der Vergangenheit oder aufgrund der Wirkung verschiedener institutioneller Gewohnheiten entdeckt das Individuum, daß es sich an gewisse Verhaltensrichtlinien halten muß, weil außer der Handlung, die es gerade ausführt, viele andere Handlungen nachteilig beeinflußt würden, wenn es sich nicht an die Richtlinien hielte. Der Jugendliche aus der Mittelschicht darf die Schule nicht verlassen, weil seine berufliche Zukunft von der Aufnahme einer gewissen Menge schulischer Bildung abhängt. Der Mensch mit konventionellem Verhalten darf z.B. keine Rauschmittel nehmen, weil mehr als die Befriedigung augenblicklicher Wünsche auf dem Spiel steht; sein Beruf, seine Familie und sein Ansehen in der Nachbarschaft können für ihn davon abhängen, daß er weiterhin Versuchungen aus dem Wege geht.

Tatsächlich kann die normale menschliche Entwicklung in unserer Gesellschaft (und wahrscheinlich in jeder Gesellschaft) als eine Reihe sich ständig verstärkender Bindungen an konventionelle Normen und Institutionen angesehen werden. Wenn der "normale" Mensch bei sich einen abweichenden Impuls entdeckt, kann er ihn dadurch zurückdrängen, daß er an die vielfältigen Konsequenzen denkt, die ein Nachgeben für ihn mit sich bringen würde. Er hat für die Fortsetzung seines Normalseins zuviel eingesetzt, als daß er sich erlauben könnte, durch unkonventionelle Impulse fortgerissen zu werden.

Dies legt nahe, daß wir uns in Fällen von beabsichtigter Nonkonformität fragen sollten, wie der Mensch es fertigbringt, sich dem Einfluß konventioneller Bindungen zu entziehen. Er hat dafür zwei Möglichkeiten. In erster Linie kann der Mensch im Laufe seiner Entwicklung engere Bindungen zur konventionellen Gesellschaft vermeiden. Dann steht es ihm frei, seinen Impulsen zu folgen. Ein Mensch, der keinen Ruf zu wahren, der an einem konventionellen Beruf nicht mehr festzuhalten braucht, kann seinen Antrieben nachgeben. Er hat nichts aufs Spiel gesetzt, um weiterhin als konventionell zu gelten.

Die meisten Menschen behalten jedoch ein Gespür für konventionelle Verhaltenskodizes und müssen sich mit diesem Gespür auseinanderseten, wenn sie sich zum erstenmal auf eine abweichende Handlung einlassen. Sykes und Matza nehmen an, daß Straffällige tatsächlich starke Impulse verspüren, sich an das Gesetz zu halten, und daß sie auf diese Impulse die Techniken der Neutralisierung anwenden:

Rechtfertiungen für abweichendes Verhalten, die von dem Delinquenten als ültig anerkannt werden, jedoch nicht vom Rechtssystem oder der Gesellschaft insgesamt.

Sie unterscheiden eine Anzahl von Techniken zur Neutralisierung des Einflusses von Werten, die mit dem Gesetz übereinstimmen.

Insofern der Delinquent von sich selbst glauben kann, er trage für seine abweichenden Handlungen keine Verantwortung, wird die Mißbilligung seiner selbst und anderer in ihrer Wirkung als hindernder Einfluß stark reduziert ... Der Delinquent neigt zu der Vorstellung, er sei eine "Billardkugel", die hilflos in neue Situationen gestoßen werde ... Indem er sich zu sehen lernt als jemanden, der weniger handelt als behandelt wird, ebnet er sich den Weg zur Verhaltensabweichung vom dominierenden normativen System ohne die Notwendigkeit eines frontalen Angriffs auf die Normen selbst ...

Eine zweite wichtige Technik der Neutralisierung konzentriert sich auf die mit der straffälligen Handlung verbundenen Schäden ... Für den Delinquenten ... kann die Ungesetzlichkeit die Frage aufwerfen, ob durch seine Verhaltensabweichung irgend jemand geschädigt wurde oder nicht, und diese Frage steht einer Vielfalt von Interpretationen offen ... Autodiebstahl kann als "Ausleihen" angesehen werden, und Bandenkriege gelten als Privatfehde, als vereinbartes Duell zwischen zwei dazu bereiten Parteien, sind damit ohne Bezug zur Gemeinschaft insgesamt ... Das moralische Unbehagen mit sich selbst und anderen kann neutralisiert werden durch das Beharren darauf, daß der Verstoß im Lichte der Umstände kein Unrecht ist. Das Unrecht, so könnte man behaupten, ist kein wirkliches Unrecht, sondern vielmehr eine Form rechtmäßiger Vergeltung oder Strafe ... Ausschreitungen gegen Homosexuelle oder als homosexuell Verdächtigte, Angriffe auf Mitglieder von Minderheitsgruppen, von denen gesagt wird, sie seien "nicht am Platze", Vandalismus als Rache an einem ungerechten Lehrer oder Schulbeamten, Diebstahl an einem "krummen" (unehrlichen) Ladeninhaber – dies alles können in den Augen des Delinquenten einem Übeltäter zugefügte Schädigungen sein ...

Eine vierte Technik der Neutralisierung scheint die Verurteilung des Verurteilers zu enthalten ... Seine Verurteiler, könnte er behaupten, sind Heuchler, Menschen mit geheimen Verhaltensabweichungen oder von persönlichem Ärger getriebene ... Durch den Angriff auf andere wird das Unrechtmäßige des eigenen Verhaltens leichter unterdrückt oder dem Blick entzogen ...

Innere und äußere soziale Kontrolle kann neutralisiert werden, indem die Forderungen der größeren Gesellschaft geopfert werden zugunsten der Forderungen einer kleineren sozialen Gruppe, welcher der Delinquent angehört, etwa einem Zwillingspaar, einer Bande oder einer Clique von Freunden ... Der entscheidende Punkt ist, daß das Abweichen von bestimmten Normen eintreten kann, nicht weil die Normen abgelehnt werden, sondern weil anderen Normen, die für dringlicher oder verpflichtender gehalten werden, Vorrang eingeräumt wird.

In einigen Fällen mag einem sonst gesetzestreuen Menschen eine nonkonforme Handlung notwendig oder ratsam erscheinen. Bei der Wahrnehmung legitimer Interessen begangen, wird die abweichende Handlung, wenn schon nicht ganz angemessen, zumindest auch nicht ganz unangemessen. In einem Roman über einen jungen italo-amerikanischen Arzt findet sich ein gutes Beispiel. Der junge Mann, der gerade sein Studium beendet hat, möchte gern eine Praxis eröffnen, die nicht auf der Tatsache beruht, daß er Italiener ist. Doch er entdeckt, daß es für einen Italiener schwierig ist, die Anerkennung der amerikanischen Ärztekollegen in seiner Gemeinde zu erlangen. Eines Tages wird er plötzlich von einem der bekanntesten Chirurgen gebeten, einen Fall zu übernehmen, und glaubt schon, die besseren Ärzte der Stadt hätten ihn endlich in ihr Überweisungssystem einbezogen. Doch als der Patient in sein Sprechzimmer kommt, muß er entdecken, daß es sich um eine illegale Abtreibung handeln soll. Da er irrtümlicherweise annimmt, die Überweisung sei der erste Schritt zu einer regulären Beziehung zu dem Chirurgen, führt er die Operation durch. Diese Handlung, obgleich rechtswidrig, wird von ihm als notwendig für den Aufbau seiner Karriere angesehen.

Doch wir sind weniger an dem Menschen interessiert, der ein einziges Mal eine abweichende Handlung begeht, als an demjenigen, der ein abweichendes Verhaltensmuster über einen längeren Zeitraum beibehält, der aus dem abweichenden Verhalten eine Lebensform macht und der seine Identität um das abweichende Verhaltensmuster organisiert. Nicht über Menschen, die es gelegentlich mit der Homosexualität versuchen (wie sie in so überraschend großer Zahl im Kinsey-Report auftauchen), wollen wir uns Klarheit verschaffen, sondern über den Mann, der durch sein ganzes Erwachsenenleben hindurch einem Verhaltensmuster homosexueller Aktivität folgt.

Einer der Mechanismen, die vom gelegentlichen Versuch zu einem starreren Muster abweichender Aktivität führen, ist die Ausbildung abweichender Motive und Interessen. Wir werden diesen Prozeß später im einzelnen untersuchen, wenn wir die Laufbahn des Marihuana-Benutzers betrachten. Hier genügt der Hinweis, daß viele Arten abweichender Aktivität Motiven entspringen, die der Mensch sich sozial aneignet. Bevor der Mensch sich diesen Aktivitäten mehr oder weniger regelmäßig überläßt, hat er keine Ahnung von dem Vergnügen, das daraus für ihn entsteht; er lernt dies im Verlauf der Interaktion mit Menschen, die im abweichenden Verhalten erfahrener sind. Er lernt, auf neue Erfahrungsweisen aufmerksam zu werden und sie für angenehm zu halten. Was zunächst ein zufälliger Impuls gewesen sein mag, etwas Neues zu versuchen, wird zum dauerhaften Wunsch nach etwas bereits Bekanntem und Erfahrenem. Das Vokabular, mit dem abweichende Motivationen beschrieben werden, läßt erkennen, daß seine Benutzer es in der Interaktion mit anderen abweichenden Menschen erworben haben. Mit einem Wort, das Individuum lernt, an einer Subkultur zu partizipieren, die um das jeweilige abweichende Verhalten gruppiert ist.

Abweichende Motivationen haben selbst dann einen sozialen Charakter, wenn die meisten daraus resultierenden Handlungen privat, geheim und allein vorgenommen werden. In solchen Fällen können bei der Einführung eines Individuums in die entsprechende Subkultur verschiedene Medien der Kommunikation an die Stelle der vis-à-vis-Interaktion [face-to-face interaction] treten. Die pornographischen Bilder, die ich oben erwähnte, wurden dem künftigen Käufer in einer stilisierten Sprache beschrieben. Gewöhnliche Worte wurden in einer Art Kurzschrifttechnik zur Anregung spezifischer Geschmäcker benutzt. Das Wort "Sklaverei" zum Beispiel wurde wiederholt verwandt, um auf Bilder von Frauen in Handschellen oder Zwangsjacken hinzuweisen. Man hat keinen Geschmack an "Sklaverei-Fotos", ohne zuvor gelernt zu haben, was diese Fotos darstellen und wie man sie genießen kann.

Einer der entscheidenden Schritte im Prozeß der Ausbildung eines festen Musters abweichenden Verhaltens ist wahrscheinlich die Erfahrung, verhaftet und öffentlich als Mensch mit abweichendem Verhalten abgestempelt worden zu sein. Ob ein Mensch diesen Schritt vollführt oder nicht, hängt nicht so sehr davon ab, was er tut, sondern vielmehr davon, was andere Leute tun, ob sie die Regel, die er verletzt hat, durchsetzen oder nicht. Obwohl ich die Umstände, unter denen Regeldurchsetzung stattfindet, später ausführlicher erläutern möchte, hier bereits zwei Anmerkungen. Zunächst einmal kann das Individuum, auch wenn niemand sonst die Nonkonformität entdeckt oder die gegen sie gerichtete Regel durchsetzt, selbst als Regeldurchsetzer handeln. Es kann sich selbst für sein Tun als Mensch mit abweichendem Verhalten brandmarken und sich auf die eine oder andere Weise für sein Verhalten bestrafen. Das ist nicht immer und notwendig der Fall, doch es kann geschehen. Zweitens kann es Fälle geben, wie die von Psychoanalytikern beschriebenen, in denen das Individuum tatsächlich wünscht, gefaßt zu werden, und seine abweichende Handlung in einer Weise verübt, daß es beinahe mit Sicherheit gefaßt wird.

Auf jeden Fall hat die Tatsache, gefaßt und als abweichend gebrandmarkt zu werden, wichtige Konsequenzen für die weitere soziale Partizipation und für das Selbstverständnis eines Menschen. Die wichtigste Konsequenz ist ein drastischer Wandel in der öffentlichen Identität eines Individuums. Das Verüben einer unrechtmäßigen Handlung und die darauf folgende öffentliche Festnahme verleihen ihm einen neuen Status. Er hat sich als Mensch entlarvt, der von dem verschieden ist, für den er bisher gehalten worden war. Er wird als "Schwuler", "Rauschgiftsüchtiger", "Gauner" und "Irrer" abgestempelt und entsprechend behandelt.

Bei der Analyse der Konsequenzen aus der Übernahme einer abweichenden Identität wollen wir die von Hughes eingeführte Unterscheidung zwischen den haupt- und den nebensächlichen Statusmerkmalen verwenden. Hughes bemerkt, daß der Status meistens ein Hauptmerkmal besitzt, das dazu dient, diejenigen, die dazugehören, von denen zu unterscheiden, die nicht dazugehören. So ist z.B. der Arzt, was immer er sonst sein mag, vor allem ein Mensch, der eine Bescheinigung besitzt, in der festgestellt wird, daß er bestimmte Anforderungen erfüllt hat und berechtigt ist, Medizin zu praktizieren; das ist das Hauptmerkmal. Hughes weist darauf hin, daß in unserer [der amerikanischen] Gesellschaft von einem Arzt informell auch eine Anzahl von Nebenmerkmalen erwartet wird: Die meisten Leute erwarten von ihm, daß er der oberen Mittelschicht angehört, weißrassig, männlich und Protestant ist. Wenn er das nicht ist, kommt das Gefühl auf, er habe irgendwie versäumt, sein Versprechen zu halten. Ebenso wird von Negern – wenn auch die Hautfarbe das hauptsächliche Statusmerkmal ist, das festlegt, wer Neger und wer Weißer ist – informell erwartet, daß sie bestimmte Statusmerkmale und keine anderen besitzen; man ist überrascht und findet es anomal, wenn sich herausstellt, daß ein Neger Arzt oder Universitätsprofessor ist.

Menschen besitzen oft ein hauptsächliches Statusmerkmal, doch fehlen ihnen einige Nebenmerkmale, die informell als charakteristisch erwartet werden; man kann z.B. ein Arzt sein, gleichzeitig aber eine Frau oder ein Neger.

Hughes befaßt sich mit diesem Phänomen im Hinblick auf Statusarten, die angesehen, erwünscht und wünschbar sind (wobei er bemerkt, daß jemand die formalen Qualifikationen für den Zutritt zu einem Status haben kann, daß ihm aber der vollständige Zutritt verwehrt wird, weil ihm die richtigen Nebenmerkmale fehlen), doch der gleiche Prozeß kommt auch in Fällen abweichender Statusarten in Gang. Der Besitz eines abweichenden Merkmals kann von allgemeinem symbolischen Wert sein, so daß die Leute automatisch annehmen, daß sein Träger andere unerwünschte, angeblich mit diesem Merkmal verbundene Merkmale besitzt.

Um als Krimineller abgestempelt zu werden, braucht man nur eine einzige kriminelle Handlung zu begehen; nur darauf bezieht sich, jedenfalls formell, der Terminus "kriminell". Das Wort enthält jedoch noch eine Anzahl von Konnotationen [Nebenbedeutungen]; sie bezeichnen Nebenmerkmale, die als charakteristisch für einen als kriminell abgestempelten Menschen gelten. Von einem Mann, der des Hauseinbruchs überführt und aufgrund dessen als kriminell eingeordnet worden ist, wird angenommen, daß er wahrscheinlich noch weitere Hauseinbrüche begehen wird; von dieser Voraussetzung geht die Polizei aus, wenn sie nach Bekanntwerden eines Verbrechens im Zuge der Ermittlung ihr bekannte Straffällige überprüft. Mehr noch, der besagte Mann wird als jemand angesehen, der wahrscheinlich auch andere Arten von Verbrechen begehen wird, weil er sich als ein Mensch ohne "Respekt vor dem Gesetz" erwiesen hat. Festnahme aufgrund einer einzigen abweichenden Handlung bedeutet für den betreffenden Menschen, daß er wahrscheinlich auch in anderer Hinsicht als abweichend oder unerwünscht angesehen wird.

In der Analyse von Hughes findet sich noch ein anderes Element, das wir mit Gewinn übernehmen können: die Unterscheidung zwischen über- und untergeordnetem Status. In unserer Gesellschaft wie in anderen stehen einige Statusarten über anderen und beanspruchen eine gewisse Priorität. Dazu gehört die Rasse. Zugehörigkeit zur Rasse der Neger, wie sie sozial definiert wird, hat in den meisten Situationen vor allen anderen Statuserwägungen den Vorrang; die Tatsache, daß jemand Arzt, Angehöriget der Mittelschicht oder Frau ist, schützt ihn nicht davor, zuerst als Neger behandelt zu werden und erst in zweiter Linie entsprechend seinen anderen Merkmalen. Der Status des Verhaltensabweichenden (abhängig von der Art der Verhaltensabweichung) ist ein derartiger übergeordneter Status. Man erhält diesen Status als Folge einer Regelverletzung; diese Identifizierung erweist sich als wichtiger als die meisten anderen. Man wird zuerst als abweichend identifiziert, und zwar bevor andere Feststellungen getroffen worden sind. Es wird die Frage gestellt: "Welche Art von Mensch würde eine solch wichtige Regel brechen?" Und die Antwort lautet: "Jemand, der sich von uns anderen unterscheidet, der nicht als moralisches menschliches Wesen handeln kann oder will und daher noch andere wichtige Regeln brechen könnte." Die Identifizierung als abweichend erhält so eine Kontrollfunktion.

Einen Menschen zu behandeln, als sei er generell und nicht nur spezifisch abweichend, erzeugt eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Eine solche Behandlung setzt verschiedene Mechanismen in Bewegung, die zusammenwirken, um den Menschen nach dem Bilde zu formen, das die Leute von ihm haben. Zunächst einmal läuft der Mensch, der als abweichend identifiziert wurde, Gefahr, von der Partizipation an konventionelleren Gruppen abgeschnitten zu werden, selbst wenn die spezifischen Konsequenzen seiner besonderen abweichenden Aktivität von sich aus niemals die Isolation verursacht hätten, wäre sein Verhalten in der Öffentlichkeit nicht bekannt und entsprechend beantwortet worden.

Homosexuell zu sein braucht z.B. die Befähigung eines Menschen zur Büroarbeit nicht zu beeinträchtigen, doch in einem Büro als homosexuell bekannt zu sein kann die Fortsetzung der Arbeit dort unmöglich machen. Als ein Süchtiger bekannt zu sein wird wahrscheinlich ebenso dazu führen, daß jemand seinen Arbeitsplatz verliert, auch wenn die Wirkungen des Rauschmittels die Arbeitsfähigkeit des Betreffenden nicht herabsetzen. In solchen Fällen wird es für das Individuum schwierig, sich weiteren Regeln anzugleichen, die zu verletzen es weder die Absicht noch den Wunsch hat, und es findet sich wohl oder übel auch in diesen Bereichen als abweichend behandelt. Der Homosexuelle, dem ein "respektabler" Arbeitsplatz verweigert wird, nachdem sein abweichendes Verhalten entdeckt wurde, kann sich unkonventionellen, randständigen Beschäftigungen zuwenden, wo sein Verhalten nicht derart ins Gewicht fällt. Der Rauschgiftsüchtige wird zu weiteren ungesetzlichen Verhaltensweisen wie Raub und Diebstahl gezwungen, wenn "ehrbare" Arbeitgeber ihn abweisen.

Wenn ein Mensch mit abweichendem Verhalten gefaßt ist, wird er in Übereinstimmung mit der volkstümlichen Diagnose der Gründe seines Soseins behandelt, und diese Behandlung kann gleichfalls zunehmend abweichendes Verhalten zur Folge haben. Der Rauschgiftsüchtige, nach Meinung des Volkes ein willensschwaches Individuum, das auf die von Rauschmitteln bereiteten unschicklichen Freuden nicht verzichten kann, wird repressiv behandelt. Ihm wird verboten, Drogen zu benutzen. Da der Süchtige sich die Rauschmittel auf legale Weise nicht beschaffen kann, muß er illegal an sie herankommen. Das drängt den Markt in den Untergrund und treibt die Rauschmittelpreise weit über den gegenwärtigen legitimen Marktpreis hinaus auf ein Niveau, das sich nur wenige Menschen mit normalem Einkommen leisten können. Folglich versetzt die Behandlung seines abweichenden Verhaltens den Rauschgiftsüchtigen in einen Zustand, in dem es für ihn wahrscheinlich notwendig wird, Zuflucht zu Betrug und Verbrechen zu nehmen, um seiner Sucht nachgehen zu können. Das Verhalten ist also eine Konsequenz der öffentlichen Reaktion auf die Verhaltensabweichung und nicht eine Konsequenz der inhärenten Eigenschaften der abweichenden Handlung. Allgemeiner ausgedrückt ist der springende Punkt der, daß die Behandlung von Menschen mit abweichendem Verhalten ihnen die normalen, den meisten Menschen zugebilligten Mittel und Wege vorenthält, die nötig sind, um Gewohnheitshandlungen des alltäglichen Lebens verrichten zu können. Aufgrund dieser Vorenthaltung muß der Mensch mit abweichendem Verhalten notgedrungen illegitime Gewohnheitshandlungen entwickeln. Der Einfluß der öffentlichen Reaktion kann sich direkt, wie in den oben genannten Beispielen, oder indirekt, als Folge eines integrierten Charakters der Gesellschaft auswirken.

Gesellschaften sind in dem Sinne integriert, daß gesellschaftliche Übereinkünfte in einem Aktivitätsbereich in besonderer Weise mit Aktivitäten in anderen Bereichen verflochten sind und von der Existenz solcher anderen Handlungsübereinkünfte abhängen. Bestimmte Formen des Arbeitslebens setzen bestimmte Formen des Familienlebens voraus, wie wir noch sehen werden, wenn wir uns mit dem Fall des Schlagermusikers befassen.

Viele Varianten abweichenden Verhaltens bringen Schwierigkeiten mit sich, weil sie mit den Erwartungen in anderen Lebensbereichen nicht im Einklang stehen. Homosexualität ist ein solcher Fall. Homosexuelle haben Schwierigkeiten in jedem Bereich sozialer Aktivität, in dem die Voraussetzung normaler sexueller Neigungen und der Ehewilligkeit nicht in Frage gestellt wird. In straffen Arbeitsorganisationen wie den großen Geschäfts- oder Industrie-Organisationen tritt häufig der Fall ein, daß ein Mann, der erfolgreich sein will, heiraten sollte; wenn er es nicht tut, wird es schwierig für ihn, die für den Erfolg notwendigen Schritte zu unternehmen, und er wird seinem Ehrgeiz zuwiderhandeln. Die Notwendigkeit zu heiraten bereitet häufig schon dem normalen Mann schwierige Probleme; den Homosexuellen versetzt sie in eine fast unmögliche Lage. Ebenso hat der Homosexuelle offensichtlich Schwierigkeiten in männlichen Arbeitsgruppen, wo heterosexuelle Bewährungen nachweisen muß, wer sich die Achtung der Gruppe erhalten will. Unfähigkeit, die Erwartungen anderer zu erfüllen, kann das Individuum dazu bringen, abweichende Wege einzuschlagen, um Ergebnisse zu erzielen, die sich bei normalen Menschen automatisch einstellen.

Doch augenscheinlich treibt nicht jeder Mensch, der bei einer einzigen abweichenden Handlung gefaßt und als abweichend abgestempelt wird, unausweichlich in immer stärker abweichende Verhaltensweisen, wie die obigen Bemerkungen nahelegen könnten. Die Prophezeiung erfüllt sich nicht immer, der Mechanismus funktioniert keineswegs in jedem Fall. Welche Faktoren können das Abgleiten in zunehmend stärkere Verhaltensabweichung verlangsamen oder gar aufhalten? Unter welchen Umständen kommen diese Faktoren ins Spiel?

In einer Untersuchung über jugendliche Delinquenten, die Homosexuelle "ausnehmen", findet sich ein Hinweis, wie der Mensch gegen immer stärkere Verhaltensabweichungen immunisiert werden kann. Die Jugendlichen bieten sich manifest homosexuellen Erwachsenen als Prostituierte an. Sie halten aber aufgrund verschiedener Umstände nicht an dieser Art sexueller Verhaltensabweichung fest. Als erstes sind sie vor dem Zugriff der Polizei durch den Umstand geschützt, daß sie minderjährig sind. Bei einer homosexuellen Handlung ertappt, werden sie als ausgebeutete Kinder behandelt, obwohl sie selbst die eigentlichen Ausbeuter sind; das Gesetz erklärt den Erwachsenen für schuldig. Zweitens betrachten sie die homosexuellen Handlungen, die sie begehen, lediglich als Mittel zum Geldverdienen, das sicherer ist und schneller zum Ziel führt als Raub oder ähnliche Handlungen. Drittens erlauben die Verhaltensstandards der aus Gleichaltrigen bestehenden Gruppe nur die Aktivität der homosexuellen Prostitution, verbieten aber die Gewinnung von Vergnügen aus dieser Aktivität oder die Duldung von Zärtlichkeiten seitens der Erwachsenen, zu denen sie Beziehungen aufnehmen. Verstöße gegen diese Regeln oder andere Abweichungen von der normalen heterosexuellen Aktivität werden von den anderen Gruppenmitgliedern hart bestraft.

Festnahme braucht nicht zu verstärkter Verhaltensabweichung zu führen, wenn die Situation, in der es zum erstenmal dazu kommt, noch die Wahl zwischen verschiedenen gegenläufigen Verhaltensweisen zuläßt. Zum erstenmal mit den möglicherweise äußersten und drastischen Konsequenzen seines Handelns konfrontiert, kann der Mensch noch entscheiden, daß er den abweichenden Weg nicht zu gehen wünscht, und kann noch umkehren. Wenn er die richtige Wahl trifft, wird er wieder in die konventionelle Gemeinschaft aufgenommen; wenn er jedoch den falschen Schritt tut, wird er abgewiesen, und es beginnt für ihn der Kreislauf wachsender Verhaltensabweichung.

Ray hat am Fall von Rauschgiftsüchtigen gezeigt, wie schwierig es sein kann, sich aus dem abweichenden Kreislauf zu befreien. Er legt dar, daß Rauschgiftsüchtige häufig versuchen, sich selbst von ihrer Sucht zu heilen, und daß ihren Versuchen als Motivation das Bemühen zugrunde liegt, Nichtsüchtigen, deren Meinung sie respektieren, zu zeigen, daß sie nicht so schlecht sind, wie von ihnen angenommen wird. Wenn sie ihre Sucht erfolgreich durchbrochen haben, entdecken sie zu ihrer Enttäuschung, daß die Leute sie weiter behandeln, als wären sie Süchtige (offensichtlich nach der Prämisse "Einmal ein Junkie [Rauschgiftsüchtiger], immer ein Junkie").

Ein letzter Schritt in der Laufbahn des Verhaltensabweichenden ist der Eintritt in eine organisierte Gruppe von Abweichenden. Wenn ein Mensch diesen endgültigen Schritt in den Kreis einer organisierten Gruppe unternimmt – oder wenn er die Tatsache, daß er ihn bereits getan hat, erkennt und akzeptiert –, so ist das von mächtiger Auswirkung auf seine Selbstauffassung. Eine Rauschgiftsüchtige erklärte mir einmal, sie habe in dem Augenblick das Gefühl gehabt, sie sei wirklich "hooked" [amerik. Slang: "rauschgiftsüchtig"], als ihr klargeworden sei, daß sie keine Freunde mehr habe, die nicht rauschgiftsüchtig seien.

Mitglieder von organisierten Gruppen Verhaltensabweichender haben natürlich eines gemeinsam: ihre Verhaltensabweichung. Dies gibt ihnen das Gefühl, ein gemeinsames Schicksal zu teilen, im gleichen Boot zu sitzen. Aus dem Gefühl des gemeinsamen Schicksals, des Zwanges, sich mit den gleichen Problemen auseinanderzusetzen, erwächst die abweichende Subkultur: ein Katalog von Einstellungen und Verständigungen über die Auffassung von und den Umgang mit der Welt und ein Katalog von Gewohnheitshandlungen, die auf diesen Einstellungen beruhen. Mitgliedschaft in solch einer Gruppe verfestigt eine abweichende Identität.

Der Eintritt in eine organisierte Gruppe von Abweichenden hat verschiedene Folgen für den betreffenden Menschen. Abweichende Gruppen lassen sich vor allem eher als abweichende Individuen zur Rationalisierung ihrer Lage bewegen. Im Extremfall entwickeln sie eine sehr komplizierte historische, rechtliche und psychologische Rechtfertigung für ihre abweichende Aktivität. Die homosexuelle Gemeinschaft ist dafür ein gutes Beispiel. Zeitschriften und Bücher von Homosexuellen und für Homosexuelle enthalten historische Artikel über berühmte Homosexuelle der Geschichte. Sie enthalten Artikel über Biologie und Physiologie der Sexualität, die zeigen sollen, daß Homosexualität eine "normale" sexuelle Reaktion ist. Sie enthalten juristische Artikel, die nach bürgerlichen Freiheitsrechten für Homosexuelle rufen. Insgesamt verschafft dieses Material dem aktiven Homosexuellen eine Lebensphilosophie, die ihm erklärt, warum er so ist, wie er ist, und ihm erklärt, daß andere auch so gewesen sind und warum es ganz in Ordnung für ihn ist, so zu sein.

Die meisten abweichenden Gruppen verfügen über eine Rationalisierung (oder "Ideologie"), die sie selbst rechtfertigen soll, wenn sie auch selten so gut ausgearbeitet ist wie die der Homosexuellen. Solche Rationalisierungen haben außer der bereits erwähnten Aufgabe, die konventionellen Einstellungen zu neutralisieren, die Menschen mit abweichendem Verhalten gegenüber diesem Verhalten noch in sich verspüren, eine weitere Funktion. Sie liefern dem Individuum vernünftig erscheinende Gründe, die einmal eingeschlagene Handlungsbahn weiter zu verfolgen. Ein Mensch, der seine eigenen Zweifel durch die Annahme einer Rationalisierung zum Schweigen bringt, gelangt zu einer Art von Verhaltensabweichung, die grundsätzlicher und konsistenter ist, als es vor Annahme der Rationalisierung möglich war.

Als zweites lernt jemand, der in eine abweichende Gruppe eintritt, wie er seine abweichende Aktivität mit einem Minimum an Ärger ausüben kann. Alle Probleme, die er zu lösen hat, wenn er der Durchsetzung der von ihm verletzten Regel entgehen will, haben andere vor ihm gehabt. Es sind bereits Problemlösungen ausgearbeitet worden. So trifft der junge Dieb auf ältere Diebe, die erfahrener sind als er und ihm erklären können, wie man eine gestohlene Ware los wird, ohne Gefahr zu laufen, festgenommen zu werden. Jede abweichende Gruppe hat eine große Menge Wissen über solche Themen gesammelt, und der Neuling lernt es schnell.

So wird der Abweichende, der in eine organisierte und institutionalisierte Gruppe von Abweichenden eintritt, mit größerer Wahrscheinlichkeit als zuvor auf dem einmal eingeschlagenen Weg weitergehen. Auf der einen Seite hat er gelernt, Ärger zu vermeiden, auf der anderen Seite besitzt er eine Rationalisierung, die ihn weitermachen läßt.

Ein weiteres Faktum ist erwähnenswert. Die Rationalisierungen abweichender Gruppen enthalten häufig eine allgemeine Ablehnung der konventionellen Moralgesetze, der konventionellen Institutionen und der gesamten konventionellen Welt. Wir werden später eine abweichende Subkultur untersuchen, wenn wir den Fall des Schlagermusikers erläutern.

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