Auszüge aus Nicholas Goodrick-Clarke's
"Die okkulten Wurzeln des Nazionalsozialismus"

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Vorwort von H. T. Hakl

Das vorliegende Buch ist ein besonderes. Ohne Ausnahme wird anerkannt, daß es sich dabei um eine echte Pionierleistung handelt. Niemand hat vor Dr. Goodrick-Clarke die Ariosophie in dieser Breite und Genauigkeit bearbeitet. Sicherlich gab es wertvolle Vorarbeiten, wie diejenigen von Wilfried Daim und Ekkehard Hieronimus sowie – für Dr. Goodrick-Clarke besonders wichtig – von James Webb, aber sie waren Teilaspekten gewidmet. Die Pionierleistung ist also unbestreitbar. Gleichzeitig aber – und das ist das Besondere – wird dieses Buch von Rezensenten, Historikern und selbst von Fachleuten der modernen Esoterik wie Prof. Massimo Introvigne immer wieder als das definitive, also endgültige Buch zum Thema bezeichnet. Das soll nicht heißen, daß man im Laufe der Zeit nicht weitere Details finden wird, die manches näher beleuchten können. Auch Korrekturen werden vielleicht angebracht werden müssen. Aber das ist unwichtig. Der Rahmen scheint gesteckt und wird auch kaum verrückbar sein. Dieser Satz erscheint bei einem historischen Buch äußerst ketzerisch, ist die Falsifikation doch ein Kennzeichen wissenschaftlichen Fortschritts.

Doch beim vorliegenden Buch darf man diese Aussage wagen. Weshalb? Dr. Goodrick-Clarke hat sich bis auf einige allgemeine zeitgeschichtliche Umstände jeglicher Bewertung enthalten und kann faktisch jeden Satz mit Primärquellen belegen. Dazu hat er deren bei weitem überwiegenden Teil tatsächlich in Händen gehabt und studiert, was bei Schriften, die so überhaupt nicht unseren gängigen Nützlichkeits- und Interessen-vorstellungen entgegenkommen, beileibe keine Selbstverständlichkeit ist. Viel mehr Primärquellen dürften auch nicht mehr entdeckt werden. (Die Bibliographie im Anhang, die zu den Glanzstücken des Werkes gehört, ist somit nur in Einzelbereichen ergänzungsfähig.) Und selbst wenn dies geschehen sollte, ist es äußerst unwahrscheinlich, daß solche neuen Dokumente das von Dr. Goodrick-Clarke erstellte Urteil über die Bedeutung der Ariosophie für die Entwicklung nationalsozialistischer politischer Phantastereien völlig umstoßen könnten. Mag es dabei auch keinen direkten kausalen Konnex von der Ariosophie zur realen Organisation des Dritten Reiches geben, so hat sie doch einen wichtigen mythenbildenden und wahrscheinlich bis jetzt unterschätzten Anteil an den damaligen politischen Phantasien, die sich unmittelbar in einem Wahn des Auserwähltseins sowie des Für-Wahr-Haltens von Verschwörungsvorstellungen und damit auch in daraus folgenden politischen Aktionen niederschlugen.

Ein weiterer entscheidender Punkt: Durch seine Studien an den Universitäten von Bristol und Oxford in deutscher Sprache, Literatur, (Kultur-)Geschichte und Wirtschaft besitzt Dr. Goodrick-Clarke gleichzeitig die erforderlichen Grundlagen, um das Thema ebenso ideenmäßig richtig einzuordnen. Nicht ohne Grund ist er als anerkannter Historiker für deutsche Geschichte neben Leuten wie William L. Shirer, Lord Bullock oder Willy Brandt in Testimony of the Twentieth Century befragt worden. Dazu gesellte sich bei ihm in geradezu idealer Weise eine intensive Beschäftigung mit der Geschichte der Esoterik, die in einem Buch über Paracelsus und der Herausgeberschaft einer Bücherreihe (über berühmte "okkulte" Gestalten wie John Dee, Jakob Böhme usw.) für das renommierte Verlagshaus Harper Collins sowie in etlichen Fachartikeln konkrete Gestalt annahm. Dieses Wissen erlaubte Dr. Goodrick-Clarke, auch die das Rationale übersteigende Seite besser zu verstehen und in das Gesamtbild einzubauen. Sieben Jahre Vorbereitung und Aufstöbern von Quellen hat dieses Werk aber dennoch gekostet.

Damit ergibt sich das eigenartige Faktum, daß es dem Schreiber dieser Zeilen nicht gelungen ist, auch nur eine einzige negative Rezension zu Gesicht zu bekommen. Und Rezensionen gab es viele, ist dieses Buch doch ins Französische, Italienische und Russische übersetzt worden (jetzt scheint das Tschechische an die Reihe zu kommen). Zeitungen und Zeitschriften aller Arten, von den esoterischen, politischen (auch solche, die einen deutlich rechten Kurs steuern) bis hin zu den historischen und religionswissenschaftlichen, waren sich in ihrem grundsätzlich positiven Urteil einig. Dazu kamen noch Besprechungen in so prestige- und einflußreichen Blättern wie The New York Review of Books, The London Review of Books und The Times Literary Supplement. Daß sich auf diesem Gebiet niemand für eine Kritik sicher genug gefühlt hätte, ist keine ausreichende Erklärung für diese seltene Einstimmigkeit. Ich würde eher meinen, daß man sich bei der Lektüre des Werkes erstens mehr und mehr vom ernsten Quellenstudium des Autors überzeugen läßt und daß man, zweitens, von der daraus resultierenden Ausgewogenheit der Argumentation wohltuend berührt ist.
Aus all diesen Gründen hat es bis heute auch keinen einzigen weiteren akademischen Versuch gegeben, die Ariosophie neuerlich in einem breiteren Rahmen zu erforschen, obwohl die Wichtigkeit des vorliegenden Buches seit Anfang der neunziger Jahre immer deutlicher wird. Das läßt sich daran erkennen, daß es seit damals mit ständig zunehmender Häufigkeit in der Literatur zum Nationalsozialismus zitiert wird. Darin wiederum spiegelt sich das stärker werdende Bewußtsein für die Rolle des Mythos, des Symbols, ja sogar esoterischer Anschauungen in Geschichte und Politik und ganz besonders im Nationalsozialismus. Dies schlägt sich selbst in den Verkaufszahlen des Buches nieder, die jetzt – vor allem in den Vereinigten Staaten – höher sind als zur Zeit des Ersterscheinens.

Weshalb aber ist dieses so anerkannte Buch, das bereits 1985 in englischer Sprache erschienen ist, erst jetzt ins Deutsche übertragen worden? Die Antwort auf diese Frage habe ich eigentlich schon gegeben, als ich von seinem zunehmenden Erfolg seit Beginn der Neunzigerjahre sprach. Es hat vorher einfach nicht mit dem herrschenden Zeitgeist – ganz besonders im deutschen Sprachraum – übereingestimmt. Bei all den hier gegebenen Schwierigkeiten mit der Aufarbeitung des Nationalsozialismus schien eine Beschäftigung mit den okkulten Gedankengängen der Ariosophie entweder nebensächlich oder gar abstrus. Die Suche nach materiellen, soziologischen, politologischen und historisch bedingten Zusammenhängen stand einfach zu sehr im Vordergrund, als daß sich ein seriöser wissenschaftlicher Verlag zur Herausgabe bereit gefunden hätte. Und für rein geschäftlich orientierte Verlage war das Buch zu wenig reißerisch. Erst das weltweite Vordringen der vielbeschworenen Esoterikwelle hat ein Bewußtsein dafür gebildet, daß auch solche Ideen Einfluß auf die Geschichte nehmen können.

Dennoch scheint es klar zu sein, daß die Ariosophie erst durch ihre vermutete Verbindung mit dem Phänomen des Nationalsozialismus echtes Interesse und ernsten Forschungsdrang erweckt hat. Ansonsten wäre sie wahrscheinlich schon längst dem huldvollen Vergessen der Geschichte anheimgefallen. Denn so etwas Besonderes und Eigenständiges war sie – abgesehen vom sonst in okkulten Kreisen nicht so üblichen starken Antisemitismus – aus damaliger Sicht her eben nicht. Wie der schon erwähnte Massimo Introvigne in seiner Vorrede zur italienischen Ausgabe dieses Buches anmerkt, waren auch Engländer, Iren und Schotten sowie Franzosen damals bemüht, ihre Besonderheit mit Hilfe von "okkulten" Wurzeln zu belegen und interessierten sich intensiv für Kelten und Druiden. Auch einzelne Vertreter des italienischen Faschismus versuchten Brücken zum antiken Römischen Reich zu bauen und beschäftigten sich mit den verborgenen Anfängen Roms, mit Vergil und dem antiken Götterhimmel. In mehreren Ländern verbreitet war auch die Faszination für Ägypten und dessen religiös-esoterischer Geisteswelt als allgemeines Erbe Europas. Die Deutschen waren bei ihrer Suche nach den Wurzeln nur insofern unglücklicher, als sie – im Gegensatz zu manchen anderen Ethnien – auf viel weniger echte und unverfälschte Zeugnisse aus ihrer Frühgeschichte zurückgreifen konnten. Damit war man noch viel eher geneigt, zu okkulten und übersinnlichen Wegen der Erkenntnis Zuflucht zu nehmen – Wege, die sich ja nicht allzusehr von dem unterscheiden, was heute Channeling heißt und im englischen magischen Sprachgebrauch skrying genannt wird. Deshalb erscheinen uns auch manche Ergebnisse der Ariosophie so bekannt. Roger Sandell weist in seiner Rezension in der Zeitschrift Magonia z.B. auf den Glauben der Ariosophen hin, daß sich hinter dem Hexenwesen vorchristliche Mysterien verborgen hätten, die von der christlichen Kirche in den Untergrund getrieben worden seien. Ebenso sind damals Pläne erstellt worden, die beweisen sollten, daß alle mittelalterlichen Kirchen auf prähistorischen Kultstätten errichtet worden seien. Auf all das soll und kann hier nicht eingegangen werden. Aber vielleicht erleichtert es das Hintergrundverständnis für viele, heute kaum noch nachvollziehbare Aussagen der Ariosophie.

Doch zurück zur Wichtigkeit des vor uns liegenden Buches. Es bezeugt vor allen Dingen die Bedeutung von Mythos und Symbol im politischen Prozeß. Oder, wie es Anthony Storr in Human Destructiveness ausdrückt:

Wenn noch irgend jemand die Macht in Frage stellt, die der Mythos auf den menschlichen Geist ausübt, sollte er Die okkulten Wurzeln des Nationalsozialismus lesen.

Was man des weiteren von dem Buch erwarten kann, ist, daß es vielen "esoterischen" Legenden, die sich um den Nationalsozialismus gebildet haben, ein Ende bereitet. Der Schreiber dieser Zeilen kann einfach nicht glauben, daß die Vorstellung von einer okkulten Verflechtung zum Verständnis des Nationalsozialismus beiträgt. Doch dazu mehr im Aufsatz am Ende des Buches. Drittens, und nicht zuletzt, ist die Ariosophie ein Teil unseres gewiß nicht immer geliebten ideengeschichtlichen Erbes, das wir anzunehmen haben. Um aber überhaupt etwas annehmen zu können, muß man es gut kennen und sich bewußt damit auseinandersetzen. Dazu ist das Buch von Dr. Goodrick-Clarke gerade wegen seiner Objektivität hervorragend geeignet. Möge es der verdiente Erfolg begleiten!

Zur Einführung

Dies ist eine ungewöhnliche Geschichte. Obwohl in ihr von vergangenen Ereignissen erzählt wird, die mit dem Ursprung und der Ideologie des Nationalsozialismus in Deutschland zusammenhängen, sind nicht die Parteien, die politischen Grundsätze und Organisationen, in denen Menschen rational ihre Interessen ausdrücken, ihr eigentliches Thema, denn diese Geschichte spielt hinter den Kulissen und beschäftigt sich mit den Mythen, Symbolen und Phantastereien, die zur Entstehung eines reaktionären, autoritären, nationalsozialistischen Denkens beigetragen haben. Außerdem spielt sie an einem Nebenschauplatz, da ihre Hauptdarsteller Mystiker, Seher und Sektierer waren, die nicht viel mit den äußerlichen Realitäten der Politik und Regierung zu tun hatten. Solche Menschen besaßen oft die Vorstellungskraft und Fähigkeit, eine Traumwelt zu beschreiben, die den Gefühlen und Handlungen der realitätsnäher eingestellten Männer, die sich in Positionen der Macht und Verantwortung befanden, zugrunde lag. Tatsächlich haben ihre abstrusen Ideen und seltsamen Kulte die politischen Doktrinen und Institutionen des Dritten Reiches vorweggenommen.

Historiker, die ausschließlich in der Bewertung konkreter Ereignisse, Ursachen und rationaler Ziele geschult sind, mag diese "Unterwelt" der Phantasie irreführen. Sie werden argumentieren, daß Politik und geschichtliche Veränderungen nur durch reale, materielle Interessen gestaltet werden. Dennoch können Phantasien einen Status der Kausalität erlangen, wenn sie in Glauben und Werten von sozialen Gruppen verankert werden. Man kann sie als ein wichtiges Symptom für bevorstehende kulturelle Veränderungen und politische Prozesse betrachten. Die speziellen Utopien, die in diesem Buch behandelt werden, entwickelten sich in einer extrem rechten Bewegung, die sich berufen fühlte, eine Elite von Übermenschen zu schaffen, mindere Geschöpfe zu vernichten und eine neue Weltordnung zu errichten. Das Wesen dieser Bewegung unterscheidet sich vom Hauptstrom der rationalen Politik des 20. Jahrhunderts und verlangt Antworten auf tiefere Fragen. Eine Analyse der Vorstellungen, die einer solchen Bewegung zugrunde liegen, kann uns daher neue Antworten auf alte Fragen geben.

Die folgende Studie spürt diesen Phantasien nach, indem sie die Lebensläufe, Lehren und kultischen Aktivitäten der Ariosophen, nämlich von Guido von List (1848-1919) und von Jörg Lanz von Liebenfels (1874-1954) sowie ihrer Anhänger in Österreich und Deutschland, vorstellt. Die Ariosophen der ersten Stunde waren schon vor dem Ersten Weltkrieg in Wien aktiv. Sie verbanden ihren völkischen Nationalismus und Rassismus mit okkulten Begriffen, die sie der Theosophie einer Helena Petrowna Blavatsky entlehnten, um die bevorstehende Ära der deutschen Weltherrschaft zu verkünden und auf sie Anspruch zu erheben. Ihre Schriften beschrieben ein vorgeschichtliches, Goldenes Zeitalter, in dem weise, gnostische Priesterschaften okkult-rassistische Lehren verkündeten und über eine überlegene, rassisch reine Gesellschaft herrschten. Sie behaupteten, daß eine üble Verschwörung antideutscher Interessen (oftmals dargestellt als die nichtarischen Rassen, die Juden oder sogar die frühe Kirche) es sich zum Ziel gemacht hatte, diese ideale Welt der Germanen zu vernichten, indem sie ihnen Nicht-Germanen im Namen eines Pseudo-Egalitarismus gleichstellten. Die daraus resultierende Rassenmischung war ihrer Meinung nach der Beginn unserer Geschichte mit ihren Kriegen, wirtschaftlichen Nöten, politischen Unsicherheiten und der Vereitelung einer deutschen Weltmacht. Um diesem Übel der heutigen Welt entgegenzuwirken, gründeten die Ariosophen geheime religiöse Orden, die sich der Wiedergeburt des verlorenen esoterischen Wissens, der Renaissance der rassischen Tugenden der alten Germanen sowie der entsprechenden Schaffung eines neuen alldeutschen Reiches widmeten.

Die Ariosophen waren Kulturpessimisten. Zwischen ihren Vorstellungen und den Ängsten der Deutschnationalen der Donaumonarchie des ausklingenden 19. Jahrhunderts besteht ein offensichtlicher Zusammenhang. Faktoren wie die Dominanz des Katholizismus, rapide urbane wie industrielle, die Gesellschaft betreffende Veränderungen sowie der Konflikt zwischen Slawen und Deutschen in einem Vielvölkerstaat waren für den Aufstieg der alldeutschen Bewegung eines Georg Ritter von Schönerer maßgebend. Auch der damals moderne Darwinismus mit seiner Rassenlehre spielte in diesem Denken eine entscheidende Rolle. Die Bedeutung, die dem Okkultismus in den Lehren der Ariosophen zukommt, ist prinzipiell als die geheiligte Form einer Legitimation ihrer grundlegenden Ablehnung der Moderne und ihrer extremen politischen Haltung erklärbar. Die Gedanken der Ariosophen beschäftigen sich mit Elitismus und Reinheit, Sendungsbewußtsein im Angesicht der Verschwörung, mit der Vision eines tausendjährigen Zukunftglückes der deutschen Nation.

Diese Einleitung soll die allgemeine Szenerie als Voraussetzung für eine detaillierte Betrachtung der Ariosophie beschreiben. Den Hintergrund ihrer Entstehung bildeten gewisse Ideen des 19. Jahrhunderts, die Ideen von Nationalismus, Antiliberalismus, Kulturpessimismus und Rassismus. Unseren Ausgangspunkt kann die völkische Bewegung darstellen, welche diese Konzepte in einem einheitlichen ideologischen System zusammenfaßte. In seiner Studie über die völkische Ideologie erläutert George L. Mosse den geistigen Begriffsinhalt des Wortes "Volk". Während des 19. Jahrhunderts bezeichnete dieser Begriff sehr viel mehr als das einfache Vokabel "Volk" für die Deutschen von heute. Er bedeutete vielmehr das nationale Kollektiv, die Gesamtheit des Volkes, beseelt von gemeinsamen kreativen Energien, Gefühlen und Individualitätssinn. Diese metaphysischen Qualitäten stellten für die Völkischen das einzigartige Wesen des deutschen Volkes dar. Die ideologische Inanspruchnahme des Wortes "Volk" entwickelte sich aus zwei Gründen: Erstens resultierte die kulturelle Orientierung aus der verspäteten politischen Einigung Deutschlands; zweitens war sie eine Folge der populären romantischen Gegenreaktion auf die Moderne.

Die Uneinigkeit Deutschlands kam deutlich in einem Mosaik kleiner Königreiche, Fürstentümer und Grafschaften zum Ausdruck, die ihre Sonderinteressen verteidigten und zusammen mit den größeren Staaten Preußen und Österreich das Heilige Römische Reich Deutscher Nation bis zu dessen Auflösung im Jahre 1806 bildeten. Nach der Niederlage Napoleons wurde dieses Reich durch den Deutschen Bund, einen losen Zusammenschluß, ersetzt. Er ließ seinen Mitgliedsstaaten die Freiheit, eigene Wege zu gehen. Hatten die Ergebnisse des Wiener Kongresses die deutschen Nationalisten 1815 enttäuscht, so wurden ihre Hoffnungen durch den Ausgang der Revolution von 1848 noch einmal zerstört. Als Ergebnis prägte sich bei den Deutschen auf kultureller Ebene immer mehr das Gefühl der Einheit aus. Diese Entwicklung eines Nationalbewußtseins hatte schon im späten 18. Jahrhundert begonnen, als Dichter und Schriftsteller des "Sturm und Drang" die gemeinsame Identität der Deutschen in Volksliedern, Bräuchen und in der Literatur verherrlichten. Ein idealisiertes Bild des mittelalterlichen Deutschland wurde gezeichnet, um die geistige Einheit zu zeigen, auch wenn es eine reale politische Einheit nie gegeben hatte. Diese Betonung von Vergangenheit und Tradition verlieh der nationalen Bewegung einen stark mythologischen Charakter?

Als Bismarck im Jahre 1871 den preußischen König als deutschen Kaiser eines neuen Zweiten Deutschen Reiches ausrief, schien die nationale Einheit letztendlich doch noch gewonnen. Die so lange gehegten idealistischen Hoffnungen auf Einigkeit nährten aber utopische und messianische Erwartungen, welche durch die prosaischen Realitäten der öffentlichen Verwaltung nicht erfüllt werden konnten. Diesen fast religiösen Gefühlen konnte im Alltag von Politik und Diplomatie nicht Luft gemacht werden. Man hatte weithin das Gefühl, daß die politische Einigung unter preußischer Herrschaft diesen exaltierten Empfindungen und großen Hoffnungen eines nationalen Bewußtseins nicht entsprach. Außerdem war das neue Reich fieberhaft bemüht, Industrie und Städte aufzubauen – ein Vorgang, der rein materialistische Gründe hatte und der das alte, ländliche Deutschland zerstörte, dessen Idylle ein wichtiger Faktor der romantischen Verherrlichung deutscher Identität war. Der pseudomittelalterliche Kaiser Wilhelm II., seine modernen Schlachtschiffe und die zeitgenössische Architektur der Gründerzeit wurden zum Symbol für die Spannung zwischen Alt und Neu im Zweiten Reich. Hinter dem extravaganten kaiserlichen Prunk und den pompösen Straßenfassaden lag die profane Realität einer rapiden industriellen Revolution.

Der Ausschluß Österreichs aus dem neuen, preußisch dominierten Reich enttäuschte Nationalisten in beiden Ländern. Hoffnungen auf ein größeres Deutschland hatten sich schon 1866, als Bismarck nach Österreichs Niederlage Preußens Einfluß verstärkte, indem er Österreich zum Verlassen des Deutschen Bundes zwang, zerschlagen. Die Lage der Deutschnationalen in Österreich-Ungarn war fortan problematisch. 1867 wurde den Ungarn durch die Schaffung der Doppelmonarchie politische Unabhängigkeit gewährt. Das Wachsen der alldeutschen Bewegung im Österreich der folgenden Jahrzehnte spiegelt das Dilemma der österreichischen Deutschen in einem Staat der deutschen und slawischen Nationalisten wider. Das alldeutsche Programm hatte die Abtrennung der deutsch besiedelten Gebiete der Monarchie und deren Angliederung an das neue Zweite Reich zum Inhalt.

Mit der völkischen Ideologie verband sich auch eine generelle Ablehnung der Moderne. Deutschland und auch die Donaumonarchie waren im Vergleich zu anderen westlichen Industrieländern "Spätzünder". Die Modernisierung bedeutete für den einzelnen, der sich noch als Teil einer ländlich-traditionellen Sozialordnung sah, große Anstrengung und Belastung. Viele Menschen verabscheuten die Modernisierung, weil rasch wachsende Städte und aus dem Boden schießende Industrien alte Einrichtungen vernichteten und sie um ihre wirtschaftliche Sicherheit und ihren sozialen Status fürchten mußten. Liberalismus und Rationalismus wurden ebenfalls abgelehnt, da sie altehrwürdige Institutionen entmystifizierten und Autoritäten diskreditierten. Dieses Mißvergnügen der Antimodernisten analysierten drei wichtige Propheten der Deutschnationalen in ihren Schriften: Paul de Lagarde, Julius Langbehn und Moeller van den Bruck.

Rassismus und Elitismus fanden in der völkischen Ideologie auch bald ihren Platz. Die Tatsache rassischer Unterschiede verlieh dem Anspruch auf Rassentrennung und auf Vorrechte den Anschein von Rechtmäßigkeit. Als Anthropologen und Linguisten empirische Richtlinien für die Klassifizierungen der Rassen lieferten, wurde dies zum Hauptgegenstand der völkischen Lobreden auf die deutsche Rasse. Eine Menge moralischer Qualitäten wurde mit den äußerlichen Merkmalen eines Rassetyps in Zusammenhang gebracht: Die Arier (und daher die Deutschen) waren blond, blauäugig, groß und gut gebaut, und ebenso waren sie edel, ehrlich und mutig. Auch die darwinistische Idee wurde aufgegriffen, um zu beweisen, daß die überlegene reine Rasse über die unterlegenen Mischrassen siegen würde. Das Rassendenken förderte das Ansteigen des politischen Antisemitismus, der so eng mit dem Schreckgespenst der Modernisierung verbunden war. Der Ärger der Konservativen über katastrophale Konsequenzen der wirtschaftlichen Veränderung fand in der Verteufelung der Juden ein Ventil, die für den Zusammenbruch traditioneller Werte und Institutionen verantwortlich gemacht wurden. Der Rassismus wies darauf hin, daß die Juden nicht nur eine religiöse Gemeinschaft waren, sondern sich auch biologisch von den anderen Rassen unterschieden.

Die politischen Wurzeln der Ariosophen lagen in der völkischen Ideologie des ausklingenden 19. Jahrhunderts und in der alldeutschen Bewegung Österreichs. Ihre reaktionäre Antwort auf die Probleme der Zeit sowie auf die Modernisierung führte zur Vision eines alldeutschen Reiches, in dem nichtdeutschen Nationalitäten und den unteren Klassen das Recht auf Gleichstellung und Repräsentation versagt blieb. Theorien über die Vortrefflichkeit der arisch-deutschen Rasse, Antiliberalismus und Angst vor sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen sind typisch für die Völkischen, aber die Wiederentdeckung des Okkultismus war ihre ursprüngliche und einzigartige Leistung. Die Ideen und Symbole alter Theokratien und geheimer Gesellschaften sowie die mystische Gnosis der Rosenkreuzer, Kabbalismus und Freimaurerei wurden mit der völkischen Ideologie verwoben, um zu zeigen, daß die moderne Welt auf falschen und sogar bösen Prinzipien aufbaut und um die Werte und Institutionen einer idealen Welt zu beschreiben. Dieses Sich-Verlassen auf pseudoreligiöse Ideen zum Zwecke der Legitimation zeigt uns, wie notwendig absoluter Glaube nach Meinung der Ariosophen für das Funktionieren einer Gesellschaft war. Dies war auch der Grund für ihre tiefe Enttäuschung über die damalige Welt. Als romantische Reaktionäre, die vom Tausendjährigen Reich träumten, standen sie am Rand der realen Politik. Aber ihre Ideen und Symbole sickerten zu einigen antisemitischen und nationalen Gruppen des spätwilhelminischen Deutschland durch, aus denen sich nach dem Ersten Weltkrieg die frühe NS-Partei entwickelte. Diese Studie zeigt, daß die Ariosophie durch persönliche Kontakte ihrer Anhänger und durch ihren literarischen Einfluß überlebte. Die Möglichkeit, daß List und Lanz von Liebenfels schon im Wien der Vorkriegszeit auf Adolf Hitler Einfluß hatten, wird ebenfalls untersucht. Es waren nur kleine Cliquen, die in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts die Ariosophie weitertrugen und in der Hoffnung auf nationale Wiedergeburt ihre mystische Rassenreligion propagierten. Zwei Ariosophen standen in den dreißiger Jahren auf jeden Fall mit dem Reichsführer SS Heinrich Himmler in enger Verbindung; sie leisteten Beiträge zu seinen vorgeschichtlichen Projekten, zur Schaffung der Zeremonien des SS-Ordens und sogar zur Vision von einem Großgermanischen Reiches im 3. Jahrtausend. Es zeigt sich hier, daß die Phantastereien der Ariosophen nicht nur Symptome von Angst und kultureller Nostalgie waren, sondern ein zündender Funke für die ultimative Traumwelt des Dritten Reiches.

Die alldeutsche Vision

Der österreichische Staat, dem List und Lanz entstammten und in dem sie erstmals ihre Ideen formulierten, war das Produkt dreier großer politischer Veränderungen: des Ausschlusses Österreichs aus dem Deutschen Bund, der Trennung der ungarischen von der österreichischen Verwaltung und der Installierung einer konstitutionellen Monarchie in der "österreichischen" westlichen Reichshälfte. Mit dem Beginn der konstitutionellen Monarchie im Jahre 1867 endete der Absolutismus; eine parlamentarische Regierung erfüllte die Ansprüche der klassischen Liberalen, und der Kaiser teilte seine Macht, zumindest teilweise, mit einer aus zwei Kammern bestehenden Legislative. Wahlberechtigt waren freilich nur 6% der Bevölkerung, die nach einem Zensussystem in vier Klassen unterteilt waren. Da der Liberalismus zu freiem Denken und einer kritischen Haltung gegenüber Institutionen ermutigte, stellte er eine Herausforderung für die alte oligarchische Politik dar. Die sinkende Anziehungskraft, die die traditionellen Liberalen und ihr Gedankengut besaßen, kann aus dem Schwinden ihrer parlamentarischen Stärke sowie aus dem Aufstieg radikaler demokratischer und nationaler Parteien ersehen werden. Diese Tendenz wurde 1896 durch die Erweiterung des Stimmrechts maßgeblich verstärkt, was auch das Auftreten des Pangermanismus als extreme parlamentarische Kraft förderte.

Die anderen politischen Veränderungen betrafen die territoriale und ethnische Zusammensetzung. Von Deutschland und Ungarn getrennt, bildete "Cisleithanien", die österreichische Hälfte der Monarchie, ein halbmondförmiges Gebiet, das sich von der dalmatinischen Adriaküste durch die habsburgischen Erblande Kram, Kärnten, Steiermark, Österreich, Böhmen und Mähren bis zu den östlichen Provinzen Galizien und die Bukowina erstreckte. Innerhalb seiner Grenzen beherbergte das geographisch etwas unzusammenhängende Land zehn verschiedene Nationalitäten, welche durch die bevorzugt gesprochene Sprache der jeweiligen Person bestimmt wurden. Der Großteil der Deutschen – 1910 betrug ihre Anzahl etwa 10 Millionen – lebte in den westlichen Provinzen und stellte ungefähr 35% der 28 Millionen Einwohner Cisleithaniens. Zusätzlich zu ihnen lebten 6.400.000 Tschechen (23% der Gesamtbevölkerung), 5.000.000 Polen (18%), 3.500.000 Ruthenen oder Ukrainer (13%), 1.200.000 Slowenen (5%), 780.000 Serbokroaten (3%), 770.000 Italiener (3%) und 275.000 Rumänen (1%) in der österreichischen Reichshälfte. Diese Bevölkerungszahlen und die Vielfalt der Nationalitäten spiegeln die Kompliziertheit der ethnischen Beziehungen am dramatischsten wider. Zudem variierte die relative Größe der Völker von Kronland zu Kronland, so daß sich etwa die Deutschen innerhalb mancher Gebietsgrenzen in der klaren Mehrheit befanden, während sie in einem anderen Kronland nur eine Nationalität unter vielen waren.

Nach dem preußisch-österreichischen Krieg im Jahre 1866 waren die österreichischen Deutschen von den anderen Deutschen getrennt und dazu verurteilt worden, in der Donaumonarchie ein Volk unter vielen zu sein. Vor dem Hintergrund eines Demokratisierungprozesses fürchteten einige Deutschösterreicher um den Primat der deutschen Sprache und Kultur in der Monarchie. Dieser Loyalitätskonflikt zwischen deutscher Nationalität und österreichischer Staatsbürgerschaft, der mancherorts durch Angst vor slawischer und romanischer Überfremdung verschärft wurde, führte zum Entstehen zweier verschiedener, wenn auch verwandter deutschnationaler Strömungen. Da gab es einerseits den völkisch-kulturellen Nationalismus, gespeist von dem zunehmenden nationalen Selbstbewußtsein der Deutschen, vor allem in den großen Ballungsräumen und den Kronländern mit gemischten Nationalitäten, der zur Gründung von Schul- und Schutzvereinen zur Förderung der deutschen Kultur und mehr Identität führte. Das Alldeutschtum hingegen war offensichtlich politischer und mehr damit beschäftigt, politische Inhalte zu ändern als deutsche Interessen zu verteidigen. Es begann als das Glaubensbekenntnis einer kleinen Minderheit Deutscher in Österreich, die sich nach 1866 weigerten, die Trennung von Restdeutschland als endgültig zu akzeptieren und beschlossen, diesen Bruch der deutschen Einheit mit dem einzig möglichen Mittel, das es nach Bismarcks militärischem Sieg über Frankreich im Jahre 1870 gab, zu reparieren: mit dem Anschluß von dem, was sie als Deutsch-Österreich bezeichneten; jenen Provinzen, die früher, zwischen 1815 und 1866, Teil des Deutschen Bundes gewesen waren – auch wenn dieser Anschluß an Bismarcks Reich die Zerstörung der habsburgischen Monarchie bedeutet hätte. Diese Idee, Deutsch-Österreich zu einer Provinz des Deutschen Reiches zu machen, wurde als "kleindeutsche" Lösung – im Gegensatz zur "großdeutschen" unter Wiener Herrschaft – bezeichnet, die aber nach 1866 an Glaubwürdigkeit verloren hatte.

Um 1885 gab es in den Kronländern und in Wien eine beachtliche Anzahl völkischer Vereine. Sie beschäftigten sich mit Diskussionen und dem Gedenken an Persönlichkeiten und Ereignisse in der deutschen Geschichte, Literatur und Mythologie; Gemeinschaftsaktivitäten wie Chorgesang, Gymnastik, Sport und Bergsteigen wurden in völkische Rituale gehüllt. 1886 wurden in Salzburg durch Anton Langgassner diese Vereine im "Germanenbund" zusammengeschlossen. Ihre soziale Grundlage bildeten die ländliche Intelligenz und die Jugend. Die Regierung beobachtete diese nationalen Umtriebe mit Argwohn und löste 1889 den "Germanenbund" sogar auf; er wurde jedoch 1894 als "Bund der Germanen" wiedergegründet.

Im Jahre 1900 gehörten diesem Verband über 160 Vereine an, die über Wien, Niederösterreich, Steiermark, Kärnten, Böhmen und Mähren verteilt waren. In Anbetracht der Tatsache, daß eine fast gleich große Anzahl von Vereinen existierte, die nicht Mitglieder des "Germanenbundes" waren, darf angenommen werden, daß zwischen 100.000 und 150.000 Personen durch die Propaganda all dieser Verbände beeinflußt waren. List verbreitete seine Ideen fast ausschließlich in dieser völkisch-kulturellen Umgebung. Während der siebziger und achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts schrieb er für die Zeitschriften der Bewegung, war Mitglied des Vereins "Deutsche Geschichte", des "Deutschen Turnvereins", des Ruderclubs "Donauhort" in Wien und des Vereins "Deutsches Haus" in Brünn. Außerdem war er in den neunziger Jahren aktiv an den Festivitäten des "Bundes der Germanen" beteiligt. Vor dem Hintergrund der Aktivitäten dieser völkischen Vereine in den letzten Jahrzehnten des Jahrhunderts kann man die Begeisterungs- und Anziehungskraft der nationalistischen Romane und Theaterstücke aus Lists vorokkulter Schaffensphase zwischen 1880 und 1900 verstehen.

Die andere Strömung – die alldeutsche Bewegung – kam in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts als Ausdruck jugendlicher Ideale in den Wiener, Grazer und Prager Burschenschaften zur Ausbildung. Den österreichischen Studentenverbindungen dienten die deutschen Burschenschaften des Vormärz als Vorbild. Sie hatten ihre eigenen Traditionen eines radikalen Nationalismus, romantischer Rituale und Geheimhaltung entwickelt und ließen sich von den Schriften Friedrich Ludwig Jahns (1778-1852), des völkischen Turnvaters und Propheten der deutschen Identität und nationalen Einigkeit, inspirieren. Einige Studentenverbindungen waren über die Lage der Deutschen in Österreich nach 1866 beunruhigt; sie begannen, die Idee der kleindeutschen Lösung zu vertreten, die einen Zusammenschluß der deutschen Gebiete Österreichs mit dem Deutschen Reich vorsah. Sie glorifizierten Bismarck, priesen die preußische Armee und Kaiser Wilhelm I., trugen blaue Kornblumen (angeblich Bismarcks Lieblingsblume) und sangen auf ihren Kneipen und Kommersen "Die Wacht am Rhein". Dieser prussophile Kult führte zu einer Verherrlichung der Gewalt und zur Verachtung humanitärer Ideale und der Gerechtigkeit.

Georg Ritter von Schönerer (1842-1921) schloß sich zuerst dieser Bewegung an, als er 1876 in Wien einem Verband kleindeutscher Verbindungen beitrat. Ohne Schönerers Führung wären die Altdeutschen nur eine ariosophische Strömung aus politisch naiven Studenten, völkischen Kleinbürgern und Gruppen der Arbeiterklasse geblieben. Seine Ideen, sein Temperament und sein Talent als Agitator formten den Charakter und die Geschicke der Altdeutschen in Österreich; es entstand somit eine revolutionäre Bewegung, die populistischen Antikapitalismus, Antiliberalismus und Antisemitismus ebenso umfaßte wie auch den prussophilen deutschen Nationalismus. Nachdem er sich 1873 die Wahl in den Reichsrat gesichert hatte, verfolgte Schönerer, zusammen mit progressiven Linken, dort eine radikal-demokratische Linie. Er verlangte den wirtschaftlichen und politischen Zusammenschluß Deutsch-Österreichs mit dem Deutschen Reich und veröffentlichte ab 1883 die radikal-nationalistische Zeitschrift "Unverfälschte Deutsche Worte". Der wesentliche Kern von Schönerers Alldeutschtum war nicht seine Forderung nach nationaler Einheit, politischer Demokratie und sozialer Reform (womit er teilweise dieselbe Meinung wie die im Reichstag vertretenen anderen nationalen Parteien vertrat), sondern der Rassismus, d.h. die Ansicht, daß das Blut das einzige Kriterium für das Bürgerrecht darstelle.

Mitte der achtziger Jahre hatten die Alldeutschen in Österreich politisch viel an Bedeutung gewonnen, aber nachdem Schönerer 1888 wegen tätlichen Angriffs verurteilt worden war, erlahmte die Bewegung. Da ihm seine politischen Rechte für fünf Jahre entzogen wurden, war er faktisch aus dem politischen Geschehen ausgeschlossen. Erst in den späten neunziger Jahren erlangten die Alldeutschen wieder den Status einer populären Bewegung als Antwort auf die Bedrohung der deutschen Interessen innerhalb der Monarchie. Es war ein Schock für alle, die an die kulturelle Vorherrschaft der Deutschen glaubten, als 1895 am deutschen Gymnasium von Cilli slowenische Klassen zugelassen wurden. Diese kleine Auseinandersetzung nahm unter allen Deutschnationalen eine symbolische Bedeutung an. Im April 1897 erließ der österreichische Ministerpräsident Graf Kasimir Badeni seine Sprachverordnungen, die besagten, daß alle Beamten in ganz Böhmen und Mähren Deutsch und Tschechisch beherrschen müßten. Dies war eine Forderung, die die Deutschen zu diskriminieren schien. Die Folge dieser Verordnungen war eine Woge der nationalen Empörung. Die deutschen Demokraten und die Altdeutschen, die sich nicht in der Lage sahen, diese Gesetze rückgängig zu machen, blockierten das politische Geschehen im Reichsrat; eine Vorgangsweise, die bis ins Jahr 1900 sehr populär blieb. Das Chaos, welches im Reichsrat herrschte, machte sich auch in den Straßen der Hauptstädte breit. Während des Sommers 1897 kam es zwischen Aufständischen und Polizei zu blutigen Auseinandersetzungen, und der drohende Einsatz der Armee schien einen Bürgerkrieg heraufzubeschwören. Hunderte deutsche Vereine wurden als Gefährdung der öffentlichen Ordnung von der Polizei aufgelöst. All dies – der parlamentarische Zusammenbruch, das öffentliche Chaos, der wütende deutsche Chauvinismus und die Zuwächse, die die Alldeutschen bei den Wahlen im Jahre 1901 verzeichnen konnten – bildete den Hintergrund für eine neue Form des deutschen Nationalismus in jenem Jahrzehnt, in dem die Ariosophie zutage trat.

Hauptthema der verschiedenen politischen Proteste war der Versuch vieler Deutsch-Österreicher, gegen die Forderung der Slawen nach politischer und nationaler Eigenständigkeit und Einheit in dem immer anachronistischer werdenden Vielvölkerstaat Österreich anzukämpfen. Nicht alle alldeutschen Wähler stimmten einer von Schönerer vorgeschlagenen politischen Vereinigung der deutschen Gebiete Österreichs mit dem Deutschen Reich zu. Ihre Gründe, diese Partei zu unterstützen, waren oft nicht viel andere als der Wunsch, ihre Interessen innerhalb der Monarchie gewahrt zu wissen. Denn wann immer sie die letzten Jahren Revue passieren ließen, mußten die Deutsch-Österreicher die slawische Gefahr sehen, die die kulturelle und politische Vorherrschaft der Deutschen bedrohte. Da waren die Kontroverse um die Schule in Cilli, die Sprachverordnungen Badenis und die drohende Einführung des allgemeinen Wahlrechts für Männer, das schließlich 1907 in Kraft trat. Viele deutsche Österreicher fühlten sich in ihrer Führungsposition als Inhaber von Vermögenswerten, Steuerzahler und Investoren in der Monarchie bedrängt und sogar beleidigt. Um die Jahrhundertwende war der "deutsche Besitzstand" ein Hauptthema der Diskussionen. Die frühen Schriften und Artikel von Lanz beschäftigten sich vor allem mit den Problemen des allgemeinen Wahlrechts und des deutschen Besitzstandes. Er und List verdammten die parlamentarische Politik und riefen nach Unterwerfung aller Nationalitäten der Monarchie unter die deutschen Maßstäbe. Die Besorgnisse der Ariosophen hingen deutlich mit dem deutsch-slawischen Konflikt im Österreich der Jahrhundertwende zusammen.

Der starke Antikatholizismus der Ariosophen ist ebenfalls auf den Einfluß der alldeutschen Bewegung zurückzuführen. Obwohl Schönerer dem völkischen Heidentum des "Germanenbundes" sehr zugetan war, begann er um 1890 mit der Idee einer konfessionellen Politik zu liebäugeln, die einen Gegenpart zur katholischen Kirche bilden sollte, zumal er diese als artfremd bezeichnete und außerdem eine große Wählerschaft hinter ihr stand. Der Episkopat beriet den Kaiser, und die Sprengelpriester auf dem Land schufen ein dichtes Netz erfolgreicher Propaganda. Außerdem verlor Schönerer in seinen einstigen Hochburgen – dem ländlichen und im vorstädtischen Bereich von Niederösterreich und Wien – Stimmen an die Christlichsoziale Partei. Er rief eine Bewegung ins Leben, die Propaganda machte, zum Protestantismus überzutreten. Sie sollte der deutschen Öffentlichkeit die Verbindung zwischen dem 1897 von Millionen gehaßten und gefürchteten Slawentum mit der katholischen Kirche, dem Haus Habsburg und dem österreichischen Staat vor Augen führen. Die konservativ-klerikale und slawophile Regierung, die es seit 1875 gab, hatte tatsächlich das Aufkommen einer populistisch-antikatholischen Reaktion der Deutschen verständlich, wenn nicht gar unvermeidbar gemacht. Viele Deutsche hatten das Gefühl, daß die katholische Kirche antideutsch eingestellt sei. In Böhmen wurde dieses Gefühl noch verstärkt, als etliche tschechische Geistliche deutschen Pfarrbezirken zugeteilt wurden. Um sich diesen Unmut zunutze zu machen, startete Schönerer 1898 seine "Los-von-Rom"-Bewegung.

Es kam zu einer Verbindung zwischen ihm und protestantischen Missionsgesellschaften in Deutschland. Schönerer verband die alldeutsche Bewegung mit einem neuen Lutherismus, was in Böhmen, der Steiermark, Kärnten und Wien zwischen 1899 und 1910 zum Übertritt von ungefähr 30.000 Katholiken zum Protestanismus führte. Diese Allianz blieb aber eine unsichere, da viele völkische Verbände diese Bewegung grundsätzlich ablehnten und die Alldeutschen darin nur eine Abänderung des alten Klerikalismus sahen. Die Seelsorger hingegen beschwerten sich über die enge Verbindung mit der Politik, die viele religiöse Menschen, welche eine neue Form des christlichen Glaubens suchten, abschreckte, wohingegen die politisch Motivierten nur sehr wenig Interesse an Religion zeigten. Die jährlichen Übertritte begannen sich 1902 zu verringern, und bis 1910 waren sie auf die Zahl vor Beginn der Bewegung abgesunken. Obwohl sie eine Bewegung der ethnischen Randgruppen war, lag ihre soziale Basis vor allem in der Mittelschicht. Der größte Erfolg der "Los-von-Rom"-Bewegung fiel also zeitlich wie geographisch mit der Bedeutung der Alldeutschen Partei zusammen. Weder verstärkte noch schwächte diese Bewegung die Anziehungskraft der Alldeutschen, noch hatte sie auf den Einfluß der katholischen Kirche negative Konsequenzen.

Obwohl die "Los-von-Rom"-Bewegung ein politischer Fehlschlag war, brachte sie dennoch die vorherrschenden Gefühle der österreichischen Deutschen um die Jahrhundertwende ans Licht. Diese Stimmung war ein wesentlicher Bestandteil der Ariosophie. List drängte die katholische Kirche in die Rolle des Antagonisten, als er die Rolle der Armanen in der mythologischen Vergangenheit der Deutschen darstellte. Er brachte die Kirche, den Konservatismus und die Slawenfreundlichkeit der österreichischen Regierung seit 1879 mit dem hassenswerten Widersacher des Deutschtums in Verbindung: der Großen Internationalen Partei. Diese völlig erfundene Organisation wurde für alle politischen Entwicklungen, die den deutschen Interessen zuwiderliefen, verantwortlich gemacht und als katholische Verschwörung entlarvt. Es scheint, als wäre auch Lanz von dieser Welle der Antipathie erfaßt worden. 1899 beendete er seine Laufbahn als Novize des Zisterzienserordens aufgrund seiner tiefen antikatholischen Einstellung. Er trat der alldeutschen Bewegung bei und konvertierte zum Protestantismus. Obwohl sein "Los-von-Rom" nur eine Zwischenstation in der Entwicklung seines Rassenkultes der Ariosophie war, zeigte eben dieser Schritt die Bedeutung der alldeutschen Idee für seine ideologische Entwicklung.

Der Rassismus war für die ariosophische Darstellung der nationalen Konflikte und der deutschen Tugenden von grundlegender Bedeutung. Arthur de Gobineaus Schrift über die Überlegenheit der nordisch-arischen Rasse und die pessimistischen Prognosen von einer Überschwemmung durch nichtarische Völker war ein früher Klassiker. Obwohl sie nicht unmittelbar Reaktionen hervorrief, fanden seine Gedanken Widerhall, und die auf den Kopf gestellten Schlußfolgerungen wurden von zahlreichen Propagandisten der Jahrhundertwende als Beweis für die Überlegenheit der Germanen angeführt. Da die Sozialdarwinisten von der Notwendigkeit eines Existenzkampfes überzeugt waren, meinte man den Ariern (oder vielmehr den Deutschen) das Schicksal des Untergangs ersparen zu können, wenn man nur die Rasse reinhielt. Dieser schrille Aufruf zum rohen Rassenkampf und zur eugenischen Reform fand im Deutschland der Jahrhundertwende breite Akzeptanz: Die Hauptwerke der Sozialdarwinisten Ernst Krause, Otto Ammon, Ludwig Wilser und Ludwig Woltmann erschienen alle zwischen 1880 und 1910.

Ernst Haeckel, ein bedeutender Zoologe, warnte wiederholt vor Rassenvermischung und gründete 1906 den "Monistenbund", um die sozialdarwinistische Rassentheorie unter den Deutschen zu verbreiten. Die wissenschaftlichen Formulierungen des Rassismus im Zusammenhang mit naturwissenschaftlicher Anthropologie und Zoologie bestätigten nur die Vorurteile der völkischen Nationalisten in Deutschland und Österreich. List holte sich standard-rassistische Begriffe und Schlußfolgerungen aus dieser Bewegung. Lanz schrieb für Das freie Wort, eine halboffizielle Zeitschrift des "Monistenbundes", und für Woltmanns Politisch-anthropologische Revue. Die zentrale Bedeutung des "arischen" Rassismus in der Ariosophie, wenn auch mit okkulten Begriffen der Theosophen vermischt, läßt sich auf Besorgnisse um die Rasse im deutschen Sozialdarwinismus zurückführen.

Auch wenn manche Aspekte der Ariosophie mit allgemeinen Problemen der Deutschen in der Vielvölkermonarchie der Jahrhundertwende zusammenhängen, haben doch andere ihren lokalen Ursprung in Wien. Im Unterschied zu den ethnischen Grenzgebieten war die Reichshaupt- und Residenzstadt eine traditionell deutsche Stadt und wirtschaftliches wie kulturelles Zentrum des Habsburgerreiches. Die rapide Urbanisierung der Vorstädte, verbunden mit der Zuwanderung nichtdeutscher Menschen, veränderte das Aussehen und in einigen wichtigen Bezirken auch den ethnischen Aufbau der Stadt. Alte Fotografien legen von dieser rasanten Veränderung des Stadtbildes eindrucksvoll Zeugnis ab. Ab 1859 mußten Basteien und Glacis der neuen Ringstraße mit ihren prächtigen Palais und öffentlichen Bauten weichen. Vergleicht man Ansichten der Stadt vor und nach dieser Entwicklung, kann man den Verlust der intimen ästhetischen Atmosphäre einer Residenzstadt im grünen Umland zugunsten eines monumentalen Metropolitanismus erahnen. Vielleicht war Lists Ablehnung der städtischen Kultur und seine Verherrlichung der mittelalterlich-ländlichen Idylle eine Reaktion auf das "neue" Wien.

Zwischen 1850 und 1900 hatte sich die Einwohnerzahl der Stadt nahezu verdreifacht, was sich in einer akuten Wohnungsnot bemerkbar machte. Um 1900 lebten nicht weniger als 43% der Bevölkerung in zwei oder weniger Zimmern, auch Obdachlosigkeit war weit verbreitet. Parallel zu dieser Überbevölkerung und Slumbildung kam es zu einer Einwanderungswelle galizischer Juden. 1857 lebten nur ca. 6.000 Juden in der Hauptstadt. Bis 1910 war ihre Anzahl auf 175.000 gestiegen, sie stellten somit 8% der gesamten Stadtbevölkerung. In manchen Bezirken betrug ihr Anteil 20%. Die Juden aus dem Osten trugen ihre traditionelle Kleidung und schlugen sich als kleine Kaufleute und Hausierer durch ihr kärgliches Leben. Die völkischen Deutschen mußten diese Entwicklung klarerweise als ernste Bedrohung des ethnischen Charakters der Stadt ansehen. Ein Beispiel für eine solche Reaktion ist Hitlers Beschreibung seiner ersten Begegnung mit Juden in der Innenstadt. In Anbetracht der ariosophischen Vorurteile – die wachsende Zahl nichtdeutscher Nationalitäten in Österreich betreffend – lieferten derartige lokale Veränderungen greifbare Anzeichen des Problems.

Es stellt sich die Frage, ob die ariosophische Einverleibung von okkulten Begriffen der Theosophie auch in Wien ihre Wurzeln hat. Obwohl hier 1886 eine "Theosophische Gesellschaft" gegründet wurde, gibt es vor 1901 keine deutsche Übersetzung des Grundlagenwerkes der Bewegung: Die Geheimlehre. Die Jahre um 1900 wurden Zeugen einer Welle deutscher theosophischer Veröffentlichungen. Aber während man die ariosophischen Texte, die nach 1907 in Umlauf kamen, der zeitgenössischen theosophischen Bewegung Mitteleuropas zuordnen kann, ist es schwierig, ein spezifisch österreichisches Pendant für dieses völkisch-theologische Phänomen zu finden. Mystische und religiöse Spekulationen stießen mit quasiwissenschaftlichen Formen (z.B. Sozialdarwinismus, Monismus) der völkischen Ideologie in Deutschland zusammen. Es ist ferner bezeichnend, daß etliche wichtige ariosophische Schriftsteller und Anhänger der "List-Gesellschaft" außerhalb Österreichs lebten. Man kann somit korrekterweise behaupten: Indem sich der völkische Rassismus, der Antikatholizismus und der Antimodernismus der Ariosophen speziell auf österreichische Gegebenheiten bezogen, stellte deren Beziehung zur Theosophie einen allgemeinen gemeinsamen Nenner dar. In Anbetracht der großen Anzahl völkischer Vereine in Wien ist es nicht verwunderlich, daß eine kleine Clique die Unterlagen einer neuen Doktrin als "brandneuen Beweis" für ihre arisch-deutschen Überlegenheitstheorien ausschlachtete. Die besondere Eignung der Theosophie als Rechtfertigung von Elitismus und Rassismus wird später noch zur Diskussion gestellt werden.

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die Wurzeln der Ariosophie in Wien mit den Problemen der Moderne und des Nationalismus im Habsburgerreich der Jahrhundertwende zusammenhingen. Nach außen hin glänzend und erfolgreich, hatte sich Wien in die Vergangenheit gleichsam "einzementiert". Im einsetzenden Prozeß der Modernisierung verschwand das alte, kosmopolitische, feudale und ländliche Europa, das als Anachronismus im Reich überdauert hatte, sehr rasch. Das Bürger- und Kleinbürgertum fühlte sich durch den Fortschritt, das abnorm schnelle Wachstum der Städte und die wirtschaftliche Konzentration bedroht. Diese Ängste wurden durch erbitterte Auseinandersetzungen zwischen den Nationalitäten der Monarchie verstärkt, die das schwankende Gleichgewicht des multinationalen Staates noch mehr erschütterten. Bedrängnisse dieser Art bildeten den perfekten Nährboden für Ideologien, die von ihren Verfechtem als Allheilmittel für eine bedrohte Welt angepriesen wurden. Daß manche Menschen ihre Sicherheit in Grundsätzen über deutsche Identität und rassische Tugenden suchten, ist nur die Reaktion auf das verwirrende Durcheinander der Nationalitäten im Herzen des Reiches. Hitler beschreibt seine erste Begegnung mit Nichtdeutschen in Wien mit folgenden Worten:
Widerwärtig war mir das Rassenkonglomerat, das die Reichshauptstadt zeigte, widerwärtig dieses ganze Völkergemisch von Tschechen, Polen, Ungarn, Ruthenen, Serben und Kroaten. Mir erschien die Riesenstadt als die Verkörperang der Blutschande.

Es ist tragisch und paradox, daß die bunte Vielfalt der Völker im Habsburgerreich, ein direktes Erbe seiner übernationalen dynastischen Vergangenheit, das Aufkommen rassistischer, völkermordender Ideologien in einem neuen Zeitalter des Nationalismus und sozialen Wandels fördern sollte.

Die Wiederbelebung des deutschen Okkultismus

Die Wurzeln des Okkultismus als religiöser Weg des Denkens reichen bis in die Antike zurück; sie können als westliche Tradition der Esoterik bezeichnet werden. Seine wichtigsten Grundpfeiler sind der Gnostizismus, hermetische Abhandlungen über Alchemie und Magie, Neuplatonismus und die Kabbala, die ihren Ursprung in den östlichen Mittelmeergebieten der nachchristlichen Jahrhunderte haben. Die Gnostik beruft sich auf gewisse häretische Sekten im Frühchristentum, die behaupteten, die "Gnosis" – oder spezielles esoterisches Wissen – über spirituelle Dinge zu besitzen. Obwohl ihre verschiedenen Lehren in vielen Punkten nicht übereinstimmen, gibt es zwei Gemeinsamkeiten: zunächst einen der Wurzel nach orientalischen (persischen) Dualismus der einander bekämpfenden Prinzipien von Gut und Böse, Licht und Finsternis, Ordnung und Chaos. Dazu kam, zweitens, die Überzeugung, daß die materielle Welt gänzlich böse wäre und man nur durch die Gnosis in höhere Sphären gelangen könne. Die gnostischen Sekten verschwanden im 4. Jahrhundert, aber ihre Ideen beeinflußten die Manichäer des 2. Jahrhunderts und auch die "Hermetica". Diese griechischen Texte wurden in Ägypten zwischen dem 3. und 5. Jahrhundert verfaßt und bildeten eine Synthese aus gnostischen Ideen, Neuplatonismus und kabbalistischer Theosophie. In der Zeit der Entstehung dieser mystischen Lehren läßt sich vor dem Hintergrund kulturellen und sozialen Wandels eine Wechselbeziehung zwischen dem Wuchern der Sekten und dem Zusammenbruch der stabilen landwirtschaftlichen Ordnung des spätrömischen Reiches feststellen.

Als im 15. Jahrhundert die alten Denkmuster der mittelalterlichen Welt durch neue Methoden der Forschung und geographische Entdeckungen erschüttert wurden, erlebten Gnostik und Hermetik eine kurze Wiederbelebung. Berühmte Humanisten und gelehrte Magier edierten in der Renaissance alte klassische Texte und schufen so ein modernes Corpus okkulter Spekulationen. Nach dem Triumph des Empirismus und der wissenschaftlichen Revolution im 17. Jahrhundert blieb die Beschäftigung mit derartigem Gedankengut auf eine kleine Gruppe von Mystikern beschränkt. Im 18. Jahrhundert wurden diese unorthodoxen religiösen und philosophischen Angelegenheiten als "okkult" bezeichnet, wenn sie sich am äußersten Rand der akzeptierten Form von Wissenschaft und Forschung befanden. Als Reaktion auf die rationalistische Aufklärung und als Ausdruck eines neuen romantischen Gefühles – verbunden mit Interesse am Mittelalter und einem Sehnen nach Mystik – erlebte der Okkultismus ab 1770 eine Wiedergeburt in Europa.

Deutschland hatte während der Renaissance mehrere gelehrte Magier aufzuweisen und vom 17. bis zum 19. Jahrhundert auch eine Anzahl geheimer Gesellschaften, die sich den Lehren der Rosenkreuzer, der Theosophie und der Alchemie widmeten. Dennoch kam der Anstoß zur neoromantischen okkulten Erneuerung im 19. Jahrhundert nicht aus Deutschland. Sie war vielmehr der Gegenreaktion auf den Materialismus, Rationalismus und Positivismus im utilitaristischen und industriell orientierten Amerika und England zuzuschreiben. Die Wiedergeburt des deutschen Okkultismus in den 1880er Jahren wurzelt in der Popularität der Theosophie in den angelsächsischen Ländern, wo sich die Theosophie auf jene internationale Sektenbewegung zurückführen läßt, die sich auf die Aktivitäten und Schriften der russischen Okkultistin und Abenteurerin Helena Petrowna Blavatsky (1831-1891) stützt. Ihr bewegtes Leben, ihre Reisen, ihre hellseherischen Fähigkeiten und ihre Vorliebe für übernatürliche Phänomene sowie ihr Interesse am amerikanischen Spiritualismus der 1870er Jahre, das 1875 zur Gründung der "Theosophischen Gesellschaft" in New York führte, wurden in zahlreichen Biographien dokumentiert. Bevor wir uns der Ausbreitung der Theosophie in Europa zuwenden, wollen wir deren Grundlagen zusammenfassen.

Madame Blavatskys erstes Werk, Die entschleierte Isis (1877), war weniger ein Überblick über ihre neue Religion als vielmehr eine Tirade gegen die rationalistische und materialistische Kultur der modernen westlichen Zivilisation. Die Heranziehung traditioneller esoterischer Quellen zur Diskreditierung der herrschenden Weltanschauung zeigt ganz klar, wie sehr sie sich in ihrer Ablehnung des zeitgenössischen Agnostizismus und der modernen Wissenschaften nach den alten religiösen Wahrheiten sehnte. Im Zuge dieser Arbeit bediente sie sich als Sekundärquellen auch der heidnischen Mythologie und der Mysterienkulte, des Gnostizismus, der "Hermetica", der Arkantradition der Renaissance, der Rosenkreuzer und anderer geheimer Bruderschaften. W. E. Coleman zeigte auf, daß ihr Werk sehr häufig Plagiate von rund hundert zeitgenössischen Texten enthält, die sich hauptsächlich mit alten und exotischen Religionen, Dämonologie, Freimaurerei und Spiritualismus beschäftigen. Hinter diesen Traditionen nahm Madame Blavatsky eine einzige Quelle ihrer Inspiration an: das okkulte Wissen der alten Ägypter. Die Faszination, die das antike Ägypten auf sie ausübte, welches sie als Born aller Weisheit betrachtete, rührte von der enthusiastischen Begeisterung her, die sie den Werken des englischen Autors Sir Edward Bulwer-Lytton entgegenbrachte. Sein Roman Die letzten Tage von Pompeji (1834) verstand sich als Bericht über den starken Einfluß, den der Isiskult im Rom des ersten nachchristlichen Jahrhunderts ausübte. Seine späteren Werke Zanoni (1842), A strange story (1862) und The coming race (1871) handeln ebenso von esoterischen Einweihungen und geheimen Bruderschaften. Diese Hinwendung zu okkultem Wissen übte auf die romantischen Gemüter des 19. Jahrhunderts eine außergewöhnliche Anziehungskraft aus. Es ist eine Ironie der Tatsachen, daß die frühe Theosophie hauptsächlich auf den okkulten Fiktionen eines Engländers aufbaute, wie aus Liljegrens vergleichenden Textstudien eindeutig hervorgeht.

Erst als Madame Blavatsky und ihre Anhänger 1879 nach Indien kamen, erhielt die Theosophie eine systematische Fassung. Im neuen "Hauptquartier" der "Theosophischen Gesellschaft" in Madras verfaßte sie 1888 Die Geheimlehre. Auch in diesem Werk machte sie sich des Plagiatentums schuldig, wenn sie sich auch anderer Quellen bediente, nämlich zeitgenössischer Werke des Hinduismus und der modernen Wissenschaft. Ihr neues Buch präsentierte sich als ein Kommentar zu einem geheimen Text namens Buch Dzyan, das sie in einem Kloster im Himalaja gefunden zu haben vorgab. Ihrem neuen Interesse an indischen Überlieferungen schien ihre Sensibilität für Veränderungen in der Gelehrtenwelt zugrunde zu liegen: Ein Beispiel dafür ist die neue Bedeutung des Sanskrit als Basis für die Studien eines Franz Bopp und Max Müller über die sogenannten arischen Sprachen. Nun schien der Osten, nicht mehr das alte Ägypten Born aller Weisheit zu sein. Spätere theosophische Grundsätze weisen daher markante Ähnlichkeiten mit den religiösen Lehren des Hinduismus auf.

Die Geheimlehre gibt vor, die Aktivitäten Gottes vom Beginn der Schöpfung bis zu deren Ende zu beschreiben; ein zyklischer Vorgang, der sich in alle Ewigkeit immer und immer wiederholt. Der Text berichtet über die Schaffung unseres Universums; wie es sich manifestiert hatte, welche Kräfte es geformt hatten, wohin es sich entwickelt und was die Bedeutung all dessen sei. Der erste Band (Kosmogenesis) beschreibt das Schema, nach welchem sich die ursprüngliche Einheit einer nicht manifestierten Gottheit in die Vielfalt von sich bewußtseinsmäßig entwickelnden Wesen, die nach und nach das Universum füllen, aufspaltete. Dieses göttliche Wesen manifestierte sich anfangs durch eine Emanation und drei aufeinanderfolgende Logoi: Diese kosmischen Phasen schufen Zeit, Raum und Materie, und sie wurden durch eine Reihe heiliger Hinduzeichen
symbolisiert. Alle folgenden Schöpfungen erfolgten nach dem göttlichen Plan und durchliefen die sieben "Kreisläufe" oder evolutionären Zyklen. Im ersten Kreislauf war das Universum durch die Vorherrschaft des Feuers gekennzeichnet, im zweiten durch die der Luft, im dritten durch die des Wassers, im vierten durch die der Erde und dann durch die des Äthers. Diese Folge spiegelt den zyklischen Fall des Universums von der göttlichen Gnade über die ersten vier Kreisläufe und seiner folgenden Wiederherstellung über die nächsten drei, bevor es sich wieder zur ursprünglichen Einheit formt, die der Beginn eines neuen großen Kreislaufes ist. Madame Blavatsky illustrierte diese Stufen des kosmischen Zyklus durch eine Vielzahl esoterischer Symbole, wie Dreiecke, Triskelis und Swastiken. Dieses östliche Zeichen für Glück und Fruchtbarkeit war für sie von solch einer Bedeutung, daß es auch im Siegel der "Theosophischen Gesellschaft" wiederverwendet wurde. Der Leiter dieses gesamten kosmischen Unternehmens wurde Fohat, "der universelle Vermittler, eingesetzt von den Söhnen Gottes, um unsere Welt zu schaffen und zu erhalten", genannt. Die Manifestationen dieser Kraft waren nach Blavatsky Elektrizität und Sonnenenergie sowie die "objektivierten Gedanken der Götter". Diese elektro-spirituelle Kraft befand sich im Einklang mit den zeitgenössischen vitalistischen und wissenschaftlichen Vorstellungen.

Der zweite Band (Anthropogenesis) unternimmt den Versuch, die Menschen mit dieser grandiosen Vision des Kosmos in Verbindung zu bringen. Nicht nur, daß die Menschheit viel älter sei, als die Wissenschaft dies annahm, nein – sie war auch Teil dieser kosmischen, physikalischen und geistigen Evolution. Blavatskys Theorien wurzelten somit teilweise in den Erkenntnissen der Paläontologen des späten 19. Jahrhunderts, insoweit sie die rassischen Theorien der Menschheitsentwicklung aufgriff. Sie fügte ihrer zyklischen Lehre hinzu, daß jeder Kreislauf Zeuge vom Aufstieg und Verfall einer der sieben Wurzelrassen wurde, die auf der Skala der geistigen Entwicklung von der ersten zur vierten hinunterstiegen, sich immer mehr in der materiellen Welt manifestierten (der gnostische Gedanke des Falles vom Licht in die Dunkelheit ist klar ersichtlich), bevor er wieder durch jeweils höherwertige Wurzelrassen von der 5. hin zur 7. emporstieg. Blavatsky ordnete unsere Menschheit der fünften Wurzelrasse zu, auf einem Planeten, der den vierten kosmischen Zyklus durchlief und dem der Prozeß des geistigen Fortschritts noch bevorstand. Die fünfte Wurzelrasse war die arische Rasse, die vorhergehende vierte waren die Atlantier, die größtenteils in einer Flut umgekommen waren, welche Atlantis zerstört hatte. Die Atlantier besaßen psychische Kräfte, die unserer Rasse unbekannt sind und die es ihnen ermöglichten, gigantische Bauwerke zu errichten. Sie verfügten über eine hochentwickelte Technik, die auf der erfolgreichen Nutzung von Fohats Energie basierte. Die drei früheren Wurzelrassen der jetzigen Planetenrunde waren vormenschlich. Die erste war die astrale Wurzelrasse, welche in einem unsichtbaren, unzerstörbaren, heiligen Land lebte, die zweite die hyperboräische Rasse, die auf einem später versunkenen polaren Kontinent wohnte. Die dritte, die lemurische Wurzelrasse, lebte auf einem Kontinent im Indischen Ozean. Es ist möglich, daß es deren Position am oder nahe des spirituellen Tiefpunkts des rassischen Entwicklungszyklus war, daß Blavatsky die Lemurier der Rassenmischung und dem daraus resultierenden Fall sowie des Zeugens einer Nachkommenschaft von Monstern beschuldigte.

Eine weitere wichtige theosophische Lehre, die dem Hinduismus entlehnt ist, war der Glaube an Reinkarnation und Karma. Das menschliche Individuum wird als ein kleiner Teil des göttlichen Wesens angesehen. Jedes Ego durchläuft auf dem Wege der Wiedergeburt eine kosmische Reise durch die Zyklen und Wurzelrassen – eine Reise, an deren Ende eine mögliche Wiedervereinigung mit dem göttlichen Wesen steht. Dieser Weg der unzähligen Wiedergeburten beschreibt eine Geschichte der zyklischen Wiederherstellung. Die anfängliche Erniedrigung des Ich wird von einer graduellen Vergeistigung gefolgt, die zur Vereinigung mit Gott führt. Der Prozeß der Wiedergeburt erfolgt nach dem Prinzip des Karmas, wobei gute Taten dem Menschen eine höherwertige Reinkarnation bescheren und schlechte eine niedrigere Stufe der Wiedergeburt nach sich ziehen. Dieser Glaube sicherte nicht nur allen das Teilhaben an einer phantastischen Welt der fernen Urgeschichte im Plan der Wurzelrassen, sondern ermöglichte einem, auch das Heil durch Reinkarnation in der letzten Wurzelrasse, die die oberste Stufe in der geistigen Entwicklung darstellt, zu erlangen:

Wir Menschen sollen in Zukunft unseren Platz als Herren der Planeten, Regenten der Galaxien und Beweger von Feuernebeln einnehmen. (Fohat)

Diese Vision vervollständigte die psychische Anziehungskraft der Vorstellung, Teil einer großen kosmischen Ordnung zu sein.

Neben der Betonung der Rasse hoben die Theosophen die Prinzipien des Elitismus und die Werte der Hierarchie hervor. Blavatsky behauptete, die Eingebungen für ihre Grundsätze von zwei erhabenen Mahatmas oder Meistern, die Morya und Koot Hoomi hießen und in der abgeschiedenen Einsamkeit des Himalaja lebten, erhalten zu haben. Diese Eingeweihten waren zwar keine Götter, eher fortgeschrittene Mitglieder unserer eigenen Evolutionsgruppe, die sich entschlossen hatten, ihre Weisheit an den Rest der arischen Menschheit durch ihre Übermittlerin, Madame Blavatsky, weiterzugeben. In ihren Beschreibungen der Vorgeschichte beruft sie sich häufig auf die heilige Autorität einer elitären Priesterschaft der Wurzelrassen der Vergangenheit. Als die Lemurier in Sünde gefallen waren, blieb eine kleine Gruppe Auserwählter reinen Geistes zurück. Diese Wenigen gründeten die lemuro-atlantische Dynastie der Priesterkönige, die ihren Wohnsitz auf der sagenumwobenen Insel Shambhala in der Wüste Gobi hatten. Diese Führer nun, welche die Lehrer der fünften, der arischen, Wurzelrasse waren, standen mit Madame Blavatskys Meistern in Verbindung.

Trotz der seltsamen Argumente und der häufig auftauchenden Widersprüche, die ihren Ursprung im Übermaß von pseudo-wissenschaftlichen Bezugnahmen haben, lassen sich in der Geheimlehre drei Grundprinzipien feststellen: Erstens die Existenz eines Gottes, der omnipräsent, ewig, grenzenlos und unveränderlich ist. Das Instrument dieser Gottheit ist Fohat, eine elektro-spirituelle Kraft, die den göttlichen Plan in Form von Naturgesetzen auf die kosmische Substanz wirken läßt. Zweitens das Gesetz der Periodizität, in dem alle Schöpfung einen endlosen Zyklus von Zerstörung und Wiedergeburt durchläuft. Dieser Kreislauf endet immer auf einer geistig höheren Stufe, als er begonnen hatte. Drittens besteht eine ursprüngliche Einheit zwischen jeder einzelnen Seele und der Gottheit, zwischen Mikro- und Makrokosmos. Es war aber kaum diese oberflächliche Theologie, die der Theosophie neue Jünger garantierte. Nur das unbestimmte Versprechen einer okkulten Einweihung, das durch die unzähligen Zitate aus alten Religionen und vergessenen apokryphen Schriften schimmerte, sowie die traditionellen gnostischen und hermetischen Quellen esoterischer Weisheit waren der Grund für den Erfolg der Lehre und die Anzahl der Anhänger aus der gebildeten Schicht vieler Länder.

Wie läßt sich die enthusiastische Aufnahme von Madame Blavatskys Ideen durch eine bedeutende Anzahl von Europäern und Amerikanern ab 1880 erklären? Die Theosophie bot eine anziehende Mischung aus alten religiösen Vorstellungen und neuen Konzepten, die den darwinistischen Theorien über Entwicklung und der modernen Wissenschaft entlehnt waren. Dieser Glaube besaß die Kraft, diejenigen zu trösten, die durch das Unglaubwürdigwerden der "orthodoxen" Religionen, durch den rationalisierenden und entmystifizierenden Prozeß der Wissenschaft und durch die Bürde des rapiden sozialen und wirtschaftlichen Wandels im späten 19. Jahrhundert verunsichert worden waren. George L. Mosse schrieb, daß die Theosophie die Welle des Antipositivismus verkörperte, die um die Jahrhundertwende Europa überschwemmte, und bemerkte, daß ihre Gedanken in Deutschland einen größeren Eindruck hinterließen als in anderen europäischen Ländern.

Obwohl ein fremder Hybride, der romantische Vorstellungen aus ägyptischer Religion, amerikanischem Spiritualismus und Hinduglauben verband, brachte die Theosophie in Deutschland und Österreich eine Woge der Begeisterung hervor. Man begreift ihr Aufkommen am besten als neuromantische Protestbewegung, wie sie im wilhelminischen Deutschland als Teil einer Lebensreform bekannt war. Diese Bewegung repräsentierte einen Versuch der Mittelschicht, den Schmerz der Wunden, die das moderne Leben mit seinen Großstädten und Industrien geschlagen hatte, zu lindern. Eine Vielzahl alternativer Lebensstile, wie z.B. Kräuterheilkunde und natürliche Medizin, Vegetarismus, Nudismus und sich selbstversorgende ländliche Kommunen, wurde von kleinen Gruppen getragen, die hofften, einen natürlicheren Lebensraum für sich zurückzuerobern. Die politische Einstellung dieser Menschen war liberal und linksgerichtet, mit großem Interesse an Landreform, aber oft gab es auch Überschneidungen mit der völkischen Bewegung. Marxistische Kritiker sahen darin den Versuch der Bourgeoisie, den Folgen des Kapitalismus zu entfliehen. Die Theosophie paßte gut zu dieser Lebensreformbewegung und bot einigen ihrer Gruppen ein philosophisches Grundprinzip.

Im Juli 1884 wurde die erste deutsche "Theosophische Gesellschaft", deren Präsident Wilhelm Hübbe-Schleiden (1846-1916) war, in Elberfeld gegründet, als Blavatsky und ihr Mitarbeiter Henry Steel Olcott mit ihren theosophischen Freunden, den Gebhards, dort weilten. Hübbe-Schleiden arbeitete damals als höherer Beamter in der Kolonialbehörde in Hamburg. Er war weitgereist, hatte ein Gut in Westafrika verwaltet und war eine prominente Figur in jener politischen Lobby, die für eine Ausweitung der deutschen Kolonien eintrat. Olcott und Hübbe-Schleiden fuhren nach München und Dresden, um mit den dort verstreuten Theosophen Kontakt aufzunehmen, und legten so den Grundstein für die deutsche Organisation. Viele meinen, daß dieser hastige Versuch, eine neue Bewegung in Deutschland zu gründen, auf Blavatskys Drängen hin unternommen wurde, die sich ein neues Zentrum wünschte, nachdem es 1884 in Madras zu einem Skandal gekommen war, in dem die Theosophen der Scharlatanerie angeklagt worden waren. Blavatskys Methoden, okkulte Phänomene hervorzurufen und Kontakt mit ihren Meistern herzustellen, hatten in ihrer Umgebung Mißtrauen erregt; sie führten möglicherweise zu einer Untersuchung und einem unvorteilhaften Bericht über ihre Aktivitäten durch die Londoner Gesellschaft für psychologische Forschung. Hübbe-Schleiden verlor seinen Präsidentenposten, da die deutsche Organisation aufgelöst wurde, als sich der Skandal ausweitete und immer publiker wurde und es dann, im April 1885, zu einem Exodus der Theosophen aus Madras kam. Fortan lebte Blavatsky in London, wo sie neue Schüler in der Oberschicht des viktorianischen England fand.

Ab 1886 brachte Hübbe-Schleiden durch eine monatliche Zeitschrift, Die Sphinx, mehr okkultes Wissen auf seriöserer Ebene unter die Menschen Deutschlands. Die Sphinx beschäftigte sich mit der Diskussion über Spiritualismus, psychologische Forschung und paranormale Phänomene von einem wissenschaftlichen Standpunkt aus. Die Hauptbeiträge lieferten bekannte Psychologen, Philosophen und Historiker. Max Dessoir schrieb erläuternde Beiträge über Hypnose, Eduard von Hartmann schuf eine Philosophie des "Individualismus", die vor dem Hintergrund von Kants Theorien, christlicher Lehre und spiritualistischer Spekulation besagte, daß das "Ich" den Tod als körperlose Einheit überlebe. Carl du Prel, der Psychologe, und sein Kollege Lazar von Hellenbach, der mit dem berühmten amerikanischen Medium Henry Slade in Wien Seancen abgehalten hatte, schrieben Abhandlungen in ähnlicher Richtung. Ein anderes wichtiges Mitglied des Sphinx-Kreises war Karl Kiesewetter, dessen Studien über die Geschichte der esoterischen Tradition nach der Renaissance Wissen über die gelehrten Magier, über moderne Alchemisten und zeitgenössischen Okkultismus einem breiteren Publikum zugänglich machten. Obwohl nicht theosophisch an sich, stellte Hübbe-Schleidens Zeitschrift ein bedeutendes Element der Wiederbelebung des Okkultismus in Deutschland dar, bis die Herausgabe 1895 eingestellt wurde.

Neben dieser wissenschaftlichen Richtung des Okkultismus gab es im Deutschland der 1890er Jahre eine breitere theosophische Bewegung, deren gemeinverständliche Aktivitäten von Franz Hartmann (1838-1912) ausgingen. Hartmann war in Donauwörth geboren und wuchs in Kempten auf, wo sein Vater das Amt eines Hofarztes bekleidete. Nachdem er 1859 seinen Militärdienst in einem bayrischen Artillerieregiment beendet hatte, begann er an der Münchner Universität das Medizinstudium. Während eines Urlaubs in Frankreich 1865 nahm er die Stelle eines Schiffarztes auf einem Dampfer nach Amerika an, wo er die nächsten 18 Jahre seines Lebens verbrachte. Nachdem er seine weiteren Studien in St. Louis abgeschlossen hatte, gründete er eine Augenklinik, in der er bis 1870 praktizierte. Später reiste er durch Mexiko, lebte kurz in New Orleans, ging 1873 nach Texas und 1878 nach Georgetown in Colorado, wo er ab 1882 als Leichenbeschauer arbeitete. Neben seiner medizinischen Arbeit behauptete er, ein spekulatives Interesse an Gold- und Silberabbau zu haben. Schon in den siebziger Jahren begann er sich für den amerikanischen Spiritualismus zu interessieren, wohnte Seancen der in dieser Bewegung führenden Persönlichkeiten, wie Mrs. Rice Holmes und Kate Wentworth, bei und vertiefte sich in die Schriften von Judge Edmonds und Andrew Jackson Davis. Nachdem er Die entschleierte Isis für sich entdeckt hatte, nahm fortan die Theosophie die Stelle des Spiritualismus als sein Hauptinteressengebiet ein. Über Kalifornien, Japan und Südostasien reisend, besucht er im Jahre 1883 die Theosophen in Madras. Als Blavatsky und Olcott 1884 nach Europa reisten, wurde Hartmann für die Dauer ihrer Abwesenheit zum Geschäftsführenden Präsidenten der Gesellschaft ernannt. Er blieb im Hauptquartier in Madras, bis die Theosophen im April 1885 Indien den Rücken kehrten.

Hartmanns Arbeiten waren anfänglich den Rosenkreuzern, Paracelsus, Jakob Böhme und anderen Themen der westlichen esoterischen Tradition gewidmet; sie wurden zwischen 1884 und 1891 in Amerika und England veröffentlicht. Als er nach seiner Rückkehr 1885 Direktor eines Lebensreformsanatoriums in Hallein bei Salzburg wurde, begann er seine neuen östlichen Weisheiten unter seinen Landsleuten zu verbreiten. 1889 gründete er zusammen mit Alfred Pioda und der Gräfin Constance Wachtmeister, einer engen Freundin der Blavatsky, ein theosophisches Laienkloster in Ascona, einem Ort, der bekannt für seine anarchischen Experimente war. Von 1892 an wurden Übersetzungen heiliger indischer Texte und Blavatskys Schriften in seinem Monatsheft Lotusblüthen (1892-1900) veröffentlicht, die erste Zeitschrift, die die theosophische Swastika auf dem Umschlag trug. In der zweiten Hälfte dieser Dekade erreichten die deutschen theosophischen Publikationen ihren ersten Höhepunkt. Wilhelm Friedrich aus Leipzig, der Herausgeber von Hartmanns Zeitschrift, veröffentlichte eine 12-bändige Buchserie Bibliothek esoterischer Schriften (1898-1900), Hugo Göring, ein Weimarer Theosoph, gab eine 30-bändige Buchserie Theosophische Schriften (1894-1896) heraus. Beide enthielten deutsche Übersetzungen von Blavatskys Nachfolgern in England, Annie Besant und Charles Leadbeater, zusammen mit Originalstudien von Hartmann und Hübbe-Schleiden. Hauptthemen dieser dünnen Bücher waren abstruse Kosmologie, Karma, Spiritualismus und Neuigkeiten von geheimnisvollen, verborgenen Meistern. Zusätzlich sollen hier Hartmanns Übersetzungen der Bhagavadgita, des Taotêking und des Tattwa Bodha, zusammen mit seinen eigenen Monographien über Buddhismus, christliche Mystik und Paracelsus, erwähnt werden.
Nachdem Hartmann als Vorreiter fungiert hatte, kam es zur Herausgabe einer anderen wichtigen Zeitschrift. 1896 gründete Paul Zillmann die Metaphysische Rundschau, ein Monatsheft, das sich mit vielen Aspekten der esoterischen Tradition beschäftigte und auch die neuen parapsychologischen Forschungen aus der Sphinx weiterführte. Zillmann, der in Groß-Lichterfelde bei Berlin lebte, war Mitglied des Exekutivkomitees einer neuen "Theosophischen Gesellschaft", die unter Hartmanns Präsidentschaft im August 1896 in Berlin gegründet worden war, als die amerikanischen Theosophen Katherine Tingley, E. T. Hargrove und C. F. Wright durch Europa reisten, um Unterstützung für ihre Bewegung zu finden. Zillmanns eigene Studien und die Artikel in seinem Periodikum offenbarten einen bezeichnenden Eklektizismus: Beiträge über Yoga, Phrenologie, Astrologie, Animalmagnetismus und Hypnose waren gemischt mit Nachdrucken mittelalterlicher deutscher Mystiker, alchemistisch-rosenkreuzerischen Abhandlungen aus dem späten 18. Jahrhundert und Arbeiten der modernen französischen Okkultisten Gérard Encausse (Papus). Hartmann lieferte eine fiktive Geschichte über seine angebliche Entdeckung eines geheimen Klosters der Rosenkreuzer in den bayrischen Alpen, die die Leser mit romantischen Gedanken über Adepten inmitten des modernen Europa versorgte. Eckhartshausen, ein Mystiker des frühen 19. Jahrhunderts, und seine Ideen einer geheimen Schule Erleuchteter übte auf Zillmann eine so große Faszination aus, daß er 1897 eine okkulte Loge gründete. Diese "Wald-Loge" war wie eine Freimaurerloge in Grade der Einweihung unterteilt. In Zillmanns Umgebung arbeiteten der Okkultist Ferdinand Maack, der sich dem Studium neu entdeckter Strahlen im Zusammenhang mit seiner "dynamosophischen" Wissenschaft und einer Edition von traditionellen Texten der Rosenkreuzer widmete, sowie der Astrologe Albert Kniepf, ferner indische Theosophen und Schriftsteller, die über die amerikanische Bewegungen "Christian Science" und "New thought" schrieben. Aufgrund seiner Leistungsfähigkeit als Herausgeber war Paul Zillmann ein wichtiges Verbindungsglied zwischen der deutschen okkulten Subkultur und den Ariosophen Wiens, deren Werke zwischen 1906 und 1908 in seiner Zeitschrift erschienen.

Die Deutsche theosophische Gesellschaft war im August 1896 als nationaler Zweig der Internationalen theosophischen Bruderschaft gegründet worden, die ihrerseits wieder von den amerikanischen Theosophen um William Quan Judge und Katherine Tingley ins Leben gerufen worden war. Die Theosophie blieb aber in Deutschland eine Erscheinung von kleinen, einander oft bekriegenden Sekten und lokalen Gruppen. Ab dem Jahre 1900 erhielt der Herausgeber der Neuen Metaphysischen Rundschau jährlich Berichte von Zweiggesellschaften in Berlin, Cottbus, Dresden, Essen, Graz und Leipzig und beklagte deren Mangel an gegenseitiger Brüderlichkeit. Bis 1902 erlangte die Bewegung mehr Zusammenhalt: mit zwei Hauptzentren in Berlin und Leipzig, die von weiteren zehn lokalen "Theosophischen Gesellschaften" und ca. 30 kleinen Kreisen in Deutschland und Österreich unterstützt wurden. Paul Raatz, Herausgeber der Zeitschrift Theosophisches Leben, eröffnete ein theosophisches Zentrum in der Hauptstadt, während sich in Leipzig ein Kreis um Arthur Weber, Hermann Rudolph und Edwin Böhme bildete. Weber war der Herausgeber einer eigenen Zeitschrift mit dem Titel Der theosophische Wegweiser und gab über die neu eröffnete Theosophische Zentralbuchhandlung eine Buchserie Geheimwissenschaftliche Vorträge (1902-1907) heraus, zu der Rudolf und Böhme viele Titel lieferten.

Während diese Aktivitäten maßgeblich unter dem Einfluß von Franz Hartmann und Paul Zillmann standen, muß auch eine andere theosophische Strömung in Deutschland erwähnt werden. 1902 wurde Rudolf Steiner, ein junger Gelehrter, der in Wien studiert hatte, bevor er in Weimar eine Studie über Goethes wissenschaftliche Schriften verfaßt hatte, Generalsekretär der Deutschen "Theosophischen Gesellschaft" in Berlin, die von den englischen Theosophen gegründet worden war. Steiner brachte von 1903 bis 1908 in Berlin eine Zeitschrift namens Luzifer heraus. Sein Interesse an der christlichen Mystik entfremdete ihn den Theosophen immer mehr, die unter Annie Besant eine stark hinduistische Tendenz aufwiesen, und so brach er mit ihnen, um 1912 seine eigene Anthroposophische Gesellschaft zu gründen. Möglicherweise war es Hartmanns Wunsch, Steiners Einfluß in der okkulten Subkultur entgegenzuwirken, der ihn, Hartmann, zur Veröffentlichung einiger weiterer Zeitschriften animierte. 1906 wurde von seinem jungen Protegé Hugo Vollrath ein Theosophisches Verlagshaus in Leipzig gegründet, unter dessen Publikationen es eine große Anzahl von okkulten Magazinen gab, z.B. Arthur Webers Der Wanderer (1906-1908), Prana (1909-1919), anfänglich vom Astrologen Karl Brandler-Pracht und später von Johannes Balzli herausgegeben, letzterer Sekretär der "Theosophischen Gesellschaft" in Leipzig, sowie Theosophie (gegr. 1910), herausgegeben von Hugo Vollrath. Astrologische Zeitschriften und damit verwandte Buchserien, die Astrologische Rundschau und die Astrologische Bibliothek, wurden von diesem Verlag ab 1910 herausgegeben. Hartmanns alte Zeitschrift erschien 1908 unter dem Titel Neue Lotusblüten in der Jägerschen Buchhandlung wieder, zugleich mit den Osiris-Büchern, einer umfangreichen Buchserie, die dem deutschen Publikum neue Okkultisten vorstellte.

Mittlerweile kamen auch andere Herausgeber auf ähnliche Ideen. Karl Rohm, der die englischen Theosophen in London besucht hatte, gründete nach der Jahrhundertwende im württembergischen Lorch ein Unternehmen. Seine Publikationen waren Neudrucke von Böhme, Hamann, Jung-Stilling und Alfred Martin Oppel (A.M.O.), Übersetzungen von Sir Edward Bulwer-Lyttons Romanen und Arbeiten zeitgenössischer Okkultisten. Johannes Baums Neugeist-Verlag wurde 1912 gegründet und übersiedelte 1919 nach Pfullingen. Obwohl sich dieses Unternehmen anfänglich mit amerikanischem Material beschäftigte, spielte es in den 1920er Jahren unter den deutschen esoterischen Verlagen eine bedeutende Rolle.

Mit den Theosophen Leipzigs in Konkurrenz stand Max Altmanns Verlag, der 1905 mit okkulten Publikationen begonnen hatte. Im Juli 1907 begann Altmann sein populäres Zentralblatt für Okkultismus zu verlegen, dessen Herausgeber D. Georgiewitz-Weitzer war, der seine eigenen Arbeiten über die modernen Rosenkreuzer, Alchemie und okkulte Medizin unter dem Pseudonym G. W. Surya veröffentlichte. Der Leipziger Buchhändler Heinrich Tränker brachte zwischen 1910 und 1912 eine okkulte Buchserie heraus, die Arbeiten von Karl Helmuth und Karl Heise zum Inhalt hatte. Ab 1913 startete Antonius von der Linden eine anspruchsvolle Buchserie unter dem Titel Geheime Wissenschaften (1913-1920), welche Neudrucke esoterischer Texte des Renaissancegelehrten Agrippa von Nettesheim, der Rosenkreuzer und von Alchemisten des 18. Jahrhunderts mit Kommentaren und Originaltexten moderner Okkultisten enthielt. Aus diesem kurzen Überblick läßt sich ersehen, daß die Aktivitäten um okkulte Publikationen zwischen 1906 und 1912 ihren zweiten Höhepunkt erreichten.

Wenn die okkulte Subkultur in Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg schon gut entwickelt war, so kann man auch von Wien sagen, daß es auf eine reiche Tradition des Okkultismus zurückblicken konnte. Deren Geschichte ist eng mit dem Namen Friedrich Eckstein (1861-1939) verbunden. Der Privatsekretär des Komponisten Anton Bruckner, ein brillanter Universalgelehrter, versammelte die führenden Denker, Schriftsteller und Musiker Wiens um sich. Sein Hang zum Okkultismus trat zum erstenmal zutage, als er Mitglied einer Lebensreformgruppe wurde, die gegen Ende der 1870er Jahre Vegetarismus praktizierte und gegen Ende der siebziger Jahre in Wien die Lehren des Pythagoras und der Neuplatoniker diskutierte. Später erweiterte sich sein esoterisches Interesse; es umfaßte die deutsche und spanische Mystik, die Legenden um die Templer, die Freimaurerei, die Mythologie des Richard Wagner sowie orientalische Religionen. 1880 schloß er mit dem Wiener Mathematiker Oskar Simony Freundschaft, der von den metaphysischen Theorien Professor Friedrich Zöllners in Leipzig beeindruckt war. Zöllner hatte die Hypothese aufgestellt, daß spiritualistische Phänomene die Existenz einer vierten Dimension bestätigten. Eckstein und Simony waren auch mit dem österreichischen Seelenkundeforscher Lazar von Hellenbach bekannt, der wissenschaftliche Experimente mit Medien in Trance durchführte und auch Beiträge für Die Sphinx lieferte. Nach einem herzlichen Treffen mit Blavatsky 1886 versammelte Eckstein in Wien eine Gruppe von Theosophen um sich. In den späten 1880er Jahren waren Franz Hartmann und der junge Rudolf Steiner "Habitués" dieses Kreises. Er war auch mit der mystischen Gruppe um den christlichen Pietisten Alois Mailänder (1844-1905) bekannt, der in Kempten und später in Darmstadt von vielen Theosophen, wie auch Hartmann und Hübbe-Schleiden, gefeiert wurde. Eckstein korrespondierte mit Gustav Meyrink, dem Gründer der theosophischen Loge "Zum blauen Stern" in Prag 1891, welcher später als okkulter Schriftsteller während des Ersten Weltkrieges Bekanntheit erlangte. 1887 wurde die Wiener "Theosophische Gesellschaft" gegründet, deren Präsident Eckstein gemeinsam mit dem Sekretär Karl Graf zu Leiningen-Billigheim war.

Weitere Gruppen, die sich dem Okkultismus widmeten, entstanden in Wien nach der Jahrhundertwende. Es existierte eine Vereinigung für Okkultismus, die eine Leihbibliothek führte, in der die Mitglieder Zugang zu den Werken von Zöllner, Hellenbach und du Prel hatten. Dieser Vereinigung stand Philipp Maschlufsky nahe, der ab 1903 eine Zeitschrift namens Die Gnosis herausgab. Sie wurde später von Berliner Theosophen gekauft, die sie mit Rudolf Steiners Luzifer verschmolzen. Im Dezember 1907 wurde eine ähnlich okkulte Studiengruppe, der Sphinx-Leseverein, von Franz Herndl gegründet, der zwei okkulte Romane verfaßt hatte und ein wichtiges Mitglied der "List-Gesellschaft" war. Astrologie und andere okkulte Wissenschaften waren in der österreichischen Hauptstadt ebenso vertreten. Nach seiner Rückkehr in die Heimatstadt aus den Vereinigten Staaten gründete Karl Brandler-Pracht 1907 die Erste Wiener Astrologische Gesellschaft. Nach Josef Greiners Berichten über Hitlers Jugend in Wien waren Treffen und Vorlesungen über Astrologie, Hypnose und andere Formen der Weissagung im Wien der Vorkriegsjahre an der Tagesordnung. Kennt man die okkulte Subkultur Wiens, läßt sich der lokale Hintergrund der Bewegungen um Guido von List und Lanz von Liebenfels besser verstehen, deren rassistische Schriften nach 1906 der modernen okkulten Wiederbelebung in Mitteleuropa viel verdankten.

Obwohl der moderne Okkultismus in vielerlei Gestalten repräsentiert wurde, erscheint seine Funktion relativ einheitlich. Hinter den mantischen Systemen von Astrologie, Phrenologie, Handlesekunst und nicht weniger den Lehren der Theosophie, den Pseudowissenschaften der "Dynamosophie", des Animalmagnetismus und der Hypnose, hinter der Suche nach alten esoterischen Texten der traditionellen Kabbalisten, Rosenkreuzer und Alchemisten – hinter all dem lag das große Verlangen, die Errungenschaften der modernen Naturwissenschaft mit einer religiösen Haltung auszusöhnen, die den Menschen in ein Sein inmitten des Zentrums des Universums zurückführen könnte. Die okkulte Wissenschaft tendierte dazu, die innige und bedeutungsvolle Beziehung des Menschen zum Kosmos in Form "enthüllter" Relationen zwischen Mikro- und Makrokosmos zu betonen. Sie bemühte sich, den materialistischen Wissenschaften mit ihrer Betonung der meß- und zählbaren Phänomene und ihrer Verneinung unsichtbarer Qualitäten, die den Geist und die Gefühle betreffen, etwas entgegenzusetzen. Diese neuen "metaphysischen Wissenschaften" verliehen dem Individuum einen ganzheitlichen Blick auf sich selbst und die Welt, in der es lebte. Diese Betrachtungsweise offenbarte die Teilnahme an einer insgesamt sinnvollen Ordnung und gab zugleich ein Mittel in die Hand, durch Weissagung die eigenen Angelegenheiten gemäß dieser Ordnung gestalten zu können.

Auf die Anziehungskraft dieses Weltbildes wurde schon am Beginn dieses Kapitels hingewiesen. Die Blüte des Okkultismus war gleichzeitig mit dem Fall des Römischen Reiches und wiederum gleichzeitig mit dem Zuendegehen des Mittelalters verlaufen. Er übte nun von neuem auf jene eine Anziehungskraft aus, die die Welt als Folge der rapiden sozialen und ideologischen Veränderungen am Ende des 19. Jahrhunderts aus den Fugen geraten sahen. Jene Menschen, die hinsichtlich ihrer Gefühle und Erziehung zu einer idealistischen und romantischen Perspektive neigten, wurden von der okkulten Wiedergeburt angezogen in der Hoffnung, die Ordnung, die durch die Zerstörung oder Infragestellung althergebrachter Konventionen und Glaubensüberzeugungen ins Wanken geraten war, wiederbegründen zu können.

Da die Ariosophie ihre Wurzeln in Wien als Antwort auf Probleme der deutschen Nationalität und des Metropolitanismus hat, muß man die spezielle Art der Theosophie, die die Ariosophen für ihre völkischen Ideen übernommen hatten, von diesem Gesichtspunkt aus sehen. Schon im Jahre 1887 war eine theosophische Gruppe in Wien aktiv, aber ihre Mitglieder unter der Führung von Marie Lang neigten anfangs zu einer "Biedermeier-Tradition" der frommen "Innerlichkeit" und Selbstkultivierung. Rudolf Steiner war Mitglied dieser Gruppe, und seine Berichte über deren Interessen zeigen klar, wie wenig Sympathie es zwischen der "sachlichen" buddhistischen Theosophie eines Franz Hartmann, der ebenfalls anwesend war, und der mehr spirituell reflektiven Haltung der restlichen Mitglieder gab. Während der neunziger Jahre schien die Wiener Theosophie die Vorliebe der gebildeten Schicht für Frömmigkeit, Subjektivismus und einen Kult der Gefühle widerzuspiegeln. Es war dies eine Stimmung, die mit der zeitgenössischen Mode des Feuilleton und dem literarischen Impressionismus übereinstimmte. Schorske versuchte, diese Kultivierung des "Ich" mit der sozialen Lage der Wiener Bourgeoisie um die Jahrhundertwende in Zusammenhang zu bringen. Er ist der Meinung, daß diese Gesellschaftsschicht die Förderung der Kunst als Ersatz für den Aufstieg in den Adel in Angriff nahm, was aber damit endete, daß sie in ihr, der Kunst, einen Weg zur Flucht sah; eine Flucht vor dem Zusammenbruch des Liberalismus und dem Entstehen der Massenbewegungen. Es scheint einleuchtend, den Aufstieg der Wiener Theosophie in diesem Zusammenhang zu betrachten.

Als die Theosophie durch die Publikationen in deutschen Verlagshäusern um die Jahrhundertwende weiter verbreitet wurde, erreichten ihre Ideen ein noch größeres Publikum. Zu dieser Zeit bot sie einen detaillierten Grundstock von Lehren, die in der neu erhältlichen Übersetzung von Blavatskys Hauptwerk Die Geheimlehre (1897-1901) und den zahlreichen Auszügen und Kommentaren von Franz Hartmann, Hermann Rudolph, Edwin Böhme und anderen schriftlich niedergelegt worden waren. Während die frühe theosophische Bewegung in Österreich sich aus dem mystischen Christentum und persönlichen Gnostizismus kultivierter Personen erklärte, stand ihr späteres Bekanntwerden in Wien im Einklang mit der Enttäuschung über den Katholizismus und der Popularisierung von Mythologie, Folklore und vergleichender Religion. Der Anstoß kam größtenteils aus Deutschland, und sowohl List wie auch Lanz erlangten ihr Wissen über die Theosophie aus deutschen Quellen. List verdankte dem Berliner Theosophen Max Ferdinand von Sebaldt viel und zählte Franz Hartmann, Hugo Göring und Paul Zillmann zu seinen Anhängern. Zillmann war der erste, der esoterische Schriften von List und Lanz publizierte. Die Wiener Theosophie nach 1900 scheint eine quasiintellektuelle, sektiererisch-religiöse, aus Deutschland importierte Lehre gewesen zu sein, die sich unter Menschen breitmachte, die in ihrer religiösen Haltung schwankten, aber doch zu einer religiösen Weltanschauung neigten.

Die Anziehungskraft der Theosophie für List, Lanz und ihre Verfechter bestand in ihrem Eklektizismus in bezug auf exotische Religionen, Mythologie und esoterische Lehren. Sie lieferte eine universelle, nichtchristliche Perspektive des Kosmos und der Ursprünge der Menschheit, in der auch der teutonische Glaube, die Bräuche und die Identität, welche nach völkischer Spekulation germanisch waren, ihren Platz fanden. Aufgrund der Antipathie der völkischen Nationalisten und Alldeutschen gegen den Katholizismus um die Jahrhundertwende empfahl sich die Theosophie als Programm eines religiösen Glaubens, der das Christentum zugunsten einer Melange aus mystischen Traditionen und pseudowissenschaftlichen Hypothesen im Einklang mit der zeitgenössischen Anthropologie, Etymologie und der Geschichte alter Kulturen negierte. Ja mehr noch: Die gesamte Struktur der theosophischen Gedankenwelt bot sich an, ins Völkische übernommen zu werden. Der unbeschränkte Elitismus und die übermenschliche Weisheit der verborgenen Mahatmas standen im Einklang mit dem Verlangen nach einer hierarchischen Sozialordnung, die auf einem rassischen Mythos vom Volk basierte. Der Begriff eines okkulten Wissens in der Theosophie, vor allem dessen Verdunkelung durch den fremden (christlichen) Glauben, und seine Wiedergeburt durch die wenigen Erwählten stimmte mit dem Versuch überein, den völkischen Nationalismus einer langen Ahnenreihe zu versichern. Im Zusammenhang mit der Entwicklung des Deutschnationalismus in Österreich seit 1866 läßt sich erkennen, daß die Theosophie, die dem völkischen Gedankengut nur dürftig hinsichtlich Rassen und rassischer Entwicklung verwandt war, eine religiöse Mystik und ein universales Grundprinzip für die politische Haltung einer kleinen Minderheit bieten konnte.

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Der "Germanenorden"

Da List es vorzog, die Rolle des Mystagogen und Meisters inmitten einer Gruppe von Schülern zu spielen, fiel seinen Anhängern, die Mitglieder rassistischer Organisationen im wilhelminischen Deutschland waren, die Aufgabe zu, seine Ideen zu verbreiten. Unter den Männern, die tief von Lists Lehre durchdrungen waren, befanden sich Persönlichkeiten wie Oberst Karl August Hellwig, Georg Hauerstein sen., Bernhard Koerner, Philipp Stauff und Eberhard von Brockhusen. Sie trugen seine okkult-nationalistischen Ideen in historisch bedeutende rechtsgerichtete Organisationen des Deutschen Reiches. Hellwig und Hauerstein waren im Mai 1912 Mitbegründer des "Reichshammerbundes" in Leipzig, Koerner, Stauff und Brockhusen hatten Schlüsselpositionen im "Germanenorden", einer geheimen Schwesterorganisation dieses neuen Bundes, inne. Die Geschichte der Ariosophie in Deutschland führt uns letztlich zu einem Bewunderer von List und Lanz von Liebenfels, nämlich Rudolf von Sebottendorff, der zwischen 1917 und 1919 zwei rassistische Sekten in München gründete, in denen die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei ihre Wurzeln hatte.

Der "Reichshammerbund" wie auch der "Germanenorden" waren virulent antisemitische Gruppen, die ihr Entstehen dem Organisationstalent von Theodor Fritsch, einem Hauptakteur der antisemitischen Szene im Vorkriegsdeutschland und in der deutschen Politik zwischen 1900 und 1914, verdanken. Fritsch wurde am 28. Oktober 1852 als Kind sächsischer Bauern in Wiesenau bei Leipzig geboren, wo er eine Ausbildung zum Mühleningenieur absolvierte. Bald schon entwickelte er jene Talente als Herausgeber und Organisator, welche seine beruflichen und politischen Aktivitäten kennzeichneten. Ab Oktober 1880 brachte er das Kleine Mühlen-Journal heraus; 1882 rief er eine zweite Mühlen-Zeitschrift ins Leben und versuchte, die deutschen Müller in einem "Deutschen Müllerbund" zu organisieren.

Fritsch machte sich um die Kleinunternehmer und Handwerker Sorgen, die durch das Zunehmen großer Firmen, Fabriken und der Massenproduktion generell gefährdet waren. Diese Bedrohung versuchte er durch Schaffung einer neuen Gilde zu vermindern. Sein Eintreten für die Interessen der Kleinunternehmer ging Hand in Hand mit seiner antisemitischen Haltung. Fritsch schrieb die neue Situation in der Wirtschaft dem vermehrten jüdischen Einfluß im Geschäfts- und Finanzwesen Deutschlands zu. In seinen Leuchtkugeln publizierte er 1881 eine Sammlung alldeutscher und antisemitischer Sprüche. 1887 schrieb er seinen Antisemiten-Katechismus und eine lange Pamphletserie unter dem Titel Brennende Fragen. Seine erste antisemitische Organisation war der "Leipziger Reformverein" (gegründet 1884), für den er ab 1885 eine Zeitschrift namens Antisemitische Correspondenz herausgab. Im Juni 1889 fand in Bochum eine antisemitische Konferenz statt, an der viele Vertreter aus Frankreich, Ungarn, Deutschland und Österreich, unter ihnen Georg Ritter von Schönerer, teilnahmen. Ein Resultat dieses Treffens war die Gründung von zwei deutschen antisemitischen Parlamentsparteien, der "Deutsch-Sozialen Partei" unter der Leitung von Max Liebermann von Sonnenberg, und der "Antisemitischen Volkspartei" unter der Führung des von den Bauern geliebten Demagogen Otto Böckel. Fritsch stellte sich nicht als Kandidat für diese Parteien zur Verfügung, da er davon überzeugt war, daß der Antisemitismus als politische Kraft im Reichstag erfolglos bleiben würde. Diese Überzeugung stellte sich als richtig heraus. Da nach der Bochumer Konferenz mehr als eine solche Partei existierte, führte deren Konkurrenz zu einer Reduktion der Anzahl erfolgreicher antisemitischer Kandidaten bei den Reichstagswahlen. Koalitionen wiederum brachten andere Probleme. Als die beiden Parteien 1894 zur "Deutsch-Sozialen Reformpartei" verschmolzen, führte der Wunsch nach parlamentarischer Kooperation und Konvergenz zu einer derartigen Mäßigung im Programm, daß der Antisemitismus zugunsten einer stärkeren Hinwendung zu konservativem Gedankengut und den wirtschaftlichen Interessen der Mittelschicht an Bedeutung verlor. Bis 1903 waren die Antisemiten im Reichstag beinahe von der konservativen Regierung absorbiert und immer abhängiger von Vereinbarungen mit außerparlamentarischen Organisationen wie dem "Bund der Landwirte" und dem "Deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verband" (DHV) geworden. Die "Deutsch-Soziale Reformpartei" konnte sich bei den Wahlen 1907 nur sechs Sitze sichern und 1912 gerade noch drei.

Fritsch betrachtete die Juden als Rassenfremde. In seiner Schrift "Zur Bekämpfung zweitausendjähriger Irrthümer" betonte er das "Ariertum" und seine Beziehung zu germanischen Traditionen in einem heidnischen Kontext. Er trat für eine Reorganisation des geistigen, wirtschaftlichen, sozialen und politischen Lebens der Nation ein, in dem Juden keinen Platz mehr haben sollten. Diese Entwicklung von Fritschs Denkweise wurde Ende der neunziger Jahre in neuen "wissenschaftlichen" Studien über die Rassen widergespiegelt. Während Arthur de Gobineau (1816-1882) in seinem Werk über rassische Entwicklung und Untergang zu dem Schluß gekommen war, daß es Schicksal der Arier sein werde, im Ozean der schwarzen und gelben Rassen ausgelöscht zu werden, schrieben Vacher de Lapouge (1854-1936) und Houston Stewart Chamberlain (1855-1927) beeinflußt von den neuen zoologischen und biologischen Wissenschaften, indem sie die Juden als diejenige Rasse darstellten, die der Vorherrschaft der Arier am abträglichsten sei. Im Gegensatz zu Gobineau, der die Linguistik als Standard für rassische Unterscheidung heranzog, interessierten sich diese späteren Rassentheoretiker für Schädelmaße und andere physische Charakteristika, wie Haar- und Augenfarbe.

Fritsch wollte eine breite und machtvolle antisemitische Bewegung außerhalb des Reichstags ins Leben rufen, wo sie am effektivsten sein würde. Im Oktober 1901 sandte er an ungefähr dreihundert Personen, die früher in antisemitischen Parteien aktiv gewesen waren, ein Rundschreiben. Das Echo war enttäuschend, aber im Januar 1902 gründete er den Hammer, eine zunächst monatlich und später vierzehntägig erscheinende Zeitschrift, die als Kristallisationspunkt der neuen Bewegung dienen sollte. 1905 begannen die Hammer-Leser, zu diesem Zeitpunkt mehr als dreitausend Personen, sich in örtlichen "Hammer-Gemeinden" zu organisieren. Die Mitglieder dieser Gruppen kamen großteils aus der sich in Auflösung befindlichen "Jugendbundbewegung" und dem DHV. 1908 bedienten sich diese Gruppen des Namens "Deutsche Erneuerungs-Gemeinde": Ihre Mitglieder waren an einer antikapitalistischen Bodenreform, die die bäuerliche Bevölkerung stärken sollte, der Gartenstadtbewegung und der Lebensreform interessiert. Diese spontane örtliche Organisationsbildung wurde von Fritsch aktiv unterstützt. 1904 hatte sein Mitarbeiter Paul Förster einen Aufruf zur Bildung eines "Deutsch-völkischen General-Stabes" veröffentlicht, der als Vorkämpfer für eine nationalistisch-rassistische Wiedergeburt Deutschlands fungieren und so auch die vielen Gruppen und Bünde einigen sollte, die etwa versuchten, mehr deutsche Kolonien in Übersee zu gründen, die Kriegsflotte zu verstärken, damit sie mit England konkurrieren konnte, und generell das internationale Prestige des Deutschen Reiches unter den Hohenzollern zu verbessern, während im Inneren die Nation von jenen heimtückischen sozialen Agenten gesäubert werden sollte, die als Sozialisten, Juden oder sonstige Gegner des deutschen Imperialismus identifiziert wurden.

Im März 1912 erinnerte Fritsch erneut an die Schwäche der früheren antisemitischen politischen Parteien und verlangte nach einer neuen "überparteilichen" antisemitischen Organisation. Das Jahr 1912 bedeutete eine harte Probe für alle, die um die Lage der Nation bangten. Die zweite marokkanische Krise im Jahre 1911, als die Regierung ein Kanonenboot nach Agadir schickte, um durch Druck auf Frankreich die deutschen Stahlinteressen in Westmarokko zu sichern und die Abtretung von Teilen des französischen Kongo zu erreichen, zeigte, daß das koloniale Ausgreifen Deutschlands noch immer durch Frankreich und England behindert wurde. Dieser imperialen Enttäuschung folgte ein Schock im Inland, ausgelöst durch die Reichstagswahlen im Januar 1912, als die Sozialdemokratische Partei 110 Sitze errang, was einen enormen Zuwachs gegenüber ihren früheren 43 bedeutete. Die großen Verlierer waren die Konservativen und Antisemiten, die nur 68 von den ehemals 109 Sitzen, die sie seit 1907 im Reichstag innehatten, halten konnten. Diese alarmierenden Ereignisse bewogen Heinrich Claß, den antisemitischen Präsidenten des "Alldeutschen Verbandes", dazu, ein politisches Manifest mit dem Titel "Wenn ich der Kaiser wär!" (1912) herauszugeben, in dem er nach einer Diktatur und der Auflösung des Reichstags rief und die Juden heftig und denunzierend angriff. Fritsch besprach das Buch im Hammer und riet seinen Lesern, sofort zu handeln. Anläßlich eines Treffens am 24. und 25. Mai 1912 in seinem Leipziger Haus gründeten er und etwa zwanzig andere prominente Alldeutsche und Antisemiten zwei Gruppen mit dem Ziel, die deutsche Gesellschaft zu beeinflussen. Karl August Hellwig, ein pensionierter Oberst aus Kassel und seit März 1908 Mitglied der "List-Gesellschaft", stand an der Spitze des "Reichshammerbundes", eines Zusammenschlusses aller existierenden Hammer-Gemeinden; Hermann Pohl, ein Eichmeister aus Magdeburg, wurde Leiter des "Germanenordens", der geheimen Zwillingsorganisation.

Der Einfluß von Lists Ideen auf die erstere Organisation ist deutlich sichtbar. Hellwig hatte schon im Februar 1912 eine Konstitution für den "Reichshammerbund" fertig. Das ausführende Organ bildeten der "Bundeswart", ein Amt, das Hellwig bekleidete, der "Ehrenbundeswart", der Theodor Fritsch zufiel, und darüber hinaus noch der "Armanen-Rat" mit zwölf Mitgliedern. Die Benennung des letzteren weist schon eindeutig auf Hellwigs Beeinflussung durch List hin. Zukünftige Mitglieder des "Reichshammerbundes" mußten ihre arische Herkunft und die ihrer Ehefrauen garantieren können, Flugblätter stellten die Hauptwaffe gegen die Juden dar. Im April 1912 folgte eine Reihe von Richtlinien, welche zur Zusammenarbeit mit den Katholiken aufrief wie auch zu einer breitgestreuten Propaganda unter Arbeitern, Bauern, Lehrern, Beamten und Offizieren der Armee sowie besonders unter den Studenten an den Universitäten. Der Briefwechsel von Julius Rüttinger, Führer des "Reichshammerbundes" in Nürnberg, spiegelt den langsamen Fortschritt der Organisation und einen permanenten Hang zu inneren Streitigkeiten und Vereinsmeierei wider. Ende 1912 verzeichnete die Nürnberger Gruppe eine totale Mitgliederanzahl von 23 Personen, von denen durchschnittlich nur zehn den Treffen beiwohnten, und einen Kontostand von 5,58 Mark bei einem Jahreseingang von 94,64 Mark." Bis Juni1913 existierten nur 19 Gruppen des "Reichshammerbundes" in Deutschland, von denen der in Hamburg der aktivste gewesen zu sein scheint. Trotz tausender Flugblätter und festentschlossener Werbung konnte der Bund nicht mehr als ein paar hundert Mitglieder aufweisen.

Die Geschichte des "Germanenordens" ist sowohl komplexer als auch noch mehr mit Lists Ideen verbunden. Der Gedanke an eine antisemitische Gruppe, die wie eine geheime, quasi-freimaurerische Loge organisiert war, scheint um 1910 unter den völkischen Aktivisten aufgekommen zu sein. Einige Antisemiten waren davon überzeugt, daß der machtvolle Einfluß, den die Juden im öffentlichen Leben Deutschlands ausübten, nur als Resultat einer ausgedehnten geheimen jüdischen Verschwörung gesehen werden konnte, und meinten, daß eine solche am besten durch eine ähnlich strukturierte antisemitische Organisation bekämpft werden könne. Im Frühjahr 1910 führte Philipp Stauff, ein bekannter völkischer Journalist, in seinem Briefwechsel die Idee einer antisemitischen Loge an, in der die Namen der Mitglieder geheim bleiben sollten, um ein Eindringen des Feindes zu verhindern. Im folgenden Jahr schrieb Johannes Hering, der zur örtlichen Hammer-Gruppe in München wie auch zum "Alldeutschen Verband" gehörte und ein Freund von List und Lanz war, an Stauff einen Brief über Freimaurerei. Hering erklärt, daß er seit 1894 Freimaurer sei, daß aber diese alte germanische Institution durch das Gedankengut von Juden und Parvenus verschmutzt worden wäre: Er schloß, daß die Wiedereinführung einer arischen Loge ein Segen für die Antisemiten sein würde.

Gegen Ende 1911 schickte Hermann Pohl ein Rundschreiben über dieses Thema an etwa fünfzig potentielle antisemitische Interessenten. Er gab an, daß der "Hammerbund" in Magdeburg bereits eine Loge gegründet habe, die auf entsprechenden rassischen Prinzipien aufbaue und deren Ritual auf der heidnischen Tradition der Germanen basiere. Er schwärmte von der Nützlichkeit dieser Logenzeremonie für antisemitische Organisationen: Die Feierlichkeit, die mystische Wirkung und die hierarchische Disziplin schüfen eine Einstimmigkeit, die unter den kleinen völkischen Gruppen selten sei. Pohl drängte die Adressaten seiner Briefe dazu, sich dieser Bewegung, die, wie er hinzufügte, von Theodor Fritsch voll unterstützt wurde, anzuschließen. Die Ursprünge der Magdeburger Loge wurden 1918 in einer ungenauen polemischen Schrift gegen Pohl dokumentiert. Dieser Quelle zufolge war die "Hammer-Gemeinde" im Herbst 1910 in Magdeburg gegründet worden, worauf ein gewisser Heinnatz einen inneren Kern von Mitgliedern in Form einer Loge zu etablieren wünschte. Diese Mitglieder konsultierten Fritsch, der darauf hinwies, daß man über die Idee auch bereits in anderen Hammer-Gruppen diskutiert hätte. Am 5. April 1911 wurde dann die Wotanloge, mit Hermann Pohl als gewähltem Meister, gegründet. Am 15. April entstand eine Großloge mit Theodor Fritsch als Großmeister, aber es war die Wotanloge, die die Regeln und die Rituale formulierte. Am 12. März 1912 übernahm die Organisation auf Fritschs Vorschlag den Namen "Germanenorden".

Das Jahr 1912 wurde Zeuge eines rapiden Zuwachses an Gründungen von Germanenlogen im nördlichen und östlichen Deutschland. Im Januar verfaßte Pohl ein Manifest für die "Treulogen", welches zeigte, daß für ihn der Feuereifer der Anhänger von größerer Bedeutung war als deren Anzahl. Dieser Eifer würde eine "arisch-germanische religiöse Wiedergeburt" einleiten, die Gehorsam und Aufopferungsbereitschaft für die Sache eines alldeutschen "Armanenreiches" versprach. Er rief nach der Wiedergeburt einer rassisch reinen deutschen Nation, in der der parasitäre und und revolutionäre rassische Mob (Juden, anarchistische Mischlinge und Zigeuner) deportiert werden sollte. Pohl brachte das erste Mitteilungsblatt des "Germanenordens" heraus, in dem er über die zeremonielle Gründung von Logen in Breslau, Dresden und Königsberg im Frühling schrieb; vor dieser Zeit waren schon Logen in Berlin und Hamburg tätig. Brüder in Bromberg, Nürnberg, Thüringen und Düsseldorf warben um Mitglieder, damit sie in naher Zukunft selbst Logen gründen konnten. Die Gesamtanzahl der Brüder zu diesem Zeitpunkt betrug 140 und erhöhte sich bis zum Dezember 1912 auf 316, die sich wie folgt verteilten: Breslau 99, Dresden 100, Königsberg 42, Hamburg 27, Berlin 30 und Hannover 18. Im darauffolgenden Januar wurde in Duisburg eine Loge mit 30 Brüdern eingerichtet. Pohl legte nun den Titel "Sekretär" ab und nannte sich "Kanzler" des Ordens. Im Laufe desJahres 1913 wurden auch in München und Nürnberg Logen gegründet, aber der Erfolg dieser Ordensgruppen in den südlichen Provinzen blieb im Vergleich zu den nördlichen und östlichen Teilen Deutschlands bescheiden. Eine Gruppe des "Reichshammerbundes" in München wurde im Frühling 1914 von Wilhelm Rohmeder, dem Vorsitzenden des "Deutschen Schulvereines" und seit 1908 Mitglied der "List-Gesellschaft", gegründet. Zwischen diesen beiden Organisationen gab es hinsichtlich der Mitglieder eine starke Überschneidung.

Der Geschichte des frühen "Germanenordens" muß ein Bericht über die Ziele, Regeln und Rituale hinzugefügt werden. Laut einem Rundschreiben der fränkischen Provinz war sein Hauptziel die Überwachung der Juden und ihrer Aktivitäten durch Schaffung eines Zentrums, an das alles antisemitische Material zwecks Weiterverteilung gesandt werden sollte. Weitere Ziele waren die gegenseitige Hilfe der Brüder in Belangen wie Geschäftsanbahnungen, Vertragsabschlüssen und Finanzen. Letztlich waren sie alle zur Verbreitung völkischer Zeitschriften verpflichtet, vor allem der des Hammers, "unserer schärfsten Waffe im Kampf gegen das Judentum und sonstige Volksfeinde". Die Regeln des "Germanenordens" zeigen einen offensichtlichen Einfluß der Ariosophie. Alle deutschen Männer und Frauen tadellos germanischer Abstammung waren zur Aufnahme in den Orden zugelassen. Bewerbungsformulare fragten nach Details hinsichtlich Haar-, Augen- und Hautfarbe des Bewerbers. Ideale Farben waren blondes bis dunkelblondes Haar, blaue bis hellbraune Augen und helle Haut. Nähere Angaben über die Eltern und Großeltern des Bewerbers (der Bewerberin) wie auch über den Ehepartner waren ebenso erforderlich.

Eine Broschüre für die Anwerbung von Mitgliedern erläuterte, daß körperlich Behinderte und "dem Aussehen nach unsympathische Menschen" vom Beitritt ausgeschlossen seien; sie wies hinsichtlich der Kandidatenauswahl auf die Ostara-Nummern zwischen 1908 und 1913 hin, welche sich mit rassischer Somatologie beschäftigten. Ein Rundschreiben des "Germanenordens" berichtete, daß man die Satzungen nach einer Diskussion mit Karl August Hellwig gemäß jenen der "Armanenschaft" formuliert hätte. Das Ritual gehe ebenfalls auf das Zeremoniell der "Armanenschaft" zurück, aber gegen den Vorschlag, daß man die Brüder der höheren Grade "Armanen" nennen sollte, hätte die "Armanenschaft" ihr Veto eingelegt. Daraus läßt sich schließen, daß Hellwig mit einem zeitgenössischen Verein in Verbindung stand, der "Armanenschaft" genannt wurde. Es handelt sich wohl entweder um den "Armanen-Rat" des "Reichshammerbundes" oder um den HAO, dessen deutscher Hauptrepräsentant Philipp Stauff in Berlin war.

Die Embleme des "Germanenordens" deuten auf eine weitere Quelle ariosophischer Inspiration hin. Ab Mitte des Jahres 1916 trug das offizielle Ordensorgan Allgemeine Ordens-Nachrichten auf seinem Titelblatt eine Swastika mit gekreuzten Armen über einem Kreuz. Später erschien in der Zeitschrift auch Werbung für völkischen Schmuck, Ringe, Anhänger und Krawattennadeln, verziert mit verschiedenen Runen und dem Hakenkreuz. Die betreffende Firma, ein gewißes Haus Ecklöh in Lüdenscheid (Westfalen), verwendete Entwürfe, die von Mitgliedern der "List-Gesellschaft" während des Krieges angefertigt worden waren. Obwohl die Swastika unter den verschiedenen völkischen Vereinen in Deutschland allgemein bekannt war, waren es der "Germanenorden" und dessen Nachfolgeorganisation im Nachkriegs-München, die "Thule-Gesellschaft", von denen die Nationalsozialisten dieses Emblem übernahmen.

Das Zeremoniell und das Ritual des "Germanenordens" demonstrieren seine seltsame Synthese von rassistischer, freimaurerischer und wagnerianischer Inspiration. Eine Ladung zu einer Initiationszeremonie der Provinz Berlin am 11. Januar 1914 informierte die Brüder über die Gehrockpflicht zu diesem Anlaß wie auch über die Tatsache, daß sich alle neuen Kandidaten Rassetests des Berliner Phrenologen Robert Burger-Villingen zu unterziehen hatten, der den "Plastometer" erfunden hatte, um die relative arische Reinheit des zu Überprüfenden mit Hilfe von Schädelmessungen feststellen zu können. Ein erhaltenes Dokument über ein Ritual (ca. aus dem Jahre 1912) beschreibt die Initiation von Novizen in den untersten Ordensgrad. Während sie im Nebenraum warteten, versammelten sich die Brüder im Zeremoniensaal der Loge. Der Meister nahm seinen Platz auf der Stirnseite des Raumes unter einem Baldachin ein, der von zwei Rittern flankiert wurde, die weiße Roben und Helme mit Hörnern trugen und auf ihre Schwerter gestützt waren. Vor diesen saßen der Schatzmeister und der Schriftführer, die weiße Freimaurerschärpen trugen; der Herold nahm seinen Platz in der Raummitte ein. Am Ende des Raumes, im Gralshain, stand der Barde in weißem und vor ihm der Weihemeister in blauem Talar. Die anderen Logenbrüder saßen in einem Halbkreis um den Weihemeister bis zu den Tischen des Schatzmeisters und des Schriftführers. Hinter dem Gralshain befand sich ein Gesangs- und Musikraum, in dem ein Harmonium und ein Klavier von einem kleinen Chor von "Waldelfen" musikalisch begleitet wurden.

Die Zeremonie begann mit leiser Harmoniummusik, während die Brüder den "Pilgerchor" aus Wagners "Tannhäuser" sangen. Kerzen wurden entzündet, die Brüder machten das Zeichen der Swastika , und der Meister erwiderte dieses. Dann wurden die Novizen mit verbundenen Augen, Pilgermäntel tragend, vom Weihemeister in den Raum geleitet. Hier sprach nun der Meister zu ihnen über die ario-germanische und aristokratische Weltanschauung des Ordens, bevor der Barde das heilige Feuer (Kiefernadelessenz) entzündete und den Novizen Mäntel und Augenbinden abgenommen wurden. In diesem Augenblick hob der Meister Wotans Speer und hielt ihn vor sich, dieweil die beiden Ritter ihre Schwerter über ihm kreuzten. Eine Reihe von Rufen und Antworten, begleitet von Musik aus dem "Lohengrin", vervollständigte den Eid der Novizen. Ihre Weihe begleiteten Rufe der "Waldelfen", während die neuen Brüder im Gralshain rund um das heilige Feuer des Barden geführt wurden. Mit den rituelle Archetypen der germanischen Mythologie personifizierenden Amtsträgern der Loge muß dieses Zeremoniell bei den Anwesenden einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen haben.

Verwirrung brach im Orden aus, als viele Brüder zum Kriegsdienst eingezogen wurden. Julius Rüttinger, Meister der fränkischen Provinz, kam schon bald an die Front. Hermann Pohl schrieb ihm im November 1914, daß es zu ernsten finanziellen Problemen gekommen sei, da beinahe die Hälfte aller Brüder in der Armee diente:
Der Krieg ist nur aber zu zeitig auf die Welt gekommen, der G.O. war noch nicht richtig organisiert und kristallisiert, und wenn der Krieg lange dauert, geht der Orden in die Stücke. An der Front ist eine große Anzahl Ordensbrüder gefallen.

Trotz Pohls Sorge um das Überleben des Ordens würdigten einige prominente Brüder seinen Einsatz nicht. Im Juli 1914 schlug der Meister der Leipziger Loge Pohl höflich vor, zurückzutreten, und 1915 versuchten Mitglieder der Berliner Loge sogar, sich abzuspalten. Ende 1915 schrieb schließlich Töpfer, der Nachfolger Rüttingers in Nürnberg, daß die Brüder der Rituale, Zeremonien und Bankette, die Pohl offenbar als Hauptzweck des Ordens betrachtete, überdrüssig seien.

Die Dinge spitzten sich am 8. Oktober 1916, anläßlich eines Treffens der thüringischen Provinz in Gotha, zu, das sowohl von den thüringischen Brüdern als auch von jenen der Nachbarprovinzen besucht wurde. Die Berliner Brüder riefen die Versammlung in Gotha auf, Pohl seines Amtes als Kanzler zu entheben. Erbost über die undankbare Antwort darauf, daß er seit 1911 für den Orden keine Mühen gescheut hatte, erklärte er sich sofort zum Kanzler eines schismatischen "Germanenordens Walvater", dem sich die schon bestehenden Logen in den Provinzen Schlesien (Breslau), Hamburg, Berlin und dem Osterland (Gera) anschlossen. Pohls Verteidiger in Berlin waren G. W Freese und Bräunlich, die neue Berliner Logen im Stadtzentrum und in Groß-Lichterfelde gründeten. Der ursprüngliche Orden wurde fortan von Generalmajor Erwin von Heimerdinger (geb. 1856) als Kanzler, Dr. Gensch als Schatzmeister und Bernhard Koerner als Großsippenwahrer (ein Amt, das in Einklang mit seinen genealogischen und heraldischen Interessen stand) geleitet. In allen Ordensangelegenheiten wurde strenges Stillschweigen verlangt, und die Amtsträger in Berlin erklärten, daß sie fortan nur noch anonym unter den Runen 5, 1 und h bekannt sein würden. Philipp Stauff und Eberhard von Brockhusen wurden auch als Inhaber von Ordensämtern in der loyalen Berliner Provinz ehrenvoll erwähnt.

Diese neuen Aktivitäten des loyalen Ordens in Berlin waren wohl vor allem den Bemühungen Philipp Stauffs zu verdanken. Geboren am 26. März 1876 in Moosbach, erwarb er sich einige Erfahrungen als Journalist, bevor er seine eigene nationalistische Zeitschrift Wegweiser und Wegwarte ab 1907 in Enzisweiler am Bodensee herausbrachte. Um 1910 ging er nach Kulmbach in Franken, wo er Herausgeber einer anderen Zeitschrift mit ähnlichem Tenor wurde. Stauff trug sich mit dem Gedanken, eine Vereinigung völkischer Autoren zu gründen – ein Plan, den er Ende 1910 realisierte, nachdem er um die hundert nationalistische, rassistische und antisemitische Schriftsteller, wie Adolf Bartels, Ludwig Wilser, Johannes Hering und Lanz von Liebenfels, angeworben hatte. 1912 ging Stauff nach Berlin, wo er seine völkischen Publikationen fortsetzte. Er brachte ein Verzeichnis der zeitgenössischen alldeutschen und antisemitischen Gruppen als Das deutsche Wehrbuch (1912) heraus und – im Auftrag von Heinrich Kräger, der zusammen mit Alfred Brunner 1918 die "Deutsch-Sozialistische Partei" gegründet hatte – veröffentlichte den Semi-Gotha und Semi-Alliancen, genealogische Handbücher, die Juden innerhalb des deutschen Adels identifizieren wollten. Dieses Projekt hatte nicht die Absicht, den Adel zu diskreditieren, sondern sollte dessen "Reinigungsprozeß" fördern. Die Nachschlagewerke erschienen zwischen 1912 und 1914 in Form einer Reihe und brachten Stauff einen Rechtsstreit ein. Ein ähnliches Handbuch, der Semi-Kürschner, angelehnt an Kürschners Deutschen Literaturkalender, listete Juden auf, die im öffentlichen Leben als Autoren, Schauspieler, Bankiers, Offiziere, Ärzte und Rechtsanwälte aktiv waren, und verwickelte Stauff in eine Sturmflut von Dementis und Protesten während des gesamten Jahres 1914.

Stauff selbst war 1910 Mitglied der "List-Gesellschaft" in Kulmbach geworden und fand rasch Aufnahme im intimen Kreis um den Meister. Er war einer jener Pilger, die im Juni 1911 nach Wien kamen, um an den HAO-Feiern und Wanderungen zu den Heiligtümern der alten Armanen teilzunehmen. 1912 avancierte Stauff zum Vorstandsmitglied der Gesellschaft und zu ihrem großzügigen Anhänger. Seine esoterische Abhandlung Runenhäuser erweiterte die Listsche These über armanische Relikte mit der Behauptung, daß die alte runische Weisheit mittels geometrischer Konfigurationen im Gebälk der Fachwerkhäuser in ganz Deutschland verewigt wäre. Anfang 1913 nahm Stauff an einer Reihe spiritueller Sitzungen teil, von welchen behauptet wurde, daß man in ihnen mit langverstorbenen Priesterkönigen der alten Religion Kontakt auf genommen hatte. Es existieren darüber hinaus dokumentarische Belege, die behaupten, daß Stauff auch dem Ordo Novi Templi schon vor dem Krieg nahegestanden habe.

Nach dem Schisma des Jahres 1916 herrschte in den Ordensangelegenheiten Verwirrung. Pohl hatte Stampiglie und Briefpapier des alten Ordens behalten, so daß er Rundschreiben und Nachrichten unter dem Namen des loyalen Ordens herausbringen konnte, was dazu führte, daß Kandidaten der loyalen Loge seiner Gruppe beitraten. Das Chaos war so groß, daß Mitglieder der beiden Orden überzeugt davon waren, der Orden sei aufgelöst worden. So schrieb Bernhard Koerner, der als Rittmeister seit 1915 in Frankreich im Felde stand, 1917 an List, der Orden sei nun untergegangen. Trotz der Versendung autoritativer Rundschreiben waren die Amtsträger des Ordens zu jenem Zeitpunkt mit dem wahren Stand der Ordensangelegenheiten nicht mehr vertraut.

Nach dem Waffenstillstand im November 1918 machten sich Brüder des loyalen "Germanenordens" an dessen Wiederaufbau. Der Großmeister Eberhard von Brockhusen (1869-1939) war Gutsbesitzer in Brandenburg und großzügiger Förderer der "List-Gesellschaft". Damals jedoch hatte er erhebliche Probleme mit den polnischen Arbeitern auf seinen Besitzungen und beschwerte sich, daß die Ordensadministration aufgrund der fehlenden Statuten chaotisch sei; Anfang 1919 bat er Erwin von Heimerdinger, ihn aus den Ordensdiensten zu entlassen. Obwohl Stauff Brockhusen informiert hatte, daß sein Rücktrittsgesuch Anfang März akzeptiert worden sei, schien sich die Diskussion noch weiterzuziehen, da Brockhusen im Sommer noch immer nach einer Reform rief und Stauff der üblen Nachrede bezichtigte. Brockhusens Briefwechsel zeigt seine große Bestürzung über die Nachkriegsbedingungen und einen Haß auf die Polen. Im Spätsommer legte Heimerdinger das Amt des Kanzlers freiwillig zugunsten des Großherzogs Johann Albrecht von Mecklenburg zurück, der vom Orden und dem Einsatz der Freikorps in den baltischen Ländern begeistert war. Der Orden verlor aber schon bald, nämlich am 6. Februar 1920, diesen berühmten Gönner, als er einem Herzanfall erlag. Brockhusen verblieb im Amt, und 1921 wurde seine Verfassung endlich akzeptiert, welche eine außerordentlich komplexe Organisation von verschiedenen Graden, Ringen und provinziellen "Burgen" vorsah, um jene Geheimhaltung für ein landesweites System lokaler Gruppen zu schaffen, das viele Verbindungen zu militanten völkischen Vereinigungen, wie dem "Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund", haben sollte.

Trotz der unwichtigen und nutzlosen Debatten der älteren Amtsträger in Berlin initiierten die Provinzorganisationen des Ordens geheime Aktivitäten, wie Attentate auf Personen des öffentlichen Lebens, die man mit der neuen deutschen Republik assoziierte, diesem traurigen Symbol von Niederlage und Schande für den radikalen Nationalismus. Der "Germanenorden" wurde 1921 als Tarnorganisation für die Rekrutierung politischer Attentäter verwendet. Die Mörder von Matthias Erzberger, dem ehemaligen Reichsfinanzminister und verhaßten Unterzeichner des Waffenstillstandes, waren Heinrich Schulz und Heinrich Tillessen, die beide nach der Demobilisierung zu Kriegsende stark von der völkisehen Propaganda beeinflußt worden waren. Sie hatten sich im Juli 1920 in Regensburg niedergelassen, wo sie Lorenz Mesch, den örtlichen Führer des "Germanenordens", trafen. Im Mai 1921 kamen sie nach München, wo sie ihre Anweisungen zur Ermordung Erzbergers von einer Person erhielten, die behauptete, die Vollmacht des "Germanenordens" zu haben. Die Spuren des versuchten Attentats auf Maximilian Harden, den republikanischen Publizisten, führten ebenfalls zum Orden. Die eindrucksvolle Geheimhaltung und Ideologie des Ordens inspirierten völkische Fanatiker, die jüdischen und republikanischen Feinde der Nation im Sinne einer modernen "Feme" zu ermorden.

Nach 1921 war der loyale "Germanenorden" nur noch eine unter den zahlreichen rechtsgerichteten und antisemitischen Organisationen, die auf Unterstützung durch verärgerte und revanchistisch gestimmte Deutsche in der Weimarer Republik hofften. Um seinen Einfluß auf den Nationalsozialismus auszuleuchten, muß man Hermann Pohl und seinen "Germanenorden Walvater" erwähnen, der Ende 1916 das Interesse Rudolf Sebottendorffs erregt hatte. Sebottendorff wurde Mitglied des schismatischen Ordens und rief zu Weihachten 1917 dessen bayrischen Zweig in München wieder ins Leben. Damit legte er den Grundstein für eine wichtige völkische Organisation, die Zeuge der Geburt der NSDAP wurde. Ohne diesen Mann wären wahrscheinlich sowohl der "Germanenorden" wie auch die Ariosophie in Vergessenheit geraten.

Ariosophie und Adolf Hitler

Die reaktionären politischen Motive und revolutionären Erwartungen der verschiedenen Armanen, Ariosophen und Runenokkultisten lassen einen Vergleich mit den Ideen des Nationalsozialismus zu. Die Begeisterung der arischen Okkultisten für den NS wurde bereits erwähnt: Lanz von Liebenfels schrieb 1932, daß "Hitler einer unserer Schüler ist", und sowohl Werner von Bülow als auch Herbert Reichstein bejubelten die Heraufkunft des Dritten Reiches in ihren Zeitschriften. Unsere letzte Frage muß aber lauten, in welchem Ausmaß die Ariosophie den Nationalsozialismus beeinflußt hat. Einige Antworten darauf wurden bereits gegeben. Die frühe NSDAP läßt sich hinsichtlich ihrer Sponsoren, Zeitschriften und Symbole direkt auf die "Thule-Gesellschaft", den "Germanenorden" und so auf die Ideen von Guido von List zurückführen. Es wurde auch beschrieben, wie Karl Maria Wiligut, dessen vorgeschichtliche Spekulationen im Gedankengut von List und seinen armanischen Epigonen wurzelten, offiziell von Himmler gefördert wurde. Um unsere Nachforschungen zu vervollständigen, müssen wir nun unsere Aufmerksamkeit auf die Weltanschauung Adolf Hitlers und ihre möglichen Ursprünge in der Ariosophie lenken.

Friedrich Heer beschrieb die verschiedenen Städte, in denen der junge Hitler gelebt hatte, und berichtete über ihre kulturelle Atmosphäre und ihren potentiellen Einfluß auf ihn. 1889 wurde Adolf Hitler in Braunau am Inn geboren, wo sein Vater als kaiserlicher Zollbeamter arbeitete. Zwischen 1892 und 1895 wurde dieser nach Passau versetzt. Die dominant barock-katholische Kultur dieses alten kirchlichen Zentrums kam im Dom, in den Kirchen, Klöstern und Kapellen der Stadt, aber auch im allgegenwärtigen Klerus und den reichen liturgischen Festen sichtbar zum Ausdruck. Heer ist der Meinung, daß dieses Ambiente dem Kind Adolf Hitler ein grundsätzlich religiös-millennarisches Bewußtsein vermittelt hat, welches später seine Einstellung und Weltsicht charakterisierte. Solch ein Einfluß wäre folglich durch den Besuch der Klosterschule im Benediktinerstift Lambach (von 1897-1899) noch verstärkt worden. Man sagt, daß Hitler dort glücklich war und aktiv an den Zeremonien und Prozessionen der Kirche teilnahm, die das Antlitz der Stadt prägten. Die häufige Darstellung von Dorfkirchen, Klöstern und der monumentalen Kirchenarchitektur Wiens auf Hitlers Bildern zwischen 1906 und 1913 ist ein weiterer Beweis für die Anziehungskraft der visuellen Metapher der katholischen Kirche und ihrer tausendjährigen Kontinuität in seinem Heimatland. Diese tiefe Eingebundenheit in die katholische Kultur konnte auch den Boden aufbereiten für eine Aufgeschlossenheit bezüglich der dualistisch-millennarischen Ideen der Ariosophie.

Hitlers Zeit in Linz von 1900 bis 1905 war eine weniger glückliche. Die intellektualistisch-städtische Umgebung übte auf den Knaben, der mehr an das Schulleben in kleinen Städten und am Land gewöhnt war, starken Druck aus, und seine Leistungen verschlechterten sich. Aber es war die Stadt Linz, in der Hitler das erste Mal mit Nationalismus und Alldeutschtum in Berührung kam. Linz liegt nahe der tschechisch besiedelten Gebiete Südböhmens, und das Eindringen tschechischer Immigranten, ihrer Geschäfte und Besitzinteressen wurde von den deutschen Österreichern der Stadt argwöhnisch beobachtet. Hitlers Geschichtslehrer, Dr. Leopold Pötsch, war in mehreren nationalen Vereinen bekannt und brachte seinen Schülern mit Hilfe von Laterna magica-Vorführungen die großen Zeiten der deutschen Geschichte – die Nibelungen, Karl den Großen, Bismarck und die Errichtung des Zweiten Reiches – näher. Hitler war von diesen Geschichtsstunden immer begeistert, und es läßt sich sein Glauben an "Deutschland" als Muttersymbol für eine ebenso romantische Volksidentität wie auch auf eine imperiale Kontinuität auf diese Erfahrungen in seiner Linzer Schulzeit zurückführen. Heer ermittelte von überlebenden Zeitzeugen einige Berichte über Hitlers Jugendinteresse an deutschen rassischen Charakteristika und die Unterteilung seiner Mitschüler in Deutsche und Nicht-Deutsche. Diese frühe Fixierung auf Mutter Deutschland jenseits der Grenze findet sich im Zusammenhang mit manichäischen und millennarischen Ideen ebenso auch in den Schriften von List und Lanz von Liebenfels.

Auf einer rationaleren Stufe veranlaßten seine Interessen und Ambitionen Hitler zu seinem selbständigen Umzug nach Wien, um dort eine offizielle künstlerische Ausbildung zu absolvieren. Sein Leben in der Hauptstadt wurde aber fatal davon bestimmt, daß er nicht an der Akademie der bildenden Künste aufgenommen wurde. Nach der Ablehnung im Oktober 1907 und dem Tod seiner Mutter zu Weihnachten kehrte Hitler im Februar 1908 von Linz nach Wien zurück, wo er das Leben eines privaten Kunststudenten mit bescheidenen Mitteln führte. Gemeinsam mit August Kubizek, seinem Freund aus Linzer Knabentagen, genoß er die Galerien, die Stadtarchitektur und die Wagner-Opern bis zum Sommer. Danach beeinträchtigten das wachsende Gefühl des Ausgeschlossenseins von einer tatsächlichen Künstlerkarriere, seine Aversion gegen jede andere Art von Arbeit und die ständige Geldknappheit die Idylle immer mehr. Im November 1908 verschwand er aus der gemeinsamen Unterkunft und lebte fortan allein. Nun erlebte Hitler die Schattenseiten der Stadt. Die schäbigen Mietzimmer, die überfüllten Suppenküchen, die schmutzigen Billigpensionen, die ärmlichen Straßen, die von fremden Einwanderern aus den Provinzen wimmelten, und die Juden mit ihren fremden Trachten und Sitten repräsentierten eine zusammenbrechende Welt. Wien und das multiethnische Habsburgerreich erschienen Hitler in seinem Unglück als völlige Antithese seines märchenhaften Bildes von Mutter Deutschland und ihrer reinen nationalen Kultur. In solch einer Gemütsverfassung wäre Hitler äußerst aufnahmebereit für den manichäischen Dualismus von Blonden und Dunklen, Helden und Untermenschen, Ariern und Ischandalen gewesen, wie Lanz von Liebenfels ihn in der Ostara beschrieb.

Aber gibt es einen Beweis dafür, daß Hitler die Ostara kannte und daß sie auf ihn, neben den anderen erwähnten Faktoren, einen bestimmenden Einfluß ausgeübt hat? An erster Stelle steht die einwandfreie Chronologie. Bis Mitte 1908 hatte Lanz schon 25 Ostara-Nummern herausgegeben und weitere 40, bis Hitler im Mai 1913 Wien schließlich verließ. In Anbetracht der Ähnlichkeit ihrer Ansichten bezüglich der Glorifizierung und Erhaltung der gefährdeten arischen Rasse, der Unterdrückung und Eliminierung ihrer Feinde und der Errichtung eines sagenhaften arisch-deutschen Tausendjährigen Reiches scheint eine Verbindung zwischen diesen beiden Männern höchst wahrscheinlich. Hitler behauptete später in Mein Kampf, daß seine Erfahrungen in Wien den "granitenen" Grundstein für seine Ansichten gelegt und daß er zu dieser Zeit rassische Broschüren studiert hätte. Ein lokaler ideologischer Einfluß scheint ebenfalls absolut nicht undenkbar. Frühe Biographen Hitlers neigen dazu, ihre Ausführungen über dessen angebliche Quelle der Inspiration auf intellektuell respektable Schriftsteller in Sachen rassische Überlegenheit und Antisemitismus, wie Gobineau, Nietzsche, Wagner und Chamberlain, zu beschränken. Aber es gibt keinen Beweis, daß Hitler ihre wissenschaftlichen Arbeiten gelesen hat. Alles in allem ist es wahrscheinlicher, daß er Vorstellungen aus billigen und leicht zugänglichen Broschüren des damaligen Wien aufgriff, um seine eigenen dualistischen Ansichten und seine Fixierung auf Deutschland rational zu erklären.

Österreichische Gelehrte behaupteten als erste, daß Hitler die Grundlagen für seine politischen Ideen aus der Trivialliteratur eines Lanz von Liebenfels bezogen hatte. Schon in den dreißiger Jahren machte sich August M. Knoll vor seinen Studenten an der Wiener Universität über die Nationalsozialisten lustig, indem er behauptete, daß der deutsche Führer seine Ideen schlicht und einfach aus der ortsbekannten, skurrilen Ostara bezogen habe. Diese ursprünglich polemische Vermutung verfolgte nach dem Krieg als erster Wilfried Daim, ein Wiener Psychologe mit besonderem Interesse an den Lehren von Sekten und politischen Ideologien. Als Knoll die Übereinstimmung der bizarren Ideen eines Lanz von Liebenfels mit der NS-Bewegung erwähnte, fand dies Daims großes Interesse, da er die Absicht hatte, ein Buch über den Nationalsozialismus als pervertiertes Religionssystem zu verfassen. Die Existenz eines Sekten-Vaters, der hinter der NS-Ideologie steckte, hätte seiner These großes Gewicht verliehen. Bald entdeckte man, daß Lanz noch lebte, und die beiden Wissenschaftler konnten ihn in seinem Heim in Grinzing interviewen. Am 11. Mai 1951 erzählte Lanz Daim, daß Hitler ihn 1909 im Ostara-Büro in Rodaun besucht hätte. Lanz erinnerte sich, daß Hitler seine Wohnung in der Felberstraße erwähnte, in deren Nähe eine Tabak-Trafik war, von der er die Ostara beziehe. Er habe von seinem Interesse an Lanzens Rassentheorien gesprochen und wollte einige alte Nummern kaufen, um seine Sammlung zu vervollständigen. Lanz bemerkte, daß Hitler sehr ärmlich ausgesehen hätte und daß er ihm die gewünschten Nummern kostenlos gegeben habe – sowie zusätzlich zwei Kronen für die Rückfahrt ins Stadtzentrum.

Lanzens Aussage wird auch durch mehrere unabhängige Beweise bestätigt. Nach Polizeiakten wohnte Hitler tatsächlich vom 18. November 1908 bis 20. August 1909 in der Felberstraße 22/16, einer trübseligen Straße an der Nordseite des Westbahnhofes, in die er nach seinem plötzlichen Auszug aus der gemeinsamen Wohnung mit August Kubizek gezogen war. Daim fand bei der Österreichischen Tabakregie (heute Austria Tabakwerke AG) sogar heraus, daß sich im Erdgeschoß des Hauses Felberstraße 18 damals tatsächlich eine Tabak-Trafik befunden hatte. Lanz hätte diese Einzelheiten wohl kaum gewußt, hätte Hitler sie ihm nicht selbst erzählt. Die Erwähnung von Hitlers Armut trifft ebenfalls zu, da sich dessen Mittel im Laufe des Jahres 1909 fast völlig erschöpft hatten. Im Herbst und Winter wurde seine Not so groß, daß er gezwungen war, in Wärmestuben und billigen Logierhäusern Unterkunft und Wärme für die Nacht zu suchen. Für den Wahrheitsgehalt der Aussagen Lanzens ist auch ins Treffen zu führen, daß dieser im Jahre 1951 kaum Veranlassung gehabt hätte, eine Verbindung mit Hitler und dem Nationalsozialismus zu konstruieren, zumal Wien damals von den Alliierten besetzt und politische Untersuchungen noch an der Tagesordnung waren. Deshalb ist anzunehmen, daß Hitler Lanz tatsächlich besucht hat und daß er regelmäßig Ostara-Leser war.

Um die Aussage von Lanz zu untermauern, interviewte Daim in der Folge Josef Greiner, den er als überlebenden Hauptaugenzeugen von Hitlers Leben in Wien nach 1908 betrachtete. In seiner Nachkriegsbiographie über Hitler, Das Ende des Hitler-Mythos (1947), behauptete Greiner, daß er mit Hitler befreundet gewesen war, als sie zusammen im Männerheim in der Meldemannstraße in Wien-Brigittenau wohnten, wo Hitler vom Februar 1910 bis zu seiner Abreise nach München im Mai 1913 lebte. Am 31. Dezember 1955 versorgte Greiner Daim mit weiteren Einzelheiten über Hitlers Leben in diesem Wohnheim. Er erzählte, daß Hitler eine beträchtliche Ostara-Sammlung besessen habe – es soll sich um mindestens 50 Nummern in einem Stoß von rund 25 Zentimeter Stärke gehandelt haben. Als Daim ihm Nummern der ersten Ostara-Reihen zeigte, glaubte Greiner, sich an die besondere Kometen-Zeichnung auf den Umschlägen der frühesten Nummern zu erinnern. Er behauptete auch, sich hitziger Debatten zu entsinnen, die Hitler mit einem Mitbewohner namens Grill über die rassischen Ideen des Lanz von Liebenfels geführt habe. Im Verlauf eines späteren Gespräches mit Daim erzählte Greiner, daß Hitler und Grill einmal die Abtei in Heiligenkreuz aufgesucht hätten, um sich nach der aktuellen Adresse von Lanz zu erkundigen.

Trotz Daims Überzeugung, daß Greiners Erinnerungen verläßlich und seine Aussagen authentisch sind, müssen diese mit äußerster Vorsicht behandelt werden. Erstens stellte sich heraus, daß Greiners Hitler-Biographie so ungenau und in vielen Details sogar schlichtweg erfunden ist, daß einige Wissenschaftler bezweifeln, daß er Hitler überhaupt je getroffen hat. Die schwerwiegendsten Zweifel bezüglich ihrer Authentizität als Quelle betreffen die Datierung. Greiner erzählte Jetzinger, daß er sich 1907 mit Hitler im Männerheim angefreundet habe und daß ihre Bekanntschaft endete, als er 1909 nach Berlin ging, um Maschinenbau zu studieren. Da Hitler erst 1910 in dieses Heim zog, kann Greiner ihn nicht getroffen haben – es sei denn, er irrte sich im Datum. Andererseits erinnert sich Reinhold Hanisch, ein anderer Heimbewohner, der Hitlers Bilder verkauft hatte, an einen Mann namens Greiner im Asyl. Dies würde darauf hinweisen, daß Greiner Hitler doch gekannt, das genaue Datum jedoch vergessen hat. Aber Greiners Erfindungsgeist bleibt auch in seiner Aussage gegenüber Daim offenkundig: Weshalb sollte sich Hitler um Lanzens Adresse bei den Mönchen in Heiligenkreuz erkundigt haben, wo er schon Ostara-Hefte besaß, die die Büroadresse enthielten (und wenn er auch erst vor kurzem, nämlich 1909, Lanz besucht hatte)? Der Klosterbesuch kann auch nicht vor 1910 stattgefunden haben, da Hitler Grill, seinen Begleiter bei der angeblichen Fahrt nach Heiligenkreuz, erst kennengelernt haben kann, als er 1910 in das Heim zog. Der einzige brauchbare Sachverhalt von Greiners Aussage bezüglich des möglichen Einflusses von Lanz auf Hitler ist, daß dieser eine Ostara-Sammlung besessen und oft mit Grill im Männerheim über Lanzens Theorien diskutiert haben soll.

Zu diesen Aussagen von Lanz und Greiner kommt der innere Beweis einer ideologischen Übereinstimmung zwischen Lanz und Hitler. Ihre manichäisch-dualistische Weltanschauung weist Ähnlichkeit auf: Die Welt ist geteilt in helle, blauäugige, blonde, arische Helden und in dunkle, nicht-arische Dämonen, die demgemäß für Gut und Böse, Ordnung und Chaos, Errettung und Zerstörung im Universum arbeiten. Der Arier wird von beiden als Quelle und Instrument alles Guten, Edlen und Konstruktiven betrachtet, während der Nicht-Arier für Chaos, Zersetzung und Verfall verantwortlich zeichnet. (Wobei festgehalten werden muß, daß es im Verständnis des Begriffes "Arier" bei Lanz und Hitler erhebliche Unterschiede gibt!) Lanzens detaillierte Anweisungen zu einer arischen Vorherrschaft fanden im Dritten Reich ihr Echo: Verbot von Mischehen zwischen Nicht-Ariern und Ariern (im speziellen Fall Juden betreffend), das brutale Vorgehen gegenüber "rassisch Minderen", die Förderung der raschen Vermehrung reinrassiger Deutscher mit Hilfe verschiedener Programme sowie die Betreuung unverheirateter Mütter in den Lebensborn-Mütterheimen. Hitler und Lanz hatten auch eine ähnliche Haltung bezüglich Sexualität und Heirat. Beide Männer betonten den Wert der Ehe für die Fortpflanzung, betrachteten Frauen jedoch ambivalent. Lanz beschrieb sie als "erwachsene Kinder", verdammte aber ihre Grundtendenz, durch sexuelle Vorliebe für rassisch Mindere die Heranzucht einer Herrenrasse zu sabotieren. Hitler behandelte Frauen äußerst zuvorkommend, aber seine eigenen geschlechtlichen Beziehungen sind durch eine Mischung von Verehrung, Angst und Abscheu gekennzeichnet.

Hitler hätte auch andere Bestandteile der Ideologie von Lanz nicht akzeptieren können. Lanz wünschte sich einen pan-arischen Staat unter Herrschaft der Habsburger in Wien, während Hitler diese Dynastie verachtete und seinen Blick von ihrem rassischen Babylon ab- und dem deutschen Mutterland über der Grenze zuwandte. Lanzens Lehre war überdies tief durchdrungen von katholischer und insbesondere zisterziensischer Liturgie: Gebete, Kommunion und die Ankunft eines rassisch reinen Messias namens Christ-Frauja, die Errichtung von Prioraten des Ordens der Neuen Templer und die Ausführung der Zeremonie hätten reichlich wenig Anziehungskraft auf Hitler besessen, der als Erwachsener katholische Rituale ablehnte und sich später selbst als den Erlöser Deutschlands sah. Andererseits hätte Hitlers Begeisterung für Wagners ritterliche Darstellung des Grals, der ihn bewachenden Ritter und ihres Idealismus ihn für Lanzens Vorstellungen von einem Kreuzfahrer-Orden, der sich der Reinheit des arischen Blutes verpflichtete, empfänglich machen müssen.

Wie dem auch sei: Während des Dritten Reiches war es Lanz verboten, zu publizieren, und seine beiden Organisationen, der ONT und der "Lumenklub", wurden auf Anordnung der Gestapo offiziell aufgelöst. Diese Maßnahmen waren wahrscheinlich ein Resultat der allgemeinen NS-Politik der Unterdrückung von Logenorganisationen und esoterischen Gruppen, aber es ist auch möglich, daß Hitler verhindern wollte, daß seine politischen Ideen auch nur im leisesten mit der sektiererischen Lehre eines Lanz in Verbindung gebracht werden konnten. Unter den erhaltenen 2000 Bänden von Hitlers persönlichter Bibliothek findet sich nur eine einzige Monographie von Lanz, Das Buch der Psalmen teutsch (1926), aber dies ist weder ein schlüssiger Beweis, daß das Buch auch gelesen wurde, noch bezieht es sich grundsätzlich auf Lanzens Ideologie, da es sich um ein späteres liturgisches Werk handelt. Auch bleibt eine Tatsache: daß Hitler den Namen Lanz nie in einem aufgezeichneten Gespräch, in einer Rede oder einem Dokument erwähnt hat. Wenn Hitler in einem gewichtigen Ausmaß von der Ostara beeinflußt wurde, so hat er dies jedenfalls nie zugegeben. In Anbetracht seiner steilen politischen Karriere im Deutschland der zwanziger Jahre und seiner titanischen Größe in den Dreißigern ist es freilich auch unwahrscheinlich, daß er auf die skurrilen Arbeiten eines abstrusen Wiener Mystikers als seine ursprüngliche Quelle der Inspiration hingewiesen hätte.

Es scheint somit sehr wahrscheinlich, daß Hitler die Ostara in Wien gelesen und gesammelt hat. Ihre Inhalte konnten dazu dienen, seine sich im Entstehen begriffenen Überzeugungen über die dualistische Natur der Menschheit und der Entwicklung der Welt zu rationalisieren; sie unterstützten seinen eigenen missionarischen Glauben, die Welt retten zu müssen. Wenn sich seine Kenntnis der Reihe auf die Nummern zwischen Ende 1908 und Mitte 1909 beschränkt hat, muß er an Lanzens empirischen Studien über rassische Charakteristika, den Unterschieden zwischen Blonden und Dunklen und der Diskussion über Frauen, Feminismus und Sexualität in diesen speziellen Ausgaben interessiert gewesen sein. So Hitler zwischen 1910 und 1913 im Männerheim die Ausgaben tatsächlich weiter gesammelt hat, hätte er sich mit der vollständigen Palette von Lanzens manichäischen Phantastereien über den Kampf zwischen Blonden und Dunklen um rassische und politische Vorherrschaft vertraut gemacht. Nur: Wenn er in München die Ostara weiter abonniert hätte, hätte er etwas über Lanzens Vorstellung vom Gral als zentralem Mysterium des arischen Rassenkultes und über die "ario-christlichen" Templer erfahren. Aber auch wenn Hitler mit seiner Abreise aus Wien aufgehört hätte, die Ostara zu lesen, hätte er die wesentlichen Aspekte der Ariosophie von Lanz bereits gekannt: die Sehnsucht nach einer arischen Theokratie in Form einer gottgewollten Diktatur der blonden, blauäugigen Germanen über alle rassisch Minderen; der Glaube an eine teuflische Verschwörung solcher Untermenschen gegen die heroischen Germanen der Geschichte und die apokalyptische Erwartung eines alldeutschen Millenniums, in dem sich die arische Weltherrschaft verwirklichen würde. Auf jeden Fall bildete ein starker Schwarz-Weiß-Dualismus den granitenen Unterbau für Hitlers Ansichten.

Der Hinweis auf Hitlers Wissen über Guido von List und dessen Armanismus ist weniger gesichert; er basiert auf der Aussage einer Dritten und einigen literarischen Rückschlüssen. Als Daim im Jahre 1959 in München einen Vortrag über Lanz von Liebenfels hielt, erwähnte er dessen Freund List in der Subkultur des arischen Okkultismus in Wien. Daraufhin trat eine gewisse Elsa Schmidt-Falk an ihn heran, die behauptete, daß Hitler sie und ihren Mann in München regelmäßig besucht hätte. Er habe bei diesen Treffen oft Lists Schriften erwähnt und die Bücher des alten Meisters mit Begeisterung zitiert. Hitler habe ihr auch erzählt, daß ein Mitglied der "List-Gesellschaft" in Wien ihm ein Einführungsschreiben für den Präsidenten der Gesellschaft in München mitgegeben habe, was aber ohne Folgen blieb, da Wannieck entweder "todkrank oder gar schon gestorben war", als Hitler endlich nach München kam. Es gibt eine weitere Münchner Quelle, die Hitlers Interesse an List untermauern könnte. 1921 schenkte Dr. Babette Steininger, ein frühes NSDAP-Mitglied, Hitler zum Geburtstag eine Abhandlung Tagores über Nationalismus. Das Vorsatzblatt versah sie mit der persönlichen Widmung: "Herrn Adolf Hitler, meinem lieben Armanenbruder". Der Gebrauch dieses esoterischen Ausdrucks legt nahe, daß beide ein gemeinsames Interesse an Lists Arbeiten teilten. Ein letzter Hinweis darauf, daß Hitler mit Lists Ideen vertraut gewesen ist, ergibt sich aus Kubizeks Darstellung von Hitlers Entwurf für ein Theaterstück, den er 1908 in ihrer gemeinsamen Wohnung geschrieben hatte. Das Drama handelt vom Konflikt zwischen christlichen Missionaren und germanischen Priestern eines heidnischen Schreines in den bayrischen Bergen. Es wäre leicht möglich, daß sich Hitler diese Inspiration aus Lists Die Armanenschaft der Ario-Germanen geholt hatte, welche im selben Jahr erschienen war.

Elsa Schmidt-Falk war während der zwanziger Jahre für eine genealogische Forschungsgruppe innerhalb der NSDAP in München verantwortlich. Sie erklärte, daß sie Hitler oft getroffen habe und ihn auch aus seiner Zeit in Wien kannte. Ihrer Aussage nach war Hitler von Lists Deutsch-Mythologischen Landschaftsbildern, von denen er die erste Ausgabe besaß, besonders inspiriert worden. Er hatte auch eine hohe Meinung von dem Buch Der Unbesiegbare (1898) und diskutierte mit ihr über viele ariogermanische Forschungsergebnisse. Weiters behauptete sie, daß Hitler von List inspiriert worden sei, unterirdische Grabungen in den Katakomben des Stephansdoms in Wien zu unternehmen, ferner, daß er von dessen Vergrabung der Weinflaschen in Carnuntum (1875) so fasziniert war, daß er diese "erste Swastika" ausgraben wollte, sobald er Österreich annektiert habe, und daß sein Entzücken über Lists örtliche Brauchtumsforschung so weit ging, daß er ihr vorschlug, Bayrisch-Mythologische Landschaftsbilder über die Umgebung von München zu schreiben. Außerdem hätten andere NS- Größen wie Ludendorff, Heß und Eckart angeblich ebenfalls List gelesen.

Das gesamte Spektrum von Schmidt-Falks Behauptungen macht ihren Anspruch auf Wahrheit ziemlich fragwürdig. Es gibt keinen Beweis, daß sich Hitler für Archäologie oder Volkskunde besonders interessiert hat. Wenn er nur die erste Ausgabe der Deutsch-Mythologischen Landschaftsbilder gelesen hat, kann er über die vergrabenen Weinflaschen in Carnuntum gar nichts gewußt haben, da darüber erst in der zweiten Ausgabe von 1913 geschrieben wird. Die Quelle Schmidt-Falks bezüglich Eckart, Heß und Ludendorff ist weder genau angegeben noch ist klar, wann sie Hitler das erste Mal über den Anschluß von Österreich hat sprechen hören. Beide Aussagen würden auf ihre Eingebundenheit in die NS-Bewegung von spätestens 1923 bis zum Dritten Reich hinweisen. Hitlers Interesse an Genealogie – neben seiner eigenen – und daß er Schmidt-Falk mit der Nachforschung bezüglich der Vorfahren von NS-Führern betraut hätte, ist ebenso unbewiesen. Aber auch wenn wir ihre Aussage unbeachtet lassen, bleibt doch die Widmung Steiningers aus dem Jahre 1921, die für Hitlers Kenntnis von den Schriften Lists spricht.

Die politischen Aspekte der Gedankenwelt des alten Gurus müßten Hitler angesprochen haben. List wetterte gegen das politische Aufstreben und den Nationalismus der Tschechen – was mit Hitlers Empfindungen in Linz durchaus übereingestimmt haben muß. Auch List verdammte die phantastische monolithische Verschwörung der Großen Internationalen Partei gegen die Deutschen und deren Verkörperung in Form von Demokratie, Parlamentarismus, Feminismus und "jüdischen" Einflüssen in Kunst, Presse und Wirtschaft. Lists scharfe Unterteilung in Arier und Nicht-Arier findet ihre Parallele in Lanz von Liebenfels’ dualistischer Lehre. In seiner Vision für die Wiederherstellung eines armanischen Staates sieht List eine strenge Beamtenhierarchie, eine abgestufte Autorität und, als traditionelle Verwaltungsbezirke, "Gaue" vor, in die sich auch völkische Vereine, die junge NSDAP und später das Dritte Reich einordneten. Während die Arier alle möglichen Privilegien genießen sollten, wurden Nicht-Arier nur als Hilfs- und Dienervölker gesehen. List predigte auch das Kommen eines alldeutsehen Millenniums, eines neuen ario-germanischen Staates mit weltweiter Vorherrschaft. Mit all dem und auch mit Lists romantischer Beschwörung der alten armanischen Welt samt ihren heroischen Führern und Institutionen hätte Hitler sich sehr wohl identifizieren können.

Weniger wahrscheinlich ist, daß Hitler die veralteten Ansichten in Lists Arbeit geschätzt hat. Ganz gewiß war er an germanischen Legenden und Mythologie interessiert, aber nie daran, ihr Überleben in Volkskunde, Bräuchen und Ortsnamen zu verfolgen. Auch interessierten ihn weder Heraldik noch Genealogie besonders. Hitlers Interesse an Mythologie beschränkte sich vor allem auf die Ideale und Taten ihrer Helden und all deren musikalische Interpretation in den Opern Richard Wagners. Vor 1913 war Hitlers Utopie zudem viel eher auf das deutsche Mutterland jenseits der Grenze gerichtet denn auf ein vorgeschichtliches Goldenes Zeitalter, auf das die okkulten Interpretationen von Mythen und Traditionen in Österreich hinwiesen. Hitlers Liebe zu Deutschland hätte auch Lists Verherrlichung des Hauses Habsburg als armanisches Relikt und der Stadt Vianiomina (Wien) als heilige arische Stadt aus alten Zeiten schwer teilen können. Es ist unwahrscheinlich, daß Hitler, nachdem er nach Deutschland gegangen war, Interesse an einem österreichischen völkischen Altertumsforscher bewahrt oder gar erst entwickelt hätte. Wie im Fall von Lanz, wäre er vom grundsätzlich manichäischen Dualismus von Lists Rassimus, aber nicht von dessen okkulten Traditionen angezogen worden.

Ende Mai 1913 verließ Hitler Wien und zog westwärts, in das Land seiner Träume. Bei der Ankunft in München jubelte sein Herz angesichts der Bilder und Geräusche einer "echten deutschen Stadt". Er fand Unterkunft bei einer Schneiderfamilie in der Schleißheimerstraße 34 und war bei der Polizei als "Maler und Künstler" gemeldet. Die folgenden Monate verbrachte er damit, die bayrische Hauptstadt und ihre Umgebung zu erkunden und fristete ein bescheidenes Leben als relativ erfolgreicher Maler von Postkarten. Viele dieser Münchner Bilder sind erhalten, aber ansonsten gibt es bis zu seiner Einberufung im August 1914 wenig weitere Hinweise auf seine Aktivitäten in München. Es wurden keine Dokumente gefunden, die ihn in dieser Stadt vor dem Krieg in Verbindung mit dem "Germanenorden", dem "Reichshammerbund" oder anderen völkischen Gruppen gebracht hätten. Nachdem er 1914 freiwillig in die deutsche Armee eingetreten war, erwähnte Hitler, daß er etwas von Philipp Stauff gelesen habe. Stauff beeindruckte ihn, da er die Dominanz der Juden in der deutschen Presse aufdeckte, aber es gibt kein Anzeichen dafür, daß Hitler etwas über dessen Interesse an Sekten und Esoterik gewußt hat.

Sein Desinteresse an völkischen Ideen, betreffend die alten germanischen Institutionen und Traditionen, ist aus der Entwicklung der frühen NS-Partei unter seiner Führung klar ersichtlich. Während sich die "Thule-Gesellschaft" und der "Germanenorden" der arisch-rassisch-okkulten Kultur widmeten, betonten die Aktivitäten ihrer Nachfolgeorganisationen den verlorenen Krieg, den Verrat der Politiker an Deutschland und einen scharfen Antisemitismus. Rudolf von Sebottendorff, der Gründer und Führer der "Thule-Gesellschaft" und Bewunderer von List, Lanz und Stauff, regte begeistert die Gründung eines "Politischen Arbeiter-Zirkels" (PAZ) an, um "den Mann auf der Straße" im Hinblick auf aktuelle Mißstände anzusprechen. Die Deutsche Arbeiter-Partei (DAP) hatte ebenfalls wenig Interesse an völkisch-kulturellen Belangen. Es gibt keinen Beweis dafür, daß Hitler die "Thule-Gesellschaft" jemals besucht hat. Sebottendorff verließ die "Thule" nach der Geiselkatastrophe im Juni 1919, während Hitler die DAP erst im September 1919 kennenlernte. Johannes Herings Notizbuch über Treffen der Gesellschaft erwähnt die Anwesenheit anderer NS-Führer zwischen 1920 und 1923, aber nicht die von Hitler. Als dieser feste Kontrolle über die DAP erhielt, waren das Merkmal des Parteichefs antisemitische Rhetorik bei öffentlichen Versammlungen und Straßen-Aktivismus, wohingegen jegliches völkisch-kulturelle Interesse Anliegen von in Hinterräume verbannten Enthusiasten blieb.

In Mein Kampf denunzierte Hitler die "völkischen Wanderprediger" und Kultbegeisterten als völlig ineffektive Kämpfer in der Schlacht um Deutschlands Errettung und schüttete seinen Spott über deren Begeisterung für Altertümer und Zeremoniell aus. Dies wurde verschieden interpretiert, als Angriff auf Karl Harrer vom PAZ und seinen Versuch, die frühe DAP zu kontrollieren, oder auf die Strasser-Gruppe in Norddeutschland während der zwanziger Jahre. Auf jeden Fall deutete dieser Gefühlsausbruch klar auf Hitlers Verachtung für verschwörerische Zirkel und okkult-rassische Studien wie auch auf seine Bevorzugung eines direkten Aktivismus hin. Er war ganz gewiß von den millennarischen und manichäischen Motiven der Ariosophen beeinflußt, aber ihre Darstellung eines vorgeschichtlichen Goldenen Zeitalters, einer gnostischen Priesterschaft und eines geheimen Erbes – bewahrt in kulturellen Relikten und Orden – hatte keinen Platz in seiner politischen und kulturellen Weltanschauung. Derartige Ideen waren in der völkischen Bewegung freilich weitverbreitet, aber Hitlers "Verdienst" ist die Umwandlung dieser nationalistischen Gefühle und Sehnsüchte in eine stark antisemitische Bewegung, die sich für nationale Revolution und Wiederbelebung engagierte.

Die Ariosophie war mehr ein Symptom denn ein tatsächlich einflußnehmender Faktor in der Art und Weise, wie sie den Nationalsozialismus vorwegnahm. Ihre Ursprünge liegen im Konflikt deutscher und slawischer Interessen im Österreich des 19. Jahrhunderts. Guido von Lists Lobpreis der alten Teutonen unterstützte die deutsche Volksidentität in den ethnisch gemischten Provinzen und Städten des späten Habsburgerreiches. Er nahm sodann die Theosophie und den Okkultismus für seine fabelhafte Vorgeschichte auf und beschrieb die alten Priesterkönige, ihre Unterdrückung durch antideutsche Interessen und die apokalyptische Prophezeiung eines glorreichen neuen alldeutschen Reiches. Lanz von Liebenfels formte seine politischen Ansichten auch in Schönerers alldeutscher Bewegung, ging dann aber zu einem universelleren Typus des Rassismus über. Nachdem er sich mit Monismus und Sozialdarwinismus beschäftigt hatte, entwickelte er seine eigene mystische panarische Lehre. In seinen Ausführungen über heroische arische Gottmenschen, ihre drohende Auslöschung durch die Verschwörung der rassisch Minderen und die Möglichkeit ihrer Wiedererstarkung durch einen rassisch-ritterlichen Kult verband er Anthropologie und Zoologie mit den Texten der Heiligen Schrift.

List und Lanz sind Symbole der weitverbreiteten Unsicherheit unter den Deutschen in der Endzeit der Donaumonarchie. Ihre Anschauungen verlangten heftig nach der Herrschaft von gnostischen Eliten und Orden, nach einer Gliederung der Gesellschaft gemäß der rassischen Reinheit und okkulten Einweihung sowie nach Zurückdrängung, Unterjochung, ja Auslöschung der Menschen minderer Rasse. Sie hofften auf die Gründung eines großen alldeutschen Reiches, das eine Vorherrschaft in der Welt ausüben sollte. Nur extreme Unsicherheit und Angst unter den Deutschnationalen Österreichs können diese narzißtischen, paranoiden und übersteigerten Wahnvorstellungen erklären. Solche Ideen fanden aber auch im wilhelminischen Deutschland begeisterte Aufnahme und übten nach der militärischen Niederlage auf die völkischen Gruppen erneute Anziehungskraft aus. Die aufgeheizte psychologische Atmosphäre des Krieges und dessen verwirrende Folgen förderten das Entstehen von Mythen über geheime Verschwörungen und von Visionen eines neuen Reiches. Kleine Gruppen und Zeitschriften, die sich dem Armanismus, der Ariosophie und dem rassischen Okkultismus widmeten, beschworen als Gegenstück zur tristen Situation in der Weimarer Republik das Bild eines heroischen und starken Deutschland. Die Ariosophie fand stets ihre Verfechter – von den Anfängen in Wien 1890 bis zur Machtergreifung Hitlers 1933. Ihre Phantastereien erhielten dann im Dritten Reich und der von ihm geschaffenen alldeutschen Ordnung in Mittel- und Osteuropa ihre spezifische Art von Realisierung.

Die Anziehungskraft des Nationalsozialismus beruhte auf machtvollen Hoffnungen auf einen Ausweg aus einer von Angst, Niederlage und Demoralisierung geprägten Situation. Eine antideutsche Verschwörung der Juden und ihrer Günstlinge bedrohte, wie viele annahmen, sogar das Überleben der deutschen Nation. Die Sozialisten, die "November-Verbrecher" (womit die Unterzeichner des schmachvollen Waffenstillstandes von 1918 gemeint waren), die Bolschewisten, die Freimaurer und selbst die modernen Künstler wurden samt und sonders als Agenten einer monströsen jüdischen Verschwörung zur Zerstörung Deutschlands betrachtet. Nur die völlige Ausschaltung der Juden konnte daher die Deutschen retten und ihnen einen Einzug ins gelobte Land ermöglichen. Das chiliastische Versprechen eines Dritten Reiches war Echo auf mittelalterliche Prophezeiungen; es blieb eine wirkungsvolle Metapher in der Vorstellungswelt so vieler Deutscher, die den verlorenen Krieg, die harten Bedingungen des Friedensvertrages und das Unglück und Chaos der frühen Weimarer Republik beklagten. Diese Mythen von Verschwörung und Millennium wurden durch den wirtschaftlichen Zusammenbruch und die Depression in der Zeit zwischen 1929 und 1933 erneut angeheizt.

Die Folgen sind mehr als genug bekannt. Der Weg führte nur dem ersten Anschein nach in ein strahlendes neues Tausendjähriges Reich. Die weiteren Stationen aber waren die Konzentrationslager und schließlich rauchende Trümmerhaufen. Gerade das Studium der Ariosophie und der Vorstellungswelt vieler Exponenten des nationalsozialistischen Deutschland liefert wichtiges Anschauungsmaterial für die Rolle apokalyptischer Hysterien im modernen Staat. Mit dem Anwachsen eines religiösen Nationalismus am Ende des 20. Jahrhunderts ist das Verständnis der Voraussetzungen für das Entstehen solcher geschichtsmächtiger apokalyptischer Vorstellungen ein ausschlaggebender Faktor zur Erhaltung der globalen Sicherheit.

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