Auszüge aus Georges Devereux'
"Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften"

Eine Kritik der verhaltenswissenschaftlichen Methodologie

Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften – die Summe der jahrzehntelangen ethnopsychoanalytischen Forschungen und der psychoanalytischen Praxis von Georges Devereux – ist eine Kritik der verhaltenswissenschaftlichen Methodologie, die zu objektiver Erkenntnis zu gelangen glaubt, indem sie die Subjektivität des Forschers ausschaltet. An einer Fülle von Beispielen aus allen Bereichen der Humanwissenschaften und der Literatur zeigt Devereux demgegenüber, daß die Reaktionen des Verhaltenswissenschaftlers auf sein Material und auf seine Arbeit als die elementarsten Daten aller Verhaltenswissenschaft zu behandeln sind.

Devereux fragt, nach welchen Regeln das zu untersuchende Objekt konstituiert wird, und liefert den Nachweis dafür, in welchem Maße die Angst des Beobachters den Erkenntnisprozeß und damit die Vergegenständlichung des Beobachteten beeinflußt. Die Verhaltenswissenschaften sind sowohl in ihren Methoden wie in ihren Ergebnissen eher ein Produkt der Angst vor dem Erkenntnisobjekt als der "Liebe zur Wahrheit".

Georges Devereux, 1908 in Ungarn geboren, hat seine anthropologische und psychoanalytische Ausbildung in Frankreich und den Vereinigten Staaten erhalten. Er hat Ethnopsychiatrie an der Temple University in Philadelphia unterrichtet und lehrt jetzt an der Ecole Pratique des Hautes Etudes in Paris. Von seinen Werken liegen im Suhrkamp Verlag bereits vor: Normal und anormal. Aufsätze zur allgemeinen Ethnopsychiatrie (1974); Ethnopsychoanalyse. Die komplementaristische Methode in den Wissenschaften vom Menschen (1978); Träume in der griechischen Tragödie. Eine ethnopsychoanalytische Untersuchung (1982).

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Vorwort von Weston La Barre

Dieses brillante Buch ist ein bedeutender, unentbehrlicher und innerhalb der Geschichte der Sozialwissenschaften längst überfälliger Beitrag, denn es verkörpert jenes seltene und beunruhigende Phänomen einer grundlegenden und wirklich umwälzenden Einsicht. Wir müssen darauf gefaßt sein, daß es uns keine Ruhe lassen wird.

Alle Naturwissenschaften haben sich seit langer Zeit darum bemüht, exakte Wissenschaften zu werden – erst durch die Unterscheidung von Möglichkeit und Art, dann durch die Analyse und die Messung der Größe des dem Beobachtungs- und Messungsprozeß selbst inhärenten "wahrscheinlichen Fehlers", wie er beispielsweise durch chromatische und andere Verzerrungen in den mikroskopischen Linsen selbst und dergleichen mehr exemplifiziert wird. Tatsächlich unterzog man sich in der Metaphysik ebenso wie in den exakten Wissenschaften derselben strengen epistemologischen Disziplin während des revolutionären Wandels von der historisch-synthetischen zur modernen analytischen Philosophie. Während vieler Jahrhunderte, von Plato bis Kant, kam die synthetisch-spekulative systemschaffende Metaphysik genaugenommen zu keinem Ziel, während die analytische Philosophie in den nachkantischen Tagen der Wittgenstein, Cantor, Dedekind, Whitehead und Russell, Ogden und Richards und vergleichbarer Geister scharfsinnig genug war, die Werkzeuge und den Prozeß des Philosophierens (Wörter, Mathematik, symbolische Logik) zu untersuchen. Diese Denker präsentierten uns einen neuen Schlüssel zur Philosophie. Im Bereich der Astronomie hat Einstein uns mit zwingender Notwendigkeit vor Augen geführt, daß es in einem relativistischen Universum die Stellung des Beobachters zu berücksichtigen gilt; in der Physik hat Heisenberg die Unbestimmbarkeit (nicht die Unbestimmtheit, wie die Theologen mißzuverstehen beliebten) einiger intraatomarer Ereignisse gezeigt, ohne die Ereignisse selbst im Vorgang des Beobachtens zu verändern. Im ätherlosen Universum gibt es keinen festen Punkt.

Mittlerweile fahren die sich selbst so nennenden "Sozialwissenschaften", die seit dem 17. Jhdt. nach dem Prestige der exakten physikalischen Wissenschaften streben, mit erhabenem Ernst fort, sich nach dem mechanistischen Newtonschen Modell des 17. Jhdts. auszurichten, als hätten Einstein und Heisenberg in der Zwischenzeit nicht die Physik revolutioniert. Es ist mehr als ironisch, daß ausgerechnet die am wenigsten exakte der Sozialwissenschaften, die hoffnungslos humanistisch-naturalistische Erforschung des Menschen aus der "Vogelperspektive", zuerst die relativistisch-indeterministische anthropische Spitzfindigkeit erfassen sollte, daß der unsichtbare Mensch verzweifelt versucht, nicht dabei gesehen zu werden, wie er andere Menschen sieht, während die akademische Psychologie und Soziologie auf dem Königsweg Newtonscher Epistemologie sogar noch weiter zurückgeblieben sind. Einfältig "experimentell"-manipulativen Sozialwissenschaftlern mangelt es zu sehr an Demut wie auch an Witz, um erkennen zu können, daß sie ihre Wahrheitsmaschinen mit vielfach von Menschen verunreinigten Daten füttern und – trotz zwanghaft exakter "Methodologie" – deshalb einzig die lokale zeitgenössische Folklore über unsere Gesellschaft umständlich, mühselig und vor allem unwissentlich neuentdecken. Genau darauf haben sie schließlich ihre Protokolle programmiert, und das hätte in der Tat (auf weit weniger aufwendige und anspruchsvolle Weise) auch die schlichte Ethnographie leisten können.

Vielleicht weil die Psychologie sich eher in neupythagoräischer Zahlenkunde festgefahren hat, finden wir in dieser Disziplin früher als in der Soziologie vereinzelt scharfsinnige Figuren wie Sigmund Koch, die den sterilen Scholastizismus einer solchen "Sozialwissenschaft" aufgedeckt und das epistemologisch gesehen existentialistische Dilemma derer identifiziert haben, die Menschen erforschen wollen, ohne selbst menschlich zu sein. Und schließlich erfolgte in diesem Bereich der klinischen "Vogelperspektive", die die Erforschung des ganzen, funktionierenden, nicht experimentell-manipulierten, nicht-rattenartigen, statistisch unzerlegten Menschen zum Gegenstand hat, die Freudsche Revolution: der Mensch ist nicht fraglos Herr im eigenen Haus, dem rationalisierenden Bewußtsein; der vorgebliche Analytiker muß sich erst mühselig durch eine Analyse seiner selbst durchschlagen, wenn er andere beobachten will, um die Beobachtungsverzerrungen wenigstens einigermaßen korrigieren zu können, die in ihm selbst als dem Beobachtenden stattfinden. Die Erforschung des Menschen durch den Menschen war nicht so einfach, wie es schien. Denn auch er, der den Menschen erforscht, nimmt einen psychologischen Raum in einem relativistischen Universum ein.

Die Untersuchung subjektiver Gegenübertragung ist eine beunruhigende, heikle und äußerst unwillkommene Forderung, wo die Sozialforschung doch, wenn man sie ruhig gewähren ließe, eine angenehme Beschäftigung bleiben könnte, eine gemütliche Theologie des Menschen, die ihn als das enthüllt, was er vor aller Erkenntnis sein wollte. Offensichtlich ein Störenfried, hat Devereux die alarmierende Möglichkeit aufgezeigt, daß die Feldethnographie (und in Wirklichkeit jede Sozialwissenschaft), wie sie im Augenblick praktiziert wird, eine Form der Autobiographie sein könnte. Während der hemdsärmelige Anthropologe einst annehmen durfte, er betrete das Feld unbefleckt von irgendwelchen Ideen, Motivationen, Theorien oder eigener apperzipierender Kultur, sind wir nun gehalten, im Anthropologen zugleich den sapiens, den Kultur-Träger und die Person zu unterscheiden, und mit der Möglichkeit zu rechnen, daß seine schlichte "Wissenschaft", wenn sie der Gegenübertragung nicht Rechnung trägt, bloß eine schwelgerische Form lyrischer Poesie ist, die uns lediglich mitteilt, zu welchen Gefühlsprojektionen das Unbekannte ihn veranlaßt hat.

Es ist notwendig, unser epistemologisches Dilemma im folgenden scharf zu formulieren. Denn, von einigen rühmlichen Ausnahmen (Lévi-Strauss, Maybury-Lewis, Kenneth Read, Buettner-Janusch, Gearing, Evans-Pritchard, Devereux und Laura Bohannan) abgesehen, haben wenige Feldforscher die Intelligenz, Integrität und Furchtlosigkeit in sich vereinigt, deren es bedarf, wenn man Gegenübertragungsphänomene erkennen, d.h. herausfinden will, wie der Beobachter menschlicher Daten als Person und menschliches Wesen auf seine eigenen Beobachtungen reagiert. Ich wage jedoch zu behaupten, daß nur ein Mann wie Devereux mit seinem einzigartigen intellektuellen und professionellen Rüstzeug – ein praktizierender Psychoanalytiker und Feldforscher, der das Wissen eines modernen professionellen Mathematikers und Physikers mitbringt, ein Europäer, der sich im fremden Amerika akklimatisiert hat das Problem in seinem vollen Ausmaß und seiner intellektuellen Gegenwärtigkeit erfassen konnte. In der Tat ist (wie Devereux scharfsinnig gezeigt hat) das, was im Beobachter vorgeht, ein elementares Datum jeglicher Sozialwissenschaft: im weiteren Sinne seine eigenen "Gegenübertragungs"-Reaktionen als die eines spezifisch menschlichen Wesens.

Linton und einige wenige andere Anthropologen meinten zu wissen, daß man eine Feldmonographie bei der Aufbereitung sorgfältig durchsehen und alle verräterischen Spuren der Hand des Ethnographen tilgen, kurz, daß man darauf sehen muß, daß die Stimme der Wissenschaft fest und apodiktisch klingt: Es war beileibe kein Mensch, der diese Leute beobachtet hat, sondern nur eine anastigmatisch sammelnde Linse. Man wird des Problems jedoch nicht Herr, indem man es unter den Teppich kehrt! Da das jedoch die professionelle Einstellung ist, liegt es auf der Hand, daß Beispiele, die Devereux’ Argument illustrieren könnten, in der Literatur bestürzend selten vorkommen, so daß er a fortiori gezwungen war, viele der Beispiele aus seinen eigenen Werken heranzuziehen. Da ich mich gleichfalls zu den sehr wenigen psychoanalytisch orientierten Ethnographen zähle, habe ich alle Veranlassung, Devereux’ Mut und die Integrität, die er dabei beweist, zu bewundern. Dieser elegante wie vielsagende Kunstgriff, mit einer großen Zahl von "Fall"-Beispielen zu operieren, ist didaktisch ausgezeichnet; diese Beispiele sind von kaleidoskopischer Vielfalt und verleihen seiner These eine große Brennschärfe.

Mein Bedürfnis geht gewiß nicht dahin, einen Mann, der sich beständig und gewissenhaft selbst kritisiert, zu benörgeln oder neidisch Steine auf ihn zu werfen. Vielmehr kann ich einen Geist nur bewundern, der seiner Profession zuliebe bereit ist, im Glashaus zu leben: indem er diese Einsicht akzeptiert, ist dem Lernenden die moralische Last auferlegt, sich selbst und seine Motive zu erkennen; wenn wir jetzt zu einem Angriff ad hominem übergingen, wäre das nichts als ein Mittel, seine Botschaft zu ignorieren. Der Anthropologe, der sich nicht selbst geprüft hat, hat von jetzt an kein Recht mehr, zu anthropologisieren.

Jeder, der klinische analytische Erfahrung hat, weiß, wie sehr es uns dazu drängt, diejenigen zu bestrafen, die uns Aufschluß über uns selber geben, unsere Angst erregt haben und das Ich mit noch schwereren Forderungen des Bewußtseins belastet haben. Es ist doch erstaunlich, daß wir uns nach den vielen Beweisen, die die Geschichte der Wissenschaft uns dafür geliefert hat, immer noch überrascht darüber zeigen sollen, daß eine authentische Neuerung stets bestraft wird, weil auch sie Angst erregt und eine schmerzhafte Neuorientierung der Erkenntnis erfordert. Indem ich unserer Zunft dieses Buch mit unverhohlener Bewunderung empfehle, muß ich jedoch gestehen, daß ich weniger befürchte, daß man Devereux beschimpfen wird, denn das ließe immerhin auf das Vorhandensein uneingestandener kognitiver Einsicht schließen (die alle Aussicht hat, schließlich in bewußter Erkenntnis zu enden), sondern daß ihm eher schlichte Verleugnung und stillschweigende Vernachlässigung zuteil werden, die einfachere Handhaben gegen die emotionale Schwierigkeit und die Last dieser Einsichten bieten. Solange wir uns jedoch mit dem Problem, das Devereux aufgeworfen hat, nicht auseinandersetzen und es in seiner Tiefe wie in seiner Breite ernsthaft zu erfassen suchen, sehe ich keine Möglichkeit für irgendeine authentische Spezialwissenschaft, sondern nur weiter die des charismatischen Posierens und des wirkungslosen Wechsels der Moden in der "methodologisch" rationalisierten Folklore über den Menschen.

Einleitung

Wahrscheinlich hat jeder gewissenhafte Wissenschaftler unter seinen Ordnern einen, der über die Jahre hin das Beste seiner Forschungsgedanken schluckt. Gewiß, er mag sie, mehr oder minder bewußt, für ein Buch bestimmen, das er eines Tages zu schreiben hofft, und doch sind seine Notizen in erster Linie Versuche, sich selbst über den Sinn und den Wert seiner Tätigkeit als Wissenschaftler Rechenschaft abzulegen, wohin immer diese Forschungsarbeit ihn auch führen mag. Aus einem solchen Ordner ist dieses Buch hervorgegangen.

Das Problem, das ich hier erörtere, hat mich auf die eine oder andere Weise fast mein ganzes Leben lang beschäftigt; einige der Fragen, die ich stelle, und sogar einige der Antworten, die ich vorschlage, lassen sich weiter zurückverfolgen, als mir zuzugeben lieb ist. Die Art meiner Arbeit brachte es mit sich, daß ich in manchen meiner theoretischen Aufsätze Randaspekte des im Brennpunkt stehenden Problems berührt habe. Ich habe auch immer wieder einmal versucht, Teile dieses Buches zu skizzieren, schließlich aber doch jedesmal wieder aufgegeben, weil weder Zeit noch Ort diesem Vorhaben günstig schienen. Ich könnte allerdings wohl ebensogut einräumen, daß ich selbst damals für einige meiner Einsichten noch nicht reif war.

Ich fühlte, daß ich unerforschten Boden betrat; ich hatte kein Modell, an dem ich mein Buch hätte orientieren können. Ich wußte von Anfang an, was ich darin würde sagen wollen, bin mir aber immer noch nicht sicher, ob ich den besten Weg, es zu sagen, gefunden habe. Bis zum letzten Moment hatte ich gehofft, eine rein theoretische Untersuchung zur Epistemologie der Verhaltenswissenschaften (behavioral science) schreiben zu können, ohne dabei irgendwelches illustrative Fallmaterial zu verwenden, mußte jedoch feststellen, daß dies nicht durchführbar war. Die Existenz dieses Plans sollte jedoch immerhin beweisen, daß es sich bei diesem Buch nicht um ein polemisches Werk handelt. Kaum, daß ich diejenigen jemals namentlich erwähne, deren wissenschaftliche Arbeiten mir unhaltbar erscheinen; die zwei oder drei Ausnahmen betreffen Leute, die in maßloser Weise Ansichten angreifen, die zu verstehen sie sich nicht einmal die Mühe machen. Bei allen anderen Namen handelt es sich entweder um Gelehrte, deren Arbeit ich bedingungslos respektiere, oder um solche, an deren wissenschaftlicher Tätigkeit mir allenfalls ein bestimmter Aspekt fragwürdig erscheint. Darüber hinaus fallen gewisse Bewertungen, die nach traditionellen Standards – die ich verwerfe – kritisch erscheinen mögen, nach den neuen Standards, die ich in diesem Buch verfechte, weit günstiger aus.

Der einzige Verhaltenswissenschaftler, den ich höchst ausdauernd kritisiere, bin ich selbst. Eine grobe Schätzung ergibt, daß gut vierzig Abschnitte meine eigenen blinden Flecke, Ängste, Hemmungen und dergleichen zum Thema haben. Denn nicht anders sollte es sein: der Verhaltenswissenschaftler muß die Einsicht bei sich selbst beginnen lassen.

Eine dieser Einsichten – und nicht die geringste – besteht darin, daß es mich mehr als drei Jahrzehnte kostete, mich durch den Wirrwarr meiner eigenen Vorurteile, Ängste und blinden Flecken zu den, wie auch immer gearteten, Wahrheiten durchzukämpfen, die dieses Buch enthält. Es stünde mir deshalb schlecht an, die Schwierigkeiten zu unterschätzen, die dieses Buch denjenigen, die es innerhalb weniger Tage durchlesen, wahrscheinlich bereiten wird. Ich hoffe, daß sie sich, wie ich selbst, durch die Aufforderung ermutigen lassen, die Sokrates an Euthyphron richtet:

Du Glücklicher, nimm dich ein wenig zusammen: denn es ist ja gar nicht schwer zu verstehen, was ich meine. (Platon: Euthyphron, 12a)

Die Lektüre dieses Buches wird sich für diejenigen als leicht erweisen, die, mit einer scheinbar schwierigen Passage konfrontiert, nach innen schauen, um herauszufinden, was ihr Verständnis hemmt so wie ich selbst beim Schreiben dieses Buches ständig nach innen schauen mußte, um herauszufinden, was mein Verständnis hemmte.

Als das intellektuelle Abenteuer, von dem dieses Buch Bericht erstattet, für mich zu einem Ende kam, hatte ich die Wahl, entweder den Ordner zu schließen oder mein Buch zu schreiben, so gut es mir eben möglich war, wenn die Umstände es mir erlauben würden. Beides wäre eine endgültige Lösung gewesen, die – wie jedes Ende – letztlich auch ein Neubeginn ist.

Daß die günstigen Umstände wirksam wurden, war vor allem den Bemühungen von Fernand Braudel und Claude Lévi-Strauss zu verdanken – denen ich mehr verpflichtet bin, als ich sagen kann –, denn mit ihrem Zutun wurde ich an jene Schule berufen, wo intellektueller Mut, nicht Zaghaftigkeit die Regel ist, und wo der verstorbene Marcel Mauss mich gelehrt hatte, bei der Erforschung des Menschen zwischen der Wissenschaft und dem leeren Pomp der Wissenschaft zu unterscheiden. In dieser Umgebung erschien mir mein Buch nicht länger als unlösbare Aufgabe. Als die École mich aufforderte, ein Buch für ihre theoretische Reihe zu schreiben, kehrten meine Gedanken unweigerlich zu dem zurück, was ich bis dahin als den Ordner meiner "Verlorenen Fälle" angesehen hatte. Ich fühlte mich zudem durch die Gewißheit ermutigt, daß mein erster Entwurf von verschiedenen Kollegen kritisch gelesen würde.

Als ich mich dann an die Arbeit machte, merkte ich, daß die Wiederbelebung der Notizen aus mehr als drei Jahrzehnten eine so mühselige Aufgabe bedeuten würde, daß auch noch der letzte Funke jenes brennenden Gefühls der Dringlichkeit in mir erlosch, das ich empfunden hatte, als die Ideen, die auf mittlerweile vergilbenden Blättern gesammelt waren, sich mir zum ersten Male präsentiert hatten. Wenn mein Buch noch einiges von der anfänglichen Entdeckungslust bewahrt hat, so deshalb, weil meine Frau die niederdrückende Last auf sich nahm, diese Notizen in eine Ordnung zu bringen. Ihr gesundes Urteil, ihr Geschmack und ihre anthropologisch geschulte Intelligenz kamen auch den einzelnen Entwürfen zugute. Sie brachte die große Menge des Fallmaterials in einen Zusammenhang, stellte die Bibliographie zusammen und tippte einen Teil des Manuskripts. Die Widmung wird ihr längst nicht gerecht; sie ist im echten Sinne die Mitautorin dieses Buches.

...

Die These

Mein Buch nimmt seinen Ausgang bei einem der Grundtheoreme Freuds, das im Lichte der Einsteinschen Konzeption vom Ursprung wissenschaftlicher Daten modifiziert wurde. Freud behauptete, die Übertragung sei das elementarste Datum der Psychoanalyse, wenn man sie als eine Forschungsmethode betrachtet. Im Lichte der Einsteinschen Anschauung, daß wir Ereignisse nur "am" Beobachter beobachten können – d.h., daß wir lediglich wissen, was an dem experimentellen Apparat, dessen wichtigste Komponente der Beobachter ist, und mit ihm, geschieht bin ich auf dem von Freud gewiesenen Weg einen Schritt weiter gegangen. Ich behaupte, daß das entscheidende Datum jeglicher Verhaltenswissenschaft eher die Gegenübertragung denn die Übertragung ist, weil man eine aus der Übertragung ableitbare Information gewöhnlich auch noch auf anderen Wegen gewinnen kann, während das für die Information, die aus der Analyse der Gegenübertragung hervorgegangen ist, nicht zutrifft. Diese Spezifizierung hat ihre Gültigkeit, obwohl Übertragung und Gegenübertragung verbundene und gleichermaßen elementare Phänomene sind. Worauf es uns hier ankommt, ist, daß die Analyse der Gegenübertragung, wissenschaftlich gesehen, mehr Daten über die Natur des Menschen erbringt.

Die wissenschaftliche Erforschung des Menschen

1.       wird durch die angsterregende Überschneidung von Objekt und Beobachter behindert,

2.       was eine Analyse von Art und Ort der Trennung zwischen beiden erfordert;

3.       muß die Unvollständigkeit der Kommunikation zwischen Objekt und Beobachter auf der Ebene des Bewußtseins kompensieren,

4.       muß aber der Versuchung widerstehen, die Vollständigkeit der Kommunikation zwischen Objekt und Beobachter auf der Ebene des Unbewußten zu kompensieren,

5.       was Angst und infolgedessen Gegenübertragungsreaktionen hervorruft,

6.       die wiederum die Wahrnehmung und Deutung von Daten verzerren

7.       und Gegenübertragungswiderstände hervorbringen, die sich als Methodologie tarnen und somit weitere Verzerrungen sui generis verursachen.

8.       Da die Existenz des Beobachters, seine Beobachtungstätigkeit und seine Ängste (sogar im Fall der Selbstbeobachtung) Verzerrungen hervorbringen, die sich sowohl technisch als auch logisch unmöglich ausschließen lassen,

9.       muß jede taugliche verhaltenswissenschaftliche Methodologie diese Störungen als die signifikantesten und charakteristischsten Daten der Verhaltenswissenschaft behandeln und

10.     sich die aller Beobachtung inhärente Subjektivität als den Königsweg zu einer eher authentischen als fiktiven Objektivität dienstbar machen,

11.     die eher anhand des real Möglichen zu definieren ist, als anhand dessen, was "sein sollte".

12.     Ignoriert man diese "Störungen" oder wehrt sie durch als Methodologie getarnte Gegenübertragungswiderstände ab, so werden sie zu einer Quelle unkontrollierter und unkontrollierbarer Irrtümer, obwohl sie, wenn man sie

13.     als elementare und charakteristische Daten der Verhaltenswissenschaft behandelt, gültiger und der Einsicht förderlicher sind als irgendeine andere Art von Datum.
Kurz, verhaltenswissenschaftliche Daten erregen Ängste, die durch eine von der Gegenübertragung inspirierte Pseudomethodologie abgewehrt werden. Dieses Manöver ist für nahezu alle Mängel der Verhaltenswissenschaft verantwortlich.

Der große Mathematiker Lagrange hat vor langer Zeit gesagt, daß es der Natur einfach gleichgültig sei, mit welchen Schwierigkeiten sie den Wissenschaftler konfrontiere. Dessen Aufgabe sei es wiederum – so sagte er bei anderer Gelegenheit –, die Einfachheit zu suchen, ihr jedoch auch zu mißtrauen. Damit ist zugleich gesagt, daß der beste – und vielleicht der einzige – Weg zu einer den Fakten kongruenten Einfachheit darin besteht, daß man die jeweils größte Komplexität frontal angeht, indem man die äußerst praktische Anweisung befolgt, die Schwierigkeit an sich als fundamentales Datum zu behandeln, dem man nicht ausweichen, sondern das man, soweit irgend möglich, auswerten soll, und das man nicht erklären, sondern als Erklärung für scheinbar einfachere Daten benutzen soll.

Die ersten Kapitel dieses Buches, die in erster Linie die Angst behandeln, die durch verhaltenswissenschaftliche Daten erregt wird, könnten den irrigen Eindruck hervorrufen, Objektivität sei in der Verhaltenswissenschaft a priori unmöglich, so daß wir, um die aus der Subjektivität resultierenden Verzerrungen auf ein Minimum zu reduzieren, gezwungen wären, mehr und mehr Filter Tests, Interviews, technische Errungenschaften und andere heuristische Kunstgriffe – zwischen uns und unsere Objekte zu schieben. Es mag sogar den Anschein haben, als wollten sie die Folgerung nahelegen, der beste "Beobachter" sei eine Maschine und der menschliche Beobachter solle eine Unsichtbarkeit anstreben, die – wäre sie erreichbar den Beobachter aus der Beobachtungssituation eliminieren würde.

Eine solche Betrachtungsweise ignoriert implizit, daß jeder dieser Filter, während er einige durch die Subjektivität bedingte Verzerrungen "korrigiert", spezifische – und gewöhnlich unerkannt bleibende – eigene Verzerrungen produziert. Man ignoriert dabei vor allem, daß auch der unsichtbare Beobachter schließlich im aristotelischen Sinne ("Parva Naturalia", 455a, 10 ff) sagen muß: "Und dies nehme ich wahr" – wobei es keine Rolle spielt, ob es sich bei dem, was er wahrnimmt, um das Verhalten selbst, um ein Elektroenzephalogramm oder ein Zahlenergebnis handelt. Darüber hinaus muß er an einem bestimmten Punkt sagen: "Dies bedeutet, daß ...". Das ist, technisch gesehen, eine "Entscheidung", und es ist eine grundlegende Tatsache, daß die "Spieltheorie" keine Entscheidungen treffen kann; sie kann nur Konsequenzen definieren und deren Wahrscheinlichkeit abschätzen. Die Entscheidung – die in der Wissenschaft darin besteht, daß man sagt: "Dies bedeutet, daß ... " – wird vom Verhaltensforscher noch immer mit derselben Subjektivität und in Erwiderung auf dieselben Ängste getroffen, mit denen er konfrontiert wird, wenn er überhaupt keinerlei Filter verwendet. Ich befürworte deshalb nicht etwa die Elimination von Filtern, sondern dringe lediglich darauf, sich die Illusion aus dem Kopf zu schlagen, sie könnten jegliche Subjektivität ausschalten und die Angst gänzlich neutralisieren. Sie tun keins von beidem; sie verrücken nur leicht den Ort der Trennung zwischen Objekt und Beobachter und schieben den exakten Moment, in dem das subjektive Element (in Form der Entscheidung) interveniert, hinaus. Es ist eine Sache, den Ort der Trennung und den "Augenblick der Wahrheit" auseinander zu halten – wenn nämlich das Faktum auf optimale Weise in eine gültige Aussage überführt worden ist –, und es ist eine andere Sache, vorzugeben, man schalte bei diesem Vorgehen jegliche Angst und Subjektivität aus. Außerdem muß man selbst da, wo Ort und Augenblick optimal auseinandergehalten worden sind, immer noch die aus den Filtern, Manipulationen und anderen Mitteln resultierenden Verzerrungen in Rechnung stellen, die dieses "optimale" Arrangement möglich machen.

Man entwickelt keine vernünftige Wissenschaft, solange man deren fundamentalste und charakteristischste Daten ignoriert, die auf ganz spezifische Weise die bezeichnenden Schwierigkeiten dieser Wissenschaft sind. Der Verhaltensforscher kann die Interaktion zwischen Objekt und Beobachter nicht in der Hoffnung ignorieren, sie werde sich schon allmählich verflüchtigen, wenn er nur lange genug so täte, als existiere sie nicht.

Wenn man sich weigert, diese Schwierigkeiten schöpferisch auszuwerten, so kann man es nur zu einer Sammlung von immer bedeutungsloseren, zunehmend segmentären, peripheren und sogar trivialen Daten bringen, die das, was am Organismus lebendig oder am Menschen menschlich ist, fast gänzlich unbeleuchtet lassen. Der Wissenschaftler sollte deshalb aufhören, ausschließlich seine Manipulation am Objekt zu betonen, und stattdessen gleichzeitig – und bisweilen ausschließlich – sich selbst qua Beobachter zu verstehen suchen. In diesem Sinne ist jedes Rattenexperiment auch ein am Beobachter vorgenommenes Experiment. Seine Ängste und Abwehrmanöver können ebenso wie seine Forschungsstrategie und seine Art, Daten wahrzunehmen und Entscheidungen zu treffen (d.h., die Daten zu deuten), auf die Natur des Verhaltens im allgemeinen mehr Licht werfen, als es mittels der Beobachtung von Ratten – oder sogar von anderen menschlichen Wesen – möglich ist.

Daraus geht hervor, daß die traditionellen Schwierigkeiten der Verhaltenswissenschaft nicht allein auf die unüberlegte Bestimmung von Ort und Art der Trennung zwischen den "wirklichen" Daten und den "zufälligen" oder epiphänomenalen Produkten der Forschungsstrategie zurückzuführen sind. Vielmehr scheint alles darauf hinzuweisen, daß das Objekt, das am ehesten dazu taugt, wissenschaftlich auswertbares Verhalten zu manifestieren, der Beobachter selber ist. Das bedeutet, daß man durch ein Rattenexperiment, eine anthropologische Exkursion oder eine Psychoanalyse einen größeren Beitrag zum Verständnis des Verhaltens erhält, wenn man sie als Informationsquelle über den Tierpsychologen, den Anthropologen oder den Psychoanalytiker wertet, als wenn man sie nur als Informationsquelle über Ratten, Primitive oder Patienten in Betracht zieht. Für eine wirkliche Verhaltenswissenschaft ist die erste Art von Daten grundlegend, die zweite hingegen epiphänomenal; streng genommen sind sie Nebenprodukte, die natürlich ebenfalls eine Auswertung verdienen.

Nicht die Untersuchung des Objekts, sondern die des Beobachters eröffnet uns einen Zugang zum Wesen der Beobachtungssituation. Die Daten der Verhaltenswissenschaft sind deshalb unter drei Gesichtspunkten aufzuschlüsseln:

1.       Das Verhalten des Objekts.

2.       Die "Störungen", die durch die Existenz und die Tätigkeit des Beobachters hervorgerufen werden.

3.       Das Verhalten des Beobachters: seine Ängste, seine Abwehrmanöver, seine Forschungsstrategien, seine "Entscheidungen" (d.h. die Bedeutung, die er seinen Beobachtungen zuschreibt).

Leider haben wir über den dritten Verhaltenstyp die wenigsten Informationen, da wir uns systematisch geweigert haben, die Realität nach ihren eigenen Kategorien zu begreifen. Viele der Daten, die ich zitieren werde, sind deshalb Produkte meiner Versuche, mein eigenes Verhalten, sei es bei der ethnologischen Feldforschung, sei es als klinischer Psychoanalytiker, zu verstehen. Zur Unterstützung habe ich alle Einsichten herangezogen, die mir die eingehende Beschäftigung mit Lévi-Strauss’ Tristes tropiques (1955; dt: Traurige Tropen), Balandiers Afrique ambiguë (1957) und Condominas’ L’Exotique est quotidien (1956) gebracht hat. Diese drei sind die einzigen mir bekannten größeren Versuche, die Einwirkung seiner Daten und seiner wissenschaftlichen Tätigkeit auf den Wissenschaftler selbst zu bewerten. Gewiß, die Bedeutung von Lévi-Strauss’ objektivem Werk ist groß, doch könnten seine Tristes tropiques für die Zukunft der Verhaltenswissenschaft eine noch größere Bedeutung gewinnen. Nicht zuletzt deshalb, weil sein Versuch zugleich unsere Einsicht in Lévi-Strauss’ objektive Daten und Entdeckungen vermehrt.

Da es mir unziemlich erschien, diese drei außerordentlich wahrhaftigen Autobiographien in extenso zu analysieren, war ich gezwungen, hauptsächlich meine eigenen Selbstbeobachtungen zu zitieren. Zur Ergänzung zog ich eine Menge kleiner Beispiele für das Verhalten anderer Wissenschaftler heran, die es nicht für nötig gehalten haben, sich selbst genau unter die Lupe zu nehmen. Dies ist jedoch insofern kein Verlust für die Wissenschaft, als die Analyse einer großen Anzahl relativ oberflächlicher Fakten, die die Breite eines Phänomens illustrieren, genau die gleichen Einsichten erbringt wie die Tiefenanalyse eines einzigen Phänomens (Devereux 1955a); Breite ist Tiefe, um 90 Grad in die horizontale Lage gedreht; Tiefe ist Breite, um 90 Grad in die vertikale Lage gedreht. Die Gleichwertigkeit beider gründet in der Ergodenhypothese. Für sich genommen, ist jeder meiner "Fälle" eine Anekdote, zusammengenommen stellen sie die Analyse der Breite – und damit zugleich auch eine Tiefenanalyse – der Reaktionen des Wissenschaftlers auf seine Daten und seine Art der "Wissenschaftlichkeit" dar.

Die letzten Kapitel dieses Buches zeigen, wie man gerade die Situationen, die gewöhnlich als Barrieren betrachtet werden, als Brücken benutzen kann.
Verhaltenswissenschaft wird einfach werden, wenn sie beginnt, die Reaktionen des Verhaltenswissenschaftlers selbst auf sein Material und auf seine Arbeit als die elementarsten Daten aller Verhaltenswissenschaft zu behandeln. Bis zu diesem Zeitpunkt werden wir es nur mit einer Illusion der Einfachheit zu tun haben.

Es ist gängig, Bücher über menschliche Wesen entweder nüchtern oder emotional zu nennen. Mein eigenes ist weder das eine noch das andere, insofern es in bezug auf die Emotionalität, ohne die eine realistische Verhaltensforschung nicht möglich ist, nach Objektivität strebt.

Jedem Buch über den Menschen liegt eine bestimmte Einschätzung des Menschen zugrunde, zu der man sich offen bekennen sollte. Ich glaube, daß der Mensch nicht vor sich selber gerettet werden muß. Es genügt, wenn er er selbst sein kann. Die Welt hat Menschen nötiger als "Humanisten". Das Griechenland des 5. Jahrhunderts war schlicht menschlich; es wurde "humanistisch" als Reaktion auf die Greuel des Peloponnesischen Krieges. Aischylos, der Marathonkämpfer und Dichter der "Eumeniden", war kein Humanist. Sokrates, eine Figur des Übergangs, war immer noch mehr als nur Humanist. Platon war Humanist, da er im Namen der Menschheit die Menschheit vor sich selber retten wollte. Jede Unterdrückungsphilosophie gründet in der platonischen (Popper 1962). Seine Philanthropie war verächtlich, da sie den Menschen als Objekt der Kontemplation und der Manipulation ansah. In diesem Sinne ist der selbststilisierte "nüchterne" Verhaltenswissenschaftler ein verächtlicher Philanthrop – ein falscher "Humanist". Eine authentische Verhaltenswissenschaft wird es dann geben, wenn ihre Vertreter erkannt haben, daß eine realistische Wissenschaft vom Menschen nur von Menschen geschaffen werden kann, die sich ihres eigenen Menschseins vollkommen bewußt sind, was vor allem bedeuten muß, daß dieses Bewußtsein in ihre wissenschaftliche Arbeit eingeht.

Daten und Angst

Auf der Suche nach einer wissenschaftlichen Verhaltenstheorie

In welcher Reihenfolge die Vorstellungen des Menschen über die verschiedenen Ausschnitte der Realität wissenschaftlich wurden, hing weitgehend davon ab, ob er mehr oder weniger Schwierigkeiten mit bestimmten Bereichen von Phänomenen hatte. Je mehr Angst ein Phänomen erregt, desto weniger scheint der Mensch in der Lage, es genau zu beobachten, objektiv über es nachzudenken und angemessene Methoden zu seiner Beschreibung, seinem Verständnis, seiner Kontrolle und Vorhersage zu entwickeln. Es ist kein Zufall, daß die drei Männer, die unsere Vorstellung von der Stellung des Menschen im Universum am radikalsten verändert haben – Kopernikus, Darwin und Freud – in dieser Reihenfolge auftraten. Es war leichter, in bezug auf die Himmelskörper objektiv zu sein als in bezug auf den Menschen als Organismus, und das wiederum fiel leichter als die Objektivität gegenüber Persönlichkeit und Verhalten des Menschen. Wäre Freud ein Zeitgenosse des Kopernikus oder sogar Darwins gewesen, hätte er doch keine psychoanalytische Konzeption vom Menschen entwickeln können, obwohl die Mittel, deren es bedurfte, um die notwendigen Rohdaten zu sammeln und zu vergleichen, schon immer verfügbar und zugänglich und zum großen Teil von primitiven Medizinmännern schon korrekt verwendet worden waren, wenn auch für nicht-wissenschaftliche Zwecke (Devereux 1961a). Tatsächlich ist das unerhört Neue an der Psychoanalyse nicht die psychoanalytische Theorie, sondern der methodologische Standpunkt, daß die Hauptaufgabe der Verhaltenswissenschaft die Analyse der Auffassung des Menschen von sich selber sei. Diese revolutionäre Anschauung wurde, psychologisch gesehen, erst erträglich, nachdem die Stellung des Menschen im Kosmos und im System des Lebens durch Kopernikus und Darwin bereits eine Neueinschätzung erfahren hatte.

Es ist eine historische Tatsache wenngleich keine unausweichliche Notwendigkeit, wie ich zu zeigen hoffe –, daß die affektive Verstrickung des Menschen mit dem Phänomen, das er untersucht, ihn oft an einer objektiven Einstellung hindert.

Einfach, weil der Mensch gegenüber der Astronomie nicht sehr emotional reagiert, war die erste der drei großen wissenschaftlichen Revolutionen die Entdeckung des Kopernikus. Es mag paradox scheinen, aber der beste Beweis dafür ist die Existenz von astralen Mythen. Indem der Mensch angsterregende innere und interpersonale Konflikte in die Himmelsgewölbe verlegte, war er in der Lage, Distanz von den ihn bedrängenden Problemen zu gewinnen und mit einem gewissen Maß an Objektivität Spekulationen über sie anzustellen. Genau wie Zeus sich lästige mythische Personen vom Halse zu schaffen pflegte, indem er sie unter die Sterne versetzte, so verwandelt heute die Phantasie die Ratte aus Fleisch und Blut in ein quasiplatonisches Rattenmodell, wenn der Rattenpsychologe dort angekommen ist, wo sein Latein aufhört und seine Emotionen anfangen.

Die Tatsache, daß die Verstrickung des Menschen mit einem gegebenen Phänomen sich im allgemeinen umgekehrt proportional zu seiner Objektivität diesem Phänomen gegenüber verhält, kann man am besten an Primitiven beobachten – nicht, weil sie zur Objektivität unfähig wären, sondern weil sie ihren Mangel an Objektivität gewöhnlich nicht bemerken.

Fall 1

Die Sedang Moi haben zwar viele übernatürliche und irrige Vorstellungen von allen Lebewesen; in welchem Ausmaß ihre "Naturgeschichte" eine "unnatürliche Geschichte" ist, hängt jedoch von der Rolle ab, die die jeweilige Tierspezies in ihrem Leben spielt. So gehen ihre übernatürlichen Vorstellungen von Tigern weit mehr ins Detail als ihre Vorstellungen von Waldratten, haben sie unrealistischere Meinungen über Wasserbüffel, Schweine und Hunde als über schlichte Küken. In vergleichbarer Weise hegen alle Menschen albernere Ansichten über die Sexualität als, sagen wir, über das Essen, einfach deshalb, weil die Menschheit zum Sex ein emotionaleres Verhältnis hat als zum Essen.

Die Verhaltenswissenschaft ist auch deshalb weniger wissenschaftlich als die Physik und die Biologie, weil physikalische Phänomene durch eine kleine Zahl von relativ leicht quantifizierbaren Variablen determiniert werden, während das Verhalten des Menschen nur mittels einer sehr großen Anzahl Variabler verstanden werden kann. Überdies befähigt einen ein einigermaßen vollständiges Wissen vom Zustand eines physikalischen Systems zur Zeit t im allgemeinen, seinen Zustand zur Zeit t + ∆ t vorauszusagen. Um aber das Verhalten des Menschen zur Zeit t + ∆ t vorauszusagen, muß man nicht nur seinen Zustand im vorhergegangenen Moment t kennen, sondern seine ganze Lebensgeschichte, da der Mensch ein chronoholistisches System ist, d.h. ein bestimmter Typ von "Gedächtnis", das in gewisser Weise der Hysterese in der Physik ähnelt, bestimmt sein Verhalten in größerem Ausmaß als sein jeweiliger Zustand und seine aktuelle Situation. Kurz, die Verhaltenswissenschaften sind im Augenblick weniger wissenschaftlich als die Naturwissenschaften, und zwar aus folgenden Gründen:

1.       Weil die emotionale Verstrickung des Menschen mit der Menschheit größer ist als die mit materiellen Objekten.

2.       Aufgrund der dem Verhalten inhärenten Komplexität und der Notwendigkeit, es chronoholistisch zu verstehen.

Verhaltenswissenschaftler, die die Tatsache stört, daß ihre Disziplin hinter der Naturwissenschaft zurückbleibt, versuchen das durch die Nachahmung physikalischer Verfahrensweisen wettzumachen. Einige untersuchen nur quantifizierbare Phänomene und ignorieren vorläufig alle Daten, die sich nicht auf Anhieb quantifizieren lassen, selbst wenn sie von schlagender Bedeutung sind. Die notwendige Differenzierung zwischen den Techniken der Physik, die vor allem durch die spezifische Natur der physikalischen Phänomene bestimmt werden, und einer allgemeinen wissenschaftlichen Methode, die interdisziplinäre Gültigkeit hat und deshalb gleichermaßen auf die Natur- und die Verhaltenswissenschaft anwendbar ist, wird dabei stillschweigend versäumt. Diese Unterscheidung ist logisch legitim, obwohl, historisch gesehen, die meisten Regeln für eine wissenschaftliche Methode zuerst in Termini formuliert wurden, die den Verfahrensweisen der Naturwissenschaften entstammen. Bedauerlicherweise kann die mechanische Übertragung von Techniken der Naturwissenschaften auf andere Wissenschaften – wie es beispielsweise beim zwanghaften Quantifizieren geschieht – zu dem logischen Trugschluß führen, daß reines Quantifizieren ein Datum wissenschaftlich mache.

Fall 2

Der dritte Kinsey Report (Gebhard u.a. 1958) "beweist" statistisch, daß eine Abtreibung nicht traumatisierend wirkt. Das mag richtig oder falsch sein, es ist keine wissenschaftliche Feststellung, trotz und geradezu wegen der Tatsache, daß sie von der Statistik "gestützt" wird. Gebhard und seine Kollegen scheinen zwar der Ansicht zu sein, eine wissenschaftliche Aussage zu machen – eine psychiatrische Diagnose zu stellen –, berichten jedoch in Wirklichkeit einfach nur, daß die Frauen, die sagten (und/oder glaubten), daß eine Abtreibung sie im psychologischen Sinne nicht traumatisiert habe, zahlreicher waren, als die, die sagten (und/oder glaubten), daß dies der Fall gewesen sei. Der einzige – aber entscheidende – Irrtum hierbei liegt darin, daß die Autoren es versäumen anzugeben, zu welchem Universum des Diskurses ihre Daten gehören. Sie nahmen an, daß ihre Daten ins Feld der Psychiatrie gehörten, während sie in Wirklichkeit aufgrund der einfachen Tatsache, daß keines ihrer Objekte eine gültige psychiatrische Selbstdiagnose stellen konnte, ins Feld der Meinungsforschung gehörten. Daher registrierten die Autoren in dieser Hinsicht nichts, was auch nur entfernt zu dem Thema gehörte, das zu untersuchen sie vorhatten. Stattdessen leisteten sie – wenn auch unbeabsichtigt – einen bedeutenden Beitrag zur Lösung eines Problems, das sie nicht zu analysieren suchten: das nicht-psychiatrische, soziokulturelle Problem der Abtreibungs-"Folklore" in der amerikanischen Gesellschaft. Diese kritischen Bemerkungen würden ihre Gültigkeit auch dann behalten, wenn nachträglich ein Team von Psychiatern diese Frauen erneut untersuchte und herausfände, daß ihre Selbstdiagnosen tatsächlich korrekt waren. Jedoch stellten selbst in diesem Falle nur die Befunde der Psychiater authentische psychiatrische Daten dar; die nunmehr auf angemessene Weise bestätigten Erklärungen der weiblichen Befragten würden weiterhin "Meinung" oder sogar "Folklore" bleiben.

Ähnliche methodologische Fehler beeinträchtigen auch andere verhaltenswissenschaftliche Untersuchungen, die mehr die Techniken der exakten Wissenschaften nachahmen, als sich von der ihnen zugrundeliegenden Methode inspirieren zu lassen. Mehr noch, in vielen dieser Untersuchungen werden wissenschaftlich aufgemachte oder, lieber noch, physikalische Verfahrensweisen angewendet, nicht, weil sie angemessen wären, sondern weil Verhaltensforscher beweisen wollen, daß ihre Disziplin so "wissenschaftlich" ist wie die Naturwissenschaften. Das prestigeheischende Quantifizieren des Unquantifizierbaren ist, bestenfalls, dem Leibniz’schen Versuch vergleichbar, die Existenz Gottes mathematisch zu beweisen.

Es ist zulässig, sich auf die Zeiten zu freuen, wo die verhaltenswissenschaftlichen Daten endlich exakt und quantifizierbar sein werden. Es ist aber nicht möglich, den Beginn dieses ersehnten Zeitalters zu forcieren, indem man die Konstruktion eines geeigneten Begriffsschemas, die ihm als Grundlage dienen könnte, übergeht und stattdessen einfach anfängt, von einem unangemessenen, schlecht sitzenden und nur geborgten Dach herab nach unten zu bauen. Eine wissenschaftliche Erforschung des Verhaltens kann nur durch den systematischen Rekurs auf eine verallgemeinerte wissenschaftliche Methode und eine nicht disziplingebundene verallgemeinerte Epistemologie geschaffen werden. Sie läßt sich nicht dadurch konstruieren, daß man die sachgebundenen Techniken der Wissenschaften nachäfft, die nicht-chronoholistische Phänomene behandeln, die mittels weniger, jederzeit quantifizierbarer Variablen beschreibbar sind.

Eine wissenschaftliche Erforschung des Verhaltens muß mit der genauen Untersuchung der komplexen Matrix der Bedeutungen beginnen, in die ihre relevanten Daten sämtlich eingebettet sind (Devereux 1957a), sowie mit einer Spezifizierung der Mittel, durch die der Forscher zu einer möglichst großen Anzahl dieser Bedeutungen Zugang gewinnen kann.

Der zweite Schritt besteht darin, die persönliche Verstrickung des Verhaltenswissenschaftlers mit seinem Material und die Realitätsverzerrungen, die diese "Gegenübertragungs"-Reaktionen nach sich ziehen, zu studieren. Denn das größte Hindernis auf dem Wege zu einer wissenschaftlichen Erforschung des Verhaltens ist die ungenügende Berücksichtigung der emotionalen Verstrickung des Untersuchenden mit seinem Material, das er letzten Endes selber ist und das deshalb unvermeidlich Ängste in ihm erregt.

Der dritte Schritt besteht in der Analyse von Art und Ort der Trennung zwischen Objekt und Beobachter.

Der vierte und (vorläufig) letzte Schritt, den man im gegenwärtigen Stadium unseres Wissens unternehmen kann, besteht darin, die Subjektivität des Beobachters und die Tatsache, daß seine Gegenwart den Verlauf des beobachteten Ereignisses so radikal beeinflußt wie die Messung das Verhalten eines Elektrons beeinflußt ("stört"), zu akzeptieren und auszuwerten. Der Verhaltensforscher muß lernen zuzugeben, daß er niemals ein Verhaltensereignis beobachtet, wie es in seiner Abwesenheit "stattgefunden haben könnte", und daß ein Bericht, den er zu hören bekommt, niemals mit dem identisch sein kann, den derselbe Berichterstatter einer anderen Person gibt.

Glücklicherweise werden die sogenannten "Störungen", die durch die Existenz und das Agieren des Beobachters entstehen, wenn sie entsprechend ausgewertet werden, zu Ecksteinen einer wissenschaftlichen Erforschung des Verhaltens und bleiben nicht – wie man gemeinhin glaubt – bedauerliche Malheurs, die man am besten eilends unter den Teppich kehrt.

Die Klärung dieser Probleme kann zwar nicht in ein Gelobtes Land der Wissenschaft führen, doch bringt eine kritische Durchleuchtung der einer bestimmten Wissenschaft inhärenten Schwierigkeiten fast immer die Einacht mit sich, daß sie einzig für jene Wissenschaft charakteristisch sind, weil sie ihr Bedeutungsfeld abstecken, ihr Wesen definieren und somit die Schlüsseldaten jener Disziplin sind.

Ganz einfach ausgedrückt, ist es immer hilfreich, sich erst einmal genau zu überlegen, was man eigentlich tut.

Die Anschauungen, die in diesem Buch vertreten werden, sind im Prinzip auf alle Disziplinen der Verhaltenswissenschaft anwendbar. Die meisten Beispiele entstammen allerdings dem Feld der Ethnopsychologie, zum einen, weil diese Daten am vielfältigsten determiniert sind, und zum anderen, weil ich dieses Feld am besten kenne. Überhaupt ist diese Art des selektiven Verfahrens legitim. Was sich in methodischer Hinsicht auf eine Wissenschaft anwenden läßt, deren Daten ein komplexes Gewebe von biologischen, psychologischen, ökonomischen, historischen, sozialen und kulturellen Variablen darstellen und deren Bezugsrahmen das Individuum ebenso wie die Gruppe umfaßt, ist notwendigerweise auch auf jede segmentäre Verhaltenswissenschaft anwendbar, die als sogenannter "Grenzfall" fungiert.

...

Gegenübertragung in der verhaltenswissenschaftlichen Forschung

Professionelle Abwehrstrategien

Jeder Verhaltenswissenschaftler hat bestimmte Bezugsrahmen, Methoden und Verfahrensweisen zu seiner Verfügung, die – nebenbei – auch die Angst abbauen, die seine Daten erregen, und es ihm folglich ermöglichen, seine Funktion zu erfüllen. Gerade weil sie die Angst abbauen, verwandeln sich diese Manöver jedoch oft systematisch in wahrhafte Gegenübertragungs-Reaktionen, die zu einem zwangshaften Ausagieren führen, das sich als Wissenschaft maskiert. Eine Vorbedingung für die wirklich wissenschaftliche und sublimatorische Anwendung solcher Manöver ist, daß man ein tiefgehendes Verständnis für die Möglichkeiten ihres neurotischen Gebrauchs entwickelt.

Ein beträchtlicher Teil der professionellen Abwehrstrategien sind einfach Variationen der Isolierungs-Strategie, die angsterregendes Material "entgiftet", indem sie es verdrängt oder seinen affektiven Inhalt und seine humane wie persönliche Relevanz leugnet. Das folgende klinische Beispiel soll Beschaffenheit und Funktion des Isolierungsmechanismus verdeutlichen.

Fall 40

Einem anfänglich syphilophobischen Patienten gelang es, seine Angst mit solcher Wirksamkeit von den Geschlechtskrankheiten abzuziehen, daß er sogar mit Slumprostituierten schlafen konnte, ohne dabei Angst zu empfinden. Er entwickelte jedoch eine panische Furcht vor gewissen anderen Krankheiten, wie z.B. der Tollwut, der spinalen Meningitis und der Poliomyelitis, die, wie die Syphilis im dritten Stadium, das Nervensystem angreifen. Schon nach der bloßen Berührung einer Zeitung oder eines Buches, das das Wort "Poliomyelitis" enthielt, desinfizierte er sorgfältig seine Hände.

Der Psychoanalytiker bereitet sich systematisch auf die Arbeit mit angsterregendem Material vor, indem er sich einer Lehranalyse unterzieht, um mit seinen eigenen Problemen ins reine zu kommen. Das ermöglicht ihm normalerweise, das Bombardement, dem sein Unbewußtes durch das von seinen Patienten produzierte angsterregende Material ausgesetzt ist, ohne übermäßige Angst zu ertragen und es zu untersuchen, ohne es verzerren zu müssen, um seine eigenen Ängste unter Kontrolle zu halten. Außerdem ist er – jedenfalls, wenn er wirklich gut analysiert ist – einsichtig genug, um einen Patienten, dessen Probleme er nicht sachlich behandeln kann, an einen anderen Analytiker zu überweisen, der vielleicht eher in der Lage ist, das von diesem speziellen Patienten produzierte angsterregende Material zu ertragen. Auch die Regeln der psychoanalytischen Technik befördern ebenso wie seine Selbstdefinition ("ich bin ein Analytiker") und die Definition der Situation ("dies ist eine Analyse"), die Objektivität des Analytikers (Devereux 1956a). So kann er beispielsweise auf die beleidigenden und drohenden Äußerungen eines Patienten objektiv reagieren, weil er dank dieser Definitionen seiner Rolle und der Situation zu der Einsicht fähig ist, daß die Äußerungen des Patienten Manifestationen eines Übertragungsärgers sind und sich in Wirklichkeit gegen eine Person richten, die in der Kindheit des Patienten eine Hauptrolle gespielt hat.

I.       Stellvertretende Vorerfahrung: Die traumatische Wirkung eines potentiell angsterregenden Ereignisses wird beträchtlich vermindert, wenn man darauf vorbereitet ist, wenn man, mit den Worten William James’, im voraus über die Situation "Bescheid weiß", mit der man "bekannt werden" soll. Beispielsweise wappnet das Universitätsstudium der Anthropologie den Anthropologen ziemlich weitgehend für die Begegnung mit der wirklichen Feldforschung, wenn es ihn natürlich auch gegen die Wirkung, die von einem australischen Subinzisionsritus ausgeht, nicht völlig immunisieren kann. Es versetzt ihn einfach nur in die Lage, das bewußte Empfinden der Angst abzuwehren (aufzuschieben), bis er sein Ritual photographiert und protokolliert hat. Fall 42 zeigt zwar, daß traumatische Felderfahrungen gelegentlich eine verspätete Angstreaktion von einiger Intensität hervorrufen, doch wissenschaftlich gesehen kommt es nur darauf an, daß der Anthropologe ohne solches vorheriges "Bescheidwissen" die Praktiken nicht hätte akkurat beobachten und beschreiben können.

Selbst manche Neurotiker wissen um die Möglichkeit, die Intensität eines Angstanfalls durch dessen "Antizipation" zu mindern, wobei das dann allerdings in einer etwas extremen Weise geschieht:

Fall 41

Ein junger Mann mit einer akuten Brücken-Phobie sagte: "Wenn ich weiß, daß ich eine Brücke überqueren muß, lasse ich selbst absichtlich vorher einen Angstanfall kommen, weil ich weiß, daß das die Angst, die ich beim Überqueren der Brücke empfinde, vermindert. Ich fürchte mich deshalb davor, vorher keine Angst zu haben; das Ausbleiben einer antizipierenden Angst macht mich nur noch ängstlicher, als ich es normalerweise beim Überqueren einer Brücke wäre."

II.      Die professionelle Haltung und die Abwehr durch Aktivität verbindet eine ich-syntone und kulturell sanktionierte Selbstdefinition ("ich bin ein Anthropologe") mit einer in ähnlicher Weise sanktionierten Definition der Situation ("dies ist Feldforschung").

Während der Schutz, den eine wissenschaftliche Haltung gewährt, nur temporär ist und oft nur solange anhält, wie man tatsächlich mit wissenschaftlicher Arbeit beschäftigt ist, kann die wissenschaftliche Aktivität als solche das bewußte Empfinden der Angst weiter vermindern, indem sie eine partielle Abreaktion der Spannungen durch Aktivität ermöglicht. Sobald diese Aktivität jedoch aufhört, kann die vorher nicht bewußt empfundene Angst mit einer bedrängenden Intensität, wie sie für die "Wiederkehr des Verdrängten" charakteristisch ist, spürbar werden. Mehr noch, wenn die wissenschaftliche Aktivität so geartet ist, daß sie selbst Spannungen produziert, kann die Angst schließlich so überwältigend werden, daß es einer psychotherapeutischen Intervention bedarf. Auf welche Weise meine eigenen Aktivitäten als Kommentator es mir ermöglichten, das Unbehagen während der Vorführung eines angsterregenden Films aufzuschieben, wurde oben beschrieben. Ähnliche Erfahrungen kann man auch im Feld machen.

Fall 42

Zwei Anthropologen empfanden "keine Angst", während sie im Feld eine afrikanische Beschneidung an Frauen photographierten, beobachteten und protokollierten. Als sie später jedoch den Film "Karamoja" sahen – der die gleichen weiblichen Beschneidungsriten eines anderen Stammes zeigte –, empfanden sie "quälende Angst", einfach, weil ihre passive Zuschauerrolle ihnen diesmal keine Möglichkeit ließ, ihre Angst durch Aktivität abzureagieren.

Der mit traumatischem Material konfrontierte Verhaltenswissenschaftler lernt es bald, sich die professionelle Haltung als angstminderndes Manöver zunutze zu machen, zumal sie ihm – natürlich nur innerhalb bestimmter Grenzen – unter Umständen sogar die Möglichkeit gibt, sich Beschäftigungen hinzugeben, die normalerweise intensive Schuldgefühle in ihm hervorrufen würden. So konnten Malinowski (1932) das Sexualleben der Trobriander und ich das der Mohave untersuchen, ohne uns wie neugierige Zaungäste zu fühlen und ohne durch unsere Erkundungen ungebührlich stimuliert zu werden. Ich argwöhne jedoch, daß Versuchspersonen, die sich freiwillig für bestimmte Arten der Forschung über den menschlichen Koitus hergeben (Fälle 121, 122), die wissenschaftliche Definition der Situation einfach für den Zweck des neurotischen oder sogar des perversen (exhibitionistischen) Ausagierens ausnutzen.

Wie auch immer, die wachsende Anerkennung der Verhaltenswissenschaft als einer legitimen Form der "Wissenschaftlichkeit" mag teilweise erklären, warum moderne anthropologische Monographien "heikles" Material unumwunden beschreiben, das ältere Monographien entweder völlig unterschlagen, auf Lateinisch beschrieben oder nur euphemistisch und auf eine Weise erwähnt haben, die das Entsetzen und den Ekel des Beobachters deutlich hervortreten ließen. In einigen frühen Darstellungen der australischen Subinzisionspraktiken wird von diesen einfach als von "jenem schrecklichen Ritus" gesprochen.

Leider hat diese nunmehr kultursyntone professionelle Haltung das Pendel soweit ins andere Extrem ausschlagen lassen, daß einige Anthropologen jetzt in irrationalen und grausamen Praktiken "einfach nur Bräuche" sehen, an die man keine ethischen Maßstäbe anlegen kann. Beide Extreme stellen neurotische Gegenübertragungsreaktionen dar; keine der beiden Haltungen ist wirklich objektiv und wissenschaftlich. Wie auch immer, Fall 59 zeigt, daß man dank der wissenschaftlichen Haltung im Feld Dinge tun kann, die zu tun einem in einem anderen Kontext nicht einmal im Traum einfallen würde, und daß man diese Dinge überdies auf sublimatorische Weise, d.h. auf eine Weise tun kann, die objektiv weniger schlechte und subjektiv weniger ichdystone Ergebnisse bringt, als es der Fall gewesen wäre, wenn man sich der Unternehmung vollkommen enthalten hätte. Tatsächlich lassen sich oft Arrangements treffen, mittels deren man eine unangenehme Praktik untersuchen kann, ohne ein lebendes Wesen zu schädigen und ohne sich unnötigerweise einem Anblick auszusetzen, der, da er die eigenen Ängste erregt, die Genauigkeit der Beobachtungen mindert.

Fall 43

Die Sedang kastrieren einen Eber nicht mit einem eisernen Messer, sondern mit einem scharfen Bambussplitter, damit die Geister nicht auf den Gedanken verfallen, daß er ihnen geopfert werden soll. Da die Sedang im Umgang mit Tieren gefühllos sind und Hunde manchmal einfach "zum Spaß" kastrieren, freute ich mich nicht gerade darauf, Zeuge einer dieser rohen Verschneidungen eines jungen Ebers sein zu müssen. Da es nun einmal meine Aufgabe war, alle Techniken genau zu protokollieren, bat ich deshalb, als das nächste Mal ein Eber geschlachtet wurde, einen Sedang, den Kadaver genau auf die Weise zu kastrieren, wie er es mit einem lebenden Eber tun würde. Dieses Arrangement ermöglichte es mir, genauere Beobachtungen anzustellen, als wenn ich gezwungen gewesen wäre, Notizen zu machen, während das Quieken und die Befreiungsversuche eines lebenden Ebers mich abgelenkt und bekümmert hätten. Man kann natürlich einwenden. daß diese Ausflucht mich daran gehindert habe, auch die psychologisch signifikanten Reaktionen des Kastrators zu beobachten. Diesem Nachteil half ich dadurch ab, daß ich mir für diese Rolle einen ausgezeichneten Schauspieler aussuchte, der – da bin ich sicher – genau die Emotionen eines Sedang an den Tag legte, der einen lebenden Eber kastriert.

III.    Methodologische Positionen und technische Manöver, die, bei korrekter Anwendung, logisch unangreifbar und wissenschaftlich produktiv sind, können unbewußt in erster Linie in den Dienst von Isolierungs-Strategien gestellt werden, die die Wahrnehmung der Realität verzerren und die Forschungsarbeit auf verschiedene Weise beeinträchtigen.

A.   Ein naiver kultureller und ethischer Relativismus – die Auffassung der Menschheit als einer Art "Museum der Sitten und Gebräuche" – erkennt zwar die Existenz menschlicher Wesen an, weigert sich im Namen der "wissenschaftlichen" Objektivität jedoch, ihr Verhalten an den geltenden sittlichen Maßstäben zu messen. Überdies weicht eine solche "methodologische" Position dem wichtigen Problem, inwiefern das Ethos einer Kultur für eine andere Kultur relevant ist, wie auch dem wichtigen kulturellen Problem der Ethik im allgemeinen aus.

Fall 44

Ein psychologisch erfahrener Anthropologe erzählte mir, er sei Zeuge der Beerdigung eines lebenden Menschen gewesen, der "seine Seele verloren" hatte und folglich als tot galt. Als ich ihn fragte, warum er nicht einzugreifen versucht habe, antwortete er von oben herab: "Von einem Anthropologen erwartet man nicht, daß er die Bräuche der Eingeborenen unterminiert, sondern daß er sie studiert."

Die zwanghafte Verneinung der Legitimität ethischer Urteile kann dazu führen, daß man sich selbst dort noch weigert, wissenschaftliche Diagnosen zu stellen, wo man das Ausmaß der Pathologie einer bestimmten Gesellschaft daran ermessen kann, daß sie ihr erklärtes Ziel nicht erreicht und einer selbstzerstörerischen Neigung nachgibt, indem sie dysfunktionalen Zielen anhängt. Das erste Beispiel dafür ist die selbstzerstörerisch-pathologische Bereitschaft des Tonkawa-Stammes, lieber das Risiko einzugehen, von seinen empörten Nachbarn ausgelöscht zu werden, als seinen ökonomisch unbegründeten Kannibalismus aufzugeben (Linton 1937, Devereux 1955b).

Der kulturelle Relativismus versucht, die Angst dadurch abzubauen, daß er kulturelle Daten in einem menschlichen Vakuum betrachtet. Diese Ausflucht ist, wiewohl wissenschaftlich steril, doch effektiv, denn schließlich reagiert man auf das Phänomen, daß die Gottesanbeterin bei der Paarung das Männchen (mit dem man sich nicht identifizieren kann) auffrißt, weniger angstvoll, als man auf eine ähnliche menschliche Sitte reagieren würde. Ebensogut könnten wir unsere Ängste geschickt abbauen, indem wir die Gefangenenfolter einfach als "Brauch" betrachten und damit implizit leugnen, daß diese Praktiken irgendeinen Bezug auf Wesen aus Fleisch und Blut, mit denen wir uns selbst identifizieren müßten, haben. Auch im Alltagsleben nimmt man zu solchen impliziten Verleugnungen irgendwelcher Ähnlichkeiten zwischen einem selbst und anderen seine Zuflucht, wie beispielsweise bei dem Versuch, die Sklaverei zu rechtfertigen, weil sie "schließlich nur Quasi-Tiere" betrifft. Durch diese absichtsvolle Vergrößerung der sozialen Distanz zwischen dem Anthropologcn und den Eingeborenen, die er untersucht, kann er seine eigenen Ängste ignorieren, indem er ihre Sitten studiert, als wirke die Kultur nicht auf lebendige Wesen. Ich muß wohl nicht erwähnen, daß diese verleugneten Ängste dann auf andere Themen verschoben werden. Viele Kulturologen stehen denen feindlich gegenüber, die Sitten in Beziehung auf den Menschen untersuchen, und zwar hauptsächlich deshalb, weil dieser umfassendere Ansatz das angsterregende menschliche (psychische) Element wieder in ihre sorgsam von allen Affekten gesäuberte Welt der "reinen" Sitten und Institutionen einzuführen droht.
Die "relativistische" Ansicht, eine grausame Praktik sei nur eine ethisch neutrale Sitte, kann sogar wirkliche Objektivität ausschließen, denn oft genug wird die relativistische Definition des Brauchs von denen nicht geteilt, die sie tatsächlich praktizieren und durchaus das Gefühl haben können, daß sie moralisch falsch ist (Lévi-Strauss 1955). Die Weigerung, die inhärente Verderbtheit eines Brauches zur Kenntnis zu nehmen, kann dazu führen, daß man für eine andere Sitte, nämlich die der Bewertung jener Praktik durch den Primitiven selbst, blind wird.

Fall 45

Wenn man die voreheliche Masturbation, die Homosexualität, die Sodomie und die heterosexuellen Perversionen der Sedang "einfach als Sitten" ansähe, käme man nie darauf, daß die Sedang selbst diese Praktiken für verwerflich halten und sie nur dulden, weil ihre Götter, die explizit als ethisch korrupt und böse deklariert werden, voreheliche heterosexuelle Beziehungen zu verbieten beliebten, die die Sedang selbst gefühlsmäßig für moralisch besser halten als die Perversionen. Umgekehrt ist diese Entdeckung unerläßlich, wenn man die Feindseligkeit der Sedang gegen ihre Götter verstehen will. (Devereux 1940c)

Die Weigerung des Feldforschers, zur Kenntnis zu nehmen, daß die Primitiven selbst manche ihrer traditionellen Praktiken mißbilligen, nimmt ihm unter Umständen die Möglichkeit, eine kulturelle Veränderung, die eine Reaktion auf eine traditionelle, aber unbeliebte Praktik darstellt, vorauszusagen oder zu verstehen.

Fall 46

Als im späten 19. Jahrhundert ein Gefangener gerade dem Morgenstern geopfert werden sollte, befreite ein großer Pawnee-Krieger, von Abscheu überwältigt, das dafür vorgesehene Opfer und erklärte, daß keine Gefangenen mehr geopfert werden sollten. Der versammelte Stamm ließ einen Seufzer der Erleichterung hören und beschloß, diesen Ritus aufzugeben. (Linton 1923)

Fall 47

Mit großem Widerstreben kam das Volk von Temese der Verpflichtung nach, jedes Jahr die schönste Jungfrau dem lasterhaften toten Helden Polites zu opfern. Der olympische Faust- und Ringkämpfer Euthymos hatte jedoch zufällig Mitleid mit einem dieser Mädchen und verliebte sich in sie. Er forderte Polites heraus und besiegte ihn, so daß er sich schließlich selbst (d.h. seine Statue) in die See stürzte und die Temeser für immer von der Verpflichtung entband, dieses Opfer zu bringen. (Pausanias 6.6.2; Strabo 6.1.5, p. 225; Aelian, "Varia Historia" 8.18; Eustathios: Odyssee-Kommentar 1409.13)

Fall 48

Das subjektive Empfinden der Sedang, daß das Essen der menschlichen Leber moralisch verwerflich sei, bewirkte, daß sie diese Praktik ersetzten: zuerst durch eine rein symbolische Geste – das Berühren der Lippen mit einem Stück menschlicher Leber – und dann durch das Essen der Leber eines geopferten Tieres.

Fall 49

Auch das Menschenopfer konnte sich bei den Sedang einfach deshalb nicht halten, weil sie empfanden, daß es moralisch falsch war. Zuerst beschränkten sie das Menschenopfer auf Gelegenheiten, wo eine sehr schwere Krise – z.B. eine Epidemie – den Rückgriff auf diese alte Sitte notwendig erscheinen ließ. Dann gaben sie vor, ein menschliches Wesen zu opfern, ritzten aber nur dessen Achsel und opferten stattdessen ein Schwein.

Als schließlich ein auf diese Weise "geopferter" Schuldner seine "Mörder" auf Schadenersatz verklagte und die Ältesten ihm eine Entschädigung gewährten, gaben die Sedang sogar die vorgetäuschte Opferung eines menschlichen Wesens auf. Um 1933 hatten sie die menschlichen Opfer gegen Wachsfiguren ausgetauscht und töteten nur noch einen Büffel. Sie rationalisierten diese Praktik sogar, indem sie stolz verkündeten, daß sie reicher seien als die Geister, die darauf angewiesen seien, menschliche Wesen zu essen, während sie selbst sich Büffelfleisch leisten könnten!

Zu diesen beiden kulturellen Neuerungen kam es, ehe die Sedang irgendwelchem sozialisierenden oder administrativen Druck unterworfen wurden. Sie fanden statt, weil die Sedang, anders als manche Anthropologen, nicht das Gefühl hatten, daß das Essen von Menschenfleisch oder das Töten von Menschen "einfach nur ein Brauch" sei. Tatsächlich freuten sie sich, als dann administrative Maßnahmen sie zwangen, noch einen anderen lästigen Brauch aufzugeben.

Fall 50

Als die Franzosen Stammeskriege verboten und die Sedang gezwungen waren, rituelle Angriffe durch Scheinschlachten zu ersetzen, sagte mir ein Sedang: "So ist es viel besser! Jetzt können wir das Siegesfest genießen und uns ordentlich betrinken, ohne vorher erst im Kampf gegen die Halang unsere Haut riskieren zu müssen."
Diese Daten zeigen, daß die "Bloß ein Brauch"-Haltung den zwanghaft objektiven Forscher oft dazu führt, Bräuchen gegenüber, die er untersucht, ziemlich unobjektiv zu sein.

B.   Die Elimination des Individuellen aus ethnologischen Feldberichten war früher eine Routineprozedur.

Fall 51

Linton zitierte mir gegenüber einmal die folgende Bemerkung eines Kollegen: "Meine Monographie über den Soundso-Stamm ist fast fertig. Das einzige, was mir noch zu tun bleibt, ist, das Lebendige (d.h. alle Hinweise auf reale Menschen und Ereignisse) zu streichen."

C.   Gültige Begriffsschemata und methodologische Positionen lassen sich ebenfalls in erster Linie zur affektiven Entgiftung angsterregenden Materials verwenden.
Die Kulturologie geht oft so vor, als existierten die Menschen in Wirklichkeit gar nicht. Natürlich ist es ein logisch legitimes Vorverfahren, die Kultur in der Isolation zu untersuchen – sei es im Glaskasten oder als "analytische Variable" –, vorausgesetzt, daß die Resultate dieses segmentären Studiums des menschlichen Verhaltens dann schließlich mit psychologischen Feststellungen und Formulierungen verbunden werden.

Wenn man jedoch behauptet, daß die Kulturologie endgültige und umfassende Antworten geben kann und wenn zudem auch noch die – völlig unberechtigte – Verschwörungsangst herrscht, daß das Sozio-Kulturelle auf das Psychologische reduziert werden könnte (Kroeber 1948a), dann ist die kulturologische oder superorganische Position in erster Linie weit eher eine Isolierungsstrategie als eine zielgerichtete, temporäre professionelle Haltung.

D.   Der atomistische Ansatz muß scharf unterschieden werden von der Verwendung von Merkmalslisten und Fragebogen als mnemotechnischer Mittel, die gewährleisten, daß der Feldforscher nicht "zufällig mit Absicht" Material übersieht, das er, infolge seiner Ängste, lieber nicht erforschen möchte. Auch muß dieser Ansatz von vernünftigen Distributionsuntersuchungen unterschieden werden, die – wie Kroebers (1949; 1952; 1955) Analysen der amerikanischen Kulturzonen und geographischen Persönlichkeitstypen – die Herausbildung von Eigenschaften und ihre menschliche Relevanz keineswegs ignorieren. Ebenso ist dieser Ansatz zu unterscheiden von Untersuchungen der Reichweite und der Vielfalt kultureller Merkmale, die letztlich über das Funktionieren des "Menschen in der Kultur" insgesamt Aufschluß zu geben suchen (Devereux 1955a). Atomistische Verhaltensforschung stellt nur dann eine Abwehrstrategie gegen die Angst dar, wenn sie es unterläßt, ein Merkmal, das sie aus seinem Kontext gerissen hat, am Ende wieder in seine psychokulturelle Matrix zu integrieren.

Selbst Untersuchungen über die Beschaffenheit der Kultur, über kulturelle Prozesse und ihre Ausbreitung können verfälscht werden, wenn man sich weigert, die Psychologie mitzuberücksichtigen.

Fall 52

Norbeck (1955) versuchte die Tatsache, daß in zwei weit auseinander liegenden Gegenden die Geschichte von Menschen ohne Anus vorkommt, mit der weithergeholten Hypothese zu erklären, daß sie von aus Südamerika herübergebrachten Sklaven auf den Philippinen eingeführt worden sei. Hätte Norbeck auch den Chaga-Glauben (Raum 1939), daß Erwachsene keinen Anus haben, und solche griechischen und römischen Quellen wie Lukian ("Verae Historiae", 123), Plinius ("Naturalis Historia", 7.25) und Aulus Gellius ("Noctes Atticae", 9.4.10) berücksichtigt, hätte er gemerkt, daß sich dieses Problem ausschließlich in Begriffen der Diffusion unmöglich lösen läßt, und zwar aus dem einfachen Grund, daß die Verleugnung des Anus eine menschliche Phantasie ist, die auf verschiedenen Ebenen Ausdruck finden kann: als Geschichte in Südamerika, auf den Philippinen usw., als sozial erzwungener Glaube unter den Chaga und als neurotische Phantasie bei Patienten der westlichen Hemisphäre. (Keiser 1954, Devereux 1954b) Darüber hinaus läßt der südamerikanische Mythos sich auch struktural erklären. (Lévi-Strauss 1966)

Fall 53

Wenn man die Vorstellung vom luxierten Penis ethnologisch untersuchen will, muß man eine Tupari-Praktik, einen Mohave-Scherz, einen Zoroaster-Mythos, eine Eskimo-Lüge, die südchinesische und indonesische koro-Neurose, eine Erzählung aus "Les cent nouvelles nouvelles", eine halbpornographische Anekdote aus der Zeit des Ancien Regime, die Handlung eines deutschen Psychotikers, den Traum einer neurotischen Amerikanerin, die Parästhesie eines Bostoners, die Phantasie eines zwanghaften Mittelwestlers usw. (Devereux 1954a, 1957a) sämtlich als ein einziges Universum des Diskurses ansehen. Nur eine Art "Karte", die alle Verteilungen dieser Manifestationen der gleichen Vorstellung verzeichnet, kann anthropologisch bedeutungsvoll sein, und die Anfertigung einer solchen Karte erfordert, daß man die körperliche und psychische Realität des Menschen zur Kenntnis nimmt.

E.   Die Persönlichkeitsforschung, die Tests als emotionale Schneisen mißbraucht, ist das psychologische Gegenstück zur atomistischen Sozialwissenschaft. Daß Tests intellektuelle Einsichten liefern und gleichzeitig das Verständnis für die menschliche und psychische Realität der Testperson eher vergrößern als verringern können, ist im klinischen Bereich durch die Testberichte von erstklassigen Psychologen, im Bereich der Kultur- und Persönlichkeits-Forschung durch die Arbeiten inspirierter Forscher wie Hallowell (1955) belegt worden. In den Händen von Menschen, die keine Angst vor psychischen Realitäten haben, sind Tests keine Ausweichmanöver, sondern Wege zum Verständnis lebender Wesen. Leider gibt es auch einige "Experten", die Tests (unbewußt) dazu benutzen, um ihr Material zu sterilisieren.

Lessa’s und Spiegelman’s Monographie (1954) über die ulithianische Persönlichkeit, die hauptsächlich auf Testdaten basiert, wie zwei Bücher, die teilweise auf Tests mit den Navajos aufgebaut sind (Kluckhohn und Leighton 1946; Leighton und Kluckhohn 1947), können, wenigstens für einen Leser (Devereux 1948e, f), die Individuen und die Gruppe, die sie beschreiben, nicht zum Leben bringen, während Lowie (1935) – der sich nicht als Psychologe bekannte und keine Tests verwendete – sowohl den Stamm der Crowindianer als auch seine einzelnen Mitglieder lebendig werden ließ. Selbst eine so theoretische Arbeit wie Llewellyn’s und Hoebel’s (1941) brillante Untersuchung über Rechtspraktiken der Cheyenne, die von zwei Gelehrten geschrieben worden ist, die nicht auf Kultur und Persönlichkeit spezialisiert waren und völlig andere Zwecke verfolgten, brachte die Cheyenne zum Leben – selbst die gelegentlich inkorrekten psychiatrischen Diagnosen taten dem keinen Abbruch.

Tatsächlich sieht es so aus, als ob einige grundsätzlich anti-psychologisch eingestellte Anthropologen als Kompromißlösung ("Schein-Willfährigkeit") zu Kultur- und Persönlichkeits-Spezialisten geworden sind und statistische Testergebnisse hauptsächlich veröffentlicht haben, um sich für ihren Kampf gegen jede wirklich tiefenpsychologische Annäherung an den Menschen die nötige "Autorität" zu verschaffen. Einige Schriften von Lessa (1956), Orlansky (1949) und Sewell (1952) sind gute Beispiele für dieses Manöver. Weitere Daten zu diesem Punkt werden von La Barre (1958) zitiert.

F.   Die intellektualistische Konstruktion eines Persönlichkeitsmodells ist das psychologische Gegenstück zum kulturologischen Theoretisieren. Die Konstruktion eines Modells ist eine normale Praktik einer jeden Wissenschaft, die sich bis zu einem Punkt entwickelt hat, an dem das Aufstellen von Theorien zugleich notwendig und möglich wird. Dabei ist jedoch zu bedenken, daß man abstrakte Persönlichkeitsmodelle konstruieren kann, ohne zuerst sein Material zu "entgiften". Vernünftige Modelle, gleichgültig, wie abstrakt sie sein mögen – und einige sind in der Tat sehr abstrakt – beziehen sich auf menschliche Wesen und nicht auf Labor-"Präparate". Deshalb "klingelt" es bei ihrer Lektüre beim normalen Leser nicht minder als beim Kliniker, während bestimmte andere Modelle, wie z.B. das von Erikson (1950) – zumindest für mich – blutlose, wenn auch vielleicht verblüffende Schemata bleiben. Es ist lehrreich, in diesem Zusammenhang die Lebendigkeit der hochkomplexen Modelle von Róheim (1950), Mead (1947a, b, c), Lévi-Strauss (1949, 1955, 1962a, b, 1964) oder La Barre (1954) mit der eisigen Brillanz von Erikson’s (1943) formalistischem Kultur- und Persönlichkeits-Modell der Yurok zu vergleichen oder auch – ein nicht ganz so krasses Beispiel – mit bestimmten (nicht allen!) Aspekten von Kardiner’s (1939-1945) Modell der ethnischen Persönlichkeit. Tatsächlich werden selbst diejenigen, die die Modelle von Róheim, Mead, Lévi-Strauss oder La Barre nicht uneingeschränkt akzeptieren, hin und wieder das Gefühl haben, daß diese scheinbar hochabstrakten Modelle mit fast unheimlicher Eindringlichkeit an einen Freund, einen Patienten oder einen primitiven Informanten denken lassen. Im Gegensatz dazu beschäftigt ein rein intellektualistisches Modell einfach nur den Intellekt. Es ist so "sinnig" wie eine mittelalterliche Abhandlung über die Frage, wieviele Engel auf einer Nadelspitze stehen können; ihre Spitzfindigkeit setzt einen zwar in Erstaunen, kann aber weder die Engel noch die Nadel – oder, in diesem Falle, den Autor des Traktats – Wirklichkeit für den Leser werden lassen, der am Ende nicht mehr damit anzufangen weiß, als zu fragen: "Na und?"

Auch eine wirklich wichtige theoretische Verfahrensweise kann – wenn sie als Abwehrstrategie gegen die Objektivität fungiert – zu einer Quelle der Verzerrung m der Verhaltenswissenschaft werden, und zwar zu einer, die kaum je erkannt wird, da eine solche Erkenntnis mit einer schweren narzißtischen Kränkung verbunden ist. Die Abwehrstrategie, von der ich spreche, ist ein spezieller Typ der Theorie auf zwei Ebenen.

1.       Die erste Ebene besteht in der Formulierung einer Theorie, die den weniger angsterregenden Teil in angemessener Weise berücksichtigt. Diese segmentäre Theorie dient dann gewöhnlich dazu, die Erforschung des anderen – stärker angsterregenden – Teils der Fakten zu verhindern.

2.       Auf der zweiten Ebene wird diese Theorie systematisch ausgearbeitet, um die Illusion zu erwecken, daß sie vollständig sei. Dadurch fühlt man sich umso mehr dazu ermutigt, vor den Aspekten der Tatsachen, die erklärt zu haben man beteuert, die Augen zu schließen.

Gewiß ist der inhärente – wenn auch transitorische – Wert solcher Theorien, die einen Aspekt eines Prozesses berücksichtigen, nicht zu bestreiten. Worauf es hier ankommt, ist, daß die (korrekte) partielle Theorie dann zu dem Zweck mißbraucht wird, die Formulierung einer wirklich vollständigen Theorie zu verhindern.

Fall 54

Vor einigen Jahren interessierte ich mich plötzlich mehr für Ödipus’ Eltern, als für Ödipus selbst. Als ich die griechischen Ödipus-Texte wieder las, so als handelten sie nicht in erster Linie von Ödipus, sondern von Laios und Iokaste, entdeckte ich, daß diese Mythen das "ödipale" Verhalten des Ödipus explizit als direkte und unausweichliche Folge von – und als Reaktion auf – Laios’ und Iokastes Verhalten ansahen. Das impliziert, daß der Ödipuskomplex berechtigtermaßen "Gegen-Laios"- oder "Gegen-Iokaste"-Komplex genannt werden könnte und daß es unangemessen ist, den Laios- und den Iokaste-Komplex gegenödipal zu nennen. Tatsächlich führt dieser Terminus zu dem irrigen Schluß, daß der Ödipus-Komplex des Kindes die "gegenödipalen" Komplexe seiner Eltern hervorruft. Es versteht sich, daß meine Beobachtungen nicht die Existenz des Ödipus-Komplexes in Frage stellen; sie bestätigen ihn vielmehr auf überzeugende Weise. Ich wies einfach nur darauf hin, daß der Ödipuskomplex des Kindes in erster Linie eine Antwort auf die präexistierenden inzestuösen und/oder mörderischen Triebe der Eltern ist und man deshalb genau genommen von einem Gegen-Laios- oder Gegen-Iokaste-Komplex sprechen müsse.

Obwohl diese Schrift doch nachweisbare Fakten abhandelte, gab man mir privat den Rat, sie nicht zu veröffentlichen, weil das meinem – zu der Zeit wohletablierten – Ruf als klassischem Freudianer Abbruch tun könnte. In Wirklichkeit wurde dieser Artikel jedoch fast postwendend vom offiziellen Organ der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (Devereux 1953b) akzeptiert.

Fall 55

Die weitere Untersuchung wissenschaftlich verdunkelter Aspekte komplexer frühkindlicher Beziehungen veranlaßte mich zu einem Artikel über den derivativen Charakter kannibalistischer Impulse in der frühen Kindheit. Darin traf ich folgende, durch eine Fülle von Belegen gestützte Feststellungen:

1.       Unsere Information über das psychische Leben des Kindes besteht weitgehend aus bloßen Folgerungen; es handelt sich dabei um mehr oder weniger brauchbare Rekonstruktionen.

2.       Das Kind an der Brust ist noch nicht in der Lage, zwischen menschlichem und nichtmenschlichem Fleisch zu unterscheiden; man kann also im psychologischen Sinne nicht davon sprechen, daß es kannibalistische Triebe habe. Zugegebenermaßen beißt es in die Brustwarze – aber ebenso lustvoll beißt es in den Schnuller. Man könnte deshalb sagen, es habe Beiß- und Einverleibungstriebe; doch kann man wohl nicht behaupten, daß es kannibalistische Triebe hat.

3.       Der Glaube, Kinder hätten spezifisch kannibalistische Triebe, resultiert deshalb entweder aus der Projektion der kannibalistischen Triebe der Eltern auf das Kind, oder aus der Rück-Projektion der kannibalistischen Triebe etwas älterer Kinder in die frühe Kindheit. Letztere sind in der Lage, zwischen menschlichem und nichtmenschlichem Fleisch zu unterscheiden, und ihre kannibalistischen Triebe stellen eine Antwort auf die kannibalistischen Triebe ihrer Eltern dar.

4.       Zoologie, Anthropologie und Geschichte belegen gleichermaßen, daß erwachsene Tiere und menschliche Wesen ihre Jungen auffressen, während die Jungen niemals ihre Eltern auffressen; tatsächlich fressen sie sie selbst dann kaum jemals auf, wenn sie herangewachsen sind. Auch das Essen des Körpers eines toten oder sterbenden Elternteils ist außerordentlich selten, während sowohl der Kindsmord zum Zweck der Ernährung wie der rituelle Kindsmord ausgesprochen weitverbreitet sind (Devereux 1966d).

Diese manifesten Tatsachen und Schlußfolgerungen von beinahe naiver Deutlichkeit haben ganz erstaunliche Reaktionen hervorgerufen.

A.      Reaktionen eines Kollegen, dem ich das Manuskript privat zeigte:

1.    Ich hatte hawaiianische Anschauungen erwähnt, die die unkontrollierte Freßgier schwangerer Frauen betrafen, und das hawaiianische Wort zitiert, das diese Gier bezeichnete. Nichtsdestoweniger wurde ich gefragt, ob nur einige wenige Hawaiianer diese Anschauung teilten oder die ganze Nation.

2.    Er bat mich, die Quellen für einige meiner Behauptungen über die Mohave zu zitieren, obwohl deutlich war, daß ich meine eigenen Feld-Daten zitiert hatte.

3.    Obwohl er Arzt war, "fragte" er sich, ob es wahr sei, daß a) einige weibliche Tiere ihre Plazenta fressen; b) ihre Einverleibung den Wechsel vom endokrinen Gleichgewicht, wie es für die Tragezeit typisch ist, zum endokrinen Gleichgewicht, wie es für die Säugezeit typisch ist, befördere; c) ein Versuchstier, dem bestimmte notwendige Elemente seiner Nahrung vorenthalten werden, aus mehreren Futtersorten wohl diejenigen raussuchen würde, die die fehlenden Nahrungselemente enthält.

4.    Er bat mich, ihm die Quelle für die Behauptung zu nennen, daß einige primitive Frauen sich absichtlich überanstrengen, um einen Abort herbeizuführen, obwohl ich genau zu diesem Punkt mein Buch A Study of Abortion in Primitive Societies angegeben hatte (Devereux 1955a).

5.    Er äußerte Zweifel an meiner Behauptung, daß die Australier in Hungerzeiten ihre Kinder aufessen, obwohl ich zwei Quellen angegeben hatte, die meine Behauptung stützten.

6.    Er bat mich, eine Anzahl höchst simpler Bemerkungen zu "verdeutlichen" usw.

B.      Zwei Diskutanten. Eine sorgfältig überarbeitete Version dieses Artikels wurde in der Folgezeit in einer Zeitschrift veröffentlicht, in der alle Artikel von mehreren Diskutanten kommentiert werden. Einer meiner drei Diskutanten untersuchte – völlig legitim – das Problem unter einem anderen Aspekt und kam zu Schlüssen, die, wie ich meine, meine eigenen ergänzten. Die beiden anderen vermieden es ängstlich, sich mit der entscheidenden Tatsache auseinanderzusetzen, daß man, um kannibalistische Phantasien haben zu können, den Unterschied zwischen menschlichem und tierischem Fleisch kennen muß. Darüber hinaus verstanden sie entscheidende Punkte falsch, legten mir Ansichten zur Last, die ich nicht hege, und beschränkten sich im übrigen mehr oder weniger auf sarkastische Bemerkungen und den Anwurf der Ketzerei (Coodley 1966; Ekstein 1966).

Worauf es hier ankommt, ist nicht die Seltsamkeit und die Befangenheit der Reaktionen, von denen ich in den vorhergehenden Abschnitten nur einige wenige zitiert habe.
Wichtig ist, daß diese Reaktionen offensichtlich durch die angsterregende Natur meiner Folgerungen hervorgerufen wurden, die gegen zwei wichtige wissenschaftliche Praktiken verstießen:

1.       Das Tabu, elterliches Verhalten in psychoanalytischen Termini zu untersuchen.

2.       Die Tradition, daß alles zu Lasten des Patienten geht. Doch schon Loewenstein hatte sich dagegen verwahrt (1947), alle Mißgeschicke des Patienten seinem "moralischen Masochismus" zuzuschreiben. Als unerbittlicher klassischer Freudianer möchte ich deshalb darauf aufmerksam machen, daß bestimmte unanalysierte Segmente der psychoanalytischen Theorie in den Dienst des Widerstands gegen die Fakten treten können (Devereux 1965b) – und das, obwohl Freud darauf bestand, daß die Tatsachen Vorrang vor der Theorie haben müßten (Freud 1969b). Doch die Psychoanalyse wurde gerade deshalb zu einer Wissenschaft, weil sie Tatsachen akzeptieren konnte, die viele Leute lieber ignorieren.

Die abwehrstrategische Ausbeutung der Theorie beschränkt sich nicht auf die Psychoanalyse.

Fall 56

Der Eckpfeiler von Guthrie’s (1935) Lerntheorie ist das "Alles-oder-nichts-Gesetz" (Voeks 1954). Dieses System ist zugegebenermaßen in sich stimmig, geschlossen und unwiderlegbar, aber (und das wird leider nur selten bemerkt) nur in dem begrenzten Sinn, in dem die Regeln des Schachspiels stimmig, umfassend und unwiderlegbar sind, weil sie nämlich jeder nur denkbaren Möglichkeit gerecht werden. Guthries System verdient deshalb nur die Art halb gereizter Hochachtung, die man dem Erfinder eines scheinbar unlösbaren Rätsels zubilligt, das sich mittels eines ärgerlich einfachen Tricks "decodieren" läßt. Guthrie postuliert, daß der Lernvorgang ausschließlich auf einen einzigen erfolgreichen Versuch beschränkt sein soll. Die Tatsache, daß sowohl der gesunde Menschenverstand als auch die tägliche Erfahrung dieser These widersprechen und daß sie sich nur durch äußerst trügerische Argumente "beweisen" läßt, ist, logisch gesehen, weit weniger störend als die Tatsache, daß sie selbst den elementarsten aller Lebensdaten widerspricht: jeder Organismus ist ein chronoholistisches System, dessen Verhalten zur Zeit t + L\t nicht vollständig mit Hilfe seines Zustands zur Zeit t erklärt werden kann, sondern nur mit Hilfe seiner ganzen früheren Geschichte (Kapitel 1). Diese Tatsache läßt die Eigenschaften der Stimmigkeit, der Geschlossenheit und der Unwiderlegbarkeit, die Guthries System kennzeichnen, zwar unbeeinträchtigt, verweist es aber in die Klasse der operationalen Systeme, deren Prototyp das Schachspiel ist. Solche spielerischen, quasi-scholastischen Kunststücke sprechen zugegebenermaßen alles an, was am zwanghaft "wissenschaftlichen" Geist kindlich geblieben ist. Guthries System wird folglich von manchen hauptsächlich deshalb ernst genommen, weil es so reduktionistisch ist, daß die olympische Haltung des Beobachters nicht durch die Tatsache bedroht wird, daß die Ratte, die durch das Labyrinth läuft, genauso empfindsam ist wie er selbst. Schließlich ist das Guthriesche System für einen bestimmten Forschertyp besonders angenehm, weil es ihn nicht nur außerhalb des Experiments plaziert, sondern vor allem auch die Tatsache ignoriert, daß es dem Beobachter, der den Guthrieschen Gesetzen, die das Rattenverhalten beherrschen, gleichfalls unterworfen sein sollte (Guthrie, 1935, 1938), seine menschliche Identität und seine kognitiven Erfahrungen – freilich unter Umgehung aller Probleme psychologischer und logischer Art – beizubehalten erlaubt. Ohne sie könnte er, wie Kapitel 2 und 3 zeigen, schließlich überhaupt kein Experimente durchführen, von deren Deutung ganz zu schweigen.

Gleichgültig, ob solche Versuche, den Problemen, welche die sui-generis-Natur der Phänomene des Lebens und besonders des Menschen und seiner Werke aufwirft, auszuweichen, nun in einer privaten Theologie gründen oder in einem mechanistischen Reduktionismus, der Unterschied zwischen Lebens-Phänomenen und Nicht-Lebens-Phänomenen hat die Geschichte der menschlichen Vorstellungen über die Biosphäre und über den Menschen selbst jedenfalls radikal beeinflußt. Uns beschäftigt hier jedoch nur das begrenzte Problem der spezifischen Natur der Verhaltensdaten und des theoretischen Bezugsrahmens, der Lebens-Phänomene als Lebens-Phänomene und als nichts anderes sonst behandelt.

Es ist ein Zug, der aller Forschung gemeinsam ist, daß irgendwo innerhalb des Experiments ein Ereignis in eine Wahrnehmung umgewandelt wird. Irgendeiner – sei es nun Zeus, Einstein, Darwin, Freud, E. R. Guthrie oder meinethalben John Doe – sagt: "Und dies nehme ich wahr" – eine kognitive Aussage (Kapitel 12). Ich versuche zu zeigen, daß einer der operational wirksamen Wege, zwischen Lebens- und Nicht-Lebens-Daten zu unterscheiden, die Untersuchung dieser beiden Typen von Phänomenen in genau dem Augenblick des experimentellen Prozesses ist, wo einer ausruft: "Und dies nehme ich wahr."

Der abwehrstrategische Theoriegebrauch kann einem solchen Unterfangen schweren Schaden zufügen, da, wie in den Kapiteln 12 und 13 gezeigt wird, allein die Theorie den exakten Punkt bestimmt, an dem der wahrnehmende Experimentator oder Beobachter ausruft: "Und dies nehme ich wahr", was allein es ihm letzten Endes ermöglicht, auch "Heureka!" zu rufen.

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