Auszüge aus Stanley Diamond's
"Kritik der Zivilisation"

Anthropologie und die Wiederentdeckung des Primitiven

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Editorial: Zum Politikum der Anthropologie heute (von Wolf-Dieter Narr)

Gauguins Flucht in die Südsee nach Tahiti hat Tradition. Schon im 18. Jahrhundert träumte man vom Glück der Primitiven, wenngleich man – selbst an der Spitze der Modernität – die "Urgesellschaft" mehr als Konstrukt der ursprünglichen Vertragsfreiheit benutzte. Elemente und Bestrebungen südseeischer Flucht in die "reine Ursprünglichkeit", gar Unschuld, raus aus der Trostlosigkeit der Städte und ihren Betonmauern begleiten die Geschichte bürgerlicher Gesellschaft. All die Gruppen und Grüppchen, die sich Ende der 60er Jahre die Organisation der Gegenkultur vornahmen – der Begriff der "Organisation" enthält freilich schon eine fast bösartige Unterstellung – schmeckten etwas nach Südsee, nach Tang, Lianen und Kolibris. Auch die daraus hervorgehende – oder, vorsichtiger ausgedrückt, die gleichzeitig beobachtbare –, die Institutionalisierung der Counterculture überdauernde "Aufs-Land-Bewegung" wird getrieben vom Willen, wenigstens für eine gewisse Zeit nicht mehr mitzumachen, der städtischen Künstlichkeit zu entfliehen und sich wieder an der Brust der Natur zu nähren. Das "einfache Leben" (Ernst Wiechert) wird durch Hermann Hesses (bürgerliche) Innerlichkeit verklärt. Noch der gängig gewordene Begriff "herrschaftsfreier Kommunikation" (Habermas) lebt von der Vorstellung des "Ganz anderen", abständig zur kommunikationslosen Herrschaft unserer Tage: die Ich-Du-Beziehung wird gegen die asoziale Informationsüberfrachtung gesetzt, die als soziale Kommunikation, als Beziehung nicht mehr erfahrbar ist.

Dieser andeutende Hinweis auf die Geschichte der Suche nach der verlorenen Ursprünglichkeit (Spontaneität u.ä.m.), die in die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft von Anfang an eingebettet ist und ein Schlaglicht auf den Charakter dieser Gesellschaft wirft, wäre in der Gegenwart unzureichend, erwähnte man nicht, daß selbst in den ergebnis- und folgelosen Debatten um die "Grenzen des Wachstums", im "Ökologismus" unserer Tage die Vorstellung einer Natur und grundsätzlichen Naturtümlichkeit alles menschlichen Lebens zum Ausdruck kommt. Wird diese grundsätzliche Naturtümlichkeit zu sehr verletzt, verstößt man zulange dagegen, so ist die Gefahr der Katastrophe gegeben. Deswegen: wenn schon nicht zurück zur Natur, so doch zurück zu "gesünderem", "natürlicherem" Leben, weg von der fortschreitenden, expansiv globalen Künstlichkeit technologischer Aggregate! Primitivismus dieser Art: von den Landläufern bis hin zu den ökologischen Wünschelrutengängern ist also à la mode und enthält trotz krisenbeschwingter Rückkehr zu nicht infragegestelltem Wachstum und Profit so viel an gesellschaftlicher Geltung, daß kaum jemand sich ganz entziehen kann. Äußere sich das Mit-der-Mode-Gehen auch nur darin, daß man – selbstverständlich! – die Gärtnerei bevorzugt, die ungespritzte Tomaten zu verkaufen vorgibt.

So ernst, wenngleich mit unterschiedlichem Ernst, die diversen "Natur"-Bewegungen im Laufe der bürgerlichen Gesellschaft und ihren verschiedenen Ausprägungen zu nehmen sind, sie zeigten und zeigen nicht nur in den Bewegungen der Gegenkultur und des Aufs-Land-Gehens, sondern auch in einem Gutteil der "systemnäheren" ökologischen Diskussion eine gefährliche Ent- und Depolitisierungstendenz. Entpolitisierend wirken sie insofern, als das Konzept des "natürlichen(eren)" Lebens nicht bestands-, d.h. herrschaftskritisch eingebracht wird, sondern vielmehr dazu dient, eine "ohne mich"-Haltung zu fördern, die Suche nach dem "außergesellschaftlichen" Glück im Naturwinkel zu unterstützen. Die Depolitisierung zeigt sich darin, daß das Thema "Formen der Vergesellschaftung, ihre Kosten und Vorteile" häufig zum Thema "Natur und Technik" oder "Natur und ökonomisches Wachstum" abstrahiert wird. Die gesellschaftlich-geschichtlichen Ursachen werden ausgeblendet. Das Problem wird in einem schlechten Sinne anthropologisch verallgemeinert zur schicksalhaften Gegebenheit und Bedrohung des naturbeherrschenden homo faber.

Diamonds Ansatz und sein Versuch, die alternativen Lebensformen primitiver Völker gegenwärtig fruchtbar zu machen, haben mit solcher Ent- und Depolitisierung nichts gemein. Daß er im Gegensatz zu seinem großen Gegenspieler Lévi-Strauss in der Bundesrepublik kaum zur Kenntnis genommen wurde, liegt vielleicht daran, daß er keine Fluchthilfe bietet und sich auch in seiner Schreibweise nicht ins akademische Korsett zwängen läßt. In sachlicher Hinsicht ist ihm, wenn ich es recht sehe, allein Christian Sigrist ein gut Stück Weges gefolgt, ohne freilich auf ihn Bezug zu nehmen (vgl. Chr. Sigrist: Regulierte Anarchie. Untersuchungen zum Fehlen und zur Entstehung politischer Herrschaft in segmentären Gesellschaften Afrikas, Olten und Freiburg i.Br. 1967). Hätte Sigrist, was leider in ausführlicher Weise noch nicht erfolgt ist, seine eigene spätere "Felderfahrung" mit den Paschtunen (Stämme mit erstaunlich "demokratischer" Organisation im heutigen Afghanistan) ausgewertet, er wäre wohl noch weiter in Diamonds Richtung gegangen, als dies in seiner sekundäranalytisch angelegten Dissertation möglich war. Diamonds Ansatz jedenfalls läßt "copping out", läßt Ausflippen jeglicher Art nicht zu.

Diamond argumentiert und interpretiert existentialistisch. Darin nicht zuletzt liegt das Politikum. Er setzt seine Existenz aus (d.h. die Form der Existenz gegenwärtiger, moderner und zivilisierter Gesellschaft) und setzt die Existenzweise primitiver Gesellschaft dagegen. Existenz gegen Existenz. Da gibt es keine evolutionskundige Herablassung gegenüber den – wo und wann lebten sie doch noch?! – Primitiven. Da gibt es kein: "Wir haben’s herrlich weit gebracht" oder auch nur das verdummende, lernende Betroffenheit abschottende Gerede von der wachsenden "Ausdifferenzierung", der notwendig steigenden "Komplexität" und wie die hohlen Soziologismen alle heißen mögen. Unsere Sache wird betrieben, wird aufs Spiel gesetzt, wenn wir Ethnologie nicht um evolutionistischer Taxonomien (Klassifikationen) willen betreiben, sondern mit dem anthropologischen Interesse, etwas über die Form unserer und die Formen möglicher Existenz zu lernen. Diamond treibt weder das Motiv bloß antiquarischer Geschichtsschreibung noch das Faszinosum des "Ganz anderen" primitiver Vergesellschaftung, obwohl dieses Faszinosum bis hin zur Gefahr demgegenüber unkritisch zu werden, durchaus und zu Recht zu spüren ist. Was ihn treibt, ist seine Sensibilität für die bedrohliche Entwicklungsdynamik bürgerlicher Gesellschaft, seine Angst vor dem erneuten und dann kaum noch korrigierbaren Herauskriechen faschistischer Vergesellschaftung aus dem Schoß eben dieser bürgerlichen Gesellschaft. Das Postskript in dem Buch handelt explizit davon.

In der Diagnose dieser Gefährdungen, dieses oft schon tödlichen Entwicklungsganges bürgerlicher Gesellschaft ist Diamond nicht originell. Die depersonalisierende bürokratische Herrschaft, der die monopolistische Herrschaft großer Unternehmen einzelner Kapitalfraktionen entspricht, die durchgängige Abstraktheit gegenwärtigen Daseins, die den einzelnen als individuell irrelevanten Rollenspieler isoliert und erst "sekundär-systemisch" vergesellschaftet, sind spätestens seit der Jahrhundertwende oft analysiert worden. Es ist das moderne "Gehäuse der Hörigkeit" (Max Weber), das Diamond fürchtet, das den einzelnen zur Termite, zum Fellachen degradiert, zur "stimulus" – "response" getrimmten Pawlow-Skinnerschen Einheit (bzw. Rollenvielheit). Gesellschaftlichkeit wird durch (maschinell gestützte) Herrschaft hergestellt. Die Originalität Diamonds, der zum Beleg seiner Diagnose aus einer Fülle scheinbar gegensätzlicher Quellen schöpft (Kierkegaard ebenso wie Marx, Ortega y Gasset ebenso wie Sartre), liegt in seinem Rekurs auf primitive Gesellschaft und der dadurch gesteigerten Sensibilität und Blickschärfe, liegt in dem, allerdings nicht mehr vermittelten, Angebot: aus der alternativen Existenzweise(n) primitiver Gesellschaft für unsere Lebensweise sinnvoll zu lernen.

Es geht also nicht um die "Suche nach dem Primitiven" um seiner selbst willen oder zum Zwecke eskapistischer Bürgerlichkeit, es geht um eine fundierte "Kritik der Zivilisation". Der Begriff der Kritik ist freilich arg abgenützt. Gerade im üblichen Stil anthropologisch argumentierende Studien neigen dazu, ins Kulturkritische oder Elitär-Ästhetische abzugleiten, gar die Wonnen des Primitiven i.S. eines ursprungsphilosophischen salto mortale zu beraunen. Diamonds Kritik ist nicht so angelegt, daß mit ihrer Hilfe der "Prozeß der Zivilisation" (N. Elias) im reaktiven Sprung zurückgenommen werden können sollte. Niemand weiß besser und sagt es auch so explizit als Diamond, daß es ein solches sich Im-Primitiven-Gesundbaden nicht gibt, es sei denn als in der Tat barbarisierende Regression. Wohl aber lassen sich Prozeß und Status der Zivilisation heute erst radikal von der "unzivilisierten" Alternative her, die immer schon eine geschichtliche ist, in Frage stellen. Nicht ein schlecht utopisches Wolkenkuckucksheim wird gegenwärtiger Gesellschaft gegenübergestellt, sondern eine Gesellschaftsform ohne zentrale Herrschaftsinstanz, ohne institutionalisiertes Dauer-Oben und Dauer-Unten, ohne profitorientierte, Eigentum akkumulierende Ökonomie u.ä.m. Und bei so charakterisierbaren Gesellschaften handelt es sich, worauf auch Sigrist zu Recht aufmerksam macht, nicht um einzellerhafte Gebilde mit marginaler Größenordnung und unkomplexen Beziehungsmustern. Erst durch solches Gegenüberstellen mit einer materialisierten, in ihren Verhaltens- und Bewußtseinsstrukturen, in ihrer gesellschaftlichen Mimik alternativen Gesellschaftsform lassen sich Kosten und Nutzen summieren und die Grenzen bürgerlicher, zivilisierter Gesellschaft markieren. Was geschieht mit einer Gesellschaft, die eine durchgängige "Architektur der Komplexität" und Künstlichkeit (H. Simon) zu bauen sucht, die der Dialektik von Natur und Gesellschaft zugunsten der Dialektik von Gesellschaft und Technologie zu entrinnen scheint, in der menschliches Verhalten, darauf hat schon Marx aufmerksam gemacht, zum Appendix der Maschine, maschinenförmig wird?

Es kann bei dieser existentiell aufbrechenden Konfrontation unseres zivilisierten Daseins mit primitiven Lebensformen nicht darum zu tun sein, den Prozeß der Zivilisation zurückzudrehen. Es geht vielmehr darum, der evolutionistisch naiven Fortschrittsgläubigkeit, die uns alle immer noch zu mehr oder minder geheimen Jüngern Darwins macht und die alle Spielarten des Imperialismus im Tornister stecken hat, den Kampf anzusagen. Die alternative Vergesellschaftungsform "primitive Gesellschaft" – Diamond spricht bewußt von einem "Modell", mit Weber zu reden, einem "Idealtyp" – läßt in ganzem Umfange erst erfassen, was gemeint ist, wenn gegenwärtig von negativer Vergesellschaftung die Rede ist, einer Vergesellschaftung, die nicht gesellschaftlich Selbstbewußtsein ermöglicht als eben gesellschaftliches, sondern dasselbe als störend zu beseitigen sucht. Als Ende der 60er Jahre das Reden von der "aktiven Gesellschaft" (A. Etzioni) in Mode kam, einer Gesellschaft, die in der Lage sein sollte, ihre Geschicke selbst zu bestimmen, blieben die Reden und Vorstellungen darüber merkwürdig stumpf und aufgesetzt. Woher auch sollte die zentrale Voraussetzung dieser Gesellschaft, die "aktiven Bürger", genommen werden? Kein Wunder deshalb, daß das Konzept der "aktiven Gesellschaft" schon bei seiner ersten Präsentation zu einem Konzept der "aktiven Regierung" verkümmerte, ein Kümmerprodukt, das freilich seinerseits auch nicht funktionierte. Wenn nämlich die Vorstellung der "aktiven Gesellschaft" mehr sein soll als das Gaukelspiel unzufriedener Sozialwissenschaftler, dann kommt sie gar nicht aus ohne Rück- oder Vorgriff auf alternative Vergesellschaftungsformen, auf alternative Formen menschlicher Organisation.

Weil diese Kritik der Zivilisation von der (Modell)-Form einer alternativen Gesellschaft aus erfolgt, kann es nicht ausbleiben, daß Denk- und Bewußtseinsformen gegenwärtiger Zivilisation, die uns allen schon zur "Natur" geworden sind, angegriffen werden. Drei Aspekte seien herausgegriffen:

1.       Niemand, fast niemand geht zugegebenermaßen von einem ungebrochenen Fortschrittsoptimismus aus. Dennoch sind Fortschritt und Reform die nach wie vor herrschenden Legitimationsformeln der Innen- und Außenpolitik, insbesondere dann, wenn es darum geht, den unterentwickelten Ländern weiteren Segen der entwickelten auszuteilen. Im Ausdruck der "Innovation" wird der etwas ominös gewordene Fortschritt kräftig weitergehandelt. "Laissez innover", lautet die gesellschaftsbestimmende Parole. Was der Begriff der Innovation in der ökonomisch-politischen, das leistet der Begriff der Evolution in der wissenschaftlichen Sphäre. Ein Naivling, wer einen gesellschaftlich qualifizierten Begriff von Fortschritt weiter benützte. Aber selbstverständlich sind die Evolution und deren dauernde Gültigkeit. Dadurch schafft man es, Geschichte zu ordnen und gleichzeitig zu entproblematisieren. Der Begriff der Evolution leistet das große Nivellement, er macht verfügbar, wo gar nichts zu verfügen ist. Liest man Diamonds beißende Kritik an den Fortschritts- und Evolutionsbegriffen, fällt erst auf, wie diese Begriffe und die ihnen entsprechenden Denkmuster in unsere Sprache, in unser Gesellschaftsbild vorbewußt Eingang gefunden haben. Diese Feststellung bräuchte nicht weiter zu beunruhigen, würden wir dadurch nicht idiotisiert und immunisiert gegenüber historischen Alternativen auch zur eigenen Gesellschaft, klebte am Fortschritts- und Evolutionsbegriff nicht das Blut ganzer Gesellschaften. Auf ihm gründet sich der methodologische und parallel dazu der praktische Imperialismus gegenüber den nicht-kapitalistischen Ländern sowie die Einbahnstraßenvorstellung der Industrialisierung. Die Art und Weise, wie eine bestimmte technologische Entwicklung zum Schicksal schlechthin wird – das gehört zu den Kosten abendländischer Zivilisation.

2.       Daß es eine Form von Gesellschaft ohne Herrschaft, ohne institutiomialisiertes Oben und Unten, ohne dauernde Instanzen von "Norm und Sanktion" gegeben habe oder je geben könne, wurde von berufenem Munde (vgl. Ralf Dahrendorf) nicht nur bezweifelt, sondern als Absurdität und Ausgeburt wirklichkeitsfremder Träumer abgetan. Wäre man auf die herrschende Sozialwissenschaft allein angewiesen, dann behielte der Zweifel auch seine Berechtigung. Diese herrschende Sozialwissenschaft zeichnet sich nämlich u.a. dadurch aus, daß sie die universelle Gegebenheit von Herrschaft i.S. des neuzeitlichen Staates problemlos unterstellt und deshalb Herrschaft und ihre Formen in der Regel gar nicht mehr untersucht. Selbst noch Herrschaftskritik wird gewöhnlich nur an einer spezifischen Ausformung von Herrschaft geübt, nicht am Zivilisation garantierenden "Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit" (Weber) in seinen verschiedenen Ausprägungen. Webers historische Problematisierung wurde längst verdrängt. Fast mehr noch als Herrschaft und zentrale Herrschaftsinstanzen scheinen formales Recht und entsprechende – wiederum mit Herrschaft verknüpfte – Sanktionsinstanzen ab einer bestimmten gesellschaftlichen Stufe, ja für nicht kannibalische Gesellschaften schlechthin unvermeidlich.

Folgt man Diamond, Sigrist u.a., dann zeigt sich, daß die These von der Universalität von Herrschaft und Recht nicht nur auf einen Mangel an Phantasie und Unfähigkeit, die geschichtliche Genesis von Herrschaft und Recht nachzuvollziehen, (vgl. hierzu auch die ausgezeichnete Vorarbeit in Webers Rechtssoziologie) schließen läßt. Vielmehr tut sich darin die Denk- und Sehunfähigkeit kund, die den unreflektierten Gebrauch herrschender Begriffe kennzeichnet: man sieht letztlich nur das, was man projiziert hat. Diamond öffnet die Augen dafür, daß die Skala möglicher Regelungsformen weit über rechtliche und rechtsförmige hinausreicht, daß die Bandbreite gesellschaftlicher Organisation von sozialen Beziehungen nicht in der evolutionistisch unvermeidlichen zentralen Herrschaftsorganisation beendet ist. Wichtig hierbei ist, daß es sich nicht um eine erdachte Skala und Bandbreite handelt, sondern um reale historische Alternativen, die allerdings imperialistisch-evolutionistisch auf den Aussterbeetat gesetzt worden sind, bzw. schon zugrunde gerichtet wurden. Geschichte wird nicht nur bis in den Geschichtsbegriff hinein, das weist Diamond trefflich nach, von den progressiven Evolutionisten geschrieben, sondern auch "fortschrittlich" gemacht.

3.       Die Entzauberung der Errungenschaften gegenwärtiger Gesellschaft macht gewöhnlich vor "der Wissenschaft" halt. Ein Tor, wer sich gegen wissenschaftliche Analysen und Ergebnisse wendet. Allenfalls kommt es darauf an, die gesellschaftliche Organisation der Verwertung zu verändern. Wiederum setzt Diamond, indem er Ansätze von Marx u.a. aufnimmt, radikaler an und zeigt die Kongruenz von "Gesellschaftsform und Erkenntnisform" bzw. Wissenschaftsform (B. v. Greiff). Warenabstraktion, bürokratische Abstraktion, und Abstraktion der wissenschaftlichen Problembehandlung sind nicht völlig verschiedene Stiefel, sie setzen sich wechselseitig voraus und ergänzen einander. Deshalb erstaunt es nicht, daß wir mit unserer Art wissenschaftlicher Analysen das, was an primitiven Gesellschaften wesentlich ist, nicht erfassen. Da kommt zuerst die evolutionistische, mehr oder minder lineare Perspektive. Dann folgt die Rekonstruktion der Gesellschaftsformen gleichsam von oben her, vom abstrakt-erhabenen Niveau aus; der gesamtgesellschaftliche Zusammenhang wird nicht in seiner konkreten Ausgestaltung nachgezeichnet. Danach wird die Entwicklung dieser Gesellschaften, die in ihren spezifischen Existenzformen nicht interessieren – worin bestand die "condition humaine"? – in große Gattungsbegriffe gepreßt und auf globalen Entwicklungsachsen eingetragen. Die Art, wie akademische Wissenschaft gegenwärtige und historische Probleme zerlegt, die einzelnen Segmente wiederum nur in einer Dimension behandelt, die Begriffe aufstülpt, statt gewinnt usw., trägt jedenfalls zu einer nicht nur technisch oder ideologisch verfügbaren, sondern anthropologisch-praktisch erweiternden Erkenntnis wenig bei (vgl. als ein anthropologisches Negativbeispiel, obwohl viele wichtige Informationen und Gedanken enthalten sind: Klaus Eder (Hg.) Seminar: Die Entstehung von Klassengesellschaften, Frankfurt/Main 1973). Diamond entzieht sich solchem Begriffs- und Methodenkorsett, er vermag Interesse und Erkenntnisform neu in Beziehung zu setzen. Gegen die herrschaftlich gesicherte, wissenschaftlich legitimierte Evolution, die als Einbahnstraße mit begleitenden Friedhöfen zerschlagener, zerschundener und ausgelassener Möglichkeiten gar nicht mehr kenntlich wird, setzt er seine Postition eines geschichtsbewußten Existentialismus (a) und seine Konzeption einer geselligen Geselligkeit (b).

a)    Dieser geschichtsbewußte Existentialismus lebt von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, ohne den historischen Kontext zu mißachten und zu raum- und zeitabstrakten Analogiebildungen u.ä. Zuflucht zu nehmen. Auf diese Weise wird die Beschäftigung mit primitiver Gesellschaftsform zu einer unmittelbar gegenwärtigen Erfahrung. Diese Erfahrung macht so betroffen wie einsichtig und läßt sich deshalb nutzen gerade für die ganz andersartige Erfahrung gegenwärtiger zivilisierter Gesellschaft. Geschichte wird so zu einem riesigen Vorratshaus erprobter und/oder unerledigter Möglichkeiten. Paul Feyerabend hat jüngst im Hinblick auf erkenntnistheoretische Ansätze, mehr noch im Hinblick auf Erkenntnisweisen, Ähnliches formuliert (vgl. Paul K. Feyerabend: Against Method, 1974). Diamonds Vorgehen unterscheidet sich jedoch von Feyerabends schwerelosem, letztlich geschichtsfernem Umgang mit dem Vorratshaus an Möglichkeiten deutlich dadurch, daß sein Interesse an konkreten Handlungsabläufen nie den Kontext vergessen läßt, in dem bestimmte Abläufe so oder so möglich bzw. ausgeschlossen werden. Geschichte hat bei Diamond also keine progressive, evolutionistische Logik; der historische Erfolg beurkundet für ihn noch nicht die human bessere und allein lebensfähige Möglichkeit. Aber es geht nicht an, gerade nicht, wenn es um alternative Gesellschaftsformen geht und nicht nur um spezifische Unterschiede innerhalb einer Form, den historischen Kontext zu mißachten, die notwendigen Bedingungsfaktoren zu verkennen. Würde man letzteres tun, verfiele man nur andersherum einer ähnlichen Abstraktion wie der, der sich die geschichtsmächtigen Evolutionisten schuldig machen. Aufgrund seines geschichtsbewußten Existentialismus gewinnt nicht nur die Frage des cui bono – wem nützt’s – unmittelbare existentielle Bedeutung, es lassen sich auch die Voraussetzungen formulieren, unter denen ohne angewandte Abstraktion Existenzformen primitiver Gesellschaft mit Instrumenten zivilisierter verbindbar sind. Eine solche realutopische Verbindung erfordert freilich eine radikale gesellschaftliche Reorganisation, ideengeschichtlich formuliert: einen Abschied von Thomas Hobbes.

b)   Das Konzept der geselligen Geselligkeit, ein nur scheinbar tautologischer Ausdruck, ist dem (liberal)-kapitalistischen Konzept konträr. Letzteres läßt Gesellschaft zunächst nur als das begreifen, was hinter den Individuen und ihrem "pursuit of happiness" [Jagd nach Glück] übrig bleibt bzw. sich als Resultat ergibt. Gesellschaftlichkeit wird, soweit nötig, herrschaftlich – durch den Staat – erzwungen und durch hinterrücks wirkende Mechanismen hergestellt (Markt, Konzentration usw.). Vergesellschaftung ist so immer etwas, was die Individuen nicht zu bewußterem, wechselseitig aufeinander bezogenem Handeln bringt, sondern oberhalb der oder hinter den Individuen erfolgt, diese mehr und mehr zu Marionetten eines nicht durchschauten Spiels werden läßt. Die von den Individuen ausgegrenzte Herrschaft (deshalb individuelle Freiheitsrechte, nicht gesellschaftliche Teilnahme- und Mitbestimmungsrechte) rächt sich, indem sie zur Herrschaft über die einzelnen wird, die ihr gemeinsames Interesse nicht einmal mehr artikulieren, geschweige denn organisieren können. Diamonds Konzept steht dem entgegen. Es wird entwickelt am Beispiel primitiver Gesellschaft, die die Herrschaft der Abstraktion und die abstrakte (zentralisierte) Herrschaft nicht kennt, sondern nur einen traditional geregelten Komplex von Beziehungen, der aber je konkret handlungs- und problembezogen ist, nicht etwa, wie beim zivilisierten Recht am "Fall als solchen". Wählte man Diamonds konzeptionellen Ansatz zum Ausgangspunkt der Entwicklungsmodelle für unterentwickelte Länder, dann gelänge es erst, die autochthonen Faktoren fruchtbar zu machen, der angewandten Abstraktion der übertragenen Entwicklungsmodelle qua Industrialisierung zu entrinnen und die furchtbaren Kosten zu reduzieren, die heute in allen abendländisch beglückten Regionen, Lateinamerika und Afrika zumal, anfallen.

Indem ich so versuche, zum Lesen und Nachdenken der Aufsätze Diamonds anzureizen, zum Weiterdenken und Weiterhandeln, dürfen doch einige Schwächen der hier präsentierten Aufsätze nicht verschwiegen werden. Solche Schwächen sind u.a. darin zu finden,

  • daß Diamond doch hin und wieder dazu neigt, die primitive Gesellschaftsform bestimmenden Faktoren zu wenig ambivalent, zu ungeprüft positiv i.S. gelungener humaner Regelungen zu gewichten. Fragen wie die, ob beispielsweise die durch "custom" (Brauch) geregelten Gesellschaften – im Unterschied zu den durch "law" (Gesetz) geregelten – nicht erhebliche Kosten mit sich bringen, Kosten auch an Angst, ob Tradition nicht viel härter treffen kann als gesetzte Norm u.ä.m. bleiben unerörtert. Die Aussage von Margery Perham wird kommentarlos und in Kontext positiver Wertung über die Ibos zitiert: "... Collective family responsibility turned relations into potential policemen who might force a murderer in their midst to commit suicide rather than to bear the results of his crime, or sell a thief rather than repay his theft with interest and stand the cost of sacrifice necessary to purify his offense. ..." (M. P.: Native Administration in Nigeria, London 1962, S. 229 ff. zit. in: St. Diamond: "Who Killed Biafra?" in: The New York Review of Books Vol. XIV, No. 4 Febr. 26, 1970, S. 17-27, S. 19);
  • daß Diamond trotz seiner Differenzierung im Begriff des Primitiven den Freiheits- und Glücklichkeitsgrad der primitiven Gesellschaften zu hoch, den erzwungenen, gewiß akzeptierten, rituell bewältigten Fatalismus zu gering einstuft (der Gebrauch der eben benutzten Begriffe ist freilich fragwürdig);
  • daß Diamond abgesehen von dieser analytischen Schwäche die vorgestellte Verbindungsmöglichkeit von Existenzformen primitiver Gesellschaft mit Versatzstücken der zivilisierten nur andeutungsweise unterstellt. An welchen Widersprüchen und Konflikten ließe sich heute ansetzen, an welchen Ungleichzeitigkeiten, um Existenzformen primitiver Gesellschaft zu einer mehr als phantastischen Erinnerung werden zu lassen?

Doch es ist kein rhetorischer, durch die Einleitung bedingter Trick, wenn ich behaupte, daß diese Einwände nichts gegen das Faszinosum und das Politikum dieses Buches verschlagen. Diamond zeigt nicht nur, was uns abstrakt funktionalistische und/oder politökonomische Analysen ethnologisch/anthropologischer Sorte schuldig bleiben. Diamond schafft und schärft einen anthropologischen Blick für die Gegenwart. Ist denn – mit Ernst Bloch zu fragen – die Provinz nur provinziell im Vergleich zur jeweiligen Metropole oder hat die Provinz etwas zu bieten, was alternative Handlungs- und Organisationsformen ermöglichte? Liegt in der durch die ungleichartige kapitalistische Entwicklung fortlaufend produzierten Obsoleszenz [bewußte Reduktion der Nutzungsdauer eines Produktes zur Steigerung des Absatzes] nicht nur von Produkten und Branchen, sondern von Regionen und Menschen vielleicht auch eine Chance, verschüttete, auf den Müllhaufen geworfene Bedürfnisse zu mobilisieren? Gewinnt von solcher Perspektive aus das Modernität hindernde Regionalismusproblem Europas ein anderes Gesicht? Die Folgen solch anthropologischer Neuinterpretation für die sog. unterentwickelten Länder, deren mögliches Selbstbewußtsein zugunsten eines oktroyierten [aufgesetzten] Fremdbewußtseins heute so schnell wie möglich abgeschnitten und abgewürgt wird, sind gar nicht abzusehen. Diamond hat im Hinblick auf Biafra, das in westöstlicher Partnerschaft aus der Geschichte getilgt wurde, selbst gezeigt, warum die Möglichkeiten autochthoner [eingeborener] Entwicklung zerstört wurden und warum eine solche eigenständige Entwicklung ohne westöstliche Hilfe nicht nach dem Sinn herrschafts- und waffenstarrender Länder à la England, Sowjetunion, USA usw. gewesen ist; Kostenpunkt: Völkermord!

Wenn man Diamonds ethnologisch informierten anthropologischen Aufruf verstehen will, muß man sich der gegenwärtigen Begriffs- und Bewußtseinskostüme zu entledigen trauen, sich-Hegelisch-hinauswerfen, um "belehrt"/gelernt wieder zu sich selbst kommen zu können. Die Beschäftigung mit primitiver Gesellschaftsform läßt sich nicht im Osterspaziergang der Gegenwart in ferne Zeiten und Länder abschieben, die uns allenfalls aus allgemeiner Neugierde etwas angehen. Diamond – und das macht, was immer man im einzelnen kritisieren mag – die Qualität und das Politikum seines Buches aus, handelt über "uns", wenn es uns als selbstbewußte gesellschaftliche Individuen überhaupt noch (lange) gibt.

Vorwort zur amerikanischen Ausgabe von Eric R. Wolf

Die Krise der westlichen Welt und ihrer imperialistischen Herrschaftsgebiete, die ebenso die Krise der Menschheit ist, läßt sich nicht auf gesellschaftliche, ökonomische oder technologische "Probleme" reduzieren; sie liegt in unserer Definition, in unserem eigentlichen Verständnis des Menschen. Wir nennen das, worin wir leben, stolz Zivilisation, doch haben unsere Gesetze und Maschinen ein Eigenleben entwickelt; sie sind gegen unser geistiges und körperliches Überleben gerichtet. Die politischen Verhältnisse bei uns schwanken zwischen der Konsolidierung bürokratischer Herrschaft und Ausbrüchen ohnmächtigen, wenn auch symbolischen Zorns. Die Herrschaft des Gesetzes ist, wie Stanley Diamond sagt, "das chronische Symptom für das institutionelle Chaos." Die Wissenschaft, die uns befreien sollte, hält uns in Abstraktionen gefangen; Leidenschaft und Mitleid verkümmern unter den Händen von Akademikern, die ihre Begriffe zum Fetisch erheben. Die sogenannten Humanwissenschaftler, die den Menschen erforschen, weil er zum Problem geworden ist, jagen abstrakten Modellen nach, mit denen sie die fließende Realität des Menschen einfangen und festhalten wollen. Was zum Teil als brüderlicher Versuch begann, die Menschen in ihren konkreten Ähnlichkeiten und Unterschieden zu verstehen, und so zum Verständnis der menschlichen Möglichkeiten zu gelangen, wird in zunehmendem Maße zu einer der "politischen Wissenschaften", zu einer Disziplin zur Beherrschung der Menschen, zum genauen Gegenteil der Humanität. Sowohl in unserer Kultur insgesamt als auch in unseren Untersuchungen darüber tritt Prometheus seine Stelle an Prokrustes ab.

Genau gegen diese Verneinung der menschlichen Freiheit, gegen die Verbreitung eines falschen Bewußtseins, die durch die zunehmend technotronische Ordnung (um das fürchterliche Wort zu gebrauchen, das Zbigniev Brzeszinski in zustimmendem Sinne geprägt hat) nimmt Stanley Diamond in diesem Buch Stellung.

Die Anthropologie ist ein Feld für die menschliche Begegnung, letztendlich für die Begegnung mit uns selbst, und nicht die Fixierung von Zeichen auf ein Stück Papier oder auf ein Magnetband durch einen Forscher, der sich selbst in ein Gerät zur Informationsspeicherung verwandelt. Die Hütte des Anthropologen ist kein neutraler Boden und stellt keinen geschützten Zufluchtsort dar. Er und sein Stammesdolmetscher begegnen sich in einer realen Welt, die von Ausbeutung und Machtausübung gezeichnet ist. Sie können sich voreinander nicht verbergen, es gibt kein Versteck. Indem sie sich wechselseitig bestimmen, tut jeder dem anderen sein Menschsein und seine menschlichen Möglichkeiten kund. Die Felderfahrung ist daher eine politische Erfahrung; sie erfordert, daß der Anthropologe sowohl die Kräfte aufdeckt, die ihn selbst, als auch die aufzudecken versucht, die den Eingeborenen gefangenhalten.

Wie aber muß eine Anthropologie aussehen, wenn sie die Untersuchung der Freiheit und Befreiung des Menschen, seiner Möglichkeiten und Bedürfnisse sein soll? Sie muß von einem Gefühl gemeinsamer Humanität geprägt sein. Eine solche neue Anthropologie müßte die Fähigkeiten des Menschen zur Neuschöpfung gegenüber den Hohepriestern des Determinismus behaupten, gegenüber den Politikern und Fachleuten, die die Unterwerfung unter die Tyrannei ihrer offiziellen Definition der Realität predigen. Eine derartige Anthropologie muß auch der britischen Sozialanthropologie den Rücken kehren, die von jeher fixiert ist auf das Problem der (kolonialen) Ordnung, auf die Aufgaben des Verkehrspolizisten und der Gefängniswärterin. Sie wird sich auch, wie dies Diamond in seiner Abhandlung über Lévi-Strauss tut, von einer kartesianischen Anthropologie distanzieren müssen, die die Kognition von Bedeutung und Affekt entkleidet, die innige Verbindung von Theorie und Praxis abstreitet, und daher die Menschen als die ewigen Opfer ihres Gehirns darstellt, die unablässig dazu getrieben sind, geistige Elemente zusammenzufügen und wieder voneinander zu trennen, und ewig unter dem Zwang stehen, in einer Nachahmung des Lebens nach diesen ad-hoc-Schemata zu handeln. Diese sind, wie Diamond uns sagt, die Abbilder unserer eigenen Entfremdung, mit denen wir unablässig versuchen, die Probleme unserer eigenen Zeit neu zu definieren und zu klären.

Wo aber, und dies ist die zentrale Frage dieses Buchs, werden wir Menschen finden, die von ihren Leidenschaften und ihrer Arbeit nicht entfremdet sind? Diamonds Antwort lautet: in primitiven Kulturen. Durch die Kommunikation mit den Primitiven von Vergangenheit und Gegenwart, und mit unseren eigenen Möglichkeiten der Primitivität können wir ein Bild, eine Vision, eine Bedeutung eines Lebens zeichnen, das einst alle Menschen geführt haben, und einige immer noch führen, ein Leben, das reicher und sehr viel menschlicher ist als unser eigenes. Hierzu müssen wir lernen, dieses Leben von innen zu sehen, wie es diese unsere Mitmenschen immer noch sehen und erfühlen, wir müssen die "Idee des Primitiven" erfassen. So stellt Diamond sich selbst und uns eine dreifache Aufgabe: die Welt der Primitiven so zu sehen wie sie selbst; unsere eigene Welt von der Warte des Primitiven aus zu betrachten, und dieses Verständnis mit den unausgesprochenen Aspekten unserer eigenen Natur in Verbindung zu bringen. Für Diamond ist also der Primitive sowohl eine historische Phase in der Entwicklung des Menschen, als auch ein existenzieller Aspekt seines Seins. Primitive Völker haben zwar Gesellschaften geschaffen, mit denen der ganze Fächer der menschlichen Möglichkeiten erschöpfend zum Ausdruck kam, die zivilisierten Menschen haben jedoch vor einer Aufgabe gleicher Größenordnung versagt. Von dieser mehrdimensionalen Warte aus definiert und kontrastiert Diamond das primitive und das zivilisierte Verhalten in den Kapiteln "Auf der Suche nach dem Primitiven" und "Die Herrschaft des Gesetzes im Gegensatz zur Ordnung des Brauchtums". In dieser Perspektive handelt er in einem glänzenden und beispielhaften Aufsatz Platos "Staat" als das klassische Modell für den abendländischen Staat ab und führt an ihm als einer frühen, jedoch vollkommenen Form die Quintessenz der Merkmale und Krebsleiden der Zivilisation vor. Diese neue Anthropologie, für die Diamond seine Stimme erhebt, ist also die Kommunikation, und die Schaffung neuer Kommunikationsmöglichkeiten zwischen dem primitiven und dem zivilisierten Menschen. Indem wir eine Vision des Primitiven in uns selbst und in unserer Zeit konstruieren, können wir auch neue Chancen für uns selbst postulieren. Und schließlich fordert uns dies auch in Übereinstimmung mit unseren Einsichten zum politischen Handeln auf. In einem Jahrhundert, in dem amtliche Definitionen der menschlichen Natur zum Gesetz erhoben und dann durch die Handlungen des Staates sanktioniert werden, müssen wir zur Wurzel zurückkehren. "Die Wurzel ist der Mensch", sagte Marx. Mit der Entmystifizierung der Zivilisation und der konkreten Explikation des Seins in einer primitiven Gesellschaft schreibt Stanley Diamond die Prolegomena für eine marxistische Ethnologie und eine existentielle Anthropologie.

Vorbemerkung

Meine ursprüngliche Absicht war, über das hier behandelte Thema mit einer konzentrierten Anstrengung ein Buch zu schreiben, und zu diesem Zweck habe ich zwölf Jahre lang sorgfältig Buch geführt und Zitate gesammelt. In dem Maße, wie diese Sammlung wuchs und mehr oder minder brachlag, schrieb ich diese neun miteinander zusammenhängenden Aufsätze und stellte dann fest, daß ich in Wirklichkeit das Buch geschrieben hatte. Jeder Aufsatz stellt ein Kapitel mit in sich geschlossener Argumentation dar. Drei davon, "Zivilisation und Fortschritt", "Schizophrenie und Zivilisation" und "Der Mythos des Strukturalismus" sind bisher noch nicht veröffentlicht worden. Die übrigen sechs habe ich ausführlich überarbeitet und erweitert, um ihre Aussage weiter zu entwickeln und meine Absicht klarer hervortreten zu lassen. Doch habe ich die Kapitel nicht in eine absolut folgerichtige und unilineare Reihenfolge gezwängt. Vielmehr wird in jedem Kapitel ein Aspekt des grundlegenden Themas untersucht: die unmittelbare Bedeutung, die der Bruch zwischen zivilisierter und primitiver Kultur, zwischen Staaten und staatenlosen Gesellschaften für den Menschen hat. Kapitel 6 befaßt sich z.B. mit dem zivilisierten Recht als Antithese zu den durch Brauch geregelten Verhaltensmustern der Primitiven, Kapitel 7 mit dem Zivilisationsproblem der "Geisteskrankheit" in der Sicht des Primitiven, Kapitel 4 mit Platos "Staat" als der Antithese zur primitiven Gesellschaft, und Kapitel 5 mit einer analogen Kritik des Buches Hiob. Die Argumentation des Buchs findet vielleicht ihren vollsten Ausdruck in Kapitel 3, einem induktiven Modell der primitiven Gesellschaft im Gegensatz zur Zivilisation.
Diese kulturhistorischen Antithesen und die daraus folgende Bewußtseinsspaltung, die in der modernen Gesellschaft überall zum Ausdruck kommt, können nicht überwunden werden, bevor nicht eine revolutionäre Umwälzung stattfindet, die an Umfang und Tiefe derjenigen gleichkommt, die vor etwa 5000 Jahren eintrat. Die Kernthese dieses Werks ist, daß nichts weniger als das ausreichend sein wird. Wenn wir je das Trauma der Geschichte überleben sollen, glaube ich, daß das nur dadurch geschehen kann, daß der Konflikt zwischen den Primitiven und den Zivilisierten in unserer Gesellschaft und in uns selbst gelöst wird. Aufgabe der Anthropologie ist es, dazu beizutragen, die Konturen dieses Konflikts zu zeichnen, seine Imperative einander gegenüberzustellen und uns dabei Einblicke in andere Möglichkeiten des Menschseins zu geben. Wenn sie das nicht leistet, ist sie als Wissenschaft überflüssig.

Diese Aufsätze werden also als bescheidenes Gegenmittel gegen die Entfremdung, Schuld, Angst und Sorge angeboten, zu der die Menschen in unserer modernen imperialistischen Zivilisation verdammt sind. Ich wäre dankbar, wenn sie insbesondere in einer Zeit von irgendeinem Nutzen sein sollten, in der das amerikanische Volk die Chance hat, in aller Nacktheit die soziale Realität zu erkennen, die zu beweihräuchern es erzogen und zu akzeptieren es verführt worden ist.

Ich danke meinen Studenten der letzten zwanzig Jahre, an der UCLA, in Brandeis, Syracuse, Columbia und an der New School for Social Research für ihr aufmerksames Zuhören und die schöpferische Reaktion auf die hier dargelegten Ideen. Sie haben mir mehr genützt, als ich ihnen nützen konnte.

Einleitung: Zivilisation und Fortschritt

Der Ursprung der Zivilisation liegt in auswärtigen Eroberungen und in der Unterdrückung im eigenen Land. Beide sind Aspekte jeweils des anderen. Anthropologen, die Wörter wie "Kulturwandel" gebrauchen oder mißbrauchen, gehen diesem Grundproblem aus dem Weg. Die Hauptform der Akkulturation nämlich, die unmittelbare Gestaltung einer Kultur durch eine andere, durch die sich die Zivilisation entwickelt, ist nämlich schon immer die Eroberung gewesen. Man nehme z.B. den europäisch-amerikanischen "Einfluß" auf die Südvietnamesen, oder die Tatsache, daß weiße, protestantische Angelsachsen, die sich in Neu-England niederließen, von den eingeborenen Indianervölkern einiges lernten (was die Geschichtsbuchschreiber für zivilisierte Kinder so sehr betonen), und daß die schwarzen Sklaven den afrikanischen Rhythmus zur südamerikanischen Musik "beitrugen". In all diesen Fällen war eine Gruppe dominant, und die andere war unterworfen. Derartige Beispiele der Verbreitung von Kulturmerkmalen lassen auf die Kämpfe schließen, die sich innerhalb zahlreicher Gesellschaften abgespielt haben.

Wenn diese Verbreitung, wie es gewöhnlich der Fall ist,  als abstrakter Austausch dargestellt wird, der durch die allgemeine Bilanz der imperialistischen Zivilisation in irgendeiner Weise gerechtfertigt ist, wird der Angriff von zivilisierten Gesellschaften auf primitive oder traditionale geleugnet oder seine Folgen werden ausgeklammert. Die Verbreitung von Grundbestandteilen der altägyptischen Kultur entlang der östlichen Mittelmeerküste war z.B. ein Ausfluß der politischen und ökonomischen Eroberung. Die politisch "schwächeren" Völker wurden mit einer einzigen Reihe von Alternativen konfrontiert, die in der ägyptischen Erfahrung verwurzelt war. Diese historische Tatsache wird dann als Entwicklungsgesetz wiedergegeben; in dem Maß, wie sich die Zivilisation stürmisch entwickelt, projizieren ihre Vertreter ihre historische Gegenwart als die progressive Bestimmung der gesamten Menschheit. Die politische Komponente wird mit deterministischen Argumenten aus dem Naturrecht, der Naturgeschichte und der Naturwissenschaft verschleiert.

Die Anthropologie als zivilisierte Disziplin hat trotz des anspruchsvollen Relativismus vieler ihrer Vertreter "widerwillig" diese ethnozentrischen Begriffe der historischen Unvermeidlichkeit übernommen. Politische Entscheidungen sind iedoch ihrem Charakter nach in stärkerem Maße eine Frage des Seins oder Nichtseins. Sie können im Wortsinne entscheidend sein; sie enthalten Probleme des Willens und der Autorität. Denn volkstümliche im Gegensatz zu den von oben aufgezwungenen politische Maßnahmen bestehen darin, daß Gruppen von Menschen sich zum Handeln entschließen, um eine bestimmte Form des gesellschaftlichen Lebens zu beseitigen, zu schaffen oder aufrechtzuerhalten. Zivilisierte Völker und zivilisierte Bereiche der Wissenschaft haben daher stets empfindlich auf das politische Handeln von "unterentwickelten" Völkern reagiert, mit denen die Chance zu einer selbständigen Gesellschaft und einer alternativen Kultur eröffnet wurde. Im Verständnis des Imperialisten ist die Welt klein, und der Verlust der Herrschaft in einem Bereich stellt eine Gefahr für das Ganze dar. Das Gewebe unserer weltweiten Kultur, unser mündlich oder schriftlich überliefertes literarisches, ästhetisches und religiöses Erbe kann durchaus, wie dies die Anthropologen gern formulieren, ein "farbenfrohes Gewebe" sein; seit dem Aufkommen der Zivilisation ist es jedoch auf einem politischen Webstuhl hergestellt worden.

Ganz gleich, wieviel an Zeit und Raum wir einbeziehen, ist es von Teotibuacan bis Angkor Wat immer dieselbe Geschichte. Ungeachtet der Unterschiede, die in Sprache, Kunst, Religion, Kulturstil oder Gesellschaftsstruktur anzutreffen sind, wiederholt sich die Geschichte der Zivilisation, nicht als Farce, wie Marx das für alle Wiederholungen der Geschichte annahm, sondern als Tragödie. Im Schatten dieser Tragödie reduzieren sich die Errungenschaften der Zivilisation auf ihre angemessene Relation. Gedacht waren sie stets zu Nutz und Frommen sehr weniger und auf Kosten der Mühe und Arbeit vieler.

Die ursprünglichen Verbrechen der Zivilisationen, Eroberung und politische Unterdrückung, wurden schweigend begangen, und das ist immer noch ihre Absicht, wenn auch nicht immer das Ergebnis. Die meisten der Opfer nämlich konnten während des größten Teils der Menschheitsgeschichte nicht lesen und schreiben, und können dies immer noch nicht. Bisweilen wird behauptet, daß sie keine Geschichte hatten. Hier handelt es sich um eine sehr komplexe Meinung – sie ist falsch, enthält jedoch unbeabsichtigt eine grundlegende Wahrheit. Falsch ist sie, weil sie davon ausgeht, daß Geschichte eine Frage der Dokumente ist. Konventionelle Historiker, die von Dokumenten leben und sie daher als sakrosankt [unantastbar] beurteilen, würden dem größten Teil der Menschheit für die meisten Epochen auf diesem Planeten eine authentische eigene Geschichte absprechen. Typisch hierfür ist die Meinung von H. Trevor-Roper, der an der Universität Cambridge Geschichtsprofessor ist:

Vielleicht wird man in der Zukunft von einer gewissen Geschichte Afrikas sprechen können. Zur Zeit jedoch gibt es keine. Es gibt nur die Geschichte der Europäer in Afrika. Der Rest verliert sich im Dunkeln ...

Afrika hat ebenso wie alle anderen Gebiete, die von Menschen bewohnt sind, sowohl eine "prähistorische" und eine "historische" Epoche, die in den Völkerwanderungen, den ausgegrabenen Artefakten, den zwischen zahllosen Sprachen feststellbaren Verbindungen und den mündlichen Überlieferungen eingeborener Gesellschaften festgehalten ist. Afrika ist der Ort von hauptsächlich ungeschriebenen und zutiefst selbstbewußten und menschlichen Erfahrungen, deren Ensemble die einzige echte Definition von Geschichte darstellt. Dennoch gibt es auch hier Dokumente; die Chronik der Kano im Westsudan liefert z.B. Informationen über Vorgänge, die zehn Jahrhunderte zurückliegen. Natürlich ist diese Art von "Geschichte" zwangsläufig verzerrt durch die Attitüden von Erobererstämmen; und diese Verzerrungen sind wahrscheinlich von derselben Größenordnung wie bei der Information, die über die Schreiber, Geistlichen und Höflinge des Englands im elften Jahrhundert auf uns gekommen ist, bzw. auch wie die, die wir durch die Journalisten und Elfenbeinturm-Akademiker des 20. Jahrhunderts erhalten. Trevor-Roper hat jedoch in einem Sinne, den er selber nicht zugeben würde, vollkommen recht; die meisten Menschen, ob es sich nun um Afrikaner, Europäer im Mittelalter oder Engländer aus der Arbeiterklasse handelt, haben stets im "Dunkeln" gelebt, wohin sie von denen verwiesen wurden, die den Lauf der Entwicklung der Zivilisation aufzeichnen und rechtfertigen. Ihre Geschichte, wie z.B. in Afrika, war für den europäischen Historiker zu nichts nutze – da sie nicht bestätigt war, konnte sie nicht endlos zum Vorteil entweder des akademischen Spezialisten oder des Establishments, das er vertrat, ausgeschlachtet werden. Wenn Trevor-Roper daher behauptet, daß Afrika keine Geschichte hat, meint er damit, daß Afrika keine Geschichte hat, mit der er etwas anfangen kann.

Die Personen, die des Schreibens mächtig waren, die Schreiber und Priester von Ägypten, Babylonien oder China, waren selten geneigt, die Einstellungen derer festzuhalten, die sie besteuerten, unterwarfen und mystifizierten. Das Schreiben selber wurde ursprünglich dazu benutzt, Buch über Steuern, Volkszählungen und andere Verwaltungsangelegenheiten zu führen; es war kurz gesagt ein Instrument zur Niederschrift der offiziellen Geschichte, das von Bürokraten erfunden worden war. Die mündliche Überlieferung, die Zeremonie, die Alltagsangelegenheiten, der Gebrauch und die Herstellung von Werkzeugen durch das Volk insgesamt hingen weder vom Schreiben ab, noch mußten sie schriftlich dargestellt werden. Der Zwangsritus der Zivilisation ist die Schrift, und die Zwänge des offiziellen Realitätsbegriffs werden in der exklusiven Art und Weise der Kognition, die die Schrift bezeichnet, sowohl erlebt als auch ausgedrückt. Diese Fixierung auf eindimensionale Realitäten kommt besonders gut zum Ausdruck in der Einstellung des Ethnologen, dessen zivilisiertes Bemühen, die genaue und richtige Form eines Rituals, die besonderen Heiratszeremonien oder den Stammbaum, den präzisen Verhaltenskodex schriftlich zu dokumentieren, zwar seine eigenen Motivationen und bestimmte Mängel des Szientismus enthüllen, jedoch nicht der Vielfalt und Anpassungsfähigkeit primitiver Gesellschaftsbräuche gerecht werden kann. Die Verbindung, die zwischen Malinowskis Betonung der wörtlichen Magie bei den Trobriandern und seiner zwangsneurotischen Persönlichkeit besteht, wie sie in seinem Tagebuch zum Ausdruck kommt, – "einem Tagebuch im strengen Sinne des Worts" – illustriert dies zur Genüge.

Die Schrift war eines der ursprünglichen Mysterien der Zivilisation, und sie reduzierte die Komplexität der Erfahrung auf das geschriebene Wort. Außerdem stattete die Schrift die herrschenden Klassen mit einem ideologischen Werkzeug von unberechenbarer Macht aus. Das Wort Gottes wird zum unerbittlichen Gesetz, das durch Priester verkündet wird; daher reagieren die Irokesen gegenüber dem Europäer: "Die Schrift ist vom Teufel erfunden." Mit dem Aufkommen der Schrift wurden Symbole explizit; sie verloren einen gewissen Reichtum. Das Wort des Menschen war nicht mehr eine unablässige Erforschung der Realität, sondern ein Zeichen, das gegen ihn verwendet werden konnte. Sartre, der marxistische Existenzialist, hat dies nur zu gut verstanden; es ist das verborgene Thema seiner Autobiographie Die Wörter. Das Schreiben spaltet nämlich das Bewußtsein auf zweierlei Art – es erwirbt höhere Autorität als die gesprochene Sprache, setzt auf diese Weise die Bedeutung der Sprache herab und höhlt die mündliche Überlieferung aus; und es ermöglicht den Gebrauch von Worten für die politische Manipulation und Beherrschung anderer. Geschriebene Zeichen treten an die Stelle des Gedächtnisses; eine offizielle, unveränderliche und dauerhafte Version von Ereignissen läßt sich festschreiben. Was geschrieben ist, muß in frühen Zivilisationen zwangsläufig wahr sein.

Die Geschichte ist immer von den Siegern geschrieben worden, die Mehrheit der Völker ist traditionell stumm geblieben, und dies ist immer noch in großem Maße der Fall. Die zivilisierten Oberschichten sind es, welche, indem sie ihre Positionen als gottgegeben oder durch Talent und Technik bestimmt auffassen, geschichtliche Tatsachen schaffen und die deterministischen Theorien aufstellen, mit denen sowohl diese Tatsachen als auch ihre eigene Vorherrschaft gerechtfertigt werden. Daher haben wir keine konventionelle Möglichkeit zu erfahren, was der "gewöhnliche" Bauer im China der Broncezeit und im frühen dynastischen Ägypten fühlte, dachte oder litt. Selbst Shakespeare fand es notwendig, sich bei seiner Erforschung der menschlichen Seele mit Königen und Adligen zu befassen. Der griechische Romanschriftsteller Kazantzakis schreibt, daß er bei seinem Besuch in Rußland kurz nach der Revolution am wenigsten von den Ideologen beeindruckt war. Ein Schauder überlief ihn vielmehr auf dem Kreml-Platz angesichts des wütenden Grollens aus dem endlosen Vorbeimarsch von Bauern, Soldaten, Arbeitern und dem städtischen Pöbel. Dies ist ein Laut, der selten festgehalten wird. Stattdessen ist es vielmehr die Kette der üblichen historischen Chroniken, die den "Hauptstrom der Zivilisation" definiert und uns die Gewißheit darüber liefert, daß die Geschichte, so wie wir sie kennen, irgendwie unvermeidlich und die Niederschrift dessen sein muß, wie der Stärkste überlebt.

Zu Anfang waren Eroberung nach außen und Unterdrückung im eigenen Land untrennbar miteinander verbunden. In dem Maße, wie sich die frühesten Gesellschaften, die sich als Staaten zu konsolidieren begannen, territorial ausdehnten, wurden eingeborene Völker unterworfen und in die sich entwickelnden Gemeinwesen als Untertanen niedrigerer Klasse oder als Sklaven eingeordnet. Auf dieses Muster stoßen wir überall – im Niltal vor etwa 5000 Jahren; in England nach der Invasion durch die Normannen, unter den Inkas im peruanischen Hochland; im Tal von Mexiko vor der spanischen Eroberung; in den Küstenwäldern von Westafrika im 16. Jahrhundert. Imperialismus und Kolonialismus sind so alt wie der Staat selber; sie definieren den politischen Prozeß. In Dahomey war z.B. jede beliebige Person, die auf dem Territorium des emporkommenden "Königs" geboren war, nach dem Recht des Eroberers ein Untertan Dahomeys. Seine letztendliche Verpflichtung gegenüber dem in Entstehung begriffenen Staat, die politische Definition seines Menschseins, hatten zumindestens im abstrakten Sinne den Vorrang vor seiner lokalen und durch die Sippe vermittelten sozialen Existenz.

Nach der ersten Konsolidierung ihres Staats kolonisierten die alten Ägypter, wie V. Gordon Childe berichtet, die Küstenstriche des östlichen Mittelmeers, und dies regte im Zusammenhang mit ihrem ökonomischen Imperialismus und ihren Strafexpeditionen den Aufbau von Staaten unter den ortsansässigen Völkern an. Dieser archetypische imperialistische Prozeß ist es wert, untersucht zu werden. Der Import von Rohstoffen, der sowohl für die Entwicklung der ägyptischen Industrie als auch für die Beerdigungszeremonien erforderlich war, wurde durch die königlichen Einkünfte finanziert. Kupfer und Türkis wurden in Bergwerken auf der Sinai-Halbinsel gewonnen. Zu diesem Zweck wurden Expeditionen, die vom Staat ausgerüstet und von königlichen Soldaten eskortiert waren, in periodischen Zeiträumen in die Wüste geschickt. Auf ähnliche Weise wurden Zedernholz und Harze aus dem nördlichen Syrien importiert. Schiffe, die nach Byblos, einer damaligen ägyptischen Kolonie (von der sich die Bezeichnung "Bibel" herleitet), in See stachen, wurden vom Staat mit Handelsgütern ausgerüstet; staatliche Beamte führten Expeditionen zum oberen Nil an und brachten Gold und Gewürze mit zurück.

Der Hauptzweck dieser Handelstätigkeit war, die Versorgung mit Luxusgegenständen, magischen Substanzen oder Rohstoffen zu gewährleisten; und während Bauern und Arbeiter in den Feldern und Steinbrüchen immer noch Steinwerkzeuge gebrauchten, waren die Soldaten mit metallenen Waffen ausgerüstet. Dieser Handel trug aber auch dazu bei, neue Schichten zu versorgen – Händler, Seeleute, Träger, Soldaten, Handwerker und Schreiber, die aus den vom Pharao eingetriebenen überschüssigen staatlichen Einkünften finanziert wurden. Der imperialistische Handel wirkte sich auf Byblos im einzelnen wie folgt aus: Die Ägypter brauchten Zedernholz für Gräber, Boote und Möbel; sie erhielten es vom Libanon und verschifften es vom Hafen von Byblos in der Nähe des heutigen Beirut. Vor dem Aufkommen der Zivilisation in Ägypten war Byblos der Siedlungsplatz einer neolithischen Stadt gewesen. Bereits 3200 v. Chr. waren die Gibliten Fischer und Bauern, die sich selbst versorgten. Dadurch aber, daß sich der ägyptische Staat durch Eroberung aus der Reihe neolithischer Dörfer entlang den Nilufern zu einem Staat konsolidierte, wurde Byblos zum Hauptlieferanten von Rohstoffen für den Gebrauch der ägyptischen Oberklassen. Zur Befriedigung der ägyptischen Nachfrage gab Byblos die ökonomische Selbstversorgung seiner neolithischen Struktur auf und hing in immer stärkerem Maße von ausländischen Märkten ab. Man fühlt sich an Rousseaus Bemerkung erinnert: "Alexander wollte die Ichthyophagen in Abhängigkeit von sich halten und zwang sie, dem Fischfang zu entsagen und sich von denselben Nahrungsmitteln wie die anderen Völker zu ernähren." Überdies ließen sich ägyptische Händler und Beamte dort nieder, um ihre Interessen vertreten zu können, und die Ägypter "schulten" die Gibliten in der Verwaltung der Stadt und im Umgang mit ihrem Geld, wobei das, was sie errichteten, in Wirklichkeit ein Protektorat war. Ein steinerner Tempel wurde in der Stadt erbaut, durch eingewanderte ägyptische Künstler verziert; und die Gibliten erlernten die ägyptische Schrift, die Sprache des Handels.

Im Laufe der Zeit wurde Byblos zu einer vorindustriellen Stadt, zu einem Markt für Rohstoffe, und zu einem weiteren Zentrum für die Verbreitung der neuen Volkswirtschaft. Es verdient jedoch festgehalten zu werden, daß die aufgezwungenen Elemente der ägyptischen Zivilisation in Byblos tendenziell statisch blieben. Das Imperium veränderte die Natur der eingeborenen Gesellschaft, die einige ihrer kulturellen Merkmale dadurch erhielt, daß es sie an die neue Struktur anpaßte, doch konnte Byblos nach Art der klassischen Kolonie mit den weiteren Entwicklungen in Ägypten nicht Schritt halten. Während die Ägypter ihre Schrift verbesserten, behielten die Gibliten zum Beispiel über ein Jahrtausend lang die archaischen Schriftzeichen bei, die sie ursprünglich übernommen hatten. Durch den imperialistischen Prozeß wurde sodann der Wohlstand der ägyptischen Oberschichten vermehrt und Byblos durch die unmittelbare Auswirkung der Arbeitsteilung, die für die Belieferung mit Rohstoffen für die verbundenen Aufgaben der Verwaltung und Verteidigung erforderlich war, in ein Kleinägypten verwandelt. Dies wiederum führte dazu, daß die Mehrheit der mit Fischerei und Landwirtschaft beschäftigten Bevölkerung verarmte und in Abhängigkeit geriet.

Eine ähnliche Kette von Ereignissen wurde durch den imperialistischen Drang Mesopotamiens ausgelöst, der nach 2000 v. Chr. dazu führte, daß die neolithischen Gemeinschaften zerschlagen und durch eine städtische Zivilisation ersetzt wurden. Auch hier blieben die "zweitrangigen Zentren" im Vergleich zu den "dynamischen" großstädtischen Mächten provinziell. Doch wurde diese metastatische Vermehrung, die sowohl Zweck als auch Bedürfnis des imperialistischen Zentrums ist, nicht immer so unmittelbar erreicht. So weigerten sich zum Beispiel die Nomaden des Sinai, diese "elenden Beduinen", für die Ägypter als Gegenleistung für unnützen Klimbim Kupfererz zu brechen. Diese Arbeit mußte von Arbeitern aus Ägypten unter dem Schutz der königlichen Armee geleistet werden. Und in anderen Gebieten, wie in Ninive, wurden die primitiven bäuerlichen Niederlassungen mit Gewalt in Städte des Imperiums verwandelt. Diese Zivilisationen des Altertums (Ägypten, Sumer, Indien) reproduzierten sich schließlich durch direkte oder indirekte Eroberung in der ganzen Welt des Altertums. Ursprünglich wurden an den Grenzen von Ägypten, Babylonien und dem Industal – in Kreta und auf den griechischen Inseln, in Syrien, Assyrien, Iran und Belutschistan und noch weiter weg auf der griechischen Halbinsel, der Hochebene Anatoliens und in Südrußland Dörfer zu Städten verwandelt, und selbstversorgende Nahrungsmittelproduzenten spezialisierten sich auf Handel. Diesem Prozeß konnten nur die entgehen, die in den entferntesten Gegenden lebten; nur die Wüstennomaden ließen seine Realität nicht gelten. Wie die Primitiven, die vor der Zivilisation fliehen, verweigern sie die Kooperation oder die Veränderung ihres Selbstbilds in einer Zeit, in der der Imperialismus sich auf jedes Zentrum zweiter und dritter Ordnung ausdehnt.

Mehr als 2000 Jahre nach der Entstehung der urtümlichen Formen des Imperialismus sind dieselben Imperative immer noch wirksam. Im Jahre 416 n. Chr. weigerte sich das Athen des Plato und des Sokrates, das sich zu jener Zeit im Krieg mit Sparta befand, das Recht der Bewohner der Insel Melos auf Neutralität anzuerkennen. Thukydides berichtet, wenn nicht faktentreu, so doch treu im Geiste, über ein Gespräch zwischen den Melern und den athenischen Abgesandten, in welchem letztere kein einziges vernünftiges und menschliches Argument gelten lassen. Alles was in dieser Welt zählt, so sagen sie, ist Macht; und es wäre besser für Athen, von Sparta besiegt zu werden, als mit der Annahme der Freundschaft des wehrlosen Melos den anderen unterworfenen Völkern eine so entscheidende Schwäche zu zeigen. Die Meler bestehen auf ihrer Unabhängigkeit und lehnen die Ehre ab, eine athenische Kolonie zu werden. Die Athener greifen sodann Melos an, töten die erwachsenen Männer und verkaufen die Frauen und Kinder als Sklaven. Danach kolonisierten sie Melos selber. Es handelte sich dabei um dasselbe Athen, das ein paar Jahre später Sokrates als Verräter zum Tod verurteilte. Nehmen wir die beiden Vorgänge zusammen, wobei der eine Imperialismus nach außen, und der andere Unterdrückung nach innen darstellt, werden wir an die noch viel ältere Verbindung zwischen dieser Doppeldynamik des Staates erinnert, die an den Ursprüngen der Zivilisation selbst zu einem einzigen Prozeß konvergiert. Es ist immer nützlich, wenn man sich in Erinnerung ruft, daß in Athen zur Blütezeit seiner Kultur mindestens drei Sklaven auf einen freien Mann kamen. Diese Tatsache spiegelt sich in den klassischen utopischen Entwürfen der Zivilisation wie z.B. im Werk von Thomas Morus wider, wo angenommen wird, daß die "niedere Arbeit" von einer besonderen Klasse ohne Wahlrecht geleistet wird. Und in Platos "Staat", diesem Musterbild einer Apologie des Staates, stellen die Arbeiter und Bauern die unterste Stufe der menschlichen Existenz dar.

Die Zivilisation mußte immer mit Gewalt durchgesetzt werden, nicht als psychodynamische Notwendigkeit oder eine repressive Form des entwickelten gesellschaftlichen Lebens, wie dies Freud annahm, und nicht nur bezogen auf das Sicherungsbestreben der Staatsmacht gegen ihre eigenen Untertanen, sondern auch eingedenk der barbarischen oder primitiven Völker, die sich an den Grenzen herumtrieben. Eingeborene Gemeinschaften waren der Grund, aus dem die frühesten territorial definierten Zivilisationen mit Klassenstruktur erwuchsen. Innerhalb dieser Zivilisationen wurden diese eingeborenen Völker in die "Massen" von Bauern und Proletariern verwandelt, die den Staatsapparat trugen. Ohne Rücksicht darauf, wie "notwendig" die politische Struktur der Zivilisation ursprünglich gewesen sein mag, bleibt es doch eine geschichtliche Wahrheit, daß die unabhängigen eingeborenen Gemeinschaften in fortschreitendem Maße unterdrückt und zerstört wurden. Keine Rechtfertigung der Existenz des frühen Staates kann an der Tatsache rütteln, daß aus der Mehrheit des Volks immer mehr Steuern in Form von Gütern und Arbeit herausgepreßt wurden, als sie vom Staat in Form von Schutz und Dienstleistungen zurückerhielt.

Selbst wenn wir die auf den Bevölkerungsdruck, die Knappheit von Grund und Boden, Wasser und anderen Ressourcen zurückzuführende Notwendigkeit für politische Zwänge in den frühesten Stadien der Staatsbildung anerkennen, gibt es keinen zwingenden Grund dafür, daß diese eine solche Unterdrückungsform annehmen mußte, mit Ausnahme der wachsenden Beunruhigung derer, die mit der unmittelbaren Produktion nichts mehr zu tun hatten, über ihre eigene wirtschaftliche und politische Sicherheit. Diese Sicherheit scheint umso problematischer gewesen zu sein, wenn wir mit Marx, Morgan, Engels, Radin, Childe und Redfield annehmen, daß die primitiven Gesellschaften stark auf Demokratie und Gemeinwirtschaft ausgerichtet waren, und außerdem, daß man die Struktur der neolithischen Siedlungsgemeinschaften, die dem Aufkommen der frühesten Zivilisation unmittelbar vorangingen, ähnlich definieren kann. Primitive Sitten und Gebräuche, die sich in so langer Zeit herausgebildet hatten, ließen sich kaum ohne sehr große Widerstände verändern. Der Kampf, der sich daraus zwischen dem Staat – der zivilen Autorität – und der Gesellschaft ergab, die sich aus Sippen oder sippenähnlichen Einheiten zusammensetzte, ist der grundlegende gesellschaftliche Kampf in der Menschheitsgeschichte. Er spiegelt sich immer noch, wenn auch verzerrt, im Lokalpatriotismus und institutionellen Schranken gegen die Zentralgewalt wider.

Ihre Besorgnis darüber, daß sie sich nicht selbst ernähren konnten, scheint im Zusammenhang mit der Erwartung eines derartigen Widerstands das Motiv dafür zu sein, daß die oberen Klassen auf so umfangreiche und komplizierte Art und Weise den unmittelbaren Produzenten ihren Reichtum abpreßten. Aber selbst wenn wir die Notwendigkeit der politischen Umwandlung der Gesellschaft anerkennen, und zustimmen, daß kein Staat überleben konnte, wenn keine von den in Entstehung begriffenen Bauern und Arbeitern geschaffenen "überschüssigen" Güter zur Ernährung der nicht unmittelbar in der Produktion beschäftigten Klassen angeeignet wurden, erklärt dies noch lange nicht die rasch zunehmenden Ungleichheiten in der Vermögensverteilung. Die zunehmende Kluft zwischen Reichen und Armen im Verlauf der Entwicklung der Zivilisation des Altertums konnte weder allein der Knappheit noch dem Bedarf nach Unterstützung von Spezialisten geschuldet sein, die der Erwerbstätigkeit fernstanden. Sie ergab sich vielmehr aus der zunehmenden Enteignung. Der Abstand zwischen den Klassen war nämlich, wie Marshall Sahlins nachwies, umso größer, je reicher die Gesellschaft und je größer die Vermögenskonzentration an der Spitze war. Auch war die Konzentration von Vermögen im Altertum nicht die Folge einer angeblich rationalen Reinvestition. Der Einsatz dieses Vermögens war nicht nur irrational und führte damit zu einer Inflation der Tautologie der Macht. Die Umverteilung in Form öffentlicher Arbeiten oder Dienstleistungen erweiterte schließlich auch die Kluft zwischen den Klassen mehr, als daß sie sie schloß. Die Dynamik der archaischen Zivilisationen enthüllt die Pathologie des Reichtums – Reichtum als Macht oder Luxus als "Lebensgefühl" – und die Unzulänglichkeiten der Verteilung dieses Reichtums. Um 300 v. Chr. treten im Nahen Osten bereits Rechtfertigungen für den Staat auf, die auch auf den Monopolkapitalismus anwendbar sind. Wie Marx richtig bemerkte, läßt sich der Prozeß der Staatsbildung und der Funktion des Staates über die spezifische Form des jeweiligen Staats hinaus verallgemeinern.

Das entscheidende Problem liegt in der sozio-ökonomischen Ausbeutung und dem damit zusammenhängenden Verlust der kulturellen Schöpferkraft und Selbständigkeit für die große Mehrheit der Menschen. Die auffällige Auspressung von Arbeitern und Bauern war eine Bestätigung der Macht; doch festigte die so bestätigte Macht nicht nur den sozialen Status, sie räumte auch die Ängste über die tatsächliche Machtlosigkeit der Privilegierten aus, die sich daraus ergaben, daß sie die unmittelbare Beherrschung über ihre Umwelt verloren hatten. Die Anhäufung von Reichtum als Selbstzweck, die Antithese zur primitiven Subsistenzwirtschaft, erfolgte daher kompensatorisch, und war ein Zeichen für die Angst vor der Ohnmacht des Menschen, der seine Wurzeln verloren hat. Sie stellt eine Reaktion der Entfremdeten bei ihrem Streben nach Sicherheit dar; und die Manipulation von Menschen tritt an die Stelle der Beherrschung von Sachen. In dem Maße, wie sich die Zivilisation ausdehnt und vertieft, wird der Mensch, sein artspezifisches Dasein, zum Objekt, beherrscht von den Gesetzen des Imperialismus.

Nach Ansicht der deterministischen Evolutionstheoretiker war jedoch die Unterstützung der aufkommenden Handwerker, Soldaten, Bürokraten und Priester durch die Arbeiter und Bauern, die Arbeitsteilung und Klassenspaltung, die angeblich in einem bestimmten Gebiet, das unter dem Druck steigernder Bevölkerungszahlen und schwindender Ressourcen stand, eine höhere Produktivität gewährleistete, rational, wenn sie nicht gar spontan entstand. Es heißt, daß die Spezialisierung der Funktionen das ökonomische Ergebnis maximiert (die politische Frage hierbei ist jedoch immer "für wen"); sie beseitige die mehrdimensionale Funktion der Person in der primitiven neolithischen Gemeinschaft und führe zur Institutionalisierung der Arbeitsteilung, die nicht nur dadurch determiniert, sondern auch sozial erwünscht sei. Die Arbeitsteilung wiederum sorge dafür, daß die nach Klassen strukturierte Gesellschaft nicht ihrer inneren Logik und Kohärenz entbehre. Märkte, Händler, Verwaltungsfachleute seien deshalb erforderlich geworden, weil Eigentum geschützt und geregelt werden und Tauschwerte bestimmt werden mußten; und auf diese Weise würden die Beziehungen gegenseitiger Abhängigkeit zwischen den Produzenten der Basis, der Mittelschicht und den Herrschern in der Struktur des Staats "vervollständigt" (mystifiziert). Der Staat erscheint als die unvermeidliche Summe seiner gesellschaftlichen Teile; seine Ideologie besteht darin, daß er gegenüber den "von Natur aus" differenzierten Einzelbürgern eine Einheit projiziert. Wenn sich der Prozeß der Zivilisation auf diese Weise einfach als ein Anpassungsapparat entfaltet hätte, könnten alle sozialen Ungerechtigkeiten einer unterentwickelten Technik oder der "geometrischen" Bevölkerungszunahme zugeschrieben werden; und im Zusammenhang damit könnten die Knappheit und daher die Konkurrenz um knappe Güter und Dienstleistungen als der Hauptfaktor für die Entwicklung des Staates angesehen werden. Die Knappheit kann sogar als das übergeordnete Prinzip aufgefaßt werden, als eine Existenzbedingung der Menschheit, welche, wenn sie in einem Bereich einmal befriedigt ist, Grund für die Konkurrenz in einem anderen darstellen kann. Die Knappheit wird so nicht als soziales, sondern als natürliches Phänomen aufgefaßt.

Der springende Punkt liegt darin, daß die kapitalistische Gesellschaftsdynamik und die daraus abgeleitete Logik der Knappheit wie die abstrakte Konsumwut (die Kehrseite der Medaille des Wohlstands) in Verbindung mit dem Positivismus der protestantischen Kultur die Dynamik der Zivilisation als in der menschlichen Natur verwurzelt begründet hat. Die menschliche Natur wird als ein System von Reflexen begriffen, das darauf eingestellt ist, Knappheit festzustellen und zu überwinden. Die Gesellschaft, ganz zu schweigen von der Zivilisation, wird von Anfang an als die sichtbare Struktur des Kampfes um das aufgefaßt, was knapp ist – Nahrung, Frauen, Grund und Boden, Rohstoffe, Macht. Erst wenn sich der positivistische Geist unter dem Einfluß von Drogen oder Alkohol abreagiert, ist eine weniger eingeschränkte Sicht der menschlichen Vergangenheit und des menschlichen Potentials möglich, und auch dann sind deren Bilder tendenziell mechanisch, zusammenhangslos und zugegebenermaßen unwirklich. Gewöhnlich jedoch gibt der positivistische Geist die Unwägbarkeiten der Geschichte zugunsten der eng begrenzten Gewißheiten der Evolution auf. Sein Prüfstein ist das Recht, oder wie Tylor es ausdrückte "wenn das Recht irgendwo ist, ist es überall" – und die Zivilisation wird als rationaler Vertrag aufgefaßt, der zwischen Menschen abgeschlossen wurde, die im Vollbesitz ihrer geistigen Fähigkeiten und sich ihrer Beschränkungen bewußt sind. So sieht auch der Kapitalismus den Charakter der Zivilisation, und diese Sicht spiegelt den in 7000 Jahren gewachsenen Mythos des Staates wider. Die Vertreter dieses Mythos werden jedoch selbst bei seiner besten Form, im liberalen Reformrationalismus, die Macht des Staates anrufen, wenn sie sich von der Aussicht auf radikale Veränderungen bedroht sehen. Die kapitalistische Sicht stellt nur eine kleine Abweichung von der aristokratischen Auffassung dar, die die überkommene Klassen- und Berufsstruktur als rationale Einheit auffaßt, jedoch jeden an seinem richtigen Platz sehen möchte. Einige, so scheint es, sind durch Geburt, Begabung, Ausbildung und Fähigkeiten Führer, und andere Gefolgsleute. Wenn die Betonung auf der Begabung liegt, löst sich die aristokratische Begründung für den Staat wie in Platos "Staat" in eine meritokratische Betrachtungsweise auf. Und letztere läuft wiederum immer Gefahr, im Rassismus zu enden, der wiederum das Argument des Geburtsrechts verstärkt und bisweilen genetisch zuspitzt.

Keine dieser Auffassungen trifft zu. Für das Vorhandensein der Zivilisation sind sie jedoch die einzig mögliche Erklärung, wenn wir uns nicht auf das gegensätzliche Vorhandensein primitiver Gesellschaften und auf eine Theorie der Ausbeutung stützen, die sich nur auf letztere gründen läßt. In primitiven Kulturen, schrieb Malinowski, "gibt es keine Reichen und Armen, keine Menschen mit großer Macht; und es gibt auch noch keine Menschen, die unterdrückt sind; keine Arbeitslosen, und keine Unverheirateten." Und weiter:

Vor dem Aufkommen militärischer Bestrebungen und politischer Macht, die in der Entwicklung des Menschen sehr spät auftreten, gab es keine Besteuerung, keine Konfiszierung von Privateigentum durch Häuptlinge oder andere Stammespotentaten.

Die Ausbeutung ist daher der verborgene Prozeß, der im Widerspruch zu allen totalitären oder reformistischen Rationalisierungen für die Staatsmacht steht. Jede revolutionäre Theorie beruht auf diesem Zivilisationsprozeß. Insbesondere identifizierte Marx die Ausbeutung als die Aneignung eines Überschusses – ursprünglich, in den frühesten bürgerlichen Gesellschaften, in der unmittelbaren Form von Tribut und Arbeitsleistungen. Ihre moderne, in Geld ausgedrückte und letzte Form ist der Mehrwert – d.h. die Aneignung eines bestimmten Teils der Arbeitskraft des Arbeiters durch den Kapitalisten, die in einem unzulänglichen Lohn zum Ausdruck kommt. In marxistischer Sicht stammen alle "privaten" Profite aus dem Mehrwert, wenn auch die Organe des Staats die alten und direkteren Formen der Expropriation beibehalten haben – Besteuerung, Konskription, Hoheitsrechte, usw. Der springende Punkt dabei ist, daß die Theorie der Aneignung der Mehrproduktion, einschließlich der Aneignung des Mehrwerts, für Revolutionäre die entscheidende Frage ist. Jede Lehre von der Veränderung der Gesellschaft, die dies unterschlägt, reduziert sich auf eine Vermögensumverteilung innerhalb eines bürokratischen Staats, der im wesentlichen als rational und notwendig und, wenn er grausam ist, als zwangsläufig so geartet begriffen wird.

Die Gelegenheit zur Ausbeutung wird verschleiert durch die Betonung der Verpflichtung zum Dienen; der Bürokrat steht angeblich im Dienste der Offentlichkeit, der Monarch ist der erste Diener seines Staates, usw. Was für die Einheit des Staates vorgebracht wird, ist nichts anderes als eine Mystifizierung der Ausbeutung.

Von Anfang an ergab sich diese conditio sine qua non, die kontinuierliche Hervorbringung eines "Überschusses" zum Unterhalt des Staatsapparats, nicht spontan; sie mußte durch die politische Autorität vermittelt werden. Wie Robert Mc. Adams betonte, liegt in der Produktion von Überschuß keine Eigenlogik. Daß primitive Ackerbauer einen Überschuß erzeugen können, heißt noch lange nicht, daß sie dies tatsächlich tun – oder anders gesagt: die gelegentliche Verwendung eines Überschusses für zeremonielle oder symbolische Zwecke oder solche des Tauschhandels hat eine ganz andere Dimension als die routinemäßige Mehrproduktion eines Überschusses zum Unterhalt anderer Klassen und Berufsgruppen. Diese klassische Problemformulierung ist jedoch unzulänglich. Die Begriffe müssen schärfer gefaßt werden, wenn wir zu einem ansatzweisen Verständnis des Prozesses gelangen wollen. Die Erhebung eines Naturalientributs von örtlichen Gemeinschaften, z.B. im Niltal, kann nicht so verstanden werden, daß sie auf einer Produktionsbasis beruhe, die sich irgendwie aufteilt in einen Abschnitt des "Lebensunterhalts" (zum Unterhalt und zur Reproduktion herkömmlicher Gruppenfunktionen), und einen der "Mehrproduktion" (die für den Steuereintreiber bereitgehalten oder auf andere Art und Weise dem Unterhalt der Nichtproduzenten zugeführt wird). Die Mehrproduktion ist keine abstrakte ökonomische Kategorie. Sie stellt vielmehr den Anteil von Gütern und Dienstleistungen dar, um den der unmittelbare Produzent zum Zweck des Unterhalts anderer Klassen oder Berufsgruppen enteignet wird. Diese Expropriierung jedoch greift unmittelbar in die sogenannte Subsistenzproduktion ein; sie verringert den Anteil des unmittelbaren Produzenten an seinem eigenen Produkt; und sie steht für die Entfremdung seiner Arbeitskraft. Die Subsistenzproduktion unter primitiven Völkern sollte als die ökonomische Anstrengung verstanden werden, die erforderlich ist, um die Gesellschaft insgesamt zu reproduzieren, eine Gesellschaft, an der das Individuum voll und ganz teilhat.

Mit dem Aufkommen des Staates jedoch wird die Produktion mehr oder weniger rasch bis zu dem Punkt hinabgedrückt, wo lediglich die biologischen Funktionen des Ackerbauers innerhalb eines eng begrenzten Rahmens sozialer Funktionen aufrechterhalten werden. Hier handelt es sich um die eigentliche Subsistenzproduktion, wohingegen der übliche Gebrauch des Terminus in Bezug auf staatenlose Gesellschaften lediglich das Nichtvorhandensein spezialisierten Anbaus für kommerzielle Vermarktung impliziert. Die Auffassung der Mehrproduktion lediglich als einer Produktionszunahme über das hinaus, was zur Reproduktion der traditionalen Gesellschaft einer eingeborenen Bevölkerung erforderlich ist, ist ein von der Politik erfundener ökonomischer Mythos.

Die Trennung nach Berufen und Klassen, die von den Grundproduzenten abhängig ist, vollzieht sich natürlich nicht abrupt. In den frühesten Phasen der Staatenbildung war der Bauer auch ein Handwerker. So galt z.B. im Staat der Ureinwohner von Dahomey als selbstverständlich, daß ein Mann ein Dach decken, eine Mauer hochziehen und ein Feld mähen konnte. Und die meisten Leute in den größeren "Städten" der Yoruba in Westafrika arbeiten auch als Bauern, genau wie viele der Einwohner der größten Gemeinden bei den Sumerern und in Mexiko vor der spanischen Eroberung. Ein "beträchtlicher Anteil" der Einwohner der islamischen Städte im Mittleren Osten waren ebenso Bauern, die Felder in der näheren Umgebung bestellten. Die Expropriation der Arbeitskraft war nämlich ursprünglich ein Prozeß der relativen Verarmung; durch die Unreife und relative Schwäche des frühen Staates und durch die daraus folgende Anerkennung des aufkommenden Bauern-Handwerkers als der Quelle allen Reichtums waren ihr Schranken gesetzt.

Die Trennung der Funktion von Bauer und Handwerker wurde durch die unmittelbare Konfiszierung der Arbeitszeit des Handwerkers, ja sogar des Handwerkers selbst durch die Staatsmacht beschleunigt; der Zimmermann oder Töpfer stand buchstäblich "im Dienste Seiner Majestät". Die Handwerker dürften sich bei der Herstellung militärischer Ausrüstungsgüter weiter spezialisiert haben, und dies wiederum verstärkte die entstehenden Klassenunterschiede. Die wirksamste Unterwerfung des Handwerkers unter die Staatsmacht erfolgte jedoch durch die Prachtentfaltung der Königshöfe mit ihren tausenden von Dienstboten. In Susa belief sich das Palastpersonal in der frühen Periode der dritten Dynastie auf etwa 950 Personen; nach der Einigung Mesopotamiens durch Sargon I. wird jedoch berichtet, daß mehr als 5000 Personen täglich im königlichen Palast aßen.

In dem Maße, wie sich aus dem primitiven Ackerbauer der Bauer entwickelte, differenzierte sich der Handwerker vom Bauern, so daß Handwerker und Bauer auch als getrennte Personen nicht auf denselben Haushalt angewiesen waren. Zur gleichen Zeit ermöglichte der traditionelle Tauschmarkt die Konfiszierung von Gütern durch die Staatsgewalt und legte somit den Handwerker stärker auf seine Identität als Handwerker fest. Indem der mal hier, mal da beschäftigte Spezialist von Markt zu Markt, von Gruppe zu Gruppe wanderte, und seine Dienstleistungen anbot, um seine Steuern bezahlen und leben zu können, nahm auch seine Bodenständigkeit ab. Entscheidend dabei ist, daß die Arbeitsteilung, genau wie die Produktion eines "Überschusses" von der politischen Macht vermittelt werden mußte; auf diese Weise gehen sowohl die Produzenten als auch die Konsumenten allmählich ihres menschlichen Daseins verlustig. Armut, politischer Zwang und sozialer Abstieg reduzierten das Leben des arbeitenden Menschen auf einen ökonomischen Imperativ, auf die Frage des reinen Lebensunterhalts, und der symbolische Inhalt und die soziale Bedeutung der Arbeit gingen immer weiter zurück. Sogar die Werkzeuge und Gebrauchsgegenstände des täglichen Bedarfs der unteren Klassen, die gewöhnlich von Handwerkern hergestellt werden, die damit ein größeres Angebot von Gebrauchsgegenständen produzieren, lassen sich von den kunsthandwerklichen Gebrauchsgegenständen unterscheiden, welche von Spezialisten hergestellt wurden, die sich auf ein recht enges Fertigungsgebiet konzentrieren konnten. Eine Hausfrau des Berberstammes kann zwar ihre Felle selbst gerben, doch erfordert die Herstellung von marokkanischem Saffianleder in Fes zwanzig aufeinanderfolgende Arbeitsgänge, von denen jeder von einer anderen hochspezialisierten Arbeitsgruppe ausgeführt wird. Im Ergebnis läuft dies darauf hinaus, daß den Armen hochwertige Werkzeuge in zunehmendem Maße entzogen wurden und gleichzeitig ihre ästhetischen und schöpferischen Impulse zurückgingen. Die Auswirkungen dieses Prozesses, der mit der Zivilisation einsetzt, werden verständlich, wenn man sich daran erinnert, daß die ursprünglichen Erfindungen, auf denen die Zivilisation selbst beruhte, das Werk primitiver Ackerbauern des Neolithikums waren. Gleichzeitig stellen die spezialisierten Handwerker, die in Zünfte unterteilt sind und unter dem Kommando des königlichen Hofes stehen, ihre Kunstgegenstände im Rahmen eines Gewerbes anstatt in einer menschlichen Umwelt her, und erfüllen damit eine von außen kommende, spezialisierte und auffallende Nachfrage. Es kann durchaus sein, daß dies zum Aufblühen bestimmter Stilformen führt – "ein Schnitzmeister kann ein Arbeitsstück entwerfen und ihm den letzten Schliff geben" – doch führt es auch zur Langeweile: in dem Maße, wie der Ruhm des Meisters zunimmt, wird der spezialisierte Lehrling oder Geselle gezwungen, die grobe Arbeit mit dem Schnitzmesser auszuführen.

Diese Abwertung des Handwerkerlebens um des Gegenstands willen ist auch im Grunde ökonomisch motiviert, da dadurch wie beim Fließbandverfahren die Kosten gesenkt werden. Die Kostensenkung, die als eine der Begründungen für die Arbeitsteilung herhalten muß, ist jedoch ein politischer und nicht ein eigentlich "ökonomischer" Prozeß. Denn weder stellen die Leistungsfähigkeit und die hohen fachlichen Ansprüche, die angeblich dazugehören, für die Mehrheit der Handwerker eine Belohnung dar, noch gelangen ihre Erzeugnisse in die Hände der Mehrheit der Konsumenten. Durch die Mobilisierung der Handwerker wurde lediglich erreicht, daß deren Erzeugnisse für die oberen Klassen zu den Preisen und Mengen erschwinglich wurden, die diese für gesellschaftlich erwünscht hielten.

Die unteren Klassen mußten zwar einen sozialen Abstieg hinnehmen, und die Handwerker wurden sogar gefangen gehalten, doch waren die nicht arbeitenden Klassen nur in ihrer Einbildung frei – ihre Abhängigkeit von der Arbeit anderer war, wie wir gesehen haben, ein pathologischer Zustand. Gleichzeitig wurde ihre symbolische Lebensführung durch ihre unvollständige und illusionäre Funktion in der Welt deformiert. Diese zunehmende Teilung zwischen Klassen und Berufen und deren daraus folgende Verdinglichung stellt die soziale Grundlage für die menschliche Bewußtseinsspaltung dar, die die Zivilisation institutionalisiert. Die potentielle Einheitlichkeit der Person bleibt unverwirklicht; nur die Gesellschaft insgesamt scheint einheitlich zu sein, und die Auffassung der Einzelperson als einer Widerspiegelung des Sozialen wird glaubhaft, weil sie die gesellschaftliche Realität widerspiegelt. Der damit zusammenhängende Bruch zwischen Handarbeit und Kopfarbeit, auf den Marx anspielt, ist sowohl Symptom als auch Ursache für die Entfremdung des Menschen von sich selbst, die sich in dem Dualismus von Körper und Geist widerspiegelt, den die Zivilisation beschwört; und dieser wiederum stellt sich im Aufkommen der akademischen Philosophie dar.

Diese Dualität, die die Klassenstruktur und die Arbeitsteilung in Zivilisationen des Altertums widerspiegelt, trat im nordwestlichen Kambodscha in klassischer Form in Erscheinung. Während eines unbestimmten Zeitraums, bis etwa zum Jahre 800 n.u.Z., gab es längs des Mekong eine Anzahl von Gesellschaften, die eben im Begriff waren, zentralisiert zu werden. Beschrieben worden sind sie als "Königreiche mit lockerem Zusammenhang ... mit Häuptlingen ... Dörfern . . (oder) Dorfgemeinschaften." Innerhalb der autonomen lokalen Gruppen war die Bauernschaft immer noch relativ frei, die Arbeit relativ undifferenziert, und die Autorität relativ traditional. Mit der Entwicklung der "Bewässerungslandwirtschaft" wurden jedoch ein neuer Staat, eine neue Religion und eine neue herrschende Klasse möglich und auch wirklich. In dem Maße, wie die Bewässerung zu mehreren Ernten im Jahr und zu einer höheren Bevölkerungsdichte führte, wurde der Bauer zum einfachen Landarbeiter spezialisiert. Auf dieser Produktionsbasis entwickelte sich ein stark zentralisierter Staat, dessen äußeres Zeichen ein Kaiserkult für den "Gottkönig auf dem Berge" war. Die Festigung der königlichen Autorität war hier wie anderswo ein Widerspruch in sich – je mehr der König zum politischen Fetisch vergegenständlicht wurde, desto mehr war ihm sein Handeln vorgeschrieben und desto machtloser wurde er in Wirklichkeit. Im Vergleich zu den alten Häuptlingen der Dörfer des späten Neolithikums, die dem Aufkommen des Staates vorhergingen, war er machtlos, an die geltende Ordnung gebunden, und nach dem Muster zivilisierter Götter müßig und unerreichbar. In Wirklichkeit wurde der kambodschanische Staat von Aristokraten und Theokraten gelenkt. In dem Maße, wie diese reicher und abgehobener wurden, sanken die Dorfbewohner zu reinen Arbeitstieren herab, und wenn sie in den Inschriften der Priester namentlich erwähnt werden, werden sie als "Hund", "Katze", als "schmutzige" und "stinkende Tiere" bezeichnet. In dem Maße, wie die Bevölkerung weiter zunahm, nahm auch die Mehrproduktion zu – d.h. die Konfiszierung der Früchte der lokalen Arbeit –, während das gemeine Volk, das nicht in der Lage war, sein traditionales soziales Leben zu reproduzieren, "in noch größeres Elend stürzte." Und währenddessen "leuchteten die riesigen Dämme im Sonnenlicht", und "Reisfeld nach Reisfeld" erstreckten sich "bis zum Horizont." Im selben Maße, wie die örtlichen Gemeinschaften immer mehr an Kunst und Kunsthandwerk verloren, erhoben sich immer größere und schönere Tempel und legten Zeugnis von den Fähigkeiten der Handwerker ab. Angkor Wat war und ist der materielle Beweis für die unerhörte Entfremdung eines ganzen Volkes. Die es bauten und die mit ihrer Arbeit für seinen Bau bezahlten, planten weder das Endprodukt, noch beherrschten sie es; die Tempel von Angkor Wat erhoben sich riesenhaft über ein unterdrücktes Bauernvolk, und in dem, was von der Dorfgemeinschaft übriggeblieben war, hatten sie keinen Platz. Die herrschende Minderheit manipulierte die Bedeutung dieser Monumente zu Machtsymbolen. Und für die Handwerker waren diese Monumente nicht mehr ihre Arbeit, Ausdruck ihres Menschseins, sondern lediglich Gebäude, zu deren Errichtung sie unter Zwang ihre Arbeitskraft beitragen mußten.

Solche zeremoniellen Zentren der Macht und Tributpflichtigkeit waren natürlich im Altertum weit verbreitet. Die Verwaltungsfachleute, Soldaten, Feudalherren und Handwerker, die das traditionelle chinesische Verwaltungszentrum Ch’eng bevölkerten, bezogen ihren Unterhalt aus Tributen, Pacht oder Steuern, die der Bauernschaft des Hinterlandes abgepreßt wurden. Im Tal von Mexiko war Tenochtitlán das Zentrum jährlicher Tributzahlung in Luxusgütern aller Art, Kleidungsstücken und über 50.000 Tonnen Nahrungsmitteln, die die Stadt auf den Schultern von Trägern erreichten. Der aufgeblähte Reichtum des römischen Imperiums oder der mongolischen Hauptstadt Karakorum beruhte auf ähnlichen Grundlagen. In jedem dieser Fälle war der Monarch in der Lage, in regelmäßigen Zeitabständen einen bestimmten Teil dieses Tributs an die Einwohner der Hauptstadt umzuverteilen. Dies bewirkte den klassischen Imperiumseffekt, die Beherrschten in der Hauptstadt durch eine Interessengemeinschaft an den Herrscher zu binden. Mit Marx müssen wir uns jedoch in Erinnerung rufen, daß die Menschen in dem Umfang, wie sie gesellschaftlich determiniert sind, Agenten der Geschichte sind, die keine eigene Verantwortung haben. Zur revolutionären Perspektive, ganz zu schweigen von den Imperativen der revolutionären Situation, gehört nicht die moralische Verurteilung. Eine moralische Bewertung schließt dies jedoch nicht aus.

Es ist z.B. sehr wahrscheinlich, daß die Bauern und Arbeiter des Altertums an ihrer eigenen Ausbeutung mitwirkten. Wenn erst einmal die Struktur der ursprünglichen Gemeinschaft geschwächt oder verwandelt worden war, könnte das reine Bedürfnis, Leib und Seele zusammenzuhalten, den häuslichen Verpflichtungen nachkommen, mit dem polizeilichen und militärischen Zwang fertig zu werden, im Zusammenhang mit der Hoffnung auf individuelle Belohnungen, mit der Mystifikation durch die Priester und mit anderen bekannten Faktoren sehr wohl dazu gedient haben, die Menschen davon abzuhalten, nach ihren im eigentlichen Sinne menschlichen Interessen zu handeln oder diese auch nur zu erkennen. Rebellionen konnte dies natürlich nicht verhindern. Andererseits bewahrten sich die lokalen Gruppen, die die Mittel zum Erhalt des Staates produzierten, so viel Autonomie, um das System lebensfähig zu machen; die Oligarchien von Priestern, Militärs und Bürokraten konnten nicht die Grundlagen ihres Lebensunterhalts zerstören, ohne sich selbst zu vernichten. Der Staat erlaubte also, wo er nicht befehlen konnte. In dem Maße, wie sich die Zivilisation fortentwickelt, erlaubt die zentrale Autorität weniger und befiehlt mehr, der Staat wird mehr und nicht weniger totalitär.

Wir müssen den Schluß ziehen, daß die Entwicklung der frühen Zivilisationen als Mittel der Unterdrückung nicht das Ergebnis irgendeines Imperativs der Umwelt oder Technik war, sondern ein Ergebnis der neuen Machtmöglichkeiten, die zu pflegen und zu legitimieren Menschen in bestimmten Positionen für nötig hielten. Wie Starobinski bemerkte, wurde die Idee der Freiheit als einer Chance des Menschen erst in der französischen Revolution erfunden. "Wiedererfunden" trifft die Sache besser, denn wie Boas und Marx bemerken, existiert die Freiheit als Begriff unter primitiven Völkern nicht, weil die Gesellschaft nicht als unterdrückend wahrgenommen wird. Die Ausbeutung ist genauso wie die Vorstellung der Freiheit eine komplexe sozial-ökonomisch-psychologische Erfindung, die sich mit der Zivilisation selber ausbreitet. In diesem Sinne sind die hervorstechenden Ungleichheitsaspekte der Zivilisation zufällig und nicht vorherbestimmt. Diese Ansicht setzt natürlich allerhand über die menschliche Natur voraus – in der Hauptsache jedenfalls, daß manche Menschen, wenn sie die Chance dazu haben und von einem bestimmten Bedürfnis getrieben sind, ihren Profit anhäufen und nach einer illusorischen Freiheit streben, die auf der Ausübung der Macht auf Kosten anderer beruht. In Wirklichkeit natürlich sind sie an diejenigen gekettet, die sie ausbeuten. Andererseits gibt es genügend historische Belege dafür, daß die überwältigende Mehrheit der Menschen der politischen Macht als solcher stets mißtrauisch und ablehnend gegenüberstand. Die einzelnen Gesellschaften, in denen alle Mitglieder mitbestimmen, sind die primitiven; sie weisen keine ausgeformten politischen Strukturen und infolgedessen keine Ausbeutung im grundlegenden, zivilisierten Sinne des Begriffes auf. Ganz gleich, was sich sonst über Menschen als politische Wesen sagen läßt, es ist offensichtlich, daß die Mehrheit die Ausübung politischer Macht entweder als bedeutungslos für ihre Alltagsbedürfnisse oder als diesen abträglich angesehen hat.

Wir haben indessen keine Möglichkeit, in Erfahrung zu bringen, wie viele gescheiterte Aufstände von Sklaven oder Bauern unternommen wurden, die durch Steuern und Frondienste zur Verzweiflung gebracht wurden, oder von Handwerkern, die Zwangsarbeit für die herrschende Klasse in den Zivilisationen des Altertums verrichten mußten. Allerdings ist z.B. bekannt, daß in Polynesien während der ersten Ansätze zur Staatsbildung, als die großen Häuptlinge die Verteilung der Güter der Gemeinschaft in Übereinstimmung mit Sitte und Überlieferung einstellten, örtliche Aufstände die Folge waren. Im alten China lebten viele Landbesitzer in ummauerten Städten, weil deren Garnisonen ein Mittel der Verteidigung gegen Bauernaufstände waren. Und es gibt ein seltenes ägyptisches Dokument etwa aus dem Jahre 2000 v.u.Z. – "Die Geschichte des klagenden Bauern" – in der das erpresserische Verhalten der Bürokraten angegriffen wird. Ein anderes erhaltenes Dokument, das einige Jahrhunderte später datiert, ist ein Brief von einem Vater an seinen Sohn, in dem der Empfänger mit größter Eindringlichkeit beschworen wird, Schreiber zu werden, um auf diese Weise dem entehrten Leben eines Handarbeiters oder Bauern zu entgehen.

Fünftausend Jahre lang haben die Bauern rebelliert, indem sie die Auflagen der Zentralgewalt umgingen oder deren Vertreter unmittelbar angriffen. Erst in unserem Jahrhundert jedoch sind die Bauern zu einer revolutionären Kraft geworden. Im Westen sind die Bauern mit dem Aufkommen von Handel und Industrie gesellschaftlich als Klasse aufgelöst worden. Der Bevölkerungsanteil auf dem Land nahm konstant ab – so leben z.B. in den Vereinigten Staaten und in Großbritannien heute nur etwa 4% der Bevölkerung auf dem Land – und die verbleibenden sind natürlich keine Pachtbauern, sondern Wanderarbeiter, Vollbauern oder Arbeiter in landwirtschaftlichen Genossenschaften. Daher hat sich hier das Problem des Bauern als solchem gelöst, wenn auch in einem kapitalistischen Rahmen. Für andere Länder gilt dies jedoch nicht. Die Prozesse der Verstädterung und Industrialisierung im Verlaufe des revolutionären Aufstiegs der Bourgeoisie führten in den meisten Ländern Europas zu einer raschen Reduzierung der Bauernschaft. An ihre Stelle traten Bauern, die für den Markt produzierten, während das Land durch die neue Technik zu einem Anhängsel der Großstadt wurde. Eine solche Entwicklung ist in den alten Agrarländern in Afrika, Asien, Lateinamerika oder im Nahen und Mittleren Osten nicht eingetreten. In diesen Ländern stellen die Bauern, die in manchen Gebieten zum ländlichen Proletariat herabgestuft worden sind, entweder ein Unruhepotential dar oder sie sind bereits revolutionär. Die Tatsache, daß sie neue ländliche Organisationsformen finden, ihr Verhältnis zu den nationalstaatlichen Institutionen und zur Bevölkerung der Städte sowie ihr gegenwärtiges und potentielles politisches Gewicht sind von entscheidender Bedeutung für jede Zukunftsvorstellung im Weltmaßstab. Im Gegensatz zur Bauernschaft des Abendlands, die "sich selbst vernichtete", ist nicht zu erwarten, daß die vorhandenen Bauernschaften im größten Teil der Welt an sozialer und ökonomischer Abnutzung eingehen werden. Ihre unerträglichen Lebensbedingungen, die sich seit dem späten Neolithikum ständig verschlechtert haben, und ihr Selbstbewußtsein werden nicht hinhalten, bis die blinden Prozesse der Verstädterung und Industrialisierung eintreten, die in Europa die Umrisse der Gesellschaft und die Demographie veränderten. Diese Bauern sind da; sie machen den größten Teil der Weltbevölkerung aus, die Verbindung zwischen archaischen und modernen Zivilisationen. Es sind die Armen, die in dem Maße, wie der Westen immer reicher wird, sowohl auf nationaler Ebene als auch im internationalen Maßstab immer ärmer werden.

Die Problematik des Bauern ist sehr vielseitig. Er hängt zwischen einem primitiven Subsistenzanbau und einer Marktwirtschaft in der Luft. Selbst in sogenannten "geschlossenen" Bauerngesellschaften innerhalb eines größeren Staatsverbands – wie in Teilen von Bolivien – hemmt das relative Fehlen von Vermarktungsmöglichkeiten keineswegs unmittelbare oder mittelbare politische oder religiöse Bindungen an irgendeine etablierte Macht. Im großen und ganzen ist es jedoch der Zugang zum nationalen Markt, der das Paradigma für die Verbindung der Bauern zu dem größeren und politisch organisierten nationalen Zentrum ergibt. Das heißt, daß die Bauernschaft, wie eine Anzahl von Theoretikern behauptet hat, eine "Teilkultur" darstellt; eine Gesellschaft, die historisch gesehen die Kraft zur Selbstregenerierung verloren hat. Wie wir bereits bemerkten, haben sich die Pachtbauern typischerweise in "archaischen" Zivilisationen des einen oder anderen Typs entwickelt und darin eine Funktion gehabt. Ihr freiwilliger Anschluß an das Machtzentrum ist stets ohne Bedeutung gewesen. Wie in der russischen Dorfgemeinde vor der Revolution gab es keine straffe Machtausübung durch den Staat, sondern es wurde eher ein Tribut in Naturalien oder Dienstleistungen über die Vermittlung eines indikreten Gemeindeführers geleistet. Die Bauern im aufstrebenden Teil der Welt und insbesondere in Afrika sind mit dem Staat nicht im positiven Sinne eng verbunden. Derartige Bauernschaften haben sich als Folge des Zusammenbruchs der archaischen politischen Gesellschaften vor dem Ansturm des Kolonialismus entwickelt, oder aber aus der Gefangenschaft primitiver Völker in modernen Marktstrukturen und neuen politischen Zusammenhängen. Die Bauern sind nämlich in ihrer revolutionären Ausdauer und Bewegung durch ihr traditionelles Mißtrauen gegenüber politischen und ökonomischen Verpflichtungen nach außen behindert. Wenn außerdem der Bauer zu einer annehmbaren Übereinkunft mit einer außenstehenden Autorität gelangen kann, ist der Verlauf dieser Übereinkunft tendenziell durch Rückkopplung verstärkt – wie z.B. im nördlichen Nigeria – und eine revolutionäre Betätigung kann sogar eher als Gefahr denn als Hoffnung betrachtet werden. Im Grunde werden Bauern stärker ausgebeutet, als sie selbst ausbeuten. Hier handelt es sich um eine sozialpsychologische und politische Tatsache, die tendenziell im Widerspruch zu einer revolutionären Initiative von Seiten der Bauern steht oder diese zumindest schwierig macht. Die Bauernschaften arbeiten unmittelbar auf ihrem Grund und Boden, bauen für ihre eigene Subsistenz an, sind typischerweise bei ihrem Bemühen, einen anständigen Preis für den Verkauf ihrer Ernte zu erzielen, den städtischen Märkten auf Gnade oder Ungnade ausgeliefert. In Bezug auf Arbeitszeit und den Zugang zu den Gütern des gehobenen Bedarfs können die Familienmitglieder zwar "ausgebeutet" sein, doch wird ein Großteil der unmittelbaren Spannungen durch kooperative Regelungen innerhalb der Familie und zwischen Familien aufgehoben.

In Anbetracht dieser allgemeinen Merkmale der Bauernschaft ist es verständlich, daß ihr Bild vom revolutionären Wandel sich nicht mit dem des städtischen Arbeiters, des Liberalen des Mittelstands oder des traditionellen revolutionären Theoretikers deckt. Der Bauer wünscht sich in erster Linie eine ausreichende Anbaufläche, niedrige Steuern, minimale staatliche Eingriffe in sein Netz lokaler Zusammenschlüsse, und einen anständigen Preis für seine Produkte. Der Bauer, der motiviert genug war, sich aus seinem Zustand unerträglicher Ausbeutung zu befreien, dürfte seine revolutionäre Betätigung einstellen, sobald er die eben erwähnten Ziele erreicht hat. Andererseits hat sich der Bauer dort, wo entweder eine gesellschaftlich bedingte Knappheit von Ressourcen oder ein neuer Überfluß die Möglichkeit einer sozio-ökonomischen Schichtung innerhalb einer bereits wirtschaftlich unterdrückten zivilisierten Bauernschaft eröffnet, als durchaus fähig erwiesen, im ersteren Fall landlose Mitbürger auszubeuten, und im zweiten Fall zahlreiche Besitztitel zusammenzuraffen, um so die Stellung eines kleineren Großgrundbesitzers zu erreichen. Auf jeden Fall trifft die Verallgemeinerung, daß der Bauer "gewöhnlich" unmittelbar den Boden bearbeitet und niemand auf Dauer ausbeutet, immer noch zu.

Daher ist die Schlußfolgerung zu ziehen, daß der Bauer zu einer zusammenhängengenden und zweckgerichteten revolutionären Tätigkeit durch Kader (einschließlich Bauern) angeleitet werden muß, die aus drei Gründen eine Gesamtsicht der sich herausbildenden gesellschaftlichen Verhältnisse für sich in Anspruch nehmen können: Erstens infolge der unzulänglichen Identifizierung der Bauernschaft mit einem nationalen Zentrum; zweitens und paradoxerweise infolge der konservativen Neigungen, die die Bauernschaft hat, sobald sie zu irgendeinem modus vivendi mit dem Zentrum gelangt ist; und drittens infolge des unvollständigen Charakters der revolutionären Ziele der Bauern. In jedem Falle muß der Bauer des Westens als gesellschaftlicher Typus, der im Westen untergegangen ist, infolge der Dialektik der revolutionären Entwicklung die Bereitschaft entwickeln, selbst eine Wandlung im Sinne der aufkommenden Welt durchzumachen. Das Landleben muß in der einen oder anderen Form weiter bestehen; die Agrarproduktion bleibt natürlich überaus wichtig, doch der Bauer, so wie er traditionell definiert ist, fällt dieser Entwicklung schließlich zum Opfer. An seiner Stelle entwickeln sich Kommunen, Staatsdomänen und Kollektive. Viele Bauern wandern vorübergehend oder endgültig in die Städte ab, und das bäuerliche Leben wird durch ständigen revolutionären Druck verwandelt, ohne Rücksicht darauf, welche überlieferten Formen es hatte. Alle diese Paradoxe und historischen Gewachsenheiten stehen dort einer nationalen und/oder sozialistischen Revolution im Wege, wo die Mehrzahl der Bevölkerung im Bauernstand verharrt, sich an reformistische Vorstellungen über ihre eigenen Interessen als Bauern klammert und der tatsächlichen und möglichen weiteren Ausbeutung traditionell wachsam gegenübersteht.

Ebenso bemerkt werden sollte aber auch, daß Vertreibungen im großen Umfang auf dem Land infolge von Kriegen und der Anwesenheit einer fremden Militärgewalt einen Widerstand der heutigen Bauern auslösen kann – der zuerst nationalen und dann sozialistischen Charakter hat, wie z.B. in China und Vietnam. Genau hieran läßt sich jedoch die Zwiespältigkeit des Bauern messen: er stellt das revolutionäre Potential dar, bleibt jedoch das Zentralproblem der Revolution.

Die Umwandlung eines primitiven Volks in eine archaische Bauernschaft ist daher ein Prozeß, der so alt ist wie der Staat selbst, doch er beschränkt sie sich nicht auf die großen Ursprungszivilisationen. Er läßt sich z.B. auch im englischen Staat nachweisen, wie sich dieser in der späten angelsächsischen Periode herauszubilden begann. Mit der weltweiten Hegemonie der modernen europäischen Zivilisation wurde das Geschäft der Staatsbildung einschließlich der Integration von Eingeborenenvölkern derart durch ausländische Imperialisten monopolisiert und durch die moderne Technik und die Erfordernisse des Markts beschleunigt, daß sich der Charakter der inneren Dynamik gewandelt hat. In den frühesten Zivilisationen dürfte die Entwicklung der Bauernschaft von einem primitiven Ursprung aus eine lange und komplizierte Angelegenheit gewesen sein, da es sich dabei nur um einen Aspekt der Entwicklung bisher nicht vorhandener politischer und ökonomischer Institutionen handelte – von Klassenstrukturen, Handelsmärkten, einer zentralisierten Regierung und einer "komplizierteren und effizienteren" Arbeitsteilung. Im Gegensatz dazu hat der moderne Imperialismus selbstgenügsame primitive oder unterdrückte Bauern in Afrika oder Ostasien in Bauern verwandelt, die für den Export produzieren. Die in der Hauptstadt angesiedelte Macht zwingt die Menschen, auf Plantagen und in Bergwerken zu arbeiten und Straßen zu bauen, um die Hauptstadt mit Häfen zu verbinden, die sich zu Städten entwickeln; zur gleichen Zeit werden die vorindustriellen Städte der archaischen Zivilisation wie z.B. Ibadan in Westnigeria von modernen Strukturen durchdrungen.

Die Zwangsarbeit in einer Vielzahl von Formen ist ein allgemein verbreitetes Phänomen des Kolonialismus. Hauptsächlich jedoch ist es die Steuererhebung, mit der die imperialistische Macht den Eingeborenen neue Wege vorschreibt, sich Bargeld zu verdienen, und ihn dadurch zum Ackerbau für den Export oder zur Lohnarbeit in europäischen Einrichtungen zwingt und ihn auf diese Weise an den Markt bindet. Die Rollen des Eingeborenen als eines Händlers und Konsumenten, der auf künstlich erzeugte Bedürfnisse reagiert, verstärken sich wechselseitig. Im Einklang damit stimuliert der moderne Imperialismus unter Einschluß des Kolonialismus eine Reaktion, die die imperialistische Machtstruktur selbst widerspiegelt. Die Völker des ausgebeuteten Gebiets werden in eine losgelöste Masse oder in ein Proletariat verwandelt, das letztendlich nur mit der Hauptstadt in Verbindung steht. Wenn die modernen Imperien politischen Gemeinschaften, die sie willkürlich in Kolonialgebieten gebildet haben, "die Unabhängigkeit verleihen", ergibt sich daraus logisch, daß die Erben der Macht mehr oder weniger freundliche Gegenspieler der abdankenden Herrscher sind und die bilateralen Beziehungen auf vielerlei Weise beibehalten werden. Die Voraussetzungen der Unabhängigkeit können nur im Verlauf eines nationalen Befreiungskriegs begriffen werden, der gleichzeitig ein ethnisch-genetischer Kampf ist, der Kampf um die Gestaltung einer Nation, der die Energien aller Schichten des Volks in Anspruch nimmt. Es ist zwar eine Binsenwahrheit, daß die Unabhängigkeit nicht gewährt werden kann, sondern verdient werden muß, doch ist es genauso einleuchtend, daß die Aggressoren in nationalen Befreiungskriegen unvermeidlich die Kolonialmächte und ihre eingeborenen Vertreter sind. Daher dürfte es offensichtlich sein, weshalb die zwei größeren Revolutionen des zwanzigsten Jahrhunderts nicht in konventionell definierten Kolonialgebieten stattfanden, sondern in einer archaischen Zivilisation (China) und in einem überlebten europäischen Staatsverband (Rußland). Es hat den Anschein, daß die Reaktion umso weniger revolutionär ist, je unmittelbarer und gründlicher der Kolonialismus erfahren wurde. Rußland, das einem unmittelbaren Einfluß des Westens ausgesetzt war, wurde einem allgemeinen europäischen Modell entsprechend modernisiert und bewegt sich daher darauf zu. China, eine Zivilisation mit größerer Autonomie, Kontinuität und Tiefe, erzeugt neue Formen des gesellschaftlichen Lebens – die mit dem Geist der Vergangenheit in dialektischer Beziehung stehen, sich jedoch nicht zu eng an die Vergangenheit anlehnen.

Die Chinesen, die eine lange und ungebrochene Erfahrung mit der Zivilisation haben, machen zur Zeit den Versuch, das Wachstum der Bürokratie auszuschalten, das Bildungswesen zu entmystifizieren, und die Stadt mit dem Land, die Kopfarbeit mit der Handarbeit zu verbinden – um das Entstehen neuer Klassen zu verhindern. Bei der langsamen und fleißigen Verbesserung ihres allgemeinen Lebensstandards vermeiden sie außerdem auch eine künstliche Konsumhaltung und die üble Zurschaustellung und Verwendung von Reichtum, die in der westlichen Gesellschaft ererbtes Lebensziel und Antrieb ist. In China ist eine oberflächlich moderne, im Grunde jedoch archaische Bauernzivilisation im Begriff, sich in ein sozialistisches Gemeinwesen zu verwandeln. Die Folgen dieses Prozesses für eine dialektische Evolution im Gegensatz zu einer einseitigen Modernisierung liegen auf der Hand. Die Chinesen wissen nämlich, daß keine Zentralmacht, sei es im Altertum oder heute, je über die chinesische Bauernschaft insgesamt und über ihr Territorium geherrscht hat. Der Kernbereich der chinesischen Zivilisation lag innerhalb des großen Bogens des Huang Ho – und der traditionelle chinesische Staat hat immer nach mehr gegriffen, als er im Griff behalten konnte. Dies gilt für alle Zivilisationen des Alterums (so reichte z.B. die indische nicht weit über das Industal hinaus). Die Chinesen scheinen jedoch diese Frage sowohl als revolutionäres Problem als auch als antibürokratische Chance anzugehen.

Die Zivilisation hat sich also in zwei Hauptphasen im Altertum und in der Neuzeit entwickelt. Die Staatsgebilde des Altertums in China, Ägypten, Babylonien und Indien beruhten, sowohl was ihren unmittelbaren beschränkten Einzugsbereich als auch was ihre Satelliten und die Staaten angeht, die daraus später entstanden, auf der Bauernschaft und entwickelten sich sehr langsam. Diese älteren Zivilisationen sind aber insofern primär, als sie der ursprüngliche Ort für die einfachste Gesellschaftsumwandlung waren. Der imperiale Expansionsdrang dieser Kernzivilisationen regte fast überall in der von Ureinwohnern besiedelten Welt außerhalb dieser Staaten trotz mancher Variationen in der Machart und Unterschieden der Größenordnung die Staatsbildung an. Die klassischen Zivilisationen Griechenlands und Roms, die Vorläufer der abendländischen Zivilisation, sind selbst die Erben der Kulturen im Nahen Osten. Also müssen wir unser Hauptaugenmerk auf den tatsächlichen Verlauf der Geschichte richten, und nicht bloß auf logische, abstrakte und vorbestimmte Entwicklungsabschnitte. Bevor die Geschichte zum Schicksal des Menschen wurde, war sie dem Willen der Menschen unterworfen, und die abstraktesten und abscheulichsten Verbrechen werden stets im Namen der Menschheit begangen. In der Zivilisation ist den Angehörigen der antagonistischen Klassen ein zunehmend falsches Bewußtsein gemeinsam, das sich bis zu dem Augenblick hält, wo sie die Vorstellung der Unvermeidlichkeit und Gottgewolltheit ihrer jeweiligen Positionen ablehnen, ohne Rücksicht darauf, wie weit diese begründet oder sanktioniert sind.

In ihrer imperialistischen Phase dringt die politisch-dynamische Zivilisation der Neuzeit in die statischen Zivilisationen der Antike ein. Die erstarrten politischen Konflikte zwischen den traditionellen örtlichen Gruppierungen und den antiken Zentren werden in zunehmendem Maße durch neue umfassende Bewegungen der Anpassung an die Neuzeit verdrängt. Diese "Modernisierung" beschränkt sich zum größten Teil auf die Entstehung der neuen Mittelschicht, die sich aus Verwaltungsfachleuten, Intellektuellen, Managern und Geschäftsleuten zusammensetzt. Gleichzeitig verschlechtern sich die Lebensumstände der Bauern und der Besitzlosen in den Städten. Der Kreis der Zivilisation schließt sich also in der imperialistischen Periode der Neuzeit, zu dem Zeitpunkt, als die Engländer Indien besetzen und Ägypten zum "Schutzgebiet" erklären, die Franzosen den Libanon annektieren usw. Die Europäer schließlich, die Amerika "entdecken" und dorthin auswandern, rotten die Ureinwohner dort ungeniert aus. Diese Primitiven zu Bauern zu machen, war nicht mehr möglich, weil es sich insbesondere in Nordamerika um eine Konfrontation von Primitiven mit einer Agrar- und Industriegesellschaft handelt. Auch in Mittel- und Südamerika werden die primitiven Völker dezimiert und es überleben lediglich die Bauern, die in der mexikanischen Senke und unter den Inkas das Land bestellten, aber sogar diese werden Plantagenarbeiter, Leibeigene und Peones. Die sich ausbreitende Zivilisation drängt die verbleibenden primitiven Völker zunehmend an den Rand, nicht nur geographisch, sondern auch kulturell. Sie stellen nicht mehr das Rohmaterial für den Prozeß der Staatsbildung dar. Sie sind überflüssig und werden daher ausgerottet, wenn sie nicht umerzogen werden können. Die Bedingungen ihrer Umerziehung werden im Namen der Zivilisation von den imperialistischen Mächten und ihren Agenten diktiert.

Primitive Völker sind von der Zivilisation fasziniert, abgestoßen, erobert, verwaltet und dezimiert worden, sie haben sich jedoch kaum jemals freiwillig dafür entschieden, sich selbst zu zivilisieren. Rousseau hatte dies in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts sehr wohl begriffen:

Es ist eine außerordentlich bemerkenswerte Sache, daß die Europäer nach den vielen Jahren der Bemühung, die Wilden verschiedener Gegenden der Welt zu ihrer Lebensweise zu bekehren, nicht einen einzigen gewinnen konnten, selbst nicht dank des Christentums. Wohl machen unsere Missionare oftmals Christen aus ihnen, aber niemals zivilisierte Menschen. Nichts kann den unbesiegbaren Widerstand überwinden, den sie gegen die Annahme unserer Sitten und unserer Lebensweise haben.

Wenn diese armen Wilden so unglücklich sind, wie man vorgibt, aus welcher unbegreiflichen Verderbnis des Urteils weigern sie sich dann beharrlich, sich nach unserem Vorbild zu kultivieren oder unter uns glücklich leben zu lernen? Wo doch Franzosen und andere Europäer, wie man allenthalben liest, sich freiwillig unter diese Völker geflüchtet und bei ihnen ihr ganzes Leben verbracht haben, ohne solch eine fremde Lebensart wieder aufgeben zu können ... (Rousseau 1955, 209).

Trotz alledem versteifen wir uns darauf, die Zivilisation als fortschrittlich zu definieren. Wenn dies der Fall ist, ergibt sich daraus, daß das Hauptmittel der Ausbreitung der Zivilisation – der Imperialismus – letztendlich ebenso fortschrittlich ist. Diese Meinung ist sowohl von Reaktionären als auch von Radikalen vertreten worden. Ein britischer Gouverneur von Nigeria als Beispiel für die reaktionäre Argumentation kann durchaus einräumen, daß England zunächst überhaupt kein Recht hatte, sich in Afrika niederzulassen, daß die Regierung aber, nachdem dies einmal geschehen war, angeblich eine bestimmte Verantwortung übernommen hatte, und dieser Verantwortung bestens gerecht wurde. "Zugegebenermaßen unter Gewaltanwendung" ist eine gute Regierung und Verwaltung an die Stelle der Tyrannei gesetzt worden, Menschenopfer und Sklaverei waren abgeschafft und materieller Wohlstand für das Land gewährleistet worden. "Unter der Pax Brittannica ist das Land reich geworden." Wie wir erfahren, wurde dies erreicht, "ohne jeden Versuch, Nigeria alle die zweifelhaften Vorzüge der modernen Zivilisation aufzudrängen ... Jedem Stamm wurde erlaubt, diejenigen seiner Sitten und Vorstellungen beizubehalten, die der natürlichen Gerechtigkeit und Menschlichkeit nicht zuwiderlaufen, ja er wurde sogar darin bestärkt." Eingeräumt wird jedoch, daß "die noch schrecklichere Angst vor dem Übernatürlichen immer noch vorhanden ist und bleiben wird, bis der Aberglaube durch Christentum und Bildung ausgetrieben worden ist." Die Argumente zugunsten des Imperialismus sind immer falsch, widersprüchlich oder irrelevant, und haben, wie der Fall des Kriegs zwischen Nigeria und Biafra enthüllt, keinerlei Vorhersagewert. Es fällt leichter, den treuherzigen Rechtfertigungen des Imperialismus Glauben zu schenken, als sie zu bezweifeln, denn dies würde bedeuten, die Grundannahmen der westlichen Kultur in Frage zu stellen, und damit stünde die Bedeutung der Zivilisation auf dem Spiel.

Wenn wir uns speziell mit Nigeria beschäftigen (dem klassischen Fall einer Kolonie), so stellen wir fest, daß das Land in erster Linie die Erfindung einer Kolonialmacht war, die nach Handel, Märkten und geopolitischen Vorteilen strebte. Bei einer Bewertung von Nigeria begutachtet der Kolonialist sein eigenes Werk. Es ist kaum zu erwarten, daß das Urteil negativ ausfällt. Das Spiegelbild erklärt auch die Leiden der Entkolonialisierung; die Kolonie ist nicht nur ein Profitunternehmen, sie stellt auch die imperialistische Kultur auf die Probe und entlarvt sie. Die Investitionen erfolgen nicht nur in Öl, Nickel, Zinn und einem günstigen Markt, sondern auch in Sprache, Kulturstil, einer Interpretation der Geschichte und einer zivilisatorischen Mission, in der Ideologie und ökonomische Interessen eine enge Verbindung eingehen. Der Imperialismus ist unter anderem auch eine komplizierte Übung in kulturellem Narzißmus. Die Oberschichten im imperialistischen Zentrum sehen sich dazu veranlaßt, um ihre Macht und ihr Selbstbild zu bewahren. Dies ist ein Grund dafür, weshalb Kolonien auch dann nicht aufgegeben wurden, wenn sie für die Regierung des imperialistischen Zentrums ein Zuschußobjekt zu sein schienen. Eine Niederlage in den Kolonien wird als Symbol für innenpolitisches Versagen wahrgenommen, was zu Unruhe der unteren Klassen im eigenen Land führen könnte.

Ich habe jedoch keineswegs die Absicht, die offensichtlichen ökonomischen Gründe unterzubewerten. Eine Kolonie ist ein Stück Grundbesitz, und Grundbesitz braucht nicht unbedingt stets gleichbleibende Rendite zu bringen. Gehalten werden kann er auch aus Gründen zukünftigen Bedarfs oder Profitmöglichkeiten. Ein angebliches staatliches Defizit in bezug auf die Kolonie wird mehr als ausgeglichen durch die Profite, die Handels- oder Bergwerksgesellschaften oder multinationale Gesellschaften wie die United Africa Company machen – ganz zu schweigen von den persönlichen Profit- und Prestigechancen, die die Kolonie für Bürger des imperialistischen Zentrums bietet. Außerdem schaffen Imperialismus und Kolonialismus Abhängigkeiten und hemmen damit die Entwicklung gesellschaftlicher Alternativen in den beherrschten Gebieten. Dadurch werden sowohl die ökonomischen Interessen als auch die Lebensart innerhalb des imperialistischen Bereichs gegen Konkurrenz abgeschirmt.

Die Gleichsetzung von "Zivilisation = Imperialismus" und "Fortschritt = Wohlstand" funktioniert auch aus anderen Gründen nicht. Es gibt keine Möglichkeit, wie wir im Vergleich zu uns das Wohlergehen von Eingeborenengesellschaften messen wollen, die nicht als kapitalistische oder vorkapitalistische Staaten organisiert sind. Wie wäre z.B. "Knappheit" zu messen? Selbst wenn dies möglich wäre, ist der "Wohlstand" der Bevölkerung des besetzten Landes eine Illusion. Es wird z.B. gesagt, wenn auch nicht verstanden, daß Nigeria, nachdem es erst einmal geschaffen war, sich im Sinne und zum Nutzen Englands entwickelte. Doch konnte sich innerhalb Nigerias selbst nur eine Elite tatsächlich "verbessern", und diese war von ihrem eigenen Volk abgeschnitten. Diese Elite hatte zwei Schichten: zum einen Teil bestand sie aus mittelbar Regierenden, aus eingeborenen Amtspersonen, die von den Engländern dafür bezahlt wurden, daß sie deren Willen ausführten, wodurch sie ihrer traditionellen Positionen verlustig gingen und sich zu einer nackten herrschenden Klasse entwickelten, wie z.B. die Emire in Nordnigeria. Der zweite Teil dieser Elite bestand aus ansässigen Geschäftsleuten, Politikern und Intellektuellen; diese waren durch ihr Sozialprestige und ihren wirtschaftlichen Wohlstand von der Mehrheit der Bauern, Arbeiter und Kleinhändler abgesondert. Durch die Entwicklung Nigerias zum Markt für englische Erzeugnisse, durch den Anbau zum Export gegen bar, durch Besteuerung, durch die Einbeziehung von eingeborenen Völkern in Handelsnetze und die Entwicklung von Städten zu Zentren des Imports und Exports und durch damit zusammenhängende Faktoren wurde überdies die Substanz des Lebens der Eingeborenen aufgebraucht, die durch die indirekte Regierung angeblich erhalten werden sollte. Die Spaltung zwischen den eingeborenen Behörden und den aufstrebenden jungen Politikern, Geschäftsleuten und Intellektuellen (diese neuen Berufe wurden häufig von ein und derselben Person ausgeübt) war vielleicht noch die geringste, die vom Kolonialismus erzeugt wurde. Neue Klassen – Formen eines ländlichen und städtischen Proletariats, einer marktorientierten Bauernschaft und einer Mittelschicht, die in großem Umfang von der Kolonialmacht abhängig war – entwickelten sich und kämpften um die Ressourcen, die in der Kolonialwirtschaft für sie übrig blieben. Diese Spaltungen im Inneren waren das zwangsläufige Ergebnis der Kolonialherrschaft, und diese versuchte alsdann, aus diesen Spaltungen ihre Rechtfertigung abzuleiten – die Kolonialmacht strebt danach, als Schiedsrichter der Konflikte in der Kolonie aufzutreten, die sie ursprünglich selbst ausgelöst hat. Damit übernimmt sie genau die Rolle, die jede zivilisierte politische Autorität sowohl im Inland wie im Ausland beansprucht – die Rolle des Staates als Schiedsrichter. In Wirklichkeit jedoch unterstützt die Kolonialmacht stets diejenige Gruppe oder Klasse oder die Personen, die ihren eigenen Interessen am nächsten stehen, genauso wie ein Staat im Inneren langfristig den Interessen dient, die ihn geschaffen haben. In der kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Nigeria und Biafra unterstützte z.B. England, das angeblich über den kämpfenden Parteien stand, den Staatenbund, den es selbst geschaffen hatte. Die Rolle der Kolonialmacht als Schiedsrichter wird weiterhin begründet mit den ethnischen Konflikten, die sich aus der willkürlichen Festlegung kolonialer Grenzen und der Erzwingung "nationaler" Identitäten ergeben, die rein politisch sind und nur geringe oder gar keine kulturhistorische Bedeutung haben.

Das Streben nach einer auf Tradition beruhenden nationalen Identität wird daher als separatistisch betrachtet, wie z.B. bei Biafra oder beim Sudan. Dieses Urteil kann jedoch nur dann gefällt werden, wenn man von vornherein die Falschetikettierung durch den Kolonialismus zugrundelegt. Daher wächst der imperialistischen Macht eine ungeheure "Verantwortung" zu, da sie nicht in der Lage ist, die Widersprüche aufzuheben, die sie durch ihre eigene Herrschaft geschaffen hat. An diesem Punkt der Entwicklung wird der Druck, der Kolonie die formale Souveränität zurückzugeben, selbst dann sehr stark, wenn keine mächtige und geeinigte Unabhängigkeitsbewegung vorhanden ist. Wenn es aber eine solche Bewegung gibt, dürften sich ihre Absichten – die Unabhänigkeit zu erreichen – vermutlich mit denen der Kolonialmacht decken. Offen bleibt dann lediglich die Frage, ob das Verhältnis zwischen der ehemaligen Kolonie und dem imperialistischen Zentrum den herrschenden Klassen in beiden Ländern immer noch von Nutzen ist. Wenn die Antwort auf diese Frage tendenziell negativ ausfällt, wird im Zeichen der Unabhängigkeit der Neokolonialismus errichtet, ein Kolonialismus ohne "Verantwortung".

An der Elfenbeinküste gibt es z.B. eine oberflächliche Wirtschaftsblüte, die auf Darlehen der ehemaligen Kolonialmacht, dem Tourismus, dem Hotelwesen und einem Agraranbau primär für den Export beruht. Wenn die Antwort jedoch positiv ausfällt und die herrschende Gruppe in der ehemaligen Kolonie den Antagonismus zwischen sich selbst und dem imperialistischen Zentrum begreift, und sich einer vereinigten antikolonialistischen Bewegung anschließt, werden bisweilen aufschlußreiche Entscheidungen gefällt. Als Guinea im Jahre 1958 als einzige unter den früheren französischen Kolonien in Afrika gegen einen Beitritt zum Zusammenschluß französischer Staaten stimmte, zog de Gaulle innerhalb von Stunden alle französischen Techniker zurück und stellte jede weitere Hilfe ein. Die Brüskierung durch Guinea wurde als grundlegende kulturelle Absage und als Mißtrauensvotum gegenüber der französischen Regierung aufgefaßt. Entsprechend konnten französische Investitionen in diesem Land nicht mehr als sicher betrachtet werden. Ähnlich verhielt es sich, als China die ideologische Vorherrschaft der Sowjetunion und den sowjetischen Sozialismus in Frage zu stellen begann, und die Russen sich weigerten, nach 1956 ihr Wirtschaftshilfeabkommen zu erneuern. 1959 widerriefen sie abrupt den Atombeistandspakt, den sie mit den Chinesen abgeschlossen hatten, und im Jahre 1960 zogen sie alle verbliebenen sowjetischen Techniker innerhalb weniger Tage zurück. Der springende Punkt liegt darin, daß in der imperialistischen Vorstellung Alternativen in untergeordneten Gebieten weder zulässig sind noch begriffen werden können, und daß alle verfügbaren Mittel eingesetzt werden, um sie zum Scheitern zu bringen. Auf diese Weise erfüllt der Imperialismus seine eigene Prophezeiung; die Großmacht versucht, ihre konkrete Gesellschaftsform als Wachstumstheorie aufzuzwingen.

Die britischen Behauptungen über Nigeria, dem Dreh- und Angelpunkt des englischen Kolonialismus, verdienen insbesondere deswegen größere Aufmerksamkeit, weil sie so typisch sind – z.B. in Bezug auf das Argument, daß durch die Kolonialmacht die Sklaverei abgeschafft worden wäre. Sklavenhandel und Sklavenbesitz in großem Umfang, die im fünfzehnten Jahrhundert an der Küste Westafrikas von den Europäern eingeführt wurden, übertrafen bald die früheren arabischen Bemühungen im Binnenland. Die "Sklaverei" unter den Eingeborenen in Afrika, zu der Verpfändungen und ähnliche Praktiken gehörten, war relativ mild gewesen: Sklaven konnten Besitz erben, Familienväter werden, und ihre Kinder erwarben typischerweise den Status freier Männer; auf diese Weise wurden sie in die Sippe und in die Dorfgemeinschaft aufgenommen. Im Eingeborenenstaat Dahomey z.B. war jeder im Land geborene Mann ungeachtet dessen, wer seine Eltern waren, per Definition ein freier oder "gemeiner" Mann. Die Sklaverei unter den Arabern war bisweilen ebenso grausam wie bei den Europäern, doch traten insbesondere in den afrikanischen Gebieten, die unter dem Einfluß des Islam standen, die innenpolitischen Aspekte der Sklaverei stärker hervor als dort, wo sie von den Europäern betrieben wurde.

Die Imperialisten nehmen zwar für sich in Anspruch, als Christen dem Sklavenhandel ein Ende gemacht zu haben (in Großbritannien wurde er 1807 abgeschafft), doch geben sie selten zu, daß sie ihn eingeführt haben und daß sie ihn in einem Ausmaß und mit einer ausgeklügelten Grausamkeit betrieben, die in der Geschichte der Menschheit ohne Beispiel ist. Die Sklaverei war im sechzehnten Jahrhundert genauso unmoralisch und unchristlich wie im neunzehnten; und sie wurde keineswegs infolge gewandelter moralischer Maßstäbe aufgegeben, denn das Wesen des Christentums hatte sich nicht verändert. Von den stärker kommerzialisierten europäischen Nationen wurde die Sklaverei vielmehr im Gegensatz zu den mehr feudalistischen und agrarischen deswegen aufgegeben, weil sie erstens mit den lukrativeren Handelsquellen wie z.B. Palmenöl in Widerspruch geriet; und zweitens weil der Sklavenmarkt übersättigt worden und durch das Aufkommen der Fabrikproduktion veraltet war. Es war vielleicht billiger, einen Industriearbeiter zu unterhalten, der einen minimalen Lohn bekam, als einen Sklaven, für dessen gesamtes Wohl und Wehe der Herr angeblich die Verantwortung hatte, obwohl Sklaven, ganz zu schweigen von "freien" Arbeitern, zu Tausenden starben, weil nicht ausreichend für sie gesorgt wurde. Außerdem wäre es absurd gewesen, Sklaven für die Arbeit in Bergwerken oder Fabriken zu importieren, da sie in Konkurrenz zu einheimischen Arbeitskräften getreten wären, die mehr als ausreichend vorhanden waren. Auch hatte England keine Möglichkeiten, Sklaven auf dem Land zu absorbieren: es gab keine Plantagen, und bereits im sechzehnten Jahrhundert war der englische Bauer seit langem als "freier" Mann definiert. Zu Profitzwecken wurde die Sklaverei nur noch auf den ausgedehnten Plantagen der Neuen Welt, insbesondere in den amerikanischen Südstaaten betrieben, wo einheimische Arbeitskräfte auf dem Land knapp waren und Sklaven billig untergebracht, ernährt und versorgt werden konnten. Überdies konnten Sklaven einer fremden Rasse in einem politischen Gemeinwesen, in dem sie keine Geschichte und daher keine Rechte hatten, mit Leichtigkeit als Objekte behandelt werden.
Der Verlust der amerikanischen Kolonien verringerte das Interesse Englands am Sklavenhandel, da doch der Imperialismus keine konstanten Grundsätze außer seinen eigenen Interessen hat. Die englische Regierung unter Palmerston unterstützte die amerikanischen Südstaaten während des Bürgerkriegs und hätte zu derselben Zeit, als sie den Sklavenhandel an der Küste Westafrikas unterband, beinahe den Nordstaaten den Krieg erklärt. Die britische Regierung, die zu diesem Zeitpunkt in den Händen der Aristokratie lag, hatte natürlich Sympathien für die großgrundbesitzenden Kavaliere des amerikanischen Südens. Außerdem spekulierte sie jedoch auch auf billige amerikanische Baumwolle für die Webereien von Lancashire und auf einen wachsenden amerikanischen Markt für Fabrikwaren aus Großbritannien, der gesichert war, wenn der Süden die Oberhand behielt. Die puritanischen Nordstaaten waren andererseits ein potentieller Konkurrent und führten in Wirklichkeit Krieg, um ihren Handel und ihre Industrie auf die gesamte Nation und bis zur vorgeschobenen Westgrenze auszudehnen. Was die Sklaverei anging, war England bemüht, sie in Westafrika durch andere Handelsformen zu ersetzen, und durch einen Sieg des Südens wäre es nur in Prinzipienfragen, nicht aber in der Realität kompromittiert worden. Der natürliche Geburtenüberschuß in den Vereinigten Statten hätte auch ohne weiteren Sklavenhandel mit Afrika den Markt im wesentlichen mit genügend schwarzen Sklaven versorgt. Außerdem war die Produktivität der schwarzen Plantagenarbeiter durch die Baumwollentkernungsmaschine exponentiell gestiegen und hatte die Sklavenhaltung wirtschaftlicher als je zuvor gemacht, so daß ein weiterer Import von Sklaven kaum erforderlich war. Aber selbst wenn die Berechnungen Englands nicht in diese Richtung gegangen wären, wird die imperialistische Apologetik doch durch die Unterstützung des Südens und die damit verbundene Förderung politisch instabiler Verhältnisse in der früheren Kolonie Lügen gestraft. Nicht die Männer, die die politische Macht hatten, sondern die Arbeiter und die aufstrebende Bourgeoisie, die dem industriellen Norden zuneigten, hielten die britische Regierung davon ab, den Nordstaaten den Krieg zu erklären.

Das Aufkommen der modernen Sklaverei war also eine Reaktion auf soziale und ökonomische Bedingungen; die Frage der Moral war abstrakt und irrelevant. Der Verlauf der Sklavenhaltung in der Neuzeit ist ein Musterbeispiel für falsches Geschichtsbewußtsein mit Ausnahme derjenigen Sklaven, die sich mit ihrem Schicksal nicht abfanden, oder denjenigen tatsächlichen oder potentiellen Sklavenhaltern, die die Verwendung von Sklaven ablehnten und das gesellschaftliche Risiko auf sich nahmen, das eine derartige Handlung nach sich zog. Sklaverei und Sklavenhandel waren die direkteste und brutalste Form, die Inkarnation des Imperialismus. Als sie nicht mehr erforderlich waren, wurden sie durch den Handelskolonialismus ersetzt, und schließlich durch den Neokolonialismus – durch die ökonomische Beherrschung auf Distanz. Der Imperialismus entwickelt sich weiter, hebt sich aber nie von selbst auf.

Im Zusammenhang mit der Abschaffung der Sklaverei ist auch die Mission des Christentums als Impuls für den Imperialismus der Neuzeit dargestellt worden. Die Vertreter des Kolonialismus nahmen an, daß "universalistische" Religionen, für die das Christentum repräsentativ war, von Natur aus dem "Heidentum" der örtlichen Kulte überlegen seien. Es braucht jedoch kaum darauf hingewiesen zu werden, daß die Konkurrenz zwischen den Missionswerken der verschiedenen christlichen Sekten im Zusammenhang mit den beinahe ständigen Kriegen zwischen verschiedenen christlichen Staaten, die sich in den Kolonien widerspiegelten, die Heiden kaum beeindruckte. Außerdem waren die primitiven Religionen durchaus in der Lage, die wesentlichen christlichen Symbole und Bedeutung losgelöst von der Kolonialmacht aufzunehmen. Der "Partikularismus" primitiver Religionen kann nicht mit einem Mangel an Tiefe gleichgesetzt werden, er ist vielmehr Ausdruck der territorialen Begrenztheit der Gesellschaften, in denen sie vorherrschten. Theologisch gesehen standen die christlichen Kirchen in eindeutigem Zusammenhang mit etablierten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Interessen. Dies gilt weniger für primitive Religionen, deren symbolische Formulierungen sich aus der menschlichen Existenz insgesamt entwickeln und mit ihr in enger Berührung bleiben, und die daher Ausdruck eines echteren religiösen Bewußtseins sind, als dies beim kirchlichen Dogma festzustellen ist. Entscheidend ist, daß die primitiven Religionen zwar kulturspezifisch partikularistisch sind, daß sie jedoch innerhalb einer bestimmten Kultur mit ihrer Synthese von Mensch, Gesellschaft und Natur einen universalen Anspruch haben. Es sei daran erinnert, daß das Christentum erst dann ökumenisch wurde, als es in der römischen Kirche verwandelt worden war; und nach Ansicht der Kirche hatten es bis vor kurzem nichtkatholische Christen schwer, der Verdammnis zu entgehen. In den weniger exklusiven primitiven Religionen gibt es jedoch keine Hölle.

Der Allgemeingültigkeits-Anspruch des Christentums ist nichts weiter als ein Symptom dafür, daß die westliche Zivilisation den Kulturraum anderer Völker unter ihrer imperialistischen Verfügungsgewalt hatte. Entsprechend dazu verbindet das Christentum über die Zeit hinweg die klassische mit der feudalen und die feudale mit der neuzeitlichen Zivilisation. Das institutionalisierte Christentum ist daher ein Aspekt des modernen Imperialismus. Die Kirche hat die Unabwendbarkeit des Fortschritts – d.h. die Unvermeidlichkeit des Triumphs des Abendlands – kaum je in Frage gestellt, noch hat sie im Mutterland je eine bedeutende Kritik am Imperialismus geleistet. Sie hat vielmehr als Bindeglied zwischen den Klassen gedient und dabei die Kontinuität der politischen Autorität sanktioniert. Der "Konflikt" zwischen Kirche und Staat ist stets eine Spaltung innerhalb ein und derselben etablierten Machtgruppe, ganz gleich, welche Vorstellung die Kontrahenten selbst darüber haben. Einzelne Christen, ob protestantisch oder katholisch, können natürlich ihren Glauben zuhause wie im Ausland emanzipatorisch interpretieren und anzuwenden versuchen, sie sind jedoch dabei fast immer gezwungen, das kirchliche Establishment zu unterlaufen, wie dies heute in Brasilien, Chile und Columbien der Fall ist; die Radikalisierung der Kirche dort bedeutet nicht mehr als die Radikalisierung einzelner Prälaten. Ungeachtet dieser Faktoren entbehrt die britische Behauptung, daß der Imperialismus das Christentum unmittelbar verbreitete oder daß er in seinen Absichten zutiefst christlich war, jeder Substanz. In Nordnigerien waren christliche Missionen bis kurz vor der Unabhängigkeit in Übereinstimmung mit dem Mythos der indirekten Regierung verboten, der angeblich die eingeborene und mehr oder minder islamische Autorität bewahren sollte.

Die Apologeten des Imperialismus, ob sie nun Reaktionäre oder Radikale sind, führen häufig die Bildung als ein weiteres Beispiel der fortschrittlichen Auswirkung des Imperialismus an – wenn das auch nicht, wie dies die Radikalen sagen, dessen Absicht war. Der Lehrstoff wurde jedoch, wenn wir uns hier wiederum Nigeria als Beispiel nehmen, ziemlich selektiv bestimmt. Die eingeborene Elite mit Universitätsausbildung wurde in die britische Form gepreßt; sie studierte britische Geschichte, englische Literatur, die Geisteswissenschaften und die Klassiker. Ihre Abschlüsse erhielten sie nach den Maßstäben des britischen Bildungssystems und in enger Verbindung mit ihm. Sie erwarben englische Gewohnheiten, Verhaltensweisen, Einstellungen und Erwartungen. Schwarz-Afrika war zwar ihr Herkunftsort, doch wurde ein afrikanisches England zu ihrer bewußten oder unbewußten Zukunftsprojektion. Ihrer kulturellen – wenn nicht ökonomischen – Definition nach gehörten sie nach den Maßstäben der Kolonialmacht zur oberen Mittelschicht, und dieses Bewußtsein wurde im universitären Milieu beständig verstärkt. Die Angehörigen der schwarzen Elite mit Universitätsausbildung erwarben jedoch keine Gleichberechtigung gegenüber ihren Ausbildern, sondern nur eine gewisse Anerkennung von ihnen. Gleichzeitig wurden sie ihrem eigenen Volk und ihrer eigenen Tradition immer weiter entfremdet. Das vorhersagbare Ergebnis dieser ganzen Entwicklung war ein akademischer Dünkel. Die afrikanische Elite übernahm die Einstellungen ihrer englischen Vorbilder gegenüber "ungebildeten Engländern", eine Abart des weißen Mannes, der gegenüber man sich mit Recht überlegen fühlen konnte. Der gebildete Schwarze wurde aufgefordert, auf ungebildete Schwarze und Weiße gleichermaßen herabzusehen, und konnte auf diese Weise die Feindseligkeit verdrängen, die er normalerweise seinen kolonialistischen Mentoren gegenüber hätte empfinden können. Sein Dünkel war ein wichtiges Abwehrmittel gegen das Gefühl, nicht voll anerkannt zu werden; es war der Dünkel des englischen Emporkömmlings. Die Ausbildung der Elite mit Universitätsstudium und in gewissem Ausmaß auch der Oberschulabsolventen war daher eine Parallele zum Klassencharakter der höheren Bildung im kolonialistischen Zentrum. Der Unterschied lag darin, daß die eingeborene Elite, die sowohl von Schwarzen wie auch von Weißen der Unterschicht isoliert und vom Eingeborenen-Establishment losgelöst war, nur ihre eigenen Interessen verfolgen konnte. Im Gegensatz dazu repräsentierten die Privatschulen und Universitäten in England die Traditionen der britischen Herrschaft sowohl im Innern wie im Ausland.
Im Lehrplan der Kolonialuniversitäten ging man technischen und wissenschaftlichen Themen aus dem Wege, da sie für die Schaffung des Gentleman-Verwaltungsbeamten als nicht erforderlich betrachten wurden. Wichtiger noch war, daß eine technische und wissenschaftliche Ausbildung teuer war; geeignete Lehrer und Ausrüstungen konnten kaum für den Kolonialdienst abgezweigt werden. Eine technische Ausbildung ohne akademische und wissenschaftliche Verzierungen, die den Bedürfnissen des Landes entsprochen hätte, wurde ebenfalls vernachlässigt. Die Stellen, die den Auffassungen der Kolonialmacht über die Bedürfnisse der Kolonie entsprachen, konnten mit weißen Auswanderern besetzt werden. Vor allem aber bedeutete eine wissenschaftliche und technische Ausbildung die Übergabe der Schlüsselgewalt – Macht als die Drohung einer wirklichen Autonomie war in der Wissenschaft symbolisiert und in der Technik vergegenständlicht. Sogar im Mutterland legte die Kolonialmacht großen Wert auf diese Mittel. Die Wissenschaft war ein bürokratisches Geheimnis, die Technik hingegen rein pragmatisch, und infolgedessen war der Ingenieur im Mutterland entweder der Gefangene der Regierung oder der Wirtschaftsmächte, und dies wurde auch Definition von Wissenschaft und Technik für die Kolonien.

Die Ausbildung in der westlichen Auffassung der klassischen Disziplinen stellte jedoch eine Art Entwurzelung dar; sie war eine Form der kulturellen Konditionierung. Die eingeborene Sprache, Literatur und Geschichte wurde kaum gewürdigt. Was die Sozialwissenschaften anging, sorgte die Versachlichung dafür, daß der revolutionäre Eifer abgekühlt, lebendige Probleme in klinische Fälle verwandelt, die Theorie säuberlich von der Praxis geschieden wurde. Der Kandidat für einen akademischen Beruf wurde zu Wertfreiheit, aber auch zur Anpassungsbereitschaft an die Anforderungen seiner Karriere erzogen. Wenn die Sozialwissenschaften in Verbindung mit den akademischen Humanwissenschaften schon im Mutterland den status quo bewahrten, galt dies für die Kolonien umso mehr.

Die Juristen bewegten sich natürlich innerhalb der britischen Tradition. Schon durch die juristische Fachsprache wurde der eingeborene Jurist dazu gebracht, die Ansichten der Kolonialmacht über Gerechtigkeit und Politik zu übernehmen. Wie der Sozialwissenschaftler lernte auch der Jurist, auf seine Wertfreiheit stolz zu sein, ebenso auf das ordentliche Verfahren verpflichtet zu sein, wie der Wissenschaftler auf seine Verfahrenstechnik. In Wirklichkeit war er opportunistischer Angehöriger eines Stands, der seine eigenen "legitimen" materiellen und beruflichen Interessen vertrat. Der Jurist ist dem Engagement abgeneigt; sein natürlicher Arbeitsbereich ist das Gericht, das höchste Symbol des zivilisierten und kolonialen Establishments. Dort verdient er seinen Lebensunterhalt, indem er sich abstrakten juristischen Auseinandersetzungen widmet. Er befaßt sich mit Fällen im Kontext von juristischen Prinzipien, politische Prinzipien jedoch, zu denen auch die Begründung für das Vorhandensein von Gerichten überhaupt gehört, werden nicht hinterfragt. Sowohl das Recht als auch die, die es anwenden, sind konservativ. Daraus ergibt sich, daß eine juristische Ausbildung, die eine Ausbildung nach englischem Recht bedeutete, sowohl von den Kolonialmächten als auch von den Studenten hochgeschätzt wurde. Für erstere trug sie dazu bei, die Bande zwischen der Kolonie und der Kolonialmacht zu verstärken, und für letztere war sie ein sicherer Weg nach oben.

Daher waren die Universitäten und in geringerem Maß auch die Oberschulen offensichtliche Agenturen des Imperialismus. Lehrinhalte und Prüfungsanforderungen waren ein Abklatsch der Akademien der Kolonialmacht oder standen unmittelbar damit in Verbindung. Die Grundschulerziehung in Südnigeria jedoch wurde nicht von der Kolonialregierung, sondern von den Missionen eingeführt und getragen. Zum Teil ist es auf diesen Umstand zurückzuführen (da die Missionen hauptsächlich katholisch und die Kirche der Kolonialmacht anglikanisch war), daß die Grundschulen unter den igbo-sprechenden Völkern des Südostens in die zahlreichen Dorfgemeinschaften integriert wurden und mehr oder minder der örtlichen Kontrolle unterstanden. Bei den Yoruba im Südwesten war das Bildungssystem in Übereinstimmung mit den ursprünglichen Organisationsunterschieden zwischen Igbo und Yoruba straffer zentralisiert und rationalisiert. Die Igbo waren vielleicht einzigartig in ihrer Befähigung, die westliche Grundschulausbildung den Lokalbräuchen anzupassen. So konnten z.B. Studenten in einem bestimmten Dorf zu einer kooperativen Arbeitsgruppe zusammengefaßt werden, die bei Bedarf nichtakademische Aufgaben erfüllte. Die älteren Schulkinder halfen auch mit und sahen darauf, daß die jüngeren ihre Pflichten verstanden, wodurch die Isolierung und mechanische Zusammenfassung von Gleichaltrigen, die dem fremden Bildungswesen eigen ist, stark vermindert wurde. Die Konkurrenzelemente der westlichen Erziehungsstruktur wurde in eine Art Titelverleihung umgewandelt, die eine Widerspiegelung der Konkurrenz um Titel in der traditionellen Gesellschaft war, ohne die Bedeutung einzubüßen, daß ein höherer Titel höhere Verantwortung nach sich zog. Schließlich wurde die westliche Ausbildung unter den Igbo von den Igbo selbst als rein pragmatische Aufgabe aufgefaßt, die zwar durch das Individuum vermittelt wurde, jedoch zum Nutzen der Gruppe stattfand.

In fast jedem anderen Fall in der ganzen kolonialen Welt war jedoch die Struktur des Schulwesens ein Abklatsch des Fabriksystems, eine aufgezwungene Form der industriellen Kultur. Die neuen Hierarchien im Schulwesen, die Schule als Sozialisationsagentur, lösten den Schüler von seiner lokalen Umgebung und statteten ihn dafür angeblich mit individuellen Möglichkeiten der Mobilität in der kolonialen Gesellschaft aus. Das Schulwesen stützte sich nicht auf lokale Bräuche; das traditionelle Lernen war ohne solche formalen Institutionen und vermittels der üblichen Vielzahl sozialer Gruppen und Tätigkeiten erfolgt. Diese Merkmale gelten jedoch nicht für das nördliche Nigeria, wo eine allgemeine Schulbildung für die Massen der unterdrückten Bauern infolge des praktisch fast völligen Fehlens von Missionsschulen nicht vorhanden war. Bereits vor der kolonialen Eroberung war das nördliche Nigeria, das die größte Bevölkerung von Schwarzafrika hat, etwa 1000 Jahre lang der Sitz archaischer Zivilisationen, und es war daher für eine indirekte britische Herrschaft bestens geeignet. "Die zweifelhaften Vorzüge der westlichen Zivilisation", wie dies ein früherer Gouverneur von Nigeria mit der gezwungenen Ambivalenz des gebildeten Beamten ausdrückte, wurden diesem Landstrich nicht zuteil. Der christliche Glaube war nicht in nennenswertem Umfang eingeführt worden, und genauso wenig das Schulwesen, das im südlichen Nigeria mit der christlichen Mission verknüpft war. Sogar die Sklaverei wurde im Norden noch geduldet, obwohl Raubzüge zum Sklavenmachen verboten waren. Das heißt, daß diejenigen, die zum Zeitpunkt der kolonialen Machtergreifung Sklaven gewesen waren, durch die britische Herrschaft nicht unmittelbar befreit wurden. In Anbetracht des Verbots der Raubzüge wurden entsprechend dem Erlaß, daß alle nach dem 1. April 1901 geborenen Kinder als frei zu betrachten seien, davon ausgegangen, daß die Sklavenhaltung aussterben würde. Die vorkoloniale Struktur zeigt sich jedoch in den subtilen Klassen- und Rangunterschieden, die sich im nördlichen Nigeria erhalten haben. Ein Forscher hat die Situation folgendermaßen beschrieben:

Durch das Verbot des Sklavenmachens unter der britischen Herrschaft wurden diese Beziehungen nicht angetastet. Ungeachtet dessen, ob der ehemalige Sklave und sein Herr in Berührung bleiben, sind der ehemalige Sklave oder seine Nachkommen immer noch die dimajai des Herrn, während der Herr selbst unbangiji (der Vater des Erbes) ist. Auf diese Weise hat sich die Sklavenhaltung in Leibeigenschaft verwandelt, und die dimajai von heute werden von den Herren je nach Kontext als talakawa (Gemeine), bayi (Sklaven) oder yanuwa (Sippenmitglieder) bezeichnet. In einer Hinsicht sind die dimajai heute noch genauso Sklaven wie im letzten Jahrhundert, in anderer jedoch sind sie freie Gemeine, wie andere talakawa, und sind nun vor dem Gesetz formal verantwortlich für ihre eigenen Straftaten. Wenige lassen sich wirklich von anderen moslemischen Habe unterscheiden, deren Kultur sie nun übernommen haben.

Die ökonomischen Veränderungen, die sich im nördlichen Nigeria abspielten, waren das Ergebnis der kolonialen Einbeziehung der Bauern in den Weltmarkt. Die politischen Veränderungen waren eine Reaktion auf dynamische Vorgänge im südlichen Nigeria, eine Reaktion, die überwiegend auf die kolonialistisch ausgerichtete nördliche Elite beschränkt war. Die Situation im nördlichen Nigeria, dem strategischen Gebiet Britisch-Afrikas läßt klar erkennen, daß auch die offen verbreiteten Behauptungen des Imperialismus keine Geltung haben. Wenn also radikale Wissenschaftler wie Thomas Hodgkin und konservative Verwaltungsfachleute wie Sir Alan Burns sich darin einig sind, daß der Zweck der Eroberung Westafrikas durch die Europäer im neunzehnten Jahrhundert darin bestand, die christliche Zivilisation auszubreiten, das Schulwesen zu entwickeln und dem Sklavenhandel ein Ende zu machen, haben sie beide gleichermaßen Unrecht. Daß sie sich jedoch einig sind, enthüllt, wie tief die imperialistische Mentalität reicht, die unter dem Zwang steht, sich selbst als fortschrittlich zu definieren.

Diese Frage der Fortschrittlichkeit ist kritisch, die Vorstellung selbst recht merkwürdig. Auch andere Zivilisationen als der heutige Westen waren ethnozentrisch und glaubten von sich selbst, daß sie der Gipfel menschlichen Strebens seien. Die Ägypter, Chinesen, Griechen, der Islam im Mittelalter, die Römer, die europäische Kirche im Feudalismus, sie alle definierten sich als unvergleichlich. Der Zweck des Imperialismus jedoch, soweit er von vorindustriellen Gesellschaften ausging, bestand in der politischen und ökonomischen Machtausübung. Andere Kulturen mögen als fremdartig oder unterlegen beurteilt worden sein, es wurde jedoch keineswegs ausdrücklich davon ausgegangen, daß die imperialistische Mission darin bestünde, deren Gesellschaft nach dem Bilde der vorherrschenden Macht umzuformen, selbst wenn dies in gewissem Maße tatsächlich eintrat. Mit dem Aufkommen des Industriezeitalters und der damit zusammenhängenden Ideologie der Wissenschaft wurde die totale und bewußte Umwandlung von Gesellschaft und Natur zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit sowohl für möglich als auch für wünschenswert erachtet. Der Imperialismus wird daher zu einem Unternehmen, das verschiedene Bereiche gleichzeitig erfaßt. In dem Maße, wie sich eine Kolonialmacht in Richtung auf größere Leistungsfähigkeit, komplizierte Technik und Beherrschung der Umwelt entwickelt, zieht sie innerhalb der untergeordneten und abhängigen Kulturen dieselben Motive heran. In der heutigen Ära besteht die Mission der Zivilisation ganz einfach in der Zivilisation selbst, und die Idee des Fortschritts wird zu einem Ideal, das zu erreichen sich sowohl das Imperium als auch die aufstrebenden Gesellschaften anstrengen. Ihre Zukunft ist abgesteckt, weil von der Annahme ausgegangen wird, daß ihre Vergangenheit entweder in Scherben liegt oder irrelevant ist.

Europa zieht die Überlegenheit seiner Technik oder seiner Visionen nicht in Zweifel; der Imperialismus ist eine Mission, die "objektiv" bewertet werden kann. Wenn sie erfüllt werden soll, setzt dies jedoch eine weltweite politische Gemeinschaft voraus. Der Imperialismus wird als eine ausgleichende und gleichzeitig progressive Kraft begriffen. Die Kulturen der Gesellschaften überall werden auf den gemeinsamen Nenner ihrer jeweiligen Kolonialmacht reduziert, und der Imperialismus als eine weltweite Hegemonie wird zum Paradigma für eine Weltregierung. Entsprechend stehen die Imperialisten, in schöner Eintracht mit den Anhängern einer Weltregierung, dem bodenständigen Nationalismus mißtrauisch gegenüber. Die Nation ist jedoch, wie Malinowski in unbewußter Übereinstimmung mit Marx bemerkte, im Gegensatz zum Staat die Grundlage der Kultur. Die Nation erzeugt Brauch und Sitte, den schöpferischen Aspekt eines gesamten Volks, Sprachgemeinschaft und Tradition, die durch eine Gesellschaft innerhalb eines zusammenhängenden Territoriums verbunden sind. Der Angriff auf die Nation oder die staatsmännische Verzerrung der Nationalität, die zum Chauvinismus führt, sind gleichwertige politische Angriffe auf die Kreativität eines Volks. (Der finstere und einfallslose Appell der Faschisten an das Volk stellt das Extrem des Chauvinismus dar; die Sehnsucht des Volks nach einer echten Gemeinschaft wird als Hebel für die politische Manipulation benutzt.)

In dem Maße, wie Nationen von Staaten unterworfen und in diese einverleibt werden, wird der Chauvinismus zur politischen Waffe. Er ist jedoch ein Zeichen für kulturelle Unsicherheit, einen Mangel an kultureller Definition innerhalb der bürokratischen Reichweite des Staats. Echte Nationen sind geschichtlich vor den Staaten vorhanden und überleben diese meist. Historisch gesehen sind sie die Kulturformen, die die primitive Gesellschaft ablösen. So stellten z.B. im vorkolonialen östlichen Nigeria die Igbo-sprechenden Völker, die etwa 4 Millionen Menschen zählten, eine primitive Nationalität dar; sie hatten keine zentralisierte Bürokratie und keine sozio-ökonomischen Klassen. Die autonomen Dörfer handelten miteinander und heirateten untereinander. Das Ausmaß dieser Beziehungen umfaßte aber nie das Land der Igbo insgesamt. Personen in einem beliebigen Gebiet können sich durchaus nicht darüber klar gewesen sein, daß es über ihren unmittelbaren territorialen Horizont hinaus auch igbosprechende Menschen gab. Nichtsdestoweniger waren den Igbo eine gegenseitig anerkennbare Kultur und bestimmte beschränkte, wenn auch wirksame soziale Mechanismen gemeinsam; sie sprachen auch Dialekte derselben Sprache. Allein mit den selbstbewußten, mikrokosmischen Heirats- und Sprachgrenzen des Stammes ließ sich aber die Situation der Igbo insgesamt nicht definieren. Genauso wenig bildeten die Igbo einen territorial definierbaren Frühstaat. Als objektiv definierbare und ihrer selbst nicht bewußte primitive Nationalität – eine Nation von konkret, jedoch unvollständig miteinander verbundenen Dörfern – tragen sie und andere Völker durch den Gegensatz dazu bei, den bürgerlichen Nationalstaat zu erhellen, der in der westlichen Zivilisation der Neuzeit entsteht. Letzterer jedoch bestimmt die gebräuchlichen politischen und akademischen Erkennungsmerkmale des heutigen Problems der Nationalität; Angehörige der westlichen Zivilisation fassen Nationen als bürgerliche Nationalstaaten auf. Daher sind diese "aufgeklärten" Menschen des Westens nicht in der Lage, die kulturelle Mission der Nation abgelöst vom Staat zu begreifen.

In der nachbourgeoisen Welt könnten die fortdauernden Bemühungen der Basken, Bretonen, Serbokroaten, der australischen Ureinwohner, der Schwarzen in der Neuen Welt und der Indianer, der Biafraner, der Italo-Amerikaner, der Schotten und Waliser und vieler anderer, sich mit den derzeitigen bürokratischen Staaten zu identifizieren, ein bezeichnendes Symptom für ökonomische Benachteiligung sein; ebenso stellt dieses Bemühen aber auch die dialektische Rückkehr zu einer ethnischen Bewußtheit dar. In diesen Bewegungen kommt die vom Staat bewirkte Verzerrung des Nationalbewußtseins zum Ausdruck. Im Kern jedoch sind sie Ansprüche auf eine Bewahrung der kulturellen Verschiedenheit in einer politisch lebensfähigen Form auf einer ökonomisch lebensfähigen Grundlage. Der Imperialismus oder jede andere Bewegung zur Weltregierung ist bestrebt, die Neuformulierung alter und die Bildung neuer Nationen zu hemmen. Verkörpert wird der Imperialismus heute von den multinationalen Konzernen, doch ist dieses technokratische Modell im Weltmaßstab, das alle signifikanten Facetten der Kultur beherrscht, zur Zeit auf die Vorstellungswelt des Westens beschränkt. Es ist eine Projektion der sozio-ökonomischen Bedürfnisse und kulturellen Realitäten in Europa und Amerika. Der historische Widerspruch ist offensichtlich: eine "Weltregierung", die für ein entwickeltes spezifisches Bewußtsein stünde, müßte nicht durch Gewalt errichtet werden, sie wäre nicht imperialistisch, d.h., sie müßte überhaupt nicht errichtet werden. Die politischen Gemeinschaften, aus denen sie sich zusammensetzen würde, hätten ein Ausmaß der Entwickeltheit und freien Kommunikation erreicht, das eine internationale politische Bürokratie überflüssig machen würde. Gleichzeitig würden diese Teilgemeinschaften, soweit man sich hierbei an die bisherige Geschichte halten kann, sobald sie vom bürokratischen Zwang befreit wären, eine Vielzahl kultureller Formen und Sprachen schaffen und auf höherer Ebene die symbolischen Prozesse entsprechend der Vielfalt von Formen, die in primitiven Gesellschaften zutage tritt, erweitern. Damit würde die Ethnogenesis, die Schaffung kultureller Gruppen, zu einem kontinuierlichen Prozeß.

Der Imperialismus ist bestrebt, alle Widersprüche zu absorbieren und auszugleichen; doch die Vorstellung des Fortschritts bleibt seine grundlegende apologetische Rechtfertigung. In diesem Zusammenhang werden sowohl die Brutalität der Eroberungsmittel, die Zerstörung anderer kultureller Chancen, die Notwendigkeit der politischen Vormundschaft und sogar die ökonomische Ausbeutung zugunsten der Kolonialmacht gerechtfertigt. Deren unabsichtliche Folgen werden als positiv aufgefaßt; das aufgeklärte Eigeninteresse löst sich der Vorstellung nach letztendlich zum universellen Guten auf. Die offensichtliche "wissenschaftlich beweisbare" Überlegenheit des Westens scheint die logische Lösung der Geschichte der Menschheit zu sein. Und hier wird der gegenwärtige Zustand mit all seinen offensichtlichen und zugegebenen Unzulänglichkeiten durch das Ideal der abendländischen Zivilisation mystifiziert; es wird als das Ziel der Menschheit schlechthin ausgegeben, das alle vernünftig denkenden Menschen anstreben müssen. Wenn Europa seinem eigenen Erbe treu bleibt, so lautet die Begründung weiter, und sein Potential voll realisiert, muß es zwangsläufig zur Weltzivilisation und zum Schicksal aller werden. Missionare, Geschäftsleute, Soldaten, koloniale Verwaltungsfachleute, Anthropologen, alle gehen demgemäß fremde Kulturen als Rohmaterial an, das sie nach ihren eigenen Interessen bearbeiten.

Der soziale Fortschritt war angeblich mit der Durchsetzung dieser politischen, kommerziellen und wissenschaftlichen Interessen gewährleistet; und dies wiederum ist ein Reflex der illusorischen Kulturlogik des Merkantilismus – daß nämlich die Summe des Verhaltens einzelner, die nach Profit streben, den Wohlstand und Fortschritt der Gesellschaft insgesamt gewährleistet. Ganz gleich aber, wie die Frage im Mutterland oder im Ausland gestellt wird, mit dem Glauben an den Fortschritt als Ergebnis ihrer Technologie und ihres Gedankenguts rechtfertigen sich die zivilisierten Menschen des Westens vor sich selbst. Dieser Glaube beherrschte die Vorstellungswelt der ganzen abendländischen Zivilisation. Die Vorstellung des Fortschritts kann der westliche Mensch nicht aufgeben, ohne die Begründung für seine gesamte Zivilisation zunichte zu machen. Ganz gleich, wie kritisch er den Tatbeständen seiner Gesellschaft gegenübersteht, klammert er sich an seinen Fortschrittsglauben, wie er sich an seine geistige Gesundheit klammern würde. Genau die Vorstellung des Fortschritts vermittelt seine Entfremdung, und ermöglicht ihm, eine Realität zu konstruieren, die er tatsächlich nicht erfährt.

Diese Verpflichtung auf den Fortschritt ist aber in Wirklichkeit weniger eine Überzeugung als eine Zwangsvorstellung. Ganz gleich, welche Aspekte der westlichen Kultur er für tatsächlich oder potentiell den Kulturen anderer Zeiten und Orte für überlegen hält, sind die Argumente, mit denen sich eine solche Überlegenheit begründen ließe, stets schwächer als die Heftigkeit seiner Argumentation. Die Argumentation ist daher grotesk und stellt eine Deformierung des Bewußtseins dar. Die Idee des Fortschritts beruht nämlich nicht auf einer rationalen Analyse unserer Zivilisation. Sie entspringt dem Ungleichgewicht des Systems, in dem sich der Mensch im Westen befindet. Die Gesellschaftsstruktur der Vereinigten Staaten schränkt z.B. die Anwendung der Technik ein. Der Kapitalismus der Konzerne wird als "freies Unternehmertum" oder als die Verwirklichung des revolutionären Geistes des achtzehnten Jahrhunderts dargestellt. Die moderne Technik, Gesellschaft und Ideologie sind stets gegeneinander verschoben; und das Gefühl dieser Ungleichzeitigkeit erzeugt die Idee des Fortschritts. Befangen in den Widersprüchen der Gesellschaft, sehen sich die Menschen des Westens als Chiffren der Geschichte, die unvollständig sind und stets darauf warten, vervollständigt zu werden. Zersplittert durch die auf die Spitze getriebene Arbeitsteilung, durch die Konkurrenz um Güter und Dienstleistungen und durch die Rivalität um Statuspositionen nehmen sie die Integration zwanghaft vorweg. Die Idee des Fortschritts ist vor allem das Ergebnis ungelöster sozialer und persönlicher Konflikte in der modernen Zivilisation, die sich wechselseitig verstärken. Das Bewußtsein von diesem Konflikt erzeugt im Zusammenhang mit den Lösungsbemühungen das Gefühl einer unüberlegten Bewegung auf spezifische Ziele hin, die als progressiv definiert werden.

Ein Vergleich mit primitiven Gesellschaften versetzt uns in die Lage, dieses Argument besser zu verstehen, denn die Struktur primitiver Gesellschaften wird als feststehend wahrgenommen. Der Fortschritt ist eine Realität der Persönlichkeitsentwicklung, ein Fortschritt durch die Gesellschaft, nicht der Gesellschaft, der sich vollzieht, indem das Individuum von Erfahrung zu Erfahrung auf der von den Winnebago so bezeichneten "Straße des Lebens und des Todes" fortschreitet. Das Kleinkind kann als wiedergeborener Geist eines verstorbenen Vorfahren aufgefaßt werden. Auf das Kleinkind folgen typischerweise das Kind und der Erwachsene in einem rituellen Zyklus, der Lernen und Erfahrung in einer geheiligten Ordnung sanktioniert, und der darin kulminieren kann, daß das Individuum ein Dorfältester wird, der, nachdem er für die Welt gestorben ist, als Geist der Vorfahren wieder auftritt, bisweilen aus dem Schoße der Frau eines Enkels. Die primitive Sitte, einen Elternteil nach dem Namen des Kindes zu nennen, die fachlich als "Teknonymie" bezeichnet wird, ist ein Ausdruck dieses Zyklus.

Der "Fortschritt" in primitiven Gesellschaften, wenn sich diese westliche Vorstellung überhaupt auf alle anwenden läßt, wäre also eine Metapher für geistigen Wandel. Die Widersprüche der Entwicklung durch die verschiedenen Phasen des Lebenszyklus hindurch werden sozial anerkannt, rituell ausgedrückt und dialektisch gelöst.

Die couvade, wie sie in den tropischen Wäldern Südamerikas praktiziert wird, ist ein Beispiel dafür. Nach diesem Brauch zieht sich der Ehemann mehrere Tage während der Wehen seiner Frau und unmittelbar, nachdem sie das Kind geboren hat, in seine Hängematte zurück. Er geht mit ungewöhnlicher Umsicht vor, da angenommen wird, daß er den Geist des Kleinkindes in seiner Obhut hat. Er verhält sich, als ob er selber die Erfahrung der Geburt gemacht hätte, und die Genealogie des Kindes wird durch seine Handlungen unterstrichen. Von größerer Bedeutung jedoch ist, daß die couvade ein sichtbares Symbol einer komplexen Verschiebung der zur Geburt des Kindes gehörenden Beziehungen ist, da sie sich auf den männlichen Partner als Bezugspunkt konzentriert. Durch die Geburt werden die jeweiligen Rollen der Geschlechter und das Verhältnis zwischen ihnen umgekehrt. Der Mann verwandelt sich vom Liebhaber zum Ehemann, vom Sohn zum Vater, im allgemeinen steigt er von einer Position geringerer zu einer Position größerer gesellschaftlicher Verantwortung auf. Die Frau ist in komplementäre Verwandlungen einbezogen, in ihrem Fall aber symbolisiert die Geburt ihre eigene Realität. Die Konzentration auf den männlichen Partner kompensiert nicht nur das Fehlen eines scharf umrissenen kritischen Ereignisses in seinem Leben, sondern bezieht auch die Frau in die Bedeutung der männlichen Erfahrung ein – zu der auch die Kontinuität seiner Verbindung zum Kind gehört – ganz genauso, wie er auf die Bedeutung ihrer Erfahrung während der Schwangerschaft und unmittelbar danach hingewiesen wurde. Wie bei anderen Ritualen, die sich auf ein Geschlecht konzentrieren, wird dabei auch eine Veränderung im Verhalten des anderen abgekürzt, auch wenn die letztere Umwandlung weniger öffentlich ist. Die couvade kann also als Krisenritus verstanden werden, der der soziale Ausdruck einer existentiellen Verwandlung ist, die innerhalb des kulturellen Kontexts eines bestimmten Volks als gefahrenträchtig und bedeutungsschwer angesehen wird. Auf den Kontrast zu dem üblicherweise nicht engagierten und nicht angeleiteten männlichen Partner in ähnlichen Situationen in unserer Gesellschaft braucht kaum hingewiesen zu werden.

Genauso wie die systematischen Konflikte in der modernen Zivilisation unsere Idee des sozialen Fortschritts erzeugen, so erzeugen die unvermeidlichen Entwicklungskonflikte die Idee des persönlichen Fortschritts in einer primitiven Gesellschaft. Solche primitiven Konflikte jedoch werden gelöst; sie werden allgemein geteilt, verstanden und sozial strukturiert. Die Person entwickelt sich tatsächlich im Aufstieg durch Hierarchien des Seins. In unserer Zivilisation jedoch wird die Person auf einen Status, einen Reflex der Gesellschaft reduziert, und von dieser Gesellschaft wird angenommen, daß sie dem Fortschritt unterliegt. In primitiven Gesellschaften wird das "Werden" der persönlichen Entwicklung durch das "Sein" der persönlichen Verwirklichung auf allen bedeutsamen Ebenen des Daseins ausgeglichen, und daher ist unsere Wahrnehmung der Geschichte einfach irrelevant. Andererseits versuchen die Menschen des Westens, von ihren Konflikten zwanghaft getrieben, stets konkrete Beweise für ihre Überlegenheit zu finden; sie glauben, daß sie das Abendland, das geistige Erbe der Vergangenheit und die Zivilisation selbst repräsentieren.

Unser kulturelles Zwangsbedürfnis, an den Fortschritt zu glauben, ist eine Sache, ob aber stichhaltige Daten dafür vorliegen, ist etwas ganz anderes. In Wirklichkeit ist das Beweismaterial schwach, verdient jedoch, überprüft zu werden.

Die Anthropologen scheinen über diese Frage mehr nachgedacht zu haben als die Historiker, und vielleicht auch expliziter als die Philosophen, da es ihnen um die Vielfalt, Evolution, Entwicklung und den Niedergang der Kultur von ihren prähistorischen Anfängen bis zur Gegenwart geht. Man könnte daher annehmen, daß die Anthropologen den zivilisierten Ansprüchen auf Überlegenheit skeptischer gegenüberstehen, und daß sie weniger ethnozentrische und verantwortungsbewußtere Urteile fällen als andere Wissenschaftler. Bevor wir aber betrachten, was für den Fortschritt spricht, muß die zugrundeliegende Vorstellung genauer definiert werden. "Fortschritt" bedeutet das Aufrücken in bessere Lebensumstände, und nicht lediglich Evolution oder Entwicklung. Evolution impliziert die fortschreitende Entwicklung einer Form aus einer anderen (so kann man z.B. von der Evolution des Autos aus dem Karren mit Rädern oder des Dampfers aus einem Segelschiff sprechen). In ähnlicher Weise kann man von der Evolution von Institutionen wie Ehe oder Familie sprechen, die sich von Polygamie zu Monogamie, von ausgedehnten Gruppen zu Kerneinheiten entwickelt hat. Oder man könnte auch an die Evolution ganzer Gesellschaften denken, wie z.B. die Evolution des Kapitalismus aus dem Feudalismus. Evolution ist aber nicht das gleiche wie Entwicklung – Institutionen, Werkzeuge und Ereignisse können sich alle entwickeln, ohne sich zu verändern. Sie können sich einfach vervielfachen oder ausdehnen, wie im Fall der Automobilindustrie. Die moderne Industriezivilisation begründet ihre Vorstellung von Fortschritt jedoch nicht mit Evolution oder Entwicklung, sondern mit ihrer Überlegenheit, und beruht daher auf der Vorstellung des Wandels durch Fortschritt.

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Die Idee des Primitiven

Der Begriff des Primitiven ist so alt wie die Zivilisation selbst, da die Zivilisierten infolge ihrer Existenzbedingungen stets versuchen mußten, zu einem Verständnis ihrer Ursprünge und menschlichen Chancen zu gelangen. Das Umgekehrte gilt jedoch nicht. Die primitiven Gesellschaften haben meines Wissens keine systematische Vorstellung oder Idee und ganz gewiß keine Vision der Zivilisation hervorgebracht. Ich meine, daß dies bemerkenswert und bezeichnend ist. Was sollen wir davon halten? Dürfen wir sagen, daß primitive Völker keinen Begriff von Fortschritt oder Entwicklung und auch kein Geschichtsbewußtsein haben, und daher keine Grundlage dafür, ein Bild der Zivilisation zu entwerfen? Ich glaube nicht. Zunächst haben primitive Völker starke Überzeugungen und Wahrnehmungen der Persönlichkeitsentwicklung. Die primitive Gesellschaft ist von der konkreten Idee der Persönlichkeitsentwicklung durchdrungen. Zweitens ist die primitive Welterklärung häufig im umfassendsten, metaphorischen Sinne entwicklungsspezifisch. Den Primitiven fehlt nicht die allgemeine Fähigkeit, die Entwicklung oder den Formenwandel im Zeitverlauf begrifflich zu erfassen, ihre Wahrnehmungen haben keinen statischen Charakter. Auch kennen sie durchaus einfache Chronologien; das Gedächtnis primitiver Völker funktioniert in Anbetracht der fehlenden Schriftsprache außergewöhnlich gut. Geschichte ist aber für sie die Aufzählung geheiligter Bedeutungen im Rahmen einer zyklischen und nicht etwa einer geradlinigen Zeitwahrnehmung. Das rein pragmatische Ereignis, das nicht zum geheiligten Zyklus gehört, liegt außerhalb der Geschichte, weil es für die Aufrechterhaltung oder Wiederbelebung der traditionellen Gesellschaftsformen ohne Bedeutung ist. Daher ist es meiner Ansicht nach richtig, wenn man feststellt, daß die Primitiven kein weltliches Geschichtsbewußtsein und keine geradlinige Idee des gesellschaftlichen Fortschritts und infolgedessen auch kein prophetisches Ideal davon haben. Außerdem ist der Fortschritt als Abstraktion für sie ohne Bedeutung.

Offensichtlich ist das nicht das Ergebnis fehlender Phantasie, sondern eines fehlenden Bedürfnisses. In den primitiven Mythen, Volksmärchen, Legenden und mündlichen Überlieferungen im allgemeinen wimmelt es von den eindringlichsten und scharfsinnigsten symbolischen Kommentaren über das menschliche Leben, doch nimmt ihr Inhalt in keinem der mir bekannten Fälle jenes Niveau der Gesellschaftsstruktur und jene Qualität des Kulturdaseins vorweg, die wir Zivilisation nennen. Die zivilisierte Lebensweise des Menschen ist für primitive Völker unvorstellbar. Sie findet nicht einmal als mythologische Alternative Raum.

In der Geschichte ist der Kulturwandel immer eine Frage der Eroberung gewesen. Entweder zerschmettert die Zivilisation unmittelbar eine primitive Kultur, die ihr zufällig das historische Vorfahrtsrecht nimmt, oder eine primitive Volkswirtschaft wird im Griff eines zivilisierten Markts so geschwächt und ausgemergelt, daß sie die traditionale Kultur nicht mehr am Leben erhalten kann. In beiden Fällen können Flüchtlinge aus den untergehenden Gruppen sich die Maßstäbe der mächtigeren Gesellschaft zu eigen machen, um als Individuen zu überleben. Diese aber werden von der Zivilisation zwangsrekrutiert, sie schließen sich ihr nicht freiwillig an. Eine Vorstellung von der Zivilisation entstand deshalb bei den Primitiven immer erst nach der realen Konfrontation mit ihr und sie scheint dann negativ, bruchstückhaft und ohne Zusammenhang mit einer großartigen Vorstellung der Zivilisation als solcher aufgefaßt zu werden. Häufig ist ihre Auffassung der Zivilisation eine peinliche Karikatur unserer niedrigsten Wünsche. Bezeichnenderweise ist bei den überragenderen politischen Führern in den aufstrebenden früheren Kolonialstaaten in solchen Gebieten, wo primitive Kulturmerkmale noch vage bestehen, kein entwurzelter und weltlicher Glaube an den Fortschritt festzustellen. Vielmehr findet sich dort immer die Auffassung, daß man sich auf das Gemeinschaftsethos und die disziplinierte Ausdrucksfähigkeit der primitiven Gemeinschaft besinnen soll, eine Rückwendung, die durch eine neue Technik und breiter verankerte Gesellschaftsformen bewerkstelligt werden soll. Wie wir noch sehen werden, war dies eine typische Haltung während der Aufklärung. Es ist merkwürdig, daß die Führer Afrikas zu einem Zeitpunkt, wo die letzten Ausläufer der Französischen Revolution diesen Kontinent erreichen, nach dem Geist der Vergangenheit ihrer eigenen Völker blicken, auf jene "wilden Stämme", die die Phantasie bestimmter Philosophen beflügelten, und die diese zur Darstellung bestimmter Wahrheiten, als Leitfaden und Losung für die Zukunft benutzten. Wenn das alte Europa und die Neue Welt ihre eigene Zivilisation überleben sollen, die sich immer mehr verhärtet, müssen wir auf jene "wilden Stämme" blicken, die jetzt ins Licht der Geschichte treten. Zerrissen von der abendländischen Welt, jedoch noch frei von den meisten unserer verbrieften Interessen und gewachsenen Kapitalstrukturen, nicht so zivilisiert und kränklich wie wir, könnten sie, wenn sie die Verfügung über ihre Naturschätze und ihre Technik haben, immer noch den Beweis für die Richtigkeit der Aufklärung liefern. Dies deuten jedenfalls ihre besten Führer an, wenn sie im Geiste unserer Ahnväter aus dem 18. Jahrhundert sprechen. Ihre politischen Gemeinschaften sind jedoch nicht mehr primitiv, sie nutzen die Überlieferungen und den ererbten Reichtum der unpolitischen menschlichen Zusammenschlüsse in den Ortschaften aus. Keine primitive Gesellschaft ist je zur Zivilisation als zu etwas besserem übergegangen – in den aufstrebenden Gebieten stellt sich die Frage einfach so, daß die noch vorhandenen primitiven Quellen genutzt werden müssen.

Es ist ein Faktum (so unerhört dies auch für die Mentalität der Zivilisierten sein mag), daß der größte Teil der Menschheit während der längsten Zeit der menschlichen Geschichte und Vorgeschichte primitive Gesellschaften ökonomisch, gesellschaftlich und geistig (oder wie wir sagen würden, ideologisch) für lebensfähig befunden hat. Das Fehlen von Revolutionen und Reformbewegungen, die oppositionellen Erweckungsbewegungen, die sich immer dann erheben, wenn primitive Kulturen unter dem Ansturm der Zivilisation stehen, die spontane und deutliche Abneigung, die (trotz selektiver Übernahme mächtiger Werkzeuge und Waffen) immer dann festzustellen ist, wenn die primitive Kultur noch eine Grundlage behält, von der aus sie die Zivilisation betrachten kann, das Fehlen jeder alternativen Lebensform der mündlichen Überlieferung bei den Primitiven – dies alles ist symptomatisch dafür, daß die primitiven Institutionen den Menschen angemessen sind. Selbst dann, wenn eine relativ geschlossene und abwehrbereite primitive Gesellschaft von der Zivilisation ein überlegenes Werkzeug für einen bestimmten Zweck übernimmt, wird der Versuch gemacht, das neue Element in die bereits vorher vorhandene Glaubens- und Handlungsstruktur zu integrieren. Daß dieses Werkzeug auch noch andere Konsequenzen haben könnte, entzieht sich der Vorstellung. Wie oft haben sich primitive Menschen in der Zivilisation verirrt, weil sie sich kein Bild von den Reaktionen machen konnten, die von ihnen in einer neuen Umgebung erwartet wurden! Wie oft haben sie Absichten fehlinterpretiert, Zeichen oder Symbole falsch aufgefaßt, oder nach Brüdern gesucht, wo nur Fremde wohnten! Kleine Irrtümer wie der, die Stadt für den Dorfverband zu halten, den Europäer für einen Ältesten oder einen Gleichrangigen, oder das Geld in der Hand für die Fähigkeit, allein zu leben, brauchen nur einmal vorzukommen, und sie wirken gemütszerstörend.

Das zyklische Zeitbewußtsein im Einklang mit dem Rhythmus von Mensch und Natur und das Fehlen der Idee des Fortschritts und jeder Vision der Zivilisation sind natürlich Phänomene, die miteinander zusammenhängen; außerdem stehen sie in Zusammenhang mit dem Gegensatz zwischen dem Charakter der primitiven und der zivilisierten Technik. Wenn wir die Zivilisation des Altertums (Ägypten, Babylonien, Griechenland, China, Rom) oder heutige kommerziell-industrielle Zivilisationen untersuchen, stellen wir fest, daß der Takt des Lebens, der von den Anforderungen des Markts, der staatlichen Autorität oder der Maschine bestimmt wird, in zunehmendem Maße an die Stelle des Rhythmus von Natur und Mensch tritt. Sowohl in der Sklavenhalter- wie auch in der Maschinengesellschaft sind die ausdrucksvollen, musikalischen Bewegungen der primitiven gemeinschaftlichen Arbeitsgruppe in Vergessenheit geraten. Die primitive Arbeitsgruppe ist traditional und erfüllt vielerlei Funktionen; die Arbeit ist natürlich nützlichkeitsbezogen, ist jedoch aber auch geheiligt – ein Sport, ein Tanz, eine Feier, eine Sache für sich selbst. In der Zivilisation wird die Gruppenarbeit zum Zwangsmittel. In einer Gesellschaft des Altertums können Sklaven in großen einheitlichen Gruppen unter Aufsehern arbeiten und öffentliche Einrichtungen in Zwangsarbeit erstellen; oder sie können auch unter äußerstem Druck bei Anwendung von rationalisierten und mechanischen Bewegungsabläufen arbeiten, um in einer bestimmten Zeit so viele landwirtschaftliche oder Handelsprodukte wie möglich herzustellen, um den Profit ihrer Herren und Meister zu maximieren.

In den Gesellschaften des Maschinenzeitalters verkörpert die Maschine die Forderungen der Staatsmacht oder des Marktes; das Leben der Gesellschaft, aller Klassen und Schichten muß sich ihrem Rhythmus anpassen. Die Zeit wird linear, verweltlicht, "kostbar"; sie wird auf eine räumliche Ausdehnung reduziert, die ausgefüllt werden muß, und die geheiligte Zeit verschwindet. Die Sekretärin muß sich der Geschwindigkeit ihrer elektrischen Schreibmaschine anpassen, der Fabrikarbeiter dem Fließband, der Direktor dem Fahrplan von Flugzeug oder Eisenbahn, der Kraftfahrer den Autobahnen, der Leser dem endlosen Strom von Gedrucktem aus Hochgeschwindigkeits-Druckmaschinen, und sogar der Schüler der genauen Zeiteinteilung eines Stundenplans, und der Mensch "im Mußezustand" einer mechanisierten häuslichen Umgebung und dem Fluß wirksam programmierter Unterhaltung. Die Reduktion der Zeit auf eine Quantität, die von Maschinen geeicht und gemessen wird, hat unseren natürlichen und menschlichen Rhythmus verballhornt und dazu beigetragen, daß wir uns von uns selber gelöst haben. Heute schon lieben wir kaum mehr die Erde, sehen kaum noch mit den Augen oder lauschen mit den Ohren, und wir hören erst auf unser Herz, wenn es aus Protest streikt. Die Maschinen als treue und genaue Diener erscheinen als fremde Macht, die uns immer wieder dazu überredet, unsere Absichten einzulösen, die wir in sie hineinkonstruiert haben und die sie darstellen – ähnlich wie der perfekte Leibdiener seinen Herrn der Routine unterwirft und schließlich zur Nebensache macht.

Von solchen tatsächlich vorhandenen oder möglichen Dingen haben primitive Gesellschaften keinen Begriff. Derartiges übertrifft ihre schlimmsten Träume von der Entfremdung von Dorf oder Familie oder der Erde selbst. Sie haben dafür nur eine annähernde Analogie: die Furcht vor dem Ausgestoßenwerden aus der Stammeseinheit, aus den persönlichen Beziehungen, durch die Mensch, Gesellschaft und Natur in einem endlosen Entwicklungszusammenhang verbunden sind. Das Gefühl, isoliert und entpersönlicht zu werden und daher den dämonischen Kräften auf Gnade und Ungnade ausgeliefert zu sein – eine unter primitiven Völkern weit verbreitete Furcht – kann als Andeutung dafür genommen werden, wie sie auf die sachlichen Entfremdungsprozesse der Zivilisation reagieren würden, wenn sie sie verstehen könnten. Das heißt, daß wir nur durch die Analogie den Abscheu und die Furcht der Primitiven gegenüber der Zivilisation verstehen können, indem wir ihre Haltung in Bezug auf das Ausgestoßenwerden aus dem Gefüge natürlicher und gesellschaftlicher Stammesbeziehungen begreifen.

Die primitive Gesellschaft kann als ein gleichgewichtiges System angesehen werden, das sich wie ein Kaleidoskop, jedoch an einem relativen Fixpunkt, um seine eigene Achse dreht. Die Zivilisation darf als ein System mit innerem Ungleichgewicht betrachtet werden; die Technik oder die Ideologie oder die Gesellschaftsordnung sind immer ungleichzeitig zueinander – und genau das ist es, was das System auf seiner vorgezeichneten Bahn vorwärtstreibt. Unser Gefühl der Bewegung, der Unvollständigkeit, trägt zur Idee des Fortschritts bei. Daher gehört die Idee des Fortschritts wesensmäßig zur Zivilisation, und unsere Idee der primitiven Gesellschaft als einer Gesellschaft, die sich im Zustand dynamischen Gleichgewichts befindet und Ausdruck des Rhythmus von Natur und Mensch ist, ist ein logisches Wunschbild zivilisierter Gesellschaften und steht im Widerspruch zum derzeitigen Zustand der Zivilisation. Es deckt sich aber auch mit der tatsächlichen historischen Verfassung primitiver Gesellschaften. Die Sehnsucht nach einer primitiven Daseinsform ist kein bloßes Hirngespinst oder eine sentimentale Anwandlung, sie stimmt überein mit grundlegenden menschlichen Bedürfnissen, deren Erfüllung (wenn auch in anderer Form) die Bedingung dafür ist, daß wir überleben können. Selbst der skeptische und zivilisierte Samuel Johnson, der Boswell für sein intellektuelles Techtelmechtel mit Rousseau verspottete, hatte geschrieben:

Als der Mensch anfing, nach Privateigentum zu streben, traten Gewalt, Betrug, Diebstahl und Raub auf den Plan. Bald danach brachen Stolz und Neid in der Welt aus und brachten einen neuen Maßstab des Reichtums mit sich, denn die Menschen, die sich bis dahin für reich gehalten hatten, wenn ihnen nichts fehlte, schätzten nun ihr Verlangen nicht nach den natürlichen Bedürfnissen, sondern nach dem Überfluß der anderen ein, und fingen an, sich für arm zu halten, wenn sie gewahr wurden, daß ihre Nachbarn mehr Besitztümer hatten als sie selbst.

Als ethnologische Betrachtung mag dies unzulänglich sein, es war jedoch der Aufschrei eines zivilisierten Menschen nach einer Erlösung vom bloßen Konsumzwang und Erwerbsstreben, und so interpretiert ist darin eine zutreffende Annahme über primitive Gesellschaften enthalten, nämlich, daß durch Raub erworbenes Eigentum und die Produktion zum Zwecke des Profits in diesen Gesellschaften nicht existiert.

Die Suche nach dem Primitiven ist daher so alt wie die Zivilisation selbst. Es ist die Suche nach dem Utopia der Vergangenheit, in die Zukunft projiziert, wobei die Zivilisation zeitlich die Mittelstellung einnimmt. Die Suche nach dem Primitiven ist von der Vision der Zivilisation untrennbar. Kein Prophet und Philosoph von Rang hat die imperative seiner Version einer höheren Zivilisation formuliert, ohne bestimmte Konstanten der menschlichen Natur und Elemente einer primitiven Lebensweise vorauszusetzen, ohne sich also kurz gesagt auf die Anthropologie einzulassen. Ein Utopia, das ohne diese zwei Säulen auskommen will, – ohne das Bewußtsein der menschlichen Natur und das Bewußtsein der Vergangenheit vor der Zivilisation – wird zum Alptraum. Denn dabei muß dann davon ausgegangen werden, daß die Menschheit unendlich anpassungsfähig und daher nicht in der Lage sei, die Geschichte zu verstehen oder sich selbst zu verbessern.

Die zeitgenössische Zivilisation entwickelt sich überall zur Kollektivierung, ob nun auf "öffentlicher" oder "privater" Grundlage; und diese ist nicht das Schreckbild eines einzelnen Systems. Daher schmieden die Staaten von heute entweder die Geschichte oder lassen sie außer Acht; sie erzeugen politische Mythen, die die offizielle Version über die menschliche Natur und eine unvermeidliche Vergangenheit verbreiten, die die Gegenwart voll und ganz rechtfertigt. Die Fähigkeit, primitive Mythen zu erzeugen, die die Ambivalenz des Menschen und den unaufhörlichen Kampf um eine gemeinsame Identität des Menschen aufdecken, verkümmert wie ein Muskel des Menschen, der nicht benutzt wird.

Die Idee des Primitiven ist so alt wie die Zivilisation, weil sie die Zivilisation in ihrer Suche nach der menschlichen Identität selber schafft. Dies war bereits in den Werken von Herodot, Tacitus, Ovid, Horaz, Hesiod und anderen Dichtern und Gelehrten des klassischen Altertums zu erkennen. Sie versuchten die Natur ihrer eigenen Vorfahren zu begreifen und sich einen Begriff von den barbarischen Fremden zu machen, die sich an den Grenzen ihrer Staaten des Altertums drängten. Ich sage "begrifflich erfassen" und nicht "beschreiben", weil jeder Akt des historischen Verstehens darin besteht, daß in das Verhalten anderer eine systematische Bedeutung hineingelesen wird. Auf der Suche nach dem Verständnis für die primitive Welt, der sie entstammten und deren Nachklang überall um sie herum zu hören war, mußten diese frühen Chronisten, die selber das Produkt politischer Gesellschaften waren, auch die Tiefen ihrer eigenen tatsächlichen oder potentiellen Erfahrung ausloten. Das heißt, die Aufgabe bestand nicht nur in der abstrakten Begriffsbildung, sondern auch in der Wahrnehmung, und sie verlangte jene Art von introspektiver Vorstellungskraft, die Terenz zu dem Satz veranlaßte: Nil humani a me lienum puto ergo sum ("Nichts Menschliches ist mir fremd; daher bin ich ein Mensch"). Es handelt sich um eine Bemerkung, zu der jeder Historiker und jeder Anthropologe (denn die Anthropologie liegt im Bereich der Geschichte) fähig sein muß, oder er schweigt besser. Dennoch läßt sich eine solche Überzeugung nicht empirisch überprüfen. Kein Anthropologe verfügt über Erfahrungen aus mehr als einigen wenigen Gesellschaften; kein Historiker kann in der Zeit leben, von der er uns berichtet.
Entscheidend ist, daß die absolute Vorbedingung eines geschichtlichen Bewußtseins in einer unnachsichtigen Erforschung des Selbst liegt, so wie es vorhanden und vorstellbar ist. Die Fakten anderer Kulturen, die künstlerischen, geistigen und sozialen Gebilde, sind die äußerlichen Phänomene, das indirekte Datenmaterial, das bis auf seine menschlichen Quellen zurückverfolgt werden muß. Die begriffliche Erfassung einer anderen Kultur oder einer anderen Geschichtsepoche (es handelt sich um dasselbe Problem) ist das Ergebnis einer Interaktion des Selbst-Bewußtseins mit den Artefakten aus anderer Zeit und von anderen Orten. Die Idee des Primitiven ist daher ein Konstrukt. Damit wird lediglich anerkannt, daß alles historische Denken "konstruierend" ist, wodurch das historische Wissen aber nicht rein subjektiv wird. Vielmehr wird von der Annahme ausgegangen, daß die Menschen als Angehörige derselben Gattung in der Lage sind, die innere Natur der Handlungen anderer Menschen zu verstehen. Das historische Wissen ist daher eine Form der Kommunikation, die analog dem unmittelbaren Austausch zwischen lebenden Menschen ist.

Beide Kommunikationsformen beruhen auf derselben Grundannahme. Wenn wir mit anderen Menschen kommunizieren, gehen wir davon aus, daß sie so sind wie wir. Das heißt, wir sind uns darüber gewiß, daß gemeinsame Bedeutungen durch ein stillschweigendes Einverständnis über die Bedeutung der entsprechenden Symbole verstanden und ausgedrückt werden können. Zu diesem Prozeß gehört auch der idiosynkratische und im höchsten Maße persönliche Gebrauch von Symbolen wie zum Beispiel dann, wenn man einen Roman oder ein Gedicht liest, dessen Sprache symbolisch reicher und subtiler sein kann als die Alltagssprache. Der Verfasser des Romans oder Gedichts, das heißt, die Person, mit der wir unmittelbar kommunizierten, ist aber für uns genauso wenig greifbar wie ein Akteur in einer anderen Zeit oder an einem anderen Ort. Wir interpretieren sein Bewußtsein auf der Grundlage symbolischer Akte. Was der andere ist, ist für uns, wenn dies überhaupt verständlich sein sollte, nicht greifbar; seine Handlungen sprechen für ihn. Das Paradigma des historischen Wissens liegt also in der unmittelbaren Kommunikation zwischen Menschen: wir nähern uns einem Verständnis von Völkern der Vergangenheit oder von Völkern anderer Kulturen dadurch, daß wir die Bedeutung ihrer Emotionen einschätzen, wie sich diese in Zeichen, die unmittelbar sichtbare Daten darstellen, oder in Symbolen ausdrücken. Unser Bewußtsein als Art ist es also, das uns in die Lage versetzt, das nachzuvollziehen, waran wir nicht unmittelbar Anteil nehmen können. Vom echten Historiker kann daher gesagt werden, daß er durch Ausbildung und Begabung eine sehr hohe Ausprägung des Artbewußtseins erreicht hat. Er geht andere Gesellschaften aus anderen Zeiten mit der Zuversicht an, daß sein Menschsein der Aufgabe gewachsen ist, Unterschiede festzustellen. Und dies ist zwar nicht das einzige, jedoch das entscheidende Element jeder zwischenmenschlichen Kommunikation.

Der Anthropologe muß ein Historiker dieser Art sein. Bei der begrifflichen Erfassung einer primitiven Gesellschaft interpretiert er Zeichen und Symbole, indem er sich in die Akteure des untersuchten Systems hineinversetzt. Die bloße Katalogisierung oder auch systematische Verknüpfung von Institutionen und Artefakten ist bedeutungslos, wenn nicht die Bemühung hinzukommt, das soziale Bewußtsein, das kulturelle Dasein des Volkes zu reproduzieren, das auf seine Weise lebt und produziert. Natürlich muß bei dieser Anstrengung jede verfügbare Methode angewandt werden, doch darf die Methode nicht zum Selbstzweck werden. Wenn wir die sozialen Formen und Werkzeuge von den Personen ablösen, und sie typologisch im Dienste dieser oder jener Methode oder als abstrakte, deduktive Modelle an- oder umordnen, verlieren wir den Kontakt zur konkreten sozialen Realität, zu den Ungereimtheiten des menschlichen Verhaltens und zu seiner tatsächlichen Bedeutung zu einer bestimmten Zeit. Die bloße logische Entwicklung von Strukturen der Stammesverwandtschaft, des Weltbilds und der Sprache, die wir einem Volk überstülpen können, ist nicht unbedingt Ausdruck des Bewußtseins der Akteure und kann sogar zu einem grotesken Verhaltensbegriff führen, wenn sie in entsprechendes Verhalten umgesetzt werden soll. Die abstrakte Beschäftigung mit der Entwicklung der Energieformen, die keine feststellbare historische Abfolge darstellt, ist von ähnlicher Irrelevanz, wenn man sie zum Beispiel mit der Beschreibung dessen vergleicht, was es im Gegensatz zum Knöpfedrücken an einer automatischen Drehbank oder zur Arbeit in einem Bergwerk bedeutet, daß man ein primitives Werkzeug verfertigt und beherrscht. Die Untersuchung des Kulturapparats gelangt zu ihrer grundlegenden Bedeutung in dem Versuch, das gesellschaftliche Bewußtsein zu verstehen, das er sowohl widerspiegelt als auch erzeugt. Andernfalls ist die Untersuchung des Menschen nicht die Untersuchung des Menschen, sondern die Untersuchung sozialer, ideologischer, ökonomischer oder technischer Formen, also eine Art von Physik der Kultur. Der Zweck liegt jedoch nicht in der Methode, sondern in dem Bemühen, diejenigen zu verstehen, die sich von uns kraft dessen unterscheiden, was sie geschaffen haben, indem wir darauf so reagieren, wie wir dies unseres Wissens nach in ihrer Lage tun würden.

Die Möglichkeiten der begrifflichen Erfassung einer primitiven Gesellschaft (ja sogar jeder beliebigen Gesellschaft) sind unerschöpflich. Ständige Variablen dabei sind Absicht und Ausgangspunkt des Beobachters. Der Schwerpunkt der Beobachtungen kann verschieden sein, wenn diese jedoch den untersuchten Daten treu bleiben und klare Absichten verfolgen, werden sie sich nicht widersprechen, sondern sich gegenseitig ergänzen.

So zum Beispiel befaßt sich die Anthropologie des neunzehnten Jahrhunderts kaum mit dem Problem des Krieges, wohingegen wir uns in dem letzten Jahrzehnt in zunehmendem Maße auf Natur, Definition und Umfang von Krieg und daher auf den Konflikt zwischen Menschen im allgemeinen fixiert haben. Dies hängt zweifellos damit zusammen, daß das neunzehnte Jahrhundert zwar von einigen Bürgerkriegen und Kolonialkämpfen gezeichnet war, aus der reinen Sicht der Europäer und Amerikaner jedoch eine Ära relativer internationaler Freundschaft war. Das entscheidende Problem des zwanzigsten Jahrhunderts hat unsere Aufmerksamkeit als Anthropologen in verstärktem Maße auf die Kriegführung unter den Primitiven gelenkt, und es ist der Schluß zu ziehen (wie dies Malinowski schon vor einer Generation tat), daß sich ihre Art von der der Neuzeit qualitativ unterscheidet. In der primitiven Gesellschaft sind abstrakte ideologische Konflikte und Massenvernichtungsmittel unbekannt. Der Krieg unter den Primitiven besteht aus stark ritualisiertem Geplänkel (Malinowski weigert sich, sie als "Krieg" zu definieren), mit Ausnahme der Fälle, wo es um das Überleben einer Kultur geht.

Es scheint auf der Hand zu liegen, daß die Komplexität und Relevanz unserer Vorstellungen über Gesellschaften der Vergangenheit in dem Maße, wie sich die menschliche Gesellschaft entwickelt, eher zunimmt als abnimmt. Die Unterscheidungen zwischen diesen Bildern der primitiven Gesellschaft haben in weiterem Sinne instrumentalen Charakter, wir beschreiben das System durch ständige Neudefinitionen und Verfeinerung der Probleme, wie sie in unserer Zeit existieren.

Es gibt also kein endgültiges oder statisches oder ausschließlich objektives Bild der primitiven Gesellschaft. Wir machen eine Momentaufnahme, wobei wir für unterschiedliche Zwecke Filme von unterschiedlicher Lichtempfindlichkeit benutzen. Außerdem gibt es kein "endgültiges" Porträt der primitiven Gesellschaft, das uns von einem Akteur innerhalb des Systems überliefert werden kann, eben genau deswegen, weil es unsere Zivilisationserfahrung ist, die uns auf Fragen bringt, die der Primitive wahrscheinlich über seine Kultur nicht stellt, und auf Problemstellungen (für uns), wo er nur den Alltag wahrnimmt. Die Schwierigkeiten zum Beispiel, denen die unmittelbare zwischenmenschliche Kommunikation in der zeitgenössischen Industriegesellschaft (im schroffen Gegensatz zur Vervielfältigung der mechanischen Kommunikationsmittel) unterliegt, sind primitiven Kulturen fremd. Da die Erfahrung der Zivilisation fehlt, entziehen sich diese vermutlich dem primitiven Begriffsvermögen. Daher kann nur ein Vertreter unserer Zivilisation die Unterschiede im einzelnen genügend nachweisen und dazu beitragen, eine Vorstellung vom Primitiven zu schaffen, die von den Primitiven selbst normalerweise nicht konstruiert werden könnte. Wir bedürfen solcher Vorstellungen über den Primitiven, doch werden sie dadurch nicht weniger "objektiv" oder gültig. Der komplementäre Charakter von Systemen, die Möglichkeit unterschiedlicher, jedoch unabhängig voneinander logischer und zweckgerichteter Interpretationen, die sich an die Daten halten, liegt in der Natur des historischen Wissens selbst. Eine solche Betrachtungsweise liegt auch, wie Niels Bohr schrieb, der Natur unseres Wissens über physikalische Systeme zugrunde.

Die unmittelbareren Ursprünge der Idee des Primitiven in der Neuzeit liegen in der europäischen Aufklärung. Der Zusammenbruch des Feudalismus hatte natürlich viele mittelalterliche Annahmen über die Natur des Menschen, die Stellung des Menschen in der Gesellschaft und die Lage der Erde im Weltall zerstört. Zwei aufs engste miteinander verbundene Traditionen, die seither das Denken von Anthropologen polarisiert, jedoch nie vollständig gespalten haben, und die daher als ambivalent beschrieben werden können, begannen sich im achtzehnten Jahrhundert klarer herauszubilden, insbesondere in Frankreich, aber auch im übrigen Westeuropa. Vor allem Rousseau, aber auch Monboddo, der junge Herder, Schiller und andere stehen für die retrospektive Tradition, d.h. für die bewußte Suche in der Geschichte nach einer im tieferen Sinne ausdrucksfähigen, dauerhaften menschlichen Natur und kulturellen Struktur, im Gegensatz zu den in Entstehung begriffenen Realitäten der Neuzeit, die zu jener Zeit vom revolutionären Bürgertum geschaffen wurden. Das davorliegende "Zeitalter der Entdeckungen", der Entdeckungen aus der Sicht der Europäer, hatte dem Abendland eine "exotische" Welt zugänglich gemacht, und dies wurde zum Dreh- und Angelpunkt des Versuchs, die zeitgenössische Szene in einem Europa zu verstehen, das durch die unmittelbar zurückliegende Renaissance und die Reformation sogar noch vor der Aufklärung selbst in zunehmendem Maße zivilisiert und "aufgeklärt" worden war. Das Zeitalter der Entdeckungen hielt einem Europa, das anfing, aus den mittelalterlichen Anschauungen auszubrechen und sich von der dogmatischen katholischen Weltsicht freizumachen und dabei auf seine eigenen primitiven Wurzeln "zurückblickte", das konstante Bild eines anderen Aspekts des Menschseins vor.

Das Zeitalter der Entdeckungen, in dem auch der Kolonialismus entstand, bot die Gelegenheit für die unmittelbare Untersuchung grundlegend verschiedener Völker, die der Vorläufer der Feldstudie und der teilnehmenden Beobachtung war. Die letztere Methode, ein grundlegender methodischer Beitrag der Anthropologie, ist eine Weiterentwicklung der Vorstellung der romantischen Historiker, daß Engagement gegenüber dem "Gegenstand der Untersuchung" für ein historisches Verständnis unverzichtbar sei. Die Mehrheit der späteren Historiker von Belang, ob sie nun mit der romantischen Tradition in sachlichem Zusammenhang stand oder nicht, hat dieses Prinzip als notwendige Vorbedingung historischen Wissens akzeptiert. Marc Bloch hat das so ausgedrückt:

Hinter den Landschaftsmerkmalen, hinter Werkzeugen oder Maschinen, hinter den anscheinend formalisiertesten Dokumenten und hinter den Institutionen, die von ihren Begründern fast völlig abgelöst zu sein scheinen, stehen Menschen, und Menschen sind es, die die Geschichte begreifen will. (Bloch 1955, 151)

Die bloße Untersuchung von Formen verstellt uns also den Zugang zu funktionalen Äquivalenten, mit denen verschiedene Formen verglichen werden können. Darunter leidet unser umfassenderer Sinn für die geschichtlichen Ebenen, und wir berichten in unserer formalen Arbeit zum Beispiel nicht darüber, was es heißt, sich in einer menschlichen und natürlichen Welt der Stammesverwandtschaft im Gegensatz zu einer technisch und sachlich definierten Schicht der zivilisierten Gesellschaft zu bewegen. Die Untersuchungen des phantastischen Fächers von unveränderlichen Kulturformen, die die Menschen erfunden haben, kann als Raster für eine kritische Ästhetik dienen; sie sind auch der Grund dafür, daß es Museen gibt, diese Ablagen für die Beute von Raubzügen und Hinterlassenschaften imperialistischer Macht. Die tiefere Betrachtung ästhetischer Formen verlangt jedoch nach dem menschlichen Kontext, für die funktionale Innerlichkeit gibt es keinen Ersatz.

Trotz ihrer vorwiegenden Konzentration auf Abstraktes und Formales bekundet die Mehrzahl der Anthropologen nebenher eine tiefe Zuneigung und Achtung für ihre primitiven Gesprächspartner. In dem Buch In the Company of Man gelangt eine Anzahl von Anthropologen, die ein breites Spektrum von geographischen und thematischen Interessen repräsentieren, übereinstimmend zur gleichen Meinung über den außergewöhnlichen Charakter ihrer Gesprächspartner: sie werden als ausdrucksstark, scharfsinnig, tapfer, würdevoll und als starke Persönlichkeiten usw. beschrieben. In anderen Werken dokumentieren Colin Turnbull, Elizabeth Marshall, Laura Bohannon, Monica Wilson, Knut Rasmussen und Peter Freuchen, um nur ein paar zu nennen, die vielschichtige Menschlichkeit primitiver Völker. Häufiger steht dies, wie bereits bemerkt, im scharfen Gegensatz zu mehr technischen Aspekten ihrer Arbeit. Das heißt, daß die untersuchten Gesellschaftsformen nicht mit dem Kulturzustand in Zusammenhang gebracht werden, der mit mehr persönlichen Aussagen beschrieben wird.

Wenn sie sich also auf teilnehmende Beobachtung einlassen, stehen die Anthropologen in der romantischen Tradition der historischen Forschung, die wiederum auf der retrospektiven Tradition der Aufklärung beruht, die ihren Ausdruck im Zeitalter der Entdeckungen fand. Die Bereitschaft, mit der die meisten Anthropologen die Leitsätze der teilnehmenden Beobachtungen in kleinen Gemeinschaften akzeptieren, läßt auf etwas schließen, was über den bloßen Stolz auf ein Verfahren hinausreicht. Meiner Ansicht nach ist dies ein Symptom für eine Haltung, die den Anthropologen als zivilisierten Individuen in Bezug auf die Unzulänglichkeit zivilisierter menschlicher Zusammenschlüsse gemeinsam ist. Wir Anthropologen nehmen die weit zurückliegende Vergangenheit ernst. Wir versuchen, uns zum Sprecher für Gesellschaften zu machen, denen nicht gestattet wurde, für sich selbst zu sprechen, und wir schätzen die Dinge, die Menschen schaffen. Unsere Aufgabe ist die Erhaltung, nicht die Zerstörung. Wir sind Spezialisten für Tradition in einem Zeitalter, das zunehmend traditionsloser wird, und wir haben uns immer noch in großem Umfang selbst dafür entschieden, Völker abseits des Hauptstroms der gegenwärtigen Zivilisation zu untersuchen. Wir haben eine genügend hohe Meinung von solchen Völkern, daß wir unter ihnen leben, von ihnen lernen, sie achten und im Lichte dieser Erkenntnisse uns selbst und unsere Gesellschaft überprüfen können. Ein weiterer und positiver Ausdruck unseres Grenzgängertums liegt darin, daß wir nach einer Kultur suchen, der wir uns anvertrauen können. Man sollte uns nicht mit den Anhängern einer abstrakten und juristischen Vorstellung der Weltregierung verwechseln. In dieser vielleicht letzten Phase der Ära imperialistischer Staaten, nicht der Nationen oder Nationalitäten, könnte dies eine gefährliche Einstellung sein. Wir sind uns klar darüber, daß sich die Chancen für kulturelle Vielfalt in der Welt von heute verengen, daß Gebräuche und Sprachen verloren gehen. Wir machen uns darüber Sorgen, und wir lassen uns von politischer Propaganda oder Fortschrittsbeteuerungen nicht irremachen. Ein Leitsatz wie "Unser einziges Erzeugnis ist der Fortschritt" stößt uns ab, und die meisten von uns würden Lévi-Strauss zustimmen, wenn er schreibt: "Die Zivilisation erzeugt eine Monokultur wie die der Zuckerrüben." Dies jedenfalls ist unser Selbstbild und die Idealposition, die wir vertreten.

Wenn Anthropologen (oder Personen in verwandten Disziplinen, die die Methode von uns übernommen haben, genau wie wir sie von den romantischen Historikern übernommen haben) sich auf teilnehmende Beobachtung in ihren eigenen Gesellschaften einlassen, können wir dies sowohl als wissenschaftliche wie auch als persönliche Anstrengung auffassen, menschliche Bindungen zu erzeugen, die in der zeitgenössischen Industriegesellschaft in hohem Maße eingeschränkt, abgeschwächt oder spezialisiert sind. Eben der Bedarf nach Feldarbeit unter Menschen aus unserer eigenen Gesellschaft ist natürlich ein Symptom für die Auflösung, die wir mit der "Komplexität der Gesellschaft" verwechseln, da die Feldstudien unter der Mittelschicht natürlich von Intellektuellen aus der Mittelschicht durchgeführt werden. Daß sie entsetzt sind über das, was sie erfahren, kommt häufiger vor als das Gegenteil. Dies läßt auf ein Ausmaß an sozialer und menschlicher Ignoranz über uns selbst schließen (ich meine das nicht abwertend, das gilt für uns alle), das unter primitiven Menschen unvorstellbar ist. Die außergewöhnliche Zunahme psychologischer Berater jeder nur vorstellbaren Art – die keine Schamanen, keine Dramatiker, keine Schöpfer von Bedeutung sind, sondern Anpassungshilfen, jene störungsanfälligen Sicherheitsventile für den emotionalen Untergrund unserer rationalisierenden Zivilisation – ist ein paralleles Symptom dafür, wie sich die zwischenmenschlichen Beziehungen verhärten und in Förmlichkeit erstarren.

Der "Wilde", schrieb Rousseau, "führt sein Leben in sich selbst: der zivilisierte Mensch ... lebt in der Meinung der anderen." (1960, 28) Wir können dies neu formulieren: In der zeitgenössischen Zivilisation löst sich die Person tendenziell im Status oder in der Rolle auf. Bei den Primitiven dagegen werden neue Statuspositionen von der Person assimiliert, die sich durch Krisenriten so weit entwickelt, daß sie sie ausfüllen kann, durch rituelle Dramen, die psychologisch und körperlich schmerzhaft sein können, dem Primitiven aber eine Reihe von Sternstunden im lebenden Drama auf einer sozialen Bühne mit einem Chor von Stammesverwandten verschaffen.

Die teilnehmende Beobachtung stellt in unserer Gesellschaft eine Anstrengung dar, hinter die unendliche Regression sozialer Masken zu kommen, die die überzivilisierten Soziologen, die sich in einem verdinglichten Labyrinth von Rollen und Statusuntersuchungen verirrt haben, mit der persönlichen Realität und einer Art ewiger menschlicher Wahrheit verwechseln. Dies entspricht dem Bedürfnis der Anthropologen als Vertreter der Zivilisation, eine Vorstellung vom Primitiven zu konstruieren; die deswegen an primitiven Gesellschaften teilnehmen, um uns sagen zu können, was es heißt, einer menschlichen Situation zu begegnen, und was es bei einer Feldstudie in unserer eigenen Gesellschaft heißt, bloß eine menschliche Begegnung zu suchen. Der Erfolg in jeder dieser beiden Bemühungen kann sogar im Gegensatz zum beruflichen Erfolg stehen, da sich der Anthropologe dafür entscheiden kann, zu schweigen.

Die Aufklärung brachte eine reifere Version des Primitiven hervor (im Unterschied zu dem früheren "Primitivismus"), die von Rousseau definiert wurde und im zwangsläufigen Zusammenhang stand mit seiner harten Kritik der in Entstehung begriffenen modernen Kultur; sie war natürlich auch der Anfangspunkt einer modernen Sicht der aufkommenden weltlichen Zivilisation. Bestärkt durch die neuen Techniken, die zur Kontrolle der natürlichen Umwelt zur Verfügung zu stehen scheinen, und begeistert durch die Chancen und die Möglichkeiten einer neuen Wissenschaft, die auf Newton, Bacon und Locke fußte, suchten die englischen Vorläufer der Aufklärung, die Enzyklopädisten im allgemeinen, nach einer empirisch abgeleiteten, rationalen logischen Periodeneinteilung der Gesetze von Natur und Gesellschaft und nach der Enthüllung eines neuen Menschen, der von allen Formen des Aberglaubens und des Vorurteils der Vergangenheit befreit wäre. Dieser vorwärtsblickende Trend im Denken der Aufklärung, dieser evolutionäre Drang in die Zukunft hing aufs engste mit seinem scheinbaren Gegenteil zusammen: mit den retrospektiven Bemühungen um eine dauerhaftere Definition der Natur des Menschen und um die Erfüllung der menschlichen Bedürfnisse in einer geeigneten sozialen Umwelt. Das Denken der Aufklärung versenkte sich in die Vergangenheit, um ein lebensfähigeres Zukunftsbewußtsein zu entwickeln. Die Denker der Aufklärung neigten jedoch dazu, sich auf einen oder den anderen dieser beiden Hauptströme zu konzentrieren. Rousseau, der von der aufkommenden Bourgeoisie, der neuen Verstädterung, dem alles durchdringenden Kommerzialismus und Erwerbsstreben, den sturen Bürokratien und der Ablösung der Menschen von natürlichen und menschlichen Rhythmus befremdet war, widmete den größten Teil seiner geistigen Schaffenskraft der rückblickenden Suche nach der Möglichkeit, eine Einheit aus technischer Ausbildung und menschlicherer Sozialisierung zu schaffen, und er wandte sich der Rolle des menschlichen Willens bei der Schaffung und Duldung von Regierungen zu. Wichtig ist jedoch, sich daran zu erinnern, daß dies eine Frage der Schwerpunktbildung war. Ungeachtet der Epigramme Voltaires hat Rousseau nie den Rat gegeben, zu irgendeinem historisch spezifischen "Naturzustand" zurückzukehren, ja er verwarf eine solche Rückkehr als unmöglich. Zwar wunderte er sich darüber, warum die Menschen jenes relativ schöpferische Leben aufgegeben haben, das wir wahrscheinlich als frühes Neolithikum bezeichnen würden –, ein Problem, das alles andere als gelöst ist –, doch er beantwortet seine Fragestellung verblüffend gut und nimmt in allgemeinen Umrissen die Arbeit der evolutionären Prähistoriker, von Gordon Childe, Graham Clark und anderen vorweg. Es kann kein Zweifel daran sein, daß seine Abhandlung über die Ursprünge der Ungleichheit die erste systematische Anstrengung von Belang ist, eine umfassende Theorie der Entwicklung von Kultur und Mensch zu konstruieren; sie ist der erste Entwurf eines allgemeinen anthropologischen Werks.

Rousseau sprach durchgehend von der "Vervollkommnungsfähigkeit" des Menschen, er glaubte an die Möglichkeit des Fortschritts. Für ihn war der Fortschritt das Ergebnis einer Dialektik zwischen Vergangenheit und Gegenwart, kein blindes Sichstürzen auf das Neue, kein mechanistischer Zwang. Er erkannte jedoch, daß bestimmte menschliche Chancen auf unnachahmliche Weise in den lebensfähigen Gesellschaften primitiver Völker schöpferisch realisiert worden waren. Im Gegensatz dazu gehörten Condorcet, Quesnay und die meisten Philosophen ihrer Zeit hauptsächlich zur vorwärtsblickenden Richtung – Condorcet schrieb seinen Abriß einer historischen Darstellung des Fortschritts des menschlichen Verstandes, während er sich vor dem Terror versteckte, er beging vermutlich in Robespierres Gefängnissen Selbstmord; er war nicht progressiv genug, da er sich gegen die Todesstrafe für den entthronten König ausgesprochen hatte. Hat je ein bedeutender Philosoph das dialektische Bewußtsein der Rückkehr ganz aufgegeben, durch das die Zukunft lebenswert wird, und das das Kennzeichen des echten Historikers ist?

Die moderne Anthropologie ist also der natürliche Erbe der Aufklärung, des entscheidenden Zeitalters der zeitgenössischen Zivilisation. Unser grundlegendes Bemühen um den Primitiven entspringt der Nutzanwendung, die Rousseau und andere aus dem Zeitalter der Entdeckungen (oder der unmittelbar bevorstehenden Eroberung) ziehen wollten. Die teilnehmende Beobachtung, diese weitere Verfeinerung der Feldstudie, beruht auf einem Sinn für Geschichte, auf dem Bemühen, das Bewußtsein der Akteure der Vergangenheit zu durchdringen und unser soziales Dasein im Vergleich zu ihrem zu bewerten. Unsere progressiven, evolutionären, gesetzmäßigen, materialistischen und weltlichen Interpretationen der Entwicklung des Menschen verbinden uns mit den vorwärtsblickenden Enzyklopädisten. Unser Ringen mit dem Problem der menschlichen Natur, mit seiner Vielfalt und Einheit, unsere Wertschätzung der kulturellen Vielfalt, unser Mißtrauen gegenüber der Zivilisation, und unsere Beschäftigung mit den kontrastierenden Werten der primitiven Gesellschaft stellen uns in die retrospektive Tradition.

Es gibt jedoch ein Erbe der Aufklärung, das wir verloren haben: die theoretisch-instrumentale Einheit von Denken und Handeln. Kein Denker der Aufklärung hatte das Gefühl, daß er in den Wind redete; sie entwickelten alle ihre Ideen in einer experimentierenden, gefährlichen und sich wandelnden Umwelt. Im Guten wie im Schlechten wurde der geborgene Scholastiker als Gegner aus dem Mittelalter begriffen. Die Denker der Aufklärung sprachen einerseits den gewöhnlichen Bürger an (die Enzyklopädie erfuhr in Frankreich eine umfassende Verbreitung, die sich natürlich auch nach der Verbreitung des Lesens und Schreibens richtete; die Streitschriften der amerikanischen Revolution wurden beim Frühstück gelesen) und wirkten andererseits als Revolutionäre, Staatsminister und Lehrer (aber unabhängige Lehrer) von Königen. Kein Denker der Aufklärung hätte mit Ralph Linton den Schluß ziehen können, daß klare Anzeichen dafür vorhanden sind, daß sich auch diese Ära der Freiheit ihrem Ende nähert, und kaum Zweifel daran bestehen kann, daß der neuen Ordnung die Untersuchung von Kultur und Gesellschaft als erstes zum Opfer fallen wird. Im totalitären Staat gibt es dafür keinen Platz. Tatsächlich ist es eine Kritik der bestehenden Ordnung, ein Hinweis darauf, daß ihre Vollendung angezweifelt wird, wenn Menschen sich für diese Dinge interessieren. Wenn die Geschichte sich nicht irrt, wird der Sozialwissenschaftler den Weg des griechischen Philosophen gehen. Er wird jedoch ... ein Erbe von Methoden zur Untersuchung und von ausgemachten, jedoch ungelösten Problemen hinterlassen; eine neue Außengrenze, über die freie Köpfe bisweilen hinaus ins Unbekannte drängen werden. Wenn diese Zeit anbricht, vielleicht nach Jahrhunderten der Verdunkelung und des Stillstands, werden die Menschen auf uns zurückblicken wie wir auf die Griechen.

Hier also haben wir einen Anthropologen, der seiner Verbitterung darüber Ausdruck gibt, daß er gesellschaftlich und politisch ohnmächtig ist, und damit seinen Wunsch gesteht, anders zu sein, wie die Aufklärer zu sein. Der einzige praktische Nachhall des Imperatives zum Handeln der Aufklärung findet sich im zweifelhaften Milieu der angewandten oder handelnden Anthropologie, die bei den grundlegenden gesellschaftlichen Entscheidungen unserer Zeit keine Stimme hat, sondern vielmehr deren Abklatsch ist. Unsere Vorfahren aus dem achtzehnten Jahrhundert haben ihre revolutionären Impulse auf eine Vielzahl von Arten eingelöst, sie haben jedoch keine revolutionäre Wissenschaft geschaffen, obwohl dies eindeutig Rousseaus Absichten entsprach.

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