Auszüge aus Mario Erdheim's
"Die Psychoanalyse und das Unbewußte in der Kultur"

Aufsätze 1980 – 1987

Überwindet die Psychoanalyse ihr therapeutisches Selbstmißverständnis und verzichtet sie auf die kulturell vorgegebene Legitimation, nur als Therapie sich aufs Unbewußte einlassen zu können, so gewinnt sie ein neues Verhältnis zu Wissenschaft und Kultur. Indem die Psychoanalyse mit ihrer Methode die gesellschaftliche Produktion von Unbewußtheit untersucht, stößt sie auf die Wurzeln der Gewalt und folgt deren Verästelungen sowohl in der Wissenschaft selber als auch in anderen Bereichen der Kultur.

Der Band enthält eine Sammlung von Aufsätzen Mario Erdheims aus den letzten Jahren. Der erste Teil handelt von Wissenschaft und Unbewußtheit; der zweite reflektiert die Folgen der Institutionalisierung der Psychoanalyse; der dritte Teil enthält Beiträge zur psychoanalytischen Theorie, insbesondere zur Stellung der Adoleszenz zwischen Familie und Kultur. Im vierten Teil werden Erscheinungsformen des gesellschaftlich Unbewußten – vom Hexenwahn bis zu den aktuellen apokalyptischen Untergangsphantasien – ethnopsychoanalytisch analysiert.

Mario Erdheim, 1940 in Quito geboren, studierte Ethnologie, Geschichte und Psychologie in Wien, Basel und Madrid, lehrte an verschiedenen Universitäten in der Bundesrepublik und in der Schweiz und arbeitet als Psychoanalytiker in Zürich. 1982 erschien im Suhrkamp Verlag sein Werk Die gesellschaftliche Produktion von Unbewusstheit. Eine Einführung in den ethnopsychoanalytischen Prozess.

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Vorwort

Die in diesem Buch gesammelten Aufsätze sind zwischen 1980 und 1987 entstanden, zwei davon in Zusammenarbeit mit Maya Nadig. Die meisten gingen aus Vorträgen hervor, in welchen ich die Relevanz der Psychoanalyse für das Studium der Kultur aufzeigen wollte. Die Vielfalt der Themen mag befremden und den Verdacht nähren, der Autor habe einen Rückfall in die kulturimperialistische Phase der Psychoanalyse erlitten, als diese sich noch anmaßte, alles "analysieren" zu können – es ging aber darum, die analytische Einheit der Psychoanalyse zu erproben und sie einer therapeutisch halbierten Psychoanalyse entgegenzusetzen.

Die Entwicklung der Psychoanalyse in Zürich ebenso wie das intellektuelle Klima in Frankfurt bestärkten mich darin, an Freuds Entwurf der Psychoanalyse als scienza nuova festzuhalten und von ihr aus die das Subjekt ausklammernden Wissenschaften zu kritisieren. Indem sie das Subjekt – und zwar sowohl als Erkenntnisgegenstand wie auch als Forscher – ausklammern, beteiligen sich die Wissenschaften selbst an der Produktion von Unbewußtheit und sondern die Irrationalität aus, welche die gesellschaftlichen Probleme als unlösbar erscheinen läßt. Der erste Teil der Beiträge untersucht die Wissenschaften unter diesem Aspekt.

Der zweite Teil kritisiert die institutionalisierte, auf das Therapeutische beschränkte Psychoanalyse, insofern sie gesellschaftlich die Unbewußtheit schafft, die sie bei den Patienten zu verringern sucht. Durch die Ausbildungsrichtlinien ebenso wie durch die Verkehrsformen innerhalb der Institution verkindlicht sie ihre Mitglieder derart, daß Kultur ihnen nur als Familie und als Ergebnis frühkindlicher Sozialisation erscheinen kann. Die Schwierigkeiten der psychoanalytischen Theorie mit der Adoleszenz und der Weiblichkeit, mit dem Phänomen der Arbeit und der Kultur haben auch mit der wissenschaftlichen Sozialisation des Psychoanalytikers und den darin implizierten Entmündigungsprozessen zu tun. Man vergißt leicht, daß die Psychoanalyse Leben und Denken, Alltagserfahrung und Theorie in neue Zusammenhänge brachte, und zwar so, daß sie deren gegenseitige Abhängigkeit aufwies. Die Psychoanalyse trat das Erbe derjenigen Philosophie an, die die Fragen nach dem richtigen Leben stellte, und der Psychoanalytiker kann sich nicht mit der gleichen Naivität, wie etwa der klassische Naturwissenschaftler, vor der Frage drücken, wie sein Leben (und zum Beispiel seine Ausbildung) mit seiner Theorie und umgekehrt zusammenhängen.

Die Aufsätze des dritten Teils thematisieren die Bedeutung der Adoleszenz und den Antagonismus zwischen Familie und Kultur. Ich vertrete die These, daß der Konflikt zwischen Familie und Kultur für das adoleszente Individuum ebenso prägend ist wie der ödipale Konflikt in der Kindheit. Ein weiterer Schwerpunkt bildet die Theorie einer Repräsentanz des Fremden, das heißt des inneren Bildes, das man sich von denjenigen macht, die nicht Mutter und nicht Vater, nicht Geschwister, kurz: nicht Familie sind. Daß ich als Ethnologe mich für das Fremde interessierte, ist nicht weiter verwunderlich: Wegen der Bezauberung durch das Fremde fühlte ich mich zur Ethnologie hingezogen. Und in der fremden Kultur merkt man, daß man zu Erkenntnissen kommt, eben weil man ein Fremder ist. Der Psychoanalytiker ist aber auch ein Fremder, und man kann die Abstinenzregel auch so interpretieren, daß sie den Analytiker für den Analysanden als Fremden bewahren soll. Die "Einbürgerung" der Psychoanalyse in den akademischen Betrieb hob ihre Fremdheit auf und trübte ihr Erkenntnisvermögen. Wenn das Unbewußte nach Freud das "innere Ausland" ist, so ist man dort immer ein Fremder. Das muß man ertragen lernen.

Der vierte Teil kreist um die Gewalt und die Faszination, die sie auf uns ausübt. Ich greife dort Fragestellungen auf, die ich bereits in der Gesellschaftlichen Produktion von Unbewusstheit entwickelt habe, wende sie aber vermehrt auf die eigene Kultur an, auf das Militär, auf den Hexenwahn ebenso wie auf die gegenwärtige Ausbreitung von Untergangsphantasien, die mit einem christlichen Fundamentalismus einhergeht. Es scheint, als ob wieder religiöse Quellen angezapft werden müßten, um eine kulturelle Identität zu stützen, die aus der gesellschaftlichen Arbeit nicht mehr abgeleitet werden kann. Den Band beschließen zwei Aufsätze zur Problematik kultureller Identität. Die ethnische Frage, die durch die moderne Gesellschaft gelöst schien, stellt sich neu und zwingt, historische Prozesse neu zu durchdenken.

Zum Schluß danke ich Heinz Nigg, der mir bei der Zusammenstellung und Kürzung der Aufsätze half.

Zur psychoanalytischen Kritik der Wissenschaften

Die Wissenschaften, das Unbewußte und das Irrationale (Vier Tendenzen im ethnologischen und psychiatrischen Denken)

Die Geschichte der Wissenschaft ist zuerst einmal eine Geschichte des menschlichen Bewußtseins, eines Bewußtseins, das sich mühsam gegen die Magie des aus dem Unbewußten wirkenden Narzißmus behaupten konnte. Freud hat auf die drei schweren Kränkungen hingewiesen, die die Eigenliebe der Menschheit durch die wissenschaftliche Forschung erfahren hat: Kopernikus nahm dem Menschen den Glauben, im Mittelpunkt des Weltalls zu stehen; Darwin belegte die Zugehörigkeit des Menschen zum Tierreich, und Freud schließlich verwies darauf, daß "das Ich nicht Herr sei im eigenen Haus" (1917: 11). Aus dieser Sicht heraus erscheint Wissenschaft als Gegensatz zur Unbewußtheit. Nur in dem Maße, wie es dem Menschen gelingt, die unbewußten, sich vorwiegend aus dem Narzißmus speisenden Widerstände zu überwinden, kann er sich ein wissenschaftliches Bild von sich und seiner Welt schaffen. Aber der Mensch gibt seinen Narzißmus und seine Allmachtswünsche nicht so leicht auf. Auch das wissenschaftliche Bewußtsein ist nicht Herr im eigenen Haus, und die Wissenschaft steht im Dienste des Narzißmus und der Allmacht.

An sich wäre das ja nichts Schlimmes – wäre es nicht sogar etwas Wünschenswertes, stünde die Wissenschaft im Dienste der Eigenliebe der Menschheit? Könnten nicht so den destruktiven Tendenzen, denen die Wissenschaft doch offensichtlich gehorcht, Grenzen gesetzt werden? Wenn wir diesen Fragen nachgehen, kommen wir schnell darauf, daß es (leider) das Subjekt "Menschheit", das narzißtisch sein könnte, so nicht gibt – was es gibt, das sind Herrschende und Beherrschte, und "Narzißmus" bedeutet je nachdem, ob man "oben" oder "unten" ist, jeweils etwas anderes.

Um das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Unbewußtheit zu untersuchen, müssen wir kurz auf das Verhältnis von Herrschaft und Unbewußtheit zu sprechen kommen. Entscheidend dafür ist der Umstand, daß die Evolution der Gesellschaft, das heißt die Entwicklung komplexerer Formen sozialen Zusammenlebens, nicht nur mit der Produktion neuer Formen von Bewußtsein einherging, sondern auch mit der Produktion von Unbewußtheit. Die soziale Evolution vollzog sich unter dem Vorzeichen der Herrschaft, und da die Aufrichtung von Herrschaft nicht unter dem Druck von Einsichten, sondern von Gewalt stattfand, war das, was unbewußt gemacht werden mußte, die Aggression, die sich gegen die ihre Macht ausdehnende Herrschaft richtete. Durch Unbewußtmachung sollte verhindert werden, daß das durch die Machtträger hervorgerufene Anwachsen des Aggressionspotentials der Beherrschten in Kritik und aktiven Widerstand umschlagen könnte. Der Prozeß der Hierarchisierung der Gesellschaft verwandelte auch die Dynamik des psychischen Haushaltes der Herrschenden: Während in egalitären Gesellschaften der Narzißmus des Häuptlings im Dienste der Gemeinschaft steht, diese ihn mittels seines Narzißmus kontrollieren und lenken kann, so kommt es in Klassengesellschaften tendenziell zu einer Explosion des Narzißmus im Rahmen der Herrschaft. In Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921) charakterisierte Freud den Angehörigen einer herrschenden Klasse:

Wir nehmen konsequenterweise an, daß sein Ich wenig libidinös gebunden war, er liebte niemanden außer sich, und die Anderen nur, insoweit sie seinen Bedürfnissen dienten. Sein Ich gab nichts Überschüssiges an die Objekte ab. (1921: 138)

Am sozialen Ort der Herrschaft dient die politische Macht dem Narzißmus: Was ihn in Frage stellt, soll ausgelöscht werden, und wo die Gewalt nicht dazu ausreicht, ist die Bereitschaft vorhanden, jene kränkenden Bereiche aus der Wahrnehmung auszuschließen und sie unbewußt zu machen. In dem Maße, wie sich die Gesellschaft in Klassen spaltete und sich divergierende Klasseninteressen entwickelten, nahm die gesellschaftliche Produktion von Unbewußtheit zu und trat in ein spannungsvolles Verhältnis zur gleichzeitig und notwendig sich entfaltenden rationalen Bewältigung von Natur und Gesellschaft. Aus dieser Spannung entspringt all das, was als irrational bezeichnet wird.
Das Irrationale ist immer ein Streitobjekt am Schnittpunkt wissenschaftlicher und nichtwissenschaftlicher Erklärungsansätze. Man kann es auch so sagen: Das Irrationale taucht dort auf, wo die wissenschaftliche Erklärung davon, aufgrund anderer Bewältigungsversuche der Realität, in Frage gestellt wird.

Zwei Wissenschaften, die eng mit dem Irrationalen verknüpft sind, sind Ethnologie und Psychiatrie. Innerhalb der Arbeitsteilung der verschiedenen Wissenschaften haben sich die beiden aus der Bearbeitung der außereuropäischen Kulturen bzw. der Geisteskrankheiten heraus entwickelt. Auf den ersten Blick scheint es sich um so grundsätzlich verschiedene Bereiche zu handeln, daß ihre Gegenüberstellung sinnlos erscheint, um das Verhältnis der Wissenschaften zum Irrationalen besser zu verstehen. Hebt man jedoch hervor, daß sie je spezifische Formen von Irrationalität dadurch produzieren, daß sich die eine Wissenschaft, die Ethnologie, mit dem Anderssein der fremden Völker und die Psychiatrie mit dem Anderssein in der eigenen Kultur beschäftigte, so bekommen wir einen Ansatz, um verschiedene Formen des Irrationalen in ihrem Bezug zur Wissenschaft zu untersuchen.

Die "Wilden" ebenso wie die "Irren" fielen durch ihre ganz andere Art des Verhaltens auf und forderten in extremer Weise das Orientierungs- und Abgrenzungsbedürfnis des Wissenschaftlers heraus. Um die Infragestellung der gewohnten Anschauungen und Normen zu vermeiden, mußten die Unterschiede auf Kosten der Gemeinsamkeiten desto mehr betont werden. Die Abwehr der Versuchung, die Werte der eigenen Kultur der Normalität durchzudenken und neue Lebensformen in Erwägung zu ziehen, machte aus Psychiatrie und Ethnologie einander stützende "Zwillingswissenschaften" (Dubreuil und Wittkower, 1976: 131) mit entsprechenden Ähnlichkeiten im Ablauf ihrer Geschichte (Parin 1976a: 93). Die Ethnologie erscheint als eine Psychiatrie der "Wilden" oder "Naturvölker" und die Psychiatrie als eine Ethnologie der "Irren". Beide Wissenschaften lieferten somit wirksame Bilder davon, was als irrational zu gelten hatte.

Die Aufarbeitung der Geschichte von Ethnologie und Psychiatrie ist im letzten Jahrzehnt stark vorangetrieben worden; in der Ethnologie wurde ihre Verknüpfung mit dem Kolonialismus (Jaulin 1972; Leclerc 1973) und in der Psychiatrie ihre Verflechtung mit dem Kapitalismus (Dörner 1969; Foucault 1969) denunziert. Die Thesen lauteten: Das Konzept des Wahnsinns ist ein Produkt der Ausgrenzung der Unvernunft (Foucault), dasjenige der Wilden ein Produkt der Ausschließung von Natur (Duerr 1978), und beide Vorgänge verlaufen entlang den Kraftlinien des europäischen Zivilisationsprozesses. Diese Kritik gab sich so konsequent, daß es heute geradezu unmöglich erscheint, Psychiatrie oder Ethnologie, ja Wissenschaft überhaupt, zu betreiben, ohne zum Komplizen repressiver Vernunft und kapitalistischer Machthaber zu werden. Es ist, als wenn Freiheit und Menschlichkeit nur noch auf der Seite des Irrationalen zu finden und zu leben wären.

Ich war aber davon ausgegangen, daß Irrationalität das Produkt rivalisierender Erklärungsansätze ist. Nun sind die Wissenschaft und ihre Geschichte keineswegs so homogen in ihrer Struktur noch so unilinear in ihrem Ablauf, wie es etwa Foucault (1969, 1976) darstellt. Es stimmt zwar, daß das, was zu einer Zeit als institutionalisierte Wissenschaft gilt, mit der herrschenden Klasse eng verknüpft ist; es hieße jedoch, sich mit den Normen eben dieser Klasse identifiziert zu haben, nähme man an, nur das jeweils Institutionalisierte sei tatsächlich Wissenschaft und alles andere nicht. Durchaus fasziniert von Foucaults Thesen, mußte ich mit Überraschung bemerken, daß zu jeder Zeit mindestens vier verschiedene Arten von wissenschaftlicher Realitätsbewältigung gleichzeitig nebeneinander existieren können, daß aber in der Regel nur eine von ihnen offiziell als Wissenschaft anerkannt wird. Versuchsweise bezeichne ich sie als "entfremdende", "verwertende", "idealisierende" und "verstehende" Tendenz. Das Irrationale nimmt in jeder dieser Tendenzen eine andere Gestalt an.

Die entfremdende Tendenz

Ursprünglich wollte ich jene Sichtweisen der Ethnologie und Psychiatrie zusammenfassen, die den Geisteskranken bzw. den Angehörigen fremder Kulturen seiner Menschlichkeit so entfremden, daß er wie ein in seinen Handlungen und Äußerungen unverständliches, irrationales Wesen erscheint. Zu dieser Entfremdung kommt es dort, wo eine Gruppe die andere durch nackte Gewalt beherrscht. Der in dieser Situation entstandene Diskurs der Herrschenden über die anderen dient nur der Entfesselung und Legitimation der Gewalt und zielt gar nicht darauf, eine adäquate Beschreibung der Beherrschten zu ermöglichen. Statt dessen entsteht eine Phantasmagorie (etwa über die hemmungslose Gewalttätigkeit der "Wilden" und "Irren"), deren Grundstock aus Projektionen von Eigenschaften der Herrschenden selber oder aus jenen Elementen besteht, die eine Gruppe auf ihrem Weg zur Herrschaft abbauen oder abwehren mußte. Daher erscheinen die "anderen" als disziplin- und hemmungslos, dumm, aber fröhlich, heimtückisch und abergläubisch, das heißt als Verkörperung der Eigenschaften, die Herrschaft erschweren oder verunmöglichen.

Aber diese Darstellung der entfremdenden Tendenz berücksichtigt zu einseitig die phantasmagorische Art der Realitätsbewältigung und vernachlässigt den Umstand, daß Aussagen über die Realität auch in der Entfremdung möglich sind. Die Entwicklung der Medizin zum Beispiel, die mit der Prämisse arbeitete, daß der Körper wie eine Maschine funktioniert, zeigt, daß man zu relevanten Ergebnissen kommen kann, auch dann, wenn man von einem typischen Merkmal des Menschen, dem Bewußtsein, absieht. Auch der neurologische Zweig der entfremdenden Psychiatrie hat zu wesentlichen Erkenntnissen über die Geisteskrankheit geführt. Es wäre also falsch, die entfremdende Tendenz allein dadurch charakterisieren zu wollen, daß sie Ideologie produziere und Erkenntnis verhindere.

Horkheimer und Adorno haben in der Dialektik der Aufklärung (1947) die Merkmale der entfremdenden Tendenz beschrieben, diese aber, ähnlich wie Foucault, zum Wesen der aufklärerischen Wissenschaft hypostasiert. Das Werk von de Sade stellt für sie das Modell eines Denkens dar, welches auf der Grundlage der totalen Gewalt des Forschers über sein Objekt zur reinen Wissenschaft geworden ist, die keine Schranken mehr kennt. Dühren, der Biograph des Marquis, schrieb über ihn:

Er ist der Theoretiker des Lasters, insofern er nach eigener Lektüre und Beobachtung alle geschichtlich nachweisbaren und zu seiner Zeit sich ereignenden Anomalien des Geschlechtslebens in seinen Hauptwerken mit unleugbarem Scharfsinn beschrieben und zusammengestellt hat. Was R. v. Krafft-Ebing in Form einer wissenschaftlichen Monographie (Psychopathia sexualis, 1886) getan hat, das hat schon hundert Jahre früher der Marquis de Sade in Form eines Romans geleistet. (1922: 456)

Neuerdings hat Oppitz de Sade auch für die Ethnologie beansprucht:

[Er] ist der erste anthropologische Theoretiker, der hier [in den 120 Tagen von Sodom, M.E.] Heirat als kommunikatives System ausdrücklich dargestellt hat. (1975: 78)

Zweifellos ist der Marquis in seinen Schriften zu gültigen Ergebnissen über die menschliche Natur gekommen, und er hat – zumindest in der Phantasie – die totale Gewalt als Instrument der Erkenntnis eingesetzt. Was aber in seinen Romanen noch unverschleiert angesprochen wird, hat sich später im wissenschaftlichen Diskurs versteckt. Hinter dessen Kategorien, Distanzierungen und Obiektivierungen steht noch dieselbe Einstellung wie die, welche de Sade zu seinen Erkenntnissen führte. Nietzsche hat diesen "Sadismus" deutlich erspürt, wenn er von der Grausamkeit des Erkennens spricht:

Zuletzt erwäge man, daß selbst der Erkennende, indem er seinen Geist zwingt wider den Hang des Geistes und oft genug auch wider die Wünsche seines Herzens zu erkennen ... als Künstler und Verklärer der Grausamkeit waltet; schon jedes Tief- und Gründlich-Nehmen ist eine Vergewaltigung ... schon in jedem Erkennenwollen ist ein Tropfen Grausamkeit. (1886: 156 f)

Für ihn ist eine Art Grausamkeit des intellektuellen Gewissens und Geschmacks eine der wichtigsten Tugenden des "freien Geistes", dessen Willen zum Erkennen Ausdruck vom Willen zur Macht ist. Diesen Willen zur Macht und die darin implizierte Bereitschaft zur Grausamkeit (gegen sich sowie den anderen) betrachte ich als das grundlegende Merkmal der entfremdenden Tendenz. Als irrational gilt ihr all das, was sich nicht der Gewalt beugt, durch sie nicht erfaßbar ist und Herrschaft nicht nur nicht anerkennt, sondern sich ihr auch widersetzt.

Die Produktion von Unbewußtheit knüpft hier am Willen zur Macht und dem dahinterliegenden Narzißmus an. Was unbewußt gemacht werden muß, ist erstens die latente, aber um so wirksamere Identifikation mit der Herrschaft, und zweitens sind es die destruktiven Tendenzen, die in dieser Wissenschaftsform verborgen liegen.

Von dem Augenblick an, da sich diese entfremdende Form der Wissenschaft institutionalisiert, sie also in der realen Hierarchie der Gesellschaft ihren Platz objektiv zugewiesen bekommt, stellt sich nicht nur die Frage, wieviel Unbewußtheit der einzelne Wissenschaftler produziert, sondern auch die Frage, wieviel – institutionell abgesicherte – Unbewußtheit notwendig ist, damit der Forscher überhaupt seinen Aufgaben gerecht werden kann. Aus dieser Sicht erscheint die Sozialisation des Wissenschaftlers als eine Gratwanderung, bei der er einerseits sein Bewußtsein schulen muß, um die Realität zu untersuchen, er sich aber andererseits auch die notwendigen Abwehrmechanismen aneignen sollte, um diejenigen Aspekte der Wirklichkeit fernzuhalten, welche ihn bei seiner Arbeit stören könnten. Zuweilen kann es vorkommen, daß seine für die Tätigkeit in den Institutionen notwendige Abwehrarbeit ihn so beansprucht, daß er gar nicht mehr fähig ist, produktiv zu forschen.

Die verwertende Tendenz

Sie setzt sich in dem Maße durch, wie die Beziehungen zwischen Herrschenden und Beherrschten einen höheren Grad ökonomischer Komplexität erreicht haben, welche der Ausübung von physischer Gewalt Schranken setzt. Auf die Kooperation der Beherrschten angewiesen, mußte man subtilere Machtmechanismen entwickeln, und die Geschichte der psychiatrischen Therapien sowie der angewandten Psychologie zeugen davon, wie die Erfordernisse kapitalistischer Rationalität die Mittel und Ziele der Psychiatrie bestimmt haben: Das kranke "Objekt" sollte wieder nutzbar gemacht werden. In der Ethnologie setzte sich hingegen die verwertende Tendenz nie ganz durch.

Der Funktionalismus stellte sich zwar in den Dienst der Kolonialverwaltungen und entwarf ein Bild der Eingeborenen, das hauptsächlich jene Zweige ihrer Kultur berücksichtigte, die für die Verwaltung verwertbar sein konnten; aber der letztlich immer noch auf reiner Gewalt beruhende Kolonialismus war nicht auf ethnologische Untersuchungen angewiesen, um seine Interessen durchzusetzen. Unter ihrer Nutzlosigkeit haben viele Ethnologen sehr gelitten, und sie bemühten sich, ihre beruflichen Identitätskrisen zu überwinden, indem sie, in der Regel vergeblich, die staatlichen Instanzen von ihrer möglichen Verwertbarkeit zu überzeugen versuchten. Diese Unbrauchbarkeit der Ethnologie bei der Ausübung von Herrschaft (zum Beispiel in Form von Entwicklungshilfe) verdrängte sie an den Rand der übrigen Humanwissenschaften und umgab sie mit einem Schein von luxuriösem Exotismus.

Obwohl die Ethnologie von der Herrschaft nicht in gleichem Maße beansprucht wurde wie die Psychiatrie, hat die verwertende Tendenz auch sie beträchtlich beeinflußt. Im Zuge der Instrumentalisierung der Vernunft durch die neuzeitliche Philosophie und Wissenschaft mußte sich die Ethnologie Forschungstechniken und Fragestellungen aneignen, welche sie den übrigen Wissenschaften anglich.

Die Vernunft ist gänzlich in den gesellschaftlichen Prozeß eingespannt. Ihr operativer Wert, ihre Rolle bei der Beherrschung der Menschen und der Natur, ist zum einzigen Kriterium gemacht worden. Die Begriffe wurden auf Zusammenfassungen von Merkmalen reduziert, die mehrere Exemplare gemeinsam haben ... Jeder Gebrauch, der über die behelfsmäßige, technische Zusammenfassung faktischer Daten hinausgeht, ist als eine letzte Spur des Aberglaubens getilgt. (Horkheimer 1967: 30)

Entsprechend beschränkte sich der Blick der Ethnologen aufs rein Funktionale, und die Institutionen wurden nur noch im Hinblick auf ihren Beitrag zur Erhaltung der Gesellschaft untersucht. Die Aufsplitterung der Ethnologie in lauter "Bindestrich-Ethnologien" war eine Konsequenz dieses Erkenntnisinteresses.

Eine andere, mit der Instrumentalisierung der Vernunft eng verflochtene Entwicklung zeitigte auch in der Ethnologie große Folgen: die Spaltung zwischen Denken und Fühlen, Geist und Körper; sie ging in den Objektivitätsbegriff der Wissenschaft ein und verfestigte das nicht nur für die entfremdende, sondern auch für die verwertende Tendenz charakteristische Ideal der Entsubjektivierung des Forschungsprozesses. Die Forderung nach der Austauschbarkeit des Forschers eliminierte mit dessen Subjektivität auch die der untersuchten Individuen. Auf diese Weise wurden zwar die berechenbaren Aspekte der gesellschaftlichen Wirklichkeit faßbarer, dafür aber rankten sich um das Individuum und seine Kreativität herum um so stärker phantasmagorische Gespinste. Das Irrationale erschien als das Subjektive, das nicht verwertet werden konnte.

Die idealisierende Tendenz

Was von der entfremdenden und verwertenden Tendenz als irrational ausgeschlossen wird, rückt in der idealisierenden Tendenz in den Mittelpunkt des Interesses. In der Ethnologie findet sie ihren Niederschlag in der immer wiederkehrenden Gestalt des "edlen Wilden" und in der Psychiatrie in jenen Theorien über die Geisteskrankheit, welche den Wahnsinn – wie die Romantik oder heute manche Strömungen der Anti-Psychiatrie – als Ausdruck des "Eigentlichen" oder des "Wahren" betrachten. Oft entwickelt sie sich in Widerspruch zur entfremdenden und verwertenden Tendenz; bei ersterer kritisiert sie die ihr immanente Gewalttätigkeit und bei letzterer die Nivellierung aller Seinsbereiche auf Mittel-Zweck-Relationen. Der "subjektive Faktor", der aus diesen beiden Tendenzen eliminiert worden war, steht bei der idealisierenden Tendenz im Zentrum und vermag deshalb Realitätsanteile einzubeziehen, welche von den anderen ausgeklammert werden müssen.

"Größe ist das, was wir nicht sind", hatte J. Burckhardt gesagt, und dieser Satz umschreibt treffend die Ausrichtung sowie die Problematik der idealisierenden Tendenz. Die Auseinandersetzung mit dem Irrationalen ist nur möglich, indem der Gegenstand, auf den sich der Forscher bezieht, idealisiert wird. Das Betreten der von den zwei anderen Tendenzen tabuisierten Bereiche ist nur möglich, wenn sie gleichzeitig zum Inbegriff des Guten und Wahren gemacht werden. Ob nun Frobenius die Geschichte Afrikas thematisierte, die vor ihm als geschichts- und kulturlos galt, oder C. G. Jung die Mythologie fremder Kulturen und die Inhalte des Wahns, so suchten sie darin letzte Wahrheiten und Offenbarungen. Die idealisierende Tendenz trug so entscheidend dazu bei, die Werte der europäischen Kultur und ihre Auffassung von Rationalität zu relativieren. Aber die Idealisierung dessen, was von den anderen Tendenzen als irrational ausgeschlossen werden mußte, geht auf Kosten dessen, was zwar nicht als irrational, aber als "niedrig", "banal" und "alltäglich" bezeichnet und entwertet wird. Für die idealisierende Tendenz wird letztlich das irrational, was nicht idealisiert werden kann.

Die Idealisierung des Gegenstandes ist in der Regel mit der Enttäuschung an der Normalität der eigenen Kultur verknüpft, einer Enttäuschung, die bei der Motivation, Psychiater oder Ethnologe zu werden, eine entscheidende Rolle spielt. Das Fremde – sei dies nun der Wahn oder eine andere Kultur – erscheint als das Bessere, von dem aus die Mißstände der eigenen Kultur kritisiert werden können. Es kommt nun leicht zu dem, was Lévi-Strauss als das ausweglose Dilemma der Ethnographen bezeichnet hat:

Der Wert, den er der fremden Gesellschaft beimißt und der um so höher zu sein scheint, je exotischer die betreffende Gesellschaft ist, besitzt keine objektive Grundlage; er stellt vielmehr eine Funktion der Geringschätzung, manchmal sogar der Feindseligkeit dar, die der Ethnograph für Sitten und Gebräuche seiner eigenen Umgebung empfindet. Während er zu Hause die traditionellen Einrichtungen zu untergraben, wenn nicht zu stürzen versucht, benimmt er sich respektvoll, ja konservativ, sobald er sich einer fremden Gesellschaft gegenübersieht. (1960: 350)

Die idealisierende Konstruktion des "Irrationalen" kann ebenfalls als "eine Funktion der Geringschätzung, manchmal sogar der Feindseligkeit" gegen die Normalität der eigenen Kultur betrachtet werden. Es ist daher nicht zufällig, daß diese Wissenschaftler zu einem elitären Gehabe neigen und zwischen den in das "Geheimnis" Eingeweihten und den Nichteingeweihten unterscheiden. Die gesellschaftlichen Voraussetzungen zu diesen Idealisierungen müssen auch hier im Verhältnis zur Herrschaft gesucht werden. Sie tauchen dort auf, wo einzelne Individuen der herrschenden Klasse die Anwendung der Gewalt zwar ablehnen, aber keine Möglichkeit sehen, real dagegen anzukämpfen. Die Idealisierung des "Irrationalen" und die als unveränderbar erlebte Situation bedingen einander.

Unbewußt gemacht wird, was die Idealisierung des Gegenstandes erschweren oder gar verunmöglichen würde, und das heißt vor allem, daß der Gegenstand dem Forscher nicht zu nahe kommen darf. In der Regel wird das dadurch erreicht, daß man die persönliche Konfrontation meidet und sich auf die "Objektivierungen des Geistes", vorwiegend auf Texte beschränkt, die man "hermeneutisch" zu verstehen versucht.

Die verstehende Tendenz

Sie entwickelt sich dort, wo das Fremde, trotz aller Fremdheit, das Gefühl von Vertrautheit erweckt. Voraussetzung dazu ist die Bereitschaft des Subjekts, zwischen sich und dem Fremden eine gemeinsame Basis herzustellen, die tendenziell jedes Machtgefälle und damit jede Form von Gewalttätigkeit ausschließt. Das Verstehen gelingt in dem Maße, wie die Machtstrukturen, die sonst das Verhältnis zwischen erkennendem Subjekt und Erkenntnisobjekt prägen, abgebaut werden können, und je mehr das der Fall ist, desto deutlicher treten die Unterschiede zu den anderen Tendenzen zutage. Von der entfremdenden und verwertenden Tendenz unterscheidet sie sich einerseits durch ihren "Subjektivismus", indem sie die Trennung von Geist und Körper, Vernunft und Trieb aufhebt und die Subjektivität des Forschers als integrierenden Bestandteil des Erkenntnisprozesses betrachtet, und andererseits dadurch, daß sie vor allem auf das Individuelle ausgerichtet ist und sich für die Objekte nur insofern interessiert, als sie in ihrem Sinn und ihrer Bedeutung für das konkrete Individuum erkannt werden können (Weber 1904). Von der idealisierenden Tendenz unterscheidet sie sich durch ihre "praktische Alltäglichkeit". Das Verstehen entwickelt sich aus der Fähigkeit des Wissenschaftlers zur Empathie und realisiert sich nur in der unmittelbaren, alltäglichen Konfrontation mit dem anderen; die idealisierende Tendenz dagegen beschränkt das Verstehen – in Form der Hermeneutik – auf die Auseinandersetzung mit Texten, wobei das Buch und, allgemeiner, die "Objektivierung des Geistes" zwischen dem verstehenden Individuum und dem anderen stehen. Aus dieser Sicht kritisiert die idealisierende Tendenz an der verstehenden, daß sie sich in den Niederungen des Lebens bewege und die "höheren Sphären" vernachlässige.

Das Irrationale nimmt hier die Gestalt des Nicht-Verstehbaren an; es ist also-nicht das Nicht-Beherrschbare, Nicht-Verwertbare oder Nicht-Idealisierbare, sondern das, in das sich der Wissenschaftler nicht einfühlen und womit er sich nicht identifizieren kann. Ethnologie und Psychiatrie sind Wissenschaften, die auf extreme und oft existentielle Art und Weise den Forscher den anderen zu untersuchenden Individuen ausliefern, und gerade deshalb bergen sie in sich die Möglichkeit, die verstehende Tendenz zur Entfaltung zu bringen. Doch die spezifische Form der Institutionalisierung von Psychiatrie und Ethnologie drängte das Verstehen aus dem Bereich der offiziellen Wissenschaft und förderte die Ausbreitung der anderen drei Tendenzen. Trotzdem lassen sich schon früh Zeugnisse für die verstehende Tendenz in der Ethnologie feststellen; ihre Träger waren Missionare, Händler, Kolonialbeamte ebenso wie "Überläufer", die – fasziniert von der fremden Kultur – zu ihr übertraten (Bitterli 1976: 86 f). Diese verstehende Haltung, die in der Regel nur abseits und im Widerspruch zu den Institutionen realisiert werden konnte, wurde vorwiegend mündlich überliefert und selten schriftlich fixiert. Sahagún, ein spanischer Missionar des 16. Jahrhunderts, ist einer der wenigen, dessen schriftliche Arbeiten sich erhalten haben. Aber auch in der Psychiatrie gab es schon früh diese verstehende Einstellung, und ihre Vertreter scheinen ebenfalls Außenseiter gewesen zu sein. Sie wollten die Krankheit ihrer Patienten verstehen und entwickelten (wie etwa Messmer) Methoden, die von der etablierten Medizin als Scharlatanerie verlacht wurden und doch grundlegenden Bedürfnissen der Patienten entsprachen. Ellenberger (1973) bezeichnet sie zu Recht als "Ahnen der dynamischen Psychiatrie". Die Verdrängung des Verstehens aus der Psychiatrie führte schließlich dazu, daß der verstehende Zugang zu den Geisteskrankheiten ihren Niederschlag eher in der Philosophie (Montaigne, Spinoza) und in der Literatur (Cervantes, Shakespeare) fand als im offiziellen Diskurs der Psychiatrie.

Ich bin davon ausgegangen, daß die Entwicklung der entfremdenden, verwertenden und idealisierenden Tendenz von der Durchsetzung von Herrschaft über Menschen wie über die Natur bestimmt wurde. Die verstehende Tendenz hingegen nahm an diesen Entwicklungen kaum teil und bewahrte am stärksten archaische Züge. Es ist nicht zufällig, daß Freud Mythen herbeizog, um psychische Strukturen zu bezeichnen, und daß die psychoanalytische Kur Ähnlichkeiten aufweist mit Heilungsprozessen und Theorien der "primitiven" Medizin (Lévi-Strauss 1949; Wallace 1958). Aber aus diesem archaischen Erbe fließen auch die Phantasmagorien, die das Verstehen illusorisch machen können. Das Verstehen, gerade weil es aus der Empathie, also einer in der frühen Kindheit erworbenen Fähigkeit entspringt, rührt an die zu jener Phase gehörenden Allmachtsphantasien. Gelingt es nicht, Empathie und Allmachtsphantasien voneinander zu scheiden, so kommt es zu einer Art Animismus, dem die ganze Welt zur Projektionsleinwand der inneren Triebkräfte wird. Der Akt des "Verstehens" bekommt dann eine magische Bedeutung, die den Glauben nährt, mittels dieses "Verstehens" die Welt beherrschen und verändern zu können.

Die Quellen des Irrationalen sind hier dieselben, die auch das Verstehen hemmen. Was zum Beispiel aus der eigenen Lebensgeschichte verdrängt werden muß, taucht in Form des Irrationalen wieder auf. Berücksichtigt man nun, daß der Wissenschaftsbetrieb nicht nur aus Lösungsstrategien von Problemen, sondern auch aus entsprechenden Abwehrstrategien besteht (Devereux 1973), so darf man die institutionalisierte Wissenschaft als eine Maschine auch für die Produktion von Irrationalität bezeichnen. Das, was in jedem Seminar und in jeder Vorlesung unausgesprochen bleibt, obzwar es erahnt, vielleicht gewußt, aber verschwiegen wird, ist ein solcher "Produzent" von Irrationalitäten.

Aus dieser Sicht läßt sich das Verhältnis der ersten drei Tendenzen zur verstehenden als ein Abwehrverhältnis definieren. Man kann sie als Produkt von Abspaltungen begreifen, die das Verstehen dessen, was als Gefahr empfunden wurde, verunmöglichen sollte. In der entfremdenden Tendenz kann die Angst vor den Unterdrückten, Beleidigten und Erniedrigten nur mittels der Gewalt, über die der Forscher verfügt, eingedämmt werden. In der verwertenden Tendenz ist es der Aspekt der Nützlichkeit, an dem der Wissenschaftler sich orientiert, der wie eine Skotomisierung die anderen Aspekte der Realität abwehrt. Die utilitaristische Einstellung versperrt ihm den Blick vor der Zerstörung, die er anrichtet. Die idealisierende Tendenz schließlich kann sich das Verstehen nur leisten, weil es sich von den "niedrigen" Anteilen der Realität abwendet oder sie überhöht.

Aber auch die verstehende Tendenz hat ihre Grenzen, und mir scheint, daß sie es sind, die den Umschlag in die anderen Tendenzen ermöglichen. Eißler hat darauf aufmerksam gemacht, daß die Psychoanalyse zwar große "Fortschritte im Verständnis der Neurosen und Psychosen gemacht hat", aber "weit in der Erfassung der Verbrecher und Verwahrlosten zurückgeblieben ist" (1968: 653). Seine Erklärung für diese ungleichmäßige Entwicklung verweist uns auf ein zentrales Hindernis im Verstehen.

Die Einfühlung in den Schizophrenen ist uns durch unser eigenes Traumleben erleichtert. Wir werden im Traum psychotisch und wachen gesund auf. Die Einfühlung in den Schizophrenen ist daher möglich und vielleicht nicht so gefährlich. Mit dem Bösen können wir uns aber nicht im gleichen Ausmaß identifizieren. Wir haben uns daran gewöhnt, das Bakterium, das im menschlichen Organismus den Tod verursachen mag, mit Ruhe und Überlegenheit im Mikroskop zu beobachten. Wer hätte aber Hitler seelisch untersuchen und dabei automatisch eine objektive Haltung bewahren können? Denn wenn wir uns zusammennehmen, um objektiv zu sein, so sind wir ja wissenschaftlich, zumindest in der Psychologie, bereits auf verlorenem Posten ... Es spricht vieles dafür, daß es dem Psychologen wohl noch lange nicht (oder nie? – es ist so riskant zu prophezeien) möglich sein wird, jene wissenschaftliche Einstellung dem Bösen gegenüber einzunehmen, die für seine wissenschaftliche Erforschung notwendig ist. Das heißt aber, daß die Wissenschaft bei der Lösung des wichtigsten Problems, dem wir gegenüberstehen, auf lange Zeit hin versagen wird. (1968: 653 f)

Alice Miller hat in ihrem Buch Am Anfang war Erziehung (1980) den Beweis erbracht, daß auch Hitler ein Wesen ist, in das man sich einfühlen kann. Mir scheint aber, daß sie ebenfalls Eißlers These bestätigt. Er schreibt:

Wenn wir uns über das Böse empören [so wie Miller über die üblichen Praktiken der Erziehung, M.E.], so liegt dieser Entrüstung eine Überzeugung zugrunde, natürlich tief verdrängt, daß dieses Böse in Wirklichkeit gar nicht existiert, gar nicht existieren kann. Die Folgen seelischer Verleugnung des Bösen, die, wie ich glaube, die psychologische Voraussetzung des sittlichen Idealismus ist, zeigt sich im praktischen Handeln der Idealisten. Er ist der unbrauchbarste Kämpfer gegen das Böse. (1968: 654)

Das Böse, das ist in erster Linie die Aggression. Miller verleugnet sie insofern, als es für sie immer nur eine relative, aber keine ursprüngliche Aggression gibt. Es ist, als ob die Verleugnung der Aggression die Brücke wäre, die das Verstehen von Hitlers Handlungen ermöglichte. Nähme man jedoch eine ursprüngliche Aggression – als einen der Antriebe des Menschen – an, würde die Brücke zusammenbrechen und jedes Verständnis aufhören.

Die Aggression ist für jede der Tendenzen ein unbewältigtes Problem, und insofern bildet sie eine der Wurzeln des Irrationalen. Die entfremdende Tendenz spaltet die Aggression ab: aggressiv sind die anderen, die Wilden und Irren, oder sie isoliert die Affekte: Aggression kann nur beschrieben, aber nicht mehr nachempfunden werden, wie etwa bei den Tier- und Menschenexperimenten; oder sie versucht die Aggression über die Herausbildung von Zwangssystemen zum Verschwinden zu bringen. Die verwertende Tendenz hingegen neigt dazu, durch den Versuch, die nützliche Seite der Aggression zu betonen, diese zu verharmlosen. Indem sie die Aggression in "Bindestrich"-Aggressionen aufsplittert (Beute-, Rivalitäts-Aggression usw.), negiert sie deren Destruktivität (Eißler 1973). Die idealisierende Tendenz schließlich paßt sich den religiösen Deutungen an und mythologisiert die Aggression. Ihr geht jedoch die "Banalität des Bösen" (Arendt), also deren Alltäglichkeit verloren. Auch die verstehende Tendenz kommt hier an ihre Grenzen. Sie zu sehen, ist eine Voraussetzung, um sie zu überschreiten und sich in dieses "Reich der Finsternis" hineinzuwagen.

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