Auszüge aus Thomas Gebel's
"Krise des Begehrens"

Theorien zur Sexualität und Geschlechterbeziehungen im späten 20. Jahrhundert

Diese Arbeit lag als Dissertation dem Promotionsausschuß Dr. phil. der Universität Bremen vor. Das Kolloquium fand am 28. Februar 2001 statt.

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Einleitung

Die Fragestellung dieser Arbeit

Irgendetwas scheint mit der Liebe und der Sexualität gegen Ende des 20. Jahrhunderts nicht oder nicht mehr zu stimmen. In nachmittäglichen Femsehshows werden intimste Details des Privatlebens, über die man vor fünfzig Jahren mit niemandem gesprochen hätte, einem Millionen-Publikum dargeboten. Kerne noch so schlechte Zeitschrift aus dem Umfeld der Regenbogenpresse, die nicht eine Beratungsseite zum Thema Sexualität und/oder Beziehungen/Partnerschaft hätte. Ehen werden so häufig geschieden wie nie zuvor – während die heutige Großelterngeneration die letzte zu sein scheint, die noch Goldene Hochzeit feiert. Andere heiraten gar nicht erst, und wenn, dann spät. Beziehungen werden endlos diskutiert: mit dem Partner/der Partnerin, im Freundeskreis, zunehmend auch mit Therapeuten. In jedem durchschnittlichen Buchladen stehen mindestens zwei Regale voller Bücher zum Thema. Das Beratungsangebot scheint fast noch größer zu sein als die Ratlosigkeit. Schriftsteller trauern vermeintlich untergegangenen Tabus nach (Botho Strauss z.B. spricht von der 'Verhöhnung des Eros'), Psychologen beteuern, wir seien die alten noch gar nicht recht los (Gerhard Vinnai), andere diskutieren schon den Zusammenbruch des Sexualität. Nicht nur der (unlängst verstorbene) Sexualwissenschaftler Ernest Bornemann sagt, in keinem Jahrhundert sei real so wenig los gewesen in den Betten wie im 20. Jahrhundert, auch in den Ländern des Machismo und der Latin Lover sinken die Beischlafquoten. Parallel steigt die Zahl der Samenbanken wie die der In-Vitro-Fertilisationen. Auch die Häufigkeit von künstlichen Befruchtungen auf der Basis von Proben unbekannter Spender nimmt zu – mit unabsehbaren, nicht nur juristischen Folgen. Während die Reproduktion jahrtausendelang als das natürliche Ziel der Sexualität galt, entledigt umgekehrt die Fortpflanzung sich heute tendenziell der Liebe, der Sexualität und der Väter. Ratlos sind aber nicht nur die Betroffenen, sondern auch der öffentliche Diskurs. Die Erklärungen, Anweisungen, Hilfestellungen usw. sind so zahlreich wie heterogen.

Ich möchte mich in dieser Arbeit mit der Frage beschäftigen, wie die Wissenschaft sich mit dem skizzierten Problem auseinandersetzt. Untersucht werden also Theorien, die sich mit der zeitgenössischen Problematik des Geschlechterverhältnisses und der Sexualität befassen. Einige Theorien machen zwischen diesen beiden Aspekten – Geschlechterbeziehungen und Sexualität – im übrigen nicht einmal einen Unterschied. Die Theorien, die ich diskutieren möchte, sind so verschiedenartig wie der gesamte öffentliche Diskurs. Sie sind z.T. miteinander nicht kompatibel und entstammen so unterschiedlichen Disziplinen wie der Philosophie, der Soziologie, der Psychoanalyse und einer kulturtheoretisch orientierten Literaturwissenschaft. Sie sollen daher einer leitenden Untersuchungsperspektive bzw. Fragestellung unterworfen werden:

  • Wie beschreiben sie die Sexualität, die Liebe, das Geschlechterverhältnis und deren historischen Wandel?
  • Welche Fragen stellen sie, und mit welchen Begriffen antworten sie auf ihre Fragestellungen?
  • Welchen Gegenstand bzw. welches Modell von Geschlechterbeziehungen konstruieren sie?
  • Worin sehen sie jeweils die krisenhaften oder zumindest problematischen Aspekte?
  • Welche Aussagen bezüglich der aktuellen Situation des Geschlechterverhältnisses kann man mit ihnen gewinnen?

Ich möchte aber auch untersuchen, welche Aspekte sie übersehen und welche impliziten Voraussetzungen sie hinsichtlich der Sexualität und des Geschlechterverhältnisses machen. Schließlich möchte ich in einer Gesamtschau zeigen, daß keine dieser Theorien falsch oder unangemessen ist, sondern daß sie alle jeweils Teilaspekte des historischen Wandels in den Beziehungen der Geschlechter beschreiben.

Angesichts der oben erwähnten Fülle der Theorien zum Thema des Geschlechterverhältnisses stellt sich die Frage, warum ihr noch eine weitere Arbeit hinzugefügt werden soll. Der Grund liegt in der Perspektive, die ich in dieser Arbeit einnehmen will. Das Geschlechterverhältnis wurde bisher meist mit der Hilfe von Codes beschrieben. Dieses Verfahren erlaubte es, Abweichungen, aber auch Entwicklungen zu benennen. Der einfachste Code besteht aus der Opposition von Regel und Regelwidrigkeit. So ließ sich das Geschlechterverhältnis bspw. beschreiben als Gegensatz zwischen einer als natürlich angenommenen heterosexuellen Ehe und dem regelwidrigen Ehebruch oder der vermeintlich widernatürlichen Homosexualität. Eine Beschreibung mittels des Code funktioniert auch dann noch, wenn es mehrere Codes nebeneinander gibt. Der heutige Zustand hat aber einen Komplexitätsgrad erreicht, der das Feld der Codes unüberschaubar werden ließ. Dieser Zustand ist identisch mit einem, in dem es gar keine Codes gibt. Dies hat dazu geführt, daß vor allem in der Soziologie versucht wurde, die heutigen Geschlechterbeziehungen aus den Elementen nachzukonstruieren, die sie konstituieren. Der Nachteil dieser ad-hoc-Rekonstruktionen besteht darin, daß bestimmte unbefragte Voraussetzungen in sie eingehen.

Ich gehe mit Matthias Waltz davon aus, daß sich

1.       das Geschlechterverhältnis angesichts der Vielfältigkeit seiner heutigen Codes und der Unüberschaubarkeit nicht mehr unmittelbar beschreiben läßt, sondern lediglich mittelbar als Auflösung einer alten, vormodernen Ordnung der Geschlechter und

2.       daß sich dieses alte Geschlechterverhältnis und dessen generative Prinzipien nicht ohne Aussagen zur Konstruktion von geschlechtlichen Identifikationen und dem Begehren zwischen den Geschlechtern beschreiben läßt.

Der begriffliche Rahmen einer solchen Zerfallsgeschichte des vormodernen Geschlechterverhältnisses steht in der Tradition der strukturalen Psychoanalyse, wie sie vor allem von Jacques Lacan erarbeitet worden ist, benötigt aber eine Akzentuierung und Historisierung, die als erster Matthias Waltz vorgenommen hat. In einer ersten Betrachtung von aktuellen Erscheinungen zum Thema zeigt sich, daß diese Perspektive bis jetzt von keinem theoretischen Ansatz eingenommen worden ist. Angesichts der Vielzahl von Publikationen zum Thema Paarbeziehungen und Geschlechterverhältnis möchte ich exemplarisch zwei Neuerscheinungen besprechen. Der von Hahn/Burkart 1998 herausgegebene Band Liebe am Ende des 20. Jahrhunderts. Studien zur Soziologie intimer Beziehungen umfaßt, wie schon sein Untertitel andeutet, ausschließlich soziologische Untersuchungen. Terminologische Anleihen bei der strukturalen Psychoanalyse werden nicht gemacht, eine historische Theorie des Begehrens wird nicht entwickelt. Die verschiedenen Beiträge dieses Bandes nähern sich unter dem Oberbegriff 'Liebe' der Thematik der Geschlechterbeziehungen und untersuchen so unterschiedliche Dinge wie die Kommunikation und Interaktion intimer Beziehungen, deren Dauerhaftigkeit bzw. Bedingungen der Möglichkeit ihrer Kontinuitätssicherung in sog. (post)modernen Risikogesellschaften, das Verhältms von Liebe und Ehe unter dem Vorzeichen des romantischen Ideals, die Wechselbeziehung zwischen Ehe und Partnerschaft, von Liebe und Offenheit, das Paradox von Selbstverwirklichungsabsicht und Wunsch nach Geborgenheit in Paarbeziehungen, den Geschlechtsrollenwandel, die Probleme bei der Übermittlung von Aufrichtigkeit usw.

Der begriffliche Rahmen ist dabei nicht unwesentlich durch die 'Großsoziologen' Beck, Giddens und immer wieder durch die Systemtheorie Luhmanns abgesteckt. Ich werde mich unmittelbar auf diese beziehen und meine Fragestellung an die Primärtexte herantragen.

Der von Katy Röttger und Maike Paul 1999 herausgegebene Band Differenzen in der Geschlechterdifferenz – Differences within Gender Studies. Aktuelle Perspektiven der Geschlechterforschung dokumentiert eine Tagung des Münchner Graduiertenkollegs "Geschlechterdifferenz & Literatur" und des Instituut voor Vrouwenstudies der Universität Utrecht vom Oktober 1997 in Tutzing. Als Intervention in die akademische feministische Debatte versuchen die sehr heterogenen Aufsätze, die Diskussion um die Geschlechterdifferenz und um Gender mit anderen herrschaftskritischen Diskursen rückzukoppeln. Ziel ist die Akzentuierung der 'sozialen und kulturellen Konstruiertheit und der materiellen Implikationen der Situiertheit von (Geschlechter-)Identitäten in der Überkreuzung mit Kategorien von Klasse, Alter, Ethnizität/Rasse und sexueller Orientierung' (13sq.). Bisherige feministische Ansätze werden z.T. im Lichte antirassistischer und antikolonialistischer Überlegungen kritisiert. Einige Autorinnen nehmen einen 'postfeministischen' Standpunkt ein bzw. begreifen sich als Vertreterinnen der post-gender studies. Ihnen geht es um die Überwindung binärer Geschlechterkonfiguration zugunsten von 'new genders und sexualities'. Das Münchner Kolleg möchte Kritik nichtweißer Frauen aufnehmen. Es geht davon aus, daß die Kategorie Gender immer schon von anderen Differenzkategorien durchzogen ist. Der Band befaßt sich mit weiteren Differenzkategorien wie Ethnizität und Sexualität, wie sie im Rahmen der 'queer theory', aber auch der 'men’s studies' entwickelt worden sind. Differenzen in der Geschlechterdifferenz fragt – häufig in Anlehnung an Judith Butler – nach den Mechanismen, wie die Konstruktion von Geschlecht, aber auch von Rasse, Ethnizität oder Kultur sich den Anschein von 'Natürlichkeit' gibt und wie jede Form von Festlegung, Identität und Essentialismus durch Taktiken des Gender Fucking überwunden werden soll. Die Texte sind daher teilweise normativer Natur insofern, als sie variablere oder flexibelere Genderpositionierungen verlangen oder deren Konzeption unterstützen. Die Fragestellung der Aufsätze bewegt sich auf einer völlig anderen Ebene als diejenige dieser Arbeit. Sie fragen nicht nach dem historischen Stand der heterosexuellen Geschlechterbeziehutigen (sog. Liebesbeziehungen) und der Möglichkeit, deren Wandel zu beschreiben, sondern befragen die existierenden feministischen Texte nach Resten von Identitätslogik. Identität könne sich auch in – bisher nicht problematisierten – rassistischen oder kolonialistischen Mustern äußern. Fast alle Artikel verweisen darauf, daß es nicht (mehr) möglich sei, eine geschlossene Definition von 'Frau' bzw. in Verbindung damit von 'Geschlecht' (gender) zu kreieren. Die Autorinnen (und wenigen Autoren) fühlen sich bei aller Unterschiedlichkeit ihrer Positionen zugleich dem Ziel verpflichtet, einen Beitrag zur politischen und/oder representationalen Interventionsfähigkeit des (Post)Feminismus, Antirassismus und Postkolonialismus zu leisten.

Wenn von (heterosexuellen) Liebesbeziehungen (romantic relationships) die Rede ist, wird deren Zustandekommen vorausgesetzt. Die Herausgeberinnen weisen darauf hin, daß die Aufsätze nicht lediglich einer wissenschaftlichen Disziplin zugeordnet werden können. Die Beiträge des Bandes gehören den Bereichen cultural studies, aber auch der Literaturwissenschaft und der Geschichtswissenschaft an. Röttger und Paul machen zudem darauf aufmerksam, daß inbesondere der niederländische Feminismus stark antirassistisch ist und sich zum Ziel gesetzt hat, nichtethnozentrische Women’s studies zu entwickeln. Inhaltlich beschäftigen sich die Aufsätze mit so unterschiedlichen Themen wie bspw. einer antirassistischen und antikolonialistischen Relektüre der bisherigen feministischen Interpretationen von Charlotte Brontës Roman Jane Eyre, mit den Bedingungen, unter denen gemischt-ethnische Paare in den Niederlanden und den USA leben, mit der "Nationalen Ausstellung Frauenarbeit" 1898 in Den Haag, mit der Konstruktion von 'europäischer Identität' während der japanischen Besatzung der niederländischen Kolonie Indonesien, mit der Lyrik der im Kontext der (niederländischsprachigen) Kanonbildung unterschätzten Schriftstellerin Annie M. G. Schmidt oder mit männlicher Hysterie bei Fontane, Weiss und Renschke. Meine Fragestellung ist nur gelegentlich gestreift. In Gloria Wekkers Beitrag über afrosurinamesische niederländische vs. weiße niederländische Paare (Afro-Surinamese Dutch vs. White Dutch Couples) wird eine Studie zitiert,1 in der angenommen wird, daß weiße niederländische Mittelschichtenmänner ihre Partnerinnenwahl nach 'romantic' Kriterien treffen, während afrosurinamesische niederländische Frauen verstärkt auch das Einkommen ihrer künftigen Partner berücksichtigten. Einkommen sei wichtiger als 'Leidenschaft' (passion), und mit dem Partner werde auch ein 'standard of living' gewählt. Hier werden zwei mögliche Kriterien für die Attraktion des jeweiligen Beziehungspartners genannt. Die Frage nach dem Begehren zwischen den Geschlechtern und dessen möglicher Krise stellt dieser Band insgesamt jedoch nicht. Er beschäftigt sich zwar mit der Konstruktion von sozialen Geschlechtsidentitäten, nicht aber mit den fundamentalen geschlechtlichen Identifikationen im Sinne der strukturalen Psychoanalyse und deren Veränderungen in Moderne und Postmoderne sowie den Folgen für die Geschlechterbeziehungen. Differenzen in der Geschlechterdifferenz ist Teil der (selbstkritischen) Emanzipationsdebatte, während der von mir hier gewählte Ansatz auf der Basis der Ordnung der Namen in gewisser Hinsicht als Emanzipationsfolgeforschung betrachtet werden kann.

Zur Wahl des Materials

Die von mir ausgewählten Ansätze scheinen mir entweder die unter inhaltlichen Gesichtspunkten folgenreichsten zu sein oder aber schlicht zu den meistdiskutierten Ansätzen zu gehören. Sie seien im folgenden kurz skizziert:

Der erste Ansatz umfaßt die Repressionshypothese. Sie wurde wesentlich zuerst von Wilhelm Reich in den 20er und 30er Jahren entwickelt und im Zuge einer Neurezeption durch die Studentenbewegung Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre von der Neuen Linken stark vertreten. Ihr Hauptaspekt besteht darin, die von ihr konstatierte Krise als Ergebnis der Repression einer als natürlich angenommenen Sexualität zu interpretieren. Im zweiten Kapitel möchte ich zudem zeigen, daß ein wenig rezipierter Ansatz von Pascal Bruckner und Alain Finkielkraut zwar die Vertreter der Repressionshypothese massiv kritisiert, daß andererseits aber diesem Ansatz letztendlich doch dieselben Prämissen zugrundeliegen. Ich möchte diesen Ansatz die 'alternative Repressionshypothese' nennen. Im dritten Kapitel stelle ich ein bis heute immer wieder unter unterschiedlichsten Gesichtspunkten rezipiertes Werk vor, die Histoire de la sexualité, Bd. I, von Michel Foucault. Foucault wollte erklärtermaßen keine Geschichte der Sexualität im Sinne etwa einer Geschichte sexueller Praktiken schreiben, noch weniger eine Theorie des Geschlechterverhältnisses liefern. Ihm ging es darum, eine 'Analytik' der Macht am Beispiel des neuzeitlichen Redens über Sexualität zu entwickeln. Dennoch sind meiner Meinung nach Aussagen über den Wandel des Geschlechterverhältnisses in der Histoire de la sexualité enthalten. Der Hauptaspekt liegt darin, daß es im Zuge der Auflösung der vormodernen Geschlechterordnung, Allianzdispositiv genannt, zu einem Paradigmenwechsel in der Machtausübung und damit verbunden zu einer diskursiven Schaffung vornehmlich peripherer Sexualitäten durch Machtstrategien kommt.

Zu einer Gruppe zusammenfassen lassen sich die nun folgenden drei, im übrigen vieldiskutierten Ansätze. Sie stammen allesamt aus der Soziologie und liefern auch den begrifflichen Rahmen für die oben erwähnten Untersuchungen von Hahn/Burkart. Ihr Hauptaspekt besteht darin, die aktuellen Probleme zwischen den Geschlechtern als Auswirkung von Modernisierungsprozessen darzustellen. Sie beschreiben mit unterschiedlichen Schwerpunkten diejenigen Elemente, die ihrer Meinung nach in der Moderne die Geschlechterbeziehungen konstituieren und fokussieren dabei die Zweierbeziehungen. Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim (Kap. IV) sehen in der Modernisierung vor allem eine riskante Pluralisierung der zwischengeschlechtlichen Lebensformen und heben die Momente von Enttraditionalisierung und Individualisierung hervor. Der britische Soziologe Anthony Giddens (Kap.V) beschreibt Modernisierung als Autonomisierung und als Erhöhung des Reflexivitätsgrades der Beziehungen zwischen den Geschlechtern. Diese Beziehungen werden selbstreferentiell. Das Ergebnis ist die von äußeren Einflüssen und Imperativen unabhängige 'reine Beziehung'. Schon 1982 hatte Niklas Luhmann (Kap.VI) im Rahmen seines systemtheoretischen Vokabulars Modernisierung in bezug auf die Geschlechterbeziehungen als Herausbildung eines eigenen 'symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums Liebe' beschrieben, das Intimkommunikation, zwischenmenschliche Interpenetration genannt, ermöglichen soll. Das Gelingen dieser Intimkommunikation wird als hoch unwahrscheinlich angenommen. Der 'Code' der zeitgenössischen Liebe sei daher der der Problemorientierung.

Für die orthodoxe wie die alternative Repressionshypothese ist das Geschlechterverhältnis identisch mit der Sexualität. Eine Problematik der Zweierbeziehungen gibt es für sie nicht. Foucault interessiert sich primär für den Wechsel in den Machttechniken beim Übergang von der vormodemen Ordnung des Allianzdispositivs zum modernen Sexualitätsdispositiv. Die soziologischen Ansätze beschreiben die Komplikationen der Modernisierung für die sexuell basierten Intimbeziehungen, lassen aber offen, was die vormoderne Geschlechterordnung 'im Innersten zusammengehalten' hat. Beck lehnt psychoanalytische Erklärungen ab mit der Begründung, es gehe um Sozialstrukturen, nicht um frühkindliche Erfahrungen. Dennoch bleibt erklärungsbedürftig, wie die Sozialstrukturen in die weiblichen und männlichen Subjekte 'hineinkommen', um wirksam sein zu können. Allen Ansätzen ist gemein, daß sie die Konstituierung des Geschlechterverhältnisses inclusive der in ihm wirkenden 'Anziehungskraft' zwischen den Geschlechtern voraussetzen oder aber mit dem Hinweis auf Sexualität erklären. Meine Annahme besteht darin, daß eine wie auch immer verstandene Sexualität nicht automatisch in soziale Beziehungen mündet. Vielmehr bedarf es dazu des Begehrens und der Konstruktion geschlechtlicher Identifikationen, die das Sexuelle in die sozialen Formen des Geschlechterverhältnisses überführt. Dieses wird in der Tradition der strukturalen Psychoanalyse definiert und beschränkt sich keineswegs nur auf frübkindliche Strukturen, wie Beck in seiner Kritik argwöhnt. In einem weiteren Kapitel möchte ich daher den Lacanschen Begriff des Begehrens untersuchen. Es wird sich zeigen, daß die Lacansche phallische symbolische Ordnung die gründlichste, weil identifikationstheoretische Beschreibung des alten, vormodemen Geschlechterverhältnisses ist. Waltz arbeitet schließlich heraus, daß die Lacansche Ordnung des Begehrens vor allem auf dem 'symbolischen Tausch' (Lévi-Strauss) beruht. Er unterstreicht damit in seiner Arbeit Die Ordnung der Namen die soziale Dimension des Geschlechterverhältnisses, die zwar im Werk Lacans einen theoretischen Ort hat, aber nur knapp ausgeführt ist. Zudem wird das Werk Lacans historisiert. Waltz liefert somit die Begrifflichkeiten für die in dieser Arbeit eingenommene Perspektive einer Zerfallsgeschichte des alten Geschlechterverhältnisses. Er beschreibt die Auflösung dieser alten, tauschbasierten Ordnung als eine, die nicht aus ihrem Inneren heraus erfolgt ist, sondern auf den ihr äußerlichen modernen Vergesellschaftungsmechanismen beruht. Waltz fragt, was passiert, wenn ein jahrtausendealtes Geschlechterverhältnis umgearbeitet wird. Daher bezeichnet er die vielfach diagnostizierte Krise der Sexualität und des Geschlechterverhältnisses als Krise eines sozial produzierten Begehrens im Rahmen einer 'Katastrophe' der alten, vormodernen Ordnung der Geschlechter. Vor diesem Hintergrund bekommen die soziologischen Begriffe wie 'Enttraditionalisierung' und 'Individualisierung' in bezug auf das Geschlechterverhältnis einen neuen Sinn. Sie sind dann als Freisetzungen aus den geschlechtlichen Identifikationen der alten Geschlechterordnung zu verstehen. Dennoch gehen die Soziologen in diesem Zusammenhang, wenn auch mit einem unterschiedlichen Maß an Optimismus davon aus, daß eine als ungebrochen angenommene sexuelle Anziehungskraft zwischen den Geschlechtern schon zur Fortsetzung des Geschlechterverhältnisses führen werde. Zwar gebe es eine Reihe von historisch neuen Komplikationen. Die Individualisierungsprozesse gingen vor allem auf Kosten der Langfristigkeit von sexuell basierten Zweierbeziehungen. Sie führen aber die aus der Enttraditionalisierung resultierenden höheren Freiheitsgrade ins Feld, die erstmalig 'demokratische' Beziehungen ermöglichen (Giddens). Aufgelöst seien lediglich tradierte Rollenmuster und ökonomische Heiratszwänge. Aus der historisch-identifikationstheoretischen Sicht von Waltz erscheint diese Interpretation als eine relative Verharmlosung des zur Diskussion stehenden Prozesses. Die soziologischen Theorien des Geschlechterverhältnisses sehen die Problemstellung der fundamentalen Auflösung, die Katastrophe der alten Ordnung nicht.

Die Repressionshypothese

Die Fragestellung

Wilhelm Reich mag der erste gewesen sein, der eine Krise des Geschlechterverhältnisses diagnostiziert hat. Von Geschlechterverhältnis ist bei ihm jedoch explizit nicht die Rede. In der Krise befinde sich vielmehr die Sexualität. Diese sei Gegenstand einer massiven 'Repression' geworden. Im Zuge der Rezeption Reichs durch die Studentenbewegung von 1968 und in Zusammenhang mit dem Aufschwung der Sexualwissenschaft wird diese Idee vorübergehend Allgemeingut. Die Fragestellung der Repressionshypothese lautet: Woher stammt die sexuelle Unzufriedenheit des Menschen im Kapitalismus oder in der (spät-)modernen Welt? Wie muß die Welt beschaffen sein, damit befriedigende Sexualität möglich werde? Die Repressionshypothese arbeitet dabei auf der Ebene eines Rechtes auf befriedigende Sexualität.

Klassengesellschaft, Kapitalismus und Sexualrepression

Wilhelm Reich analysiert die Problematik des Sexuellen unter dem Begriff der Repression. Er geht in Die sexuelle Revolution (1966 [1936]) von einer natürlichen Sexualität aus, die er als 'physiologisch normale(s) und notwendige(s)' Bedürfnis beschreibt und die in eine 'kosmische Orgonenergie' eingebettet sei. Bezüglich dieses Bedürfnisses gebe es das Recht auf wirkliche, 'orgastisch vollkommene' Befriedigung in Form genitaler Sexualität. Der Kern des Lebensglücks sei sexueller Natur. Ein natürliches Geschlechtsleben führe automatisch zu 'natürlichen Liebesbeziehungen', für deren Fortsetzung das einzige Kriterium die 'Lust' sei. Der offenbar für Reich auch selbstverständliche Kinderwunsch realisiert sich entsprechend in 'naturwüchsigen' familiären Beziehungen. Es habe, so Reich, nicht nur primitive Gesellschaften, sondern sogar Hochkulturen gegeben, die diesem Prinzip gefolgt seien. Für die Gegenwart hingegen – er schreibt dies 1935 und erneuert die Analyse 1945 – konstatiert er eine 'sexuelle Krise'. Die 'autoritäre' Gesellschaft, der Reich die nach obigen Prinzipien funktionierende 'freiheitliche' entgegenhält, zeichne sich durch Sexualverneinung und -unterdrückung aus. Sie verfolge Onanie und jugendliche Sexualität sowie außer- und vorehelichen Geschlechtsverkehr und lasse als einziges Modell die monogame 'Zwangsehe' zu. Diese sexualverneinende Moral hat sich nach Reich bereits vor etwa 6000 Jahren gemeinsam mit der Klassengesellschaft und dem Privateigentum an den Produktionsmitteln entwickelt:

Sie (die triebunterdrückende Moral. T.G.) enstand in der Urgesellschaft aus bestimmten Interessen einer sich entwickelnden, ökonomisch mächtig werdenden Oberschicht, die natürlichen, an sich die Sozialität nicht störenden Bedürfnisse zu unterdrücken.

So stehen sich die 'natürlichen' Anforderungen der Geschlechtlichkeit und die Moral der herrschenden Klasse im Interesse des Machterhaltes gegenüber. Dieser Konflikt habe im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts eine Zuspitzung erfahren. Für Reich ist die Klassengesellschaft, die letztendlich bei ihm mit der jüdisch-christlichen Zivilisation zusammenfällt, die Basis der Sexualunterdrückung. Eine besondere Form hat die Sexualverneinung jedoch im Kapitalismus angenommen, wo sie – wie erwähnt – in eine 'Krise' führe.

Mit der Sexualunterdrückung einher gehen Religiosität, Mystizismus, konservative Gesinnung und Untertanengeist. Alle Verbote von Onanie und Geschlechtsverkehr resultierten auf Dauer in Neurosen und und brächten unterwürfige, autoritäre Charaktere hervor. Diese könnten von undemokratischen politischen Strömungen wie den obrigkeitsstaatlichen Monarchien, dem Faschismus und seit 1930 dem historischen Stalinismus instrumentalisiert und mißbraucht werden. Die illusionären und Ersatzbefriedigungen führten zu gestauten Triebmengen, zu seelisch abnormen Reaktionen, zu kranker, prägenitaler, perverser Sexualität. Bei Gesundung eines neurotischen Individuums durch Hinwendung zum 'biologisch normalen Weg des Geschlechtslebens' aufgrund einer ärztlichen, freiheitlichen Intervention komme es zu einer 'Vereinfachung' der psychischen Struktur, da die 'sekundären, asozialen, krankhaften moralerzeugten' Triebe, die Ergebnis der Unterdrückung seien, verschwinden würden. Während Reich dem sexualneurotischen Individuum zur Heilung seiner schlimmsten Leiden die Therapie empfiehlt, müsse gesamtgesellschaftlich die 'Selbststeuerung' der Sexualität gegen die Sexualunterdrückung durchgesetzt werden.

Wilhelm Reichs Gedankengut entstammt zentral dem Umfeld der Psychoanalyse. Die Grundidee der Repression entnahm er dem Werk seines Lehrers, Sigmund Freud, verabsolutierte sie aber. Bei Freud war verschiedentlich der Gedanke zum Ausdruck gekommen, daß eine traumatische Behinderung der psychosexuellen Entwicklung zu pathologischen Erscheinungen führen könne. Ambivalent blieb dieser Gedankengang deswegen, weil Freud zugleich einer Sublimierung der Libido das Wort redete: "Wo Es war, soll Ich werden." Auf der Sublimiening beruhten Freuds Auffassung zufolge die wichtigen Kulturleistungen. Reich hält dagegen, daß erst volle genitale Befriedigung die soziale und kulturelle Leistungsfähigkeit herstelle. Er kombiniert in seiner Theorie die psychoanalytischen Überlegungen mit der Kapitalismuskritik von Karl Marx. Diese eigenwillige Konzeption und das damit verbundene praktische Engagement als Sexualberater und -therapeut in den Arbeitervierteln von Berlin hat in Verbindung mit anderen Faktoren dazu geführt, daß Reich zu Beginn der 30er Jahre sowohl aus der KPD, in der er zunächst engagiert war, als auch aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung ausgeschlossen wurde.

Seine eigentliche Wirkung entfalteten Reichs Gedanken aber erst gegen Ende der 60er Jahre. Während nach dem Zweiten Weltkrieg das Werk von Reich in Vergessenheit geriet bzw. in den USA von Alexander Lowen in die nichtpolitische Bio-Energetik überführt worden war, entdeckte die westliche Studentenbewegung es Ende der 60er Jahre wieder. Klar schien: Die Sexualität wird im Interesse des Kapitals unterdrückt, um das Proletariat, aber auch andere soziale Schichten und Gruppen besser disziplinieren zu können. Ergo war für die Neue Linke ausgemacht: Wer den Kapitalismus überwinden will, muß auch die Sexualität befreien. Es galt daher das Gebot der 'freien', dabei systemverändemden Liebe: "Wer einmal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment." Günter Amendts für Jugendliche geschriebene Aufklärungsbuch Sexfront erzielte hohe Auflagen. Love-Ins wurden durchgeführt, Kommunen gegründet, denn zur Befreiung gehörte, sowohl das puritanische Schweigen zu brechen als auch die freie Liebe zu praktizieren.

Aber auch außerhalb der studentenbewegten Szene und den 68er Wohngemeinschaften setzte sich die Idee sexueller Liberalisierung und der Aufhebung alter Verbote und Tabus durch. Dieser weniger politisierte Strang hatte seine Wurzel im Aufschwung der allgemeinen Sexualwissenschaft. Diese vor allem aus den USA stammende behavioristische Sexologie ist von den späten 40ern bis in die 70er Jahre mit bahnbrechenden großen Untersuchungen zur Sexualität und zum Sexualverhalten hervorgetreten. Den Beginn markiert der erste Kinsey-Report 1948, gefolgt von den Untersuchungen von Masters und Johnson l966 und dem Hite-Report l976.

Die Sexualwissenschaft erklärte den Orgasmus zu einem natürlichen Bedürfnis, auf den es ein Recht gebe. Breite Aufklärungskampagnen sollten helfen, den sexuellen Notstand zu beheben. In der alten BRD sind vor allem die Aufklärungsfilme von Oswald Kolle berühmt geworden. Im Rahmen dieser Liberalisierung beginnt auch, zunächst von Schweden aus, die Softpornowelle zu rollen. Herbert Marcuse, selbst einer der großen Theoretiker der Protestbewegung, hat diese Kommerzialisierung der sexuellen Befreiung unter den Begriff der 'repressiven Entsublimierung' gefaßt. Die sexualwissenschaftlichen Arbeiten hätten, so der Literaturwissenschaftler Bristow, bei allem emanzipatorischen Impetus schließlich selbst problematische Normen gesetzt:

(They) are habitually filled with deceptive ideas about what is supposed to constitute average performance, in terms of frequency and intensity of erotic sensation, implying there is a common standard against which our sexualities might be mesured.

Bruckner/Finkielkraut (cf. das folgende Kap. II) werden den Gedanken der Normierung des Sexuellen durch den Diskurs der Repression aufnehmen und kritisieren.

Erkenntniswert der Repressionshypothese

Die Repressionshypothese, wie sie in popularisierter Form in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts vielfältig vertreten worden ist, besteht im wesentlichen aus zwei Elementen. Sie geht davon aus, daß

a)       in der gegenwärtigen Gesellschaft Sexualität in all ihren Erscheinungsformen verhindert werden müsse, zulässig sei lediglich die der Fortpflanzung dienende Sexualität; daß

b)      über Sexualität geschwiegen werden müsse.

Die Repression der Sexualität wird bei Reich in einem weiterreichenden historischen Bogen zwar an die Klassengesellschaft, die moderne Sexualunterdrückung aber wesentlich an die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft und des Kapitalismus und in Verbindung damit an die Entstehung der protestantischen Moral geknüpft. Das Ziel der Verfolgung der Sexualität sei, die Menschen für die als unlustvoll angenommene industrielle Produktionsweise zu disziplinieren bzw. sie zu autoritären Untertanen zu machen.

Die Frage, auf die Reich, Marcuse und die Neoreichianer anworten, berühren das Geschlechterverhältnis kaum. Während Reich noch global antwortete und die sexuelle Repression verantwortlich machte, mußte Marcuse (1966) die relative Liberalisierung und die 'Erfolge' der modernen Sexualwissenschaft berücksichtigen. Er sah einen besonders hinterhältigen Mechanismus am Werk: die 'repressive Entsublimierung', d.h. die fortdauernde Repression hinter scheinbarer Befreiung. Der nicht näher bestimmte Eros (dt. etwas unglücklich: Triebstruktur) wird von der Civilization (Gesellschaft) daran gehindert, frei zu fluten bzw. sublimiert oder höchstens mittels (Soft-)Pornographisierung und. Kommerzialisierung (Sex-Welle) repressiv entsublimiert. Dennoch ging es auch ihm noch um die Herstellung von Bedingungen für sexuelles Glück.

Daß es Repression im Sinne der Repressionshypothese gegeben hat, ist nicht zu bestreiten. Das Paradebeispiel ist und bleibt der vor allem britische Puritanismus, der seinen historischen Höhepunkt im viktorianischen Zeitalter erreicht. Ebenfalls nicht zu bestreiten ist allerdings, daß die Geschichte der Sexualität bzw. des Geschlechterverhältnisses nicht mit dem Hinweis auf eine Repression im Dienste der herrschenden Klasse hinreichend beschrieben ist. Besonders Foucault weist darauf hin, daß die neuzeitliche Sexualität nicht ausschließlich durch Verbot und Verschweigen charakterisiert war. Nach dem Aufheben der von der Repressionshypothese inkriminierten Verbote im späten 20. Jahrhundert ist es zudem nicht zu der sexuellen Selbstregulierung gekommen, die sich nach den Vorstellungen Reichs hätte einstellen müssen.

Voraussetzungen der Repressionshypothese

Folgende Voraussetzungen liegen der Repressionshypothese zugrunde:

1.       die Idee einer 'natürlichen' Sexualität, die zu psychisch befriedigenden, nichtpathologischen Formen und Geschlechterverhältnissen findet, wenn man sie nur läßt.

2.       Es gibt ein (Menschen-)Recht auf freie sexuelle Betätigung.

3.       Sex ist wesentlich Bedürfnisbefriedigung.

Das zugrundeliegende Sexualitätsmodell folgt der an die Naturwissenschaften angelehnten Konzeption von Lust als Spannungsreduktion. Da Reich aus dem Werk Freuds hauptsächlich das Element der Unterdrückung des Sexuellen entnimmt und die gesamte Theorie der Differenzierung der geschlechtlichen Identifikationen beiseite läßt, ist das Geschlechterverhältnis bei ihm identisch mit der Sexualität. Aus diesen Voraussetzungen ergibt sich, daß der Beziehungsaspekt kaum eigenständige Beachtung fmdet. Wilhelm Reich etwa erwähnt im Nebensatz lediglich 'allgemeinmenschliche Schwierigkeiten' der ansonsten naturwüchsigen Liebesbeziehung. Im Vordergrund aber steht für ihn das sexuelle Problem: die Sexualverneinung.

Ich möchte an dieser Stelle kurz andeuten, daß diese Perspektive entscheidende Aspekte des Geschlechterverhältnisses nicht trifft. Sexualität kann nicht auf Bedürfnisbefriedigung reduziert werden; trotz ihrer unbestreitbaren physiologischen Basis wird sie als soziales Ereignis vielmehr produziert (cf. Kap. VII und VIII). Auch zeigt sich, daß die aktuelle Krise des Geschlechterverhältnisses nicht auf die Krise einer natürlichen Sexualität reduziert werden kann. Dennoch reflektieren die Repressionshypothetiker ein Moment der sich anbahnenden Veränderungen der Sexualität und des Geschlechterverhältnisses. Die für die Vormoderne selbstverständliche, implizite Verortung dessen, was begrifflich seit dem Beginn der Sexologie als 'Sexualität' verhandelt wird, in den Systemen der Ehe, der Familie und deren genealogische Reproduktion ist vorbei. Dieses System hat seine Allgemeingültigkeit eingebüßt und eine Art von Außen erhalten, von dem aus es in den Begriffen der Aufklärung, der der Anti-Repressionsdiskurs verpflichtet ist, beschrieben wird. Dieses 'Außen' soll im Verlauf der Arbeit noch näher bestimmt werden. Die bisherigen, traditionellen Regelungen der Geschlechterbeziehungen, die tatsächlich den Charakter von Verboten haben und sich vorrangig gegen alle nichtreproduktiven Formen dessen richten, was nun Sexualität genannt wird – vorehelicher Verkehr, Homosexualität, Ehebruch usw. –, machen unter modernen Bedingungen keinen Sinn mehr und werden vom Reichschen Diskurs als Repression wahrgenommen und beschrieben: Sexualverdrängung, Triebverzicht, konservative Sexualmoral, Zwangsfamilie, Zwangsehe und sexuelle Dauerbeziehung sind die Stichwörter. Hinzu kommt allerdings, daß unter dem Eindruck des historischen Viktorianismus selbst der eheliche Sex, somit die Sexualität als ganzes ins Visier der sexualfeindlichen Diskurse gekommen ist. Auch ist eine verstärkte, eigenständige Verfolgung der Onanie seit dem 18. Jahrhundert zu beobachten, die auch Foucault bestätigt. Die Repression scheint ihr Betätigungsfeld gegenüber den alten Verboten in der Moderne noch ausgedehnt zu haben. Insofern hat die Repressionshypothese sogar recht. Diese sektorielle, wenn auch, wie der heutige Betrachter einschränken muß, vorübergehende Verstärkung bestimmter Verbote indiziert, daß Sexualität in einer Weise, für deren Beschreibung die Repressionshypothese keine Terminologie zur Verfügung stellt, 'freigesetzt' worden ist. Freigesetzt worden ist somit auch der selbstverständliche Sinn, den die alten Verbote in früheren Gesellschaften gehabt haben. Im Alten Testament etwa hätte eine generelle Verfolgung auch der ehelichen Sexualität schlicht keinen Sinn gemacht. Sie war vielmehr gefordert. Erst in der Moderne konnte die Sexualität eigenständig mit Sinn 'geladen' werden, erst dort konnte ein sexualfeindlicher Diskurs wie der des Viktorianismus die gesamte Sexualität für böse erklären, in derselben Weise, in der die Repressionshypothese sie zur Grundlage des allgemeinen Lebensglücks macht.

Der weitere Verlauf der Geschichte des Geschlechterverhältnisses gibt den Annahmen des Repressionsdiskurses insgesamt nicht recht. Zwar hat es zweifelsohne Repression der Sexualität gegeben. Aber gerade der postmoderne Spätkapitalismus der Jahrtausendwende kommt sowohl ohne die klassischen Verbote als auch ohne die darüberhinausgehende, z.B. viktorianische Repression aus, von lokalen Erscheinungen oder relativen Gegenbewegungen wie der US-amerikanischen moral majority abgesehen. Dennoch befindet sich die Sexualität gerade in der Postmoderne in einer Krise, deren Inhalt mit dem Begriff der Repression nicht hinreichend beschrieben werden kann.

Bruckner/Finkielkraut: Wider die Tyrannei des genitalen Codes

Die Fragestellung

1977 veröffentlichen Pascal Bruckner und Alain Finkielkraut ein Buch mit dem Titel Le nouveau désordre amoureux (abgekürzt NDA, übersetzt: Die neue verliebte Unordnung). Es handelt sich dabei um eine polemisch vorgetragene Kritik an der Repressionshypothese und deren Vertretern. Obwohl Le nouveau désordre amoureux ein unsystematischer, eher essayistischer Beitrag zum Thema der Krise des Geschlechterverhältnisses und der Sexualität ist, habe ich es in die Darstellung der Theorien aufgenommen, weil es zweierlei zeigt.

1.       Spätestens in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts, im Zuge der Verallgemeinerung und Popularisierung der Sexologie und der Repressionshypothese, hat die Sexualität ihre Selbstverständlichkeit verloren, ist fragwürdig geworden. Es wird über die 'Richtigkeit' des sexuellen Verhaltens gestritten.

2.       Trotz einer scharfen Kritik an der Repressionshypothese teilt Le nouveau désordre amoureux doch die impliziten Prämissen der Repressionshypothese.
Die Fragestellung der beiden Franzosen bewegt sich auf derselben Ebene wie die der Repressionshypothese: Wie muß die Gesellschaft beschaffen sein, damit das sexuelle Unwohlsein überwunden wird? Es handelt sich also bei diesem Ansatz ebenfalls um einen normativen. Der Unterschied zu den Neoreichianern liegt darin, daß Bruckner/ Finkielkraut nicht mehr wie Reich alle Menschen, sondern Frauen für die eigentlichen Opfer der sexuellen Misere halten und den Grund dafür nicht in einer kapitalistisch motivierten Sexualrepression ausmachen, sondern im Code der sexuellen Revolution selbst und dessen Zwang zum genitalen Orgasmus. Die Fragestellung lautet also in präzisierter Form: Wie muß die Welt beschaffen sein, damit Frauen eine befriedigende Sexualität erleben?

Die Zielscheibe der kritischen Stellungnahme von Bruckner/Finkielkraut ist vor allem die Theorie von Wilhelm Reich und dessen Rezeption durch die sog. Neue Linke Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre. So wettern sie gegen 'sexuelle Jakobiner', 'erotische Bolschewisten', 'genitale Politkommissare' und die drohende Integration des Sexuallebens in einen Fünf-Jahres-Plan. Daneben richtet sich ihre Kritik aber auch gegen die Psychoanalyse Freuds und die Sexologie. Die Begriffe, mit denen Bruckner/Finkielkraut sowohl den von ihnen abgelehnten Code der sexuellen Revolution als auch das anzustrebende positive Gegenmodell beschreiben, entstammen dem Anti-Identitäts-Diskurs der postmodernen bzw. poststrukturalistischen Philosophie und des Feminismus. So berufen sie sich gelegentlich auf Jean-François Lyotard oder Luce Ingaray. Bei der Terminologie von Bruckner/Finkielkraut – Code, Diskurs, jouissance, plaisir, u.a.m. – handelt es sich aber nicht um 'starke', gründlich definierte Begriffe wie in den 'harten', in den späteren Kapiteln diskutierten Theorieansätzen. Dies ist selbst dann höchstens bedingt der Fall, wenn sie Begrifflichkeiten von Luce Irigaray, vor allem aber von Jacques Lacan übernehmen. Während sie das Irigaraysche Projekt, die weibliche Sexualität unabhängig von einer – ohnehin immer schon universalisierten – männlichen zu denken fortsetzen und in eine Apotheose der Weiblichkeit enden lassen, übernehmen sie von Lacan – ohne dies explizit auszuweisen – diejenigen Begriffe, die ihnen diesem Ansinnen angemessen erscheinen. Dies gilt besonders für den Begriff der weiblichen autre sexualité [andere Sexualität], die über die normale jouissance [Genuß] hinausreiche. Diese Konzeption erinnert stark an die Lacansche einer über das Sprachliche hinausreichenden weiblichen 'jouissance', die über die normale Lust (plaisir) hinausgehe (cf. Kap. VII dieser Arbeit). Man sieht an dieser Stelle bereits den eher lockeren Umgang mit der Lacanschen Terminologie. Andere Theoriebausteine Lacans, besonders den Phallus, die Ordnung, das Gesetz u.a. lehnen sie hingegen ab: Sie schlagen diese Begriffe dem zu bekämpfenden genitozentrischen 'Code'/'Diskurs' zu oder ironisieren sie. In ihrer Polemik gegen den marxistischen Teil der Neuen Linken, namentlich die Anfang der 70er Jahre in Paris tatsächlich relativ starken Trotzkisten und Maoisten, stehen sie aber auch in der Tradition der nouveaux philosophes. Ähnlich wie der Dekonstruktivismus arbeiten Bruckner/Finkielkraut in eigentlich aus der Metaphysik stammenden binären Begriffspaaren, deren zweiter, ursprünglich abgeleiteter Term dann privilegiert wird. Dementsprechend beschreiben sie die (neue, 'revolutionäre') männliche Sexualität als universal, identisch, zentral, logozentrisch, sie betone das Eine und schließe das andere, das Weibliche aus. Bruckner/Finkielkraut bezeichnen die weibliche Sexualität als multipel, polyphon, peripher, alogisch und stellen sie als vorbildhaft für beide Geschlechter dar, obwohl oder gerade weil sie im selbstidentischen, männlichen Diskurs des Einen schlicht nicht vorkomme. Hierin folgen sie strikt Irigaray. Schließlich schlagen sie selbst einen neuen Code für eine zukünftige männliche Sexualität vor, der sich nach dem Modell der weiblichen Sexualität zu richten habe. Zu diesem Zweck greifen sie auf fernöstliche Liebeslehren zurück.

Männliche vs. weibliche Sexualität

Die Vertreter der sexuellen Revolution betrieben, so Bruckner/Finkielkraut, mit Reich eine 'Verehrung des Orgasmus'. Dessen Orgasmusmodell sei zwar geschlechtsübergreifend konzipiert, folge aber faktisch dem Modell der männlichen Ejakulation. Darin sehen sie eine Reduktion der Sexualität, die auf die Reichsche Konzeption der Erotik als Spannungsabbau zurückgehe und alles Ambivalente und Überschüssige negiere. Bruckner/Finkielkraut nennen dieses Modell einer simplen, naturhaften, lediglich spannungsreduktiven Sexualität 'reichianischen Rousseauismus'. Zugleich gehe es in der Reichschen Sexologie um die Formierung eines 'einheitlichen Wissens' über die Sexualität. Mit der Diskursivierung werde ein Element von Meßbarkeit und von Kontrolle eingeführt: '... mit dem verbalisierten Orgasmus erscheint der gemessene Orgasmus und also der meßbare, kontrollierbare Orgasmus.'

Diese Konzeption von Orgasmus und Sexualität bringe die Differenz der Geschlechter, die Unterschiedlichkeit von männlicher und weiblicher Sexualität zum Verschwinden. Die männliche Sexualität werde als die eine, menschliche dargestellt und die andersartige weibliche somit radikal verkannt. Ich möchte diesen Unterschied in einer Reihe von Oppositionen illustrieren. Der zweite, weibliche Begriff ist jeweils der von Bruckner/Finkielkraut bevorzugte:

männliche Sexualität

weibliche Sexualität

begrenzt

unbegrenzt

zentralisiert

 

geometrisierbar

dezentralisiert

hierarchisch

ortlos

final

nicht hierarchisch

einheitlich

unendlich

meßbar

vielfältig

visuell verifizierbar

nicht meßbar

monomorph, linear

nicht wahrnehmbar

homogen

polymorph

utilitaristisch

heterogen

das Eine

ineffizient

Ejakulation

das ganz Andere

 

Übersteigen aller jouissance

Anders als der männliche Orgasmus, der sich in der sichtbaren Ejakulation äußere, sei die weibliche Sexualität organisch nicht lokalisierbar, nicht wahrnehmbar und nicht formulierbar, daher befinde sie sich, so Bruckner/Finkielkraut, jenseits jeglicher Sprache und Körperlichkeit. Sie übersteige alle Jouissance. Bruckner/Finkielkraut nennen sie deshalb die 'andere Sexualität'. Dieser 'anderen Sexualität' könne der Mann nur entgegenkommen, wenn er die aus den östlichen Liebeslehren stammenden coitus reservatus praktiziere. Der Samen des Mannes müsse solange wie möglich zurückgehalten werden, damit er das Außen, das die Frau repräsentiert, in sich aufnehmen kann. Die offizielle Sexologie habe aber, so Bruckner/Finkielkraut, eine 'profunde Aversion' gegen diese Technik, gehe sie doch von einer natürlichen Bestimmung des Fleisches aus. Wesentlich für den coitus reservatus sei die Öffnung hin auf die Sexualität der Frau. So müsse die Aneignung dieser Technik aus Gründen des plaisir und der Leidenschaft geschehen. Sie stelle einen wichtigen Schritt hin zu 'polymorphen und multidimensionalen Formen' der Erotik dar, zu einer 'Deinvestition des Genitalen' bzw. zu einer 'Entgenitalisierung der Sexualität'. Den Samen zurückhalten, heiße: 'anders genießen'. Der Coitus reservatus sei aber nur ein bescheidener Beitrag zu einer viel umfassenderen Umgruppierung des Geschlechterverhältnisses, die es zu verwirklichen gelte. Sie hat im übrigen dem ganzen Buch auch seinen Titel verliehen: die 'neue Liebesunordnung'. Sie zeichne sich vor dem Hintergrund einer anderen Unordnung ab: der Revolte der Frauen, der sexuellen Minderheiten, der Auflösung von Werten, der Anarchie des Kapitals. Diese Revolte stelle die Männlichkeit (virilité) und die männliche Sexualität in Frage.

Erkenntnisgewinn und implizites Modell von Sexualität und Geschlechterverhältnis bei Bruckner/Finkielkraut

Bruckner/Finkielkraut weisen das Reichsche Modell einer scheinbar universalen, genitalen und am männlichen Orgasmus orientierten Sexualität zurück. Stattdessen nehmen sie die Dualität einer weiblichen und einer männlichen Sexualität an. Die weibliche sei umfassender, nicht auf bestimmte erogene Zonen festgelegt, supra- oder paragenital. Der weibliche Orgasmus ist ihrer Auffassung nach, anders als der von Männern, nicht meß-, sicht- und verifizierbar, sondern unendlich. Da der Mann nur über eine höchst beschränkte Orgasmusfähigkeit verfüge, empfehlen sie ihm die tantrisch-taoistische Technik des coitus reservatus. Dies sei einerseits die einzige Möglichkeit, der Unendlichkeit der weiblichen Lust auch nur annähernd gerecht zu werden, andererseits erweitere es den Genuß des Mannes im Vergleich zu den konventionellen seriellen Ejakulationen. Bruckner/Finkielkraut indizieren damit, daß die Repressionshypothese und ihre Quellen, also vor allem Reich und die Sexualwissenschaft bei ihrem Kampf gegen Normen selbst wieder Normen gesetzt haben. Diese Normen sind ihrer Auffassung nach zum Problem geworden, haben zu unbefriedigter Sexualität geführt, weil sie der Differenz von weiblichem und männlichem Sexualempfinden nicht Rechnung getragen haben. Bruckner/Finkielkraut indizieren mit ihrem Debattenbeitrag, daß eine Auseinandersetzung um die richtige Sexualität entbrannt ist. In diesem Zusammenhang fällt auf, daß immer wieder auf die Code- oder Diskurs-Steuerung der männlichen Sexualität verwiesen wird, deren Opfer die Frau sei:

... die Frau ist die Sklavin eines Sklaven: [...], der sich der Nachahmung des Codes der Männlichkeit gewidmet hat.

Diesem Code sind mehrere Aspekte zugeordnet. Es handelt sich einerseits um die 'männliche Kodifizierung der Lust, der Liebe, der Wollust', um deren Normierung im Sinne des männlichen Orgasmusmodells. Der Code sei aber andererseits zugleich auch eine Organisation des Wissens, die sich einer Wahrheit versichere, um andere Formen des Wissens gar nicht erst entstehen zu lassen. Es wird gar unterstellt, daß der Code den doppelten Wunsch nach Intelligibilität und nach Kontrolle befriedige. Die (Fehl-) Steuerung der männlichen Sexualität impliziert, daß die weibliche Sexualität nicht unmittelbar codegesteuert ist. Die weibliche Sexualität sei zwar negativ und mittelbar vom männlichen Code betroffen, da sie aber nicht greif-, sicht- und meßbar ist, ist sie nach Bruckner/Finkielkraut auch nicht wirklich steuerbar.

Bruckner/Finkielkraut rücken somit von der Reichschen These ab, es gebe eine geschlechtsübergreifende, quasi naturwüchsige Sexualität, die lediglich von der kapitalistischen Repression befreit werden müsse. Sie zeigen, daß zumindest die männliche Sexualität durch 'Codes' oder 'Diskurse' gesteuert werden kann: so folgen Pornographie, Prostitution, aber auch die sog. 'freie Liebe' dem männlichen, genitalen Code meß- und beweisbarer Lust. Bruckner/Finkielkraut kritisieren diesen Code der sexuellen Revolution, dem sie vorwerfen, eine Norm ejakulationsorientierter, männlicher, genitaler Sexualität zu verabsolutieren. Indem Bruckner/Finkielkraut nun aber den Männern im Sinne der östlichen Liebeslehren vorschlagen, auf die Ejakulation zu verzichten bzw. sie ganz nach hinten zu verschieben, bestätigen sie ihrerseits, daß Sexualität formbar und Gegenstand von Erörterungen geworden, somit historisch konstruiert ist. Sie schlagen selbst einen neuen Code vor. Sie reflektieren damit eine Phase in der Geschichte der Sexualität, in der diese aus der Verpflichtung der Fortpflanzung und den Geboten traditioneller Ordnungen herausgefallen ist und ihren selbstverständlichen Ort verloren hat. Die Sexualität ist zur Frage geworden. Bei Bruckner/Finklelkraut wird die Frage nicht anders als bei Reich auf der Ebene der 'Richtigkeit' der sexuellen Verhaltensweisen gestellt.

Letzlich tappen Bruckner/Finkielkraut selbst in die essentialistische Falle. Indem die weibliche Sexualität der Code-Steuerung enthoben ist, wird sie selbst zu etwas Mythischem, Natürlichem, wenn nicht Übernatürlichem. Bruckner/Finkielkraut glauben an eine gute, ewige, unendliche weibliche Sexualität. die durch den reichianisch-sexologischen Code des Männlich-Genitalen pervertiert wird, in derselben Weise, wie Reich an die eine naturwüchsige Sexualität und ihre Unterdrückung geglaubt hat. Auch wenn Bruckner/Finkielkrauts Konzeption profeministisch und sympathisch ist, beruht sie selbst auf einem gewendeten Ursprungsmythos. Die kosmische weibliche Sexualität wird ihre Rhythmen schon entfalten, wenn man sie erst einmal läßt, der Mann muß ihrem Lauf dann nur folgen. Wenn man sie zur 'nichtnormativen Norm' erheben würde, käme es zu maximaler Lust auf beiden Seiten der Geschlechterdifferenz. Die Differenz der Geschlechter beruht bei Bruckner/Finkielkraut auf einem recht eingeschränkten Modell auf der Basis der Opposition unendliche/endliche Sexualität.

Völlig außer Acht bleibt in diesen Überlegungen der nicht mehr nur an alternativen Stammtischen, in Therapien, in Ratgeberbüchern und in soziologischen Abhandlungen so massiv diskutierte Beziehungsaspekt. Würde die Sexualität in der von Bruckner/Finkielkraut geforderten Weise praktiziert, scheinen sich die adäquaten Beziehungen von selbst zu ergeben. Die 'richtige' sexuelle Praktik konstituiert schon die Beziehung eines Mannes und einer Frau. Von Krise der Liebe, der Sexualität oder gar des Geschlechterverhältnisses ist daher nicht die Rede. Die Sexualität ist lediglich insofern in der Krise, als sie unter die Herrschaft des genitalen Codes geraten ist. Die Krisenhaftigkeit zeigt sich weder auf der Ebene der Sexualität noch auf der der Liebesbeziehungen, sondern lediglich im 'falschen', weil repressiven Code der Neoreichianer. Der grundsätzliche Optimismus bezüglich einer diesmal wirklichen Befreiung der/dieser Sexualität wird mit den 'sexuellen Jakobinern' geteilt. Die fundamentale Anziehungskraft zwischen den Geschlechtern ist in diesem Ansatz gegeben, d.h. das Geschlechterverhältnis ist, ebenso wie in der Repressionshypothese, als natürliches vorausgesetzt.

Sowohl in der klassischen Repressionshypothese als auch bei Bruckner/Finkielkraut läuft es darauf hinaus, daß eine als ursprünglich naturhaft angenommene – bei Reich eine genital-universale, bei Bruckner/Finkielkraut eine weiblich-polymorphe – Sexualität von widrigen gesellschaftlichen Verhältnissen oder 'Codes/Diskursen' befreit werden muß. Die Streitschrift der beiden erotischen Gegenrevolutionäre ist eine profeministische, modernisierte, alternative Variante der Repressionshypothese. In beiden Fällen wird angenommen, daß es ein Recht auf die jeweils richtige Sexualität gibt, eine Idee, die die nun folgenden Theorieansätze aufgeben. Bruckner/Finkielkraut machen letztlich Aussagen auf zwei Ebenen:

a)       der Sexualität: Dort situieren sie eine als natürlich angenommene weibliche Sexualität an der Grenze des Sagbaren; sie beschreiben die männliche als eine reduzierte, die entweder in eine genitale, orgasmusfixierte Richtung gelenkt werden kann und dann repressiv die weibliche Sexualität an der Entfaltung hindert oder als eine, die auf ihre Orgasmen verzichtet. In dieser alternativen, profeministischen Repressionshypothese ist eine Krise der Sexualität, wie sie sich heute darstellt und im Vorwort skizziert worden ist, nicht adäquat denkbar; der Beziehungsaspekt, geschweige denn dessen Problematik, wird nicht mitgedacht. Dennoch ist auch bei Bruckner/Finkielkraut Sexualität zumindestens problematisch geworden und Handlungsbedarf entstanden – wenn auch der Grund ausschließlich im falschen, männlichen Sexualverhalten verortet wird.

b)      auf der Ebene des Wissens über Sexualität: Bruckner/Finkielkraut konstatieren, wenn auch eher implizit, in ihren Attacken gegen die Meß- und Sagbarkeit des (männlichen) Orgasmus, daß Sexualität Gegenstand eines Wissens geworden ist. Auch dies deutet an, daß Sexualität in gewisser Weise fragwürdig, weil befragenswert geworden ist. Sexualität hat eine bestimmte Selbstverständlichkeit verloren, ihre Nonnierung muß debattiert werden. Der Verlust der Natürlichkeit transformiert sich in einen Hang zur Diskussion. Le nouveau désordre amoureux selbst ist ein Beitrag zu dieser Debatte. Foucault wird diesen bei Bruckner/Finkielkraut zweitrangig gebliebenen Aspekt in seinem fast zeitgleich erschienenen Buch in den Vordergrund rücken. Mit Foucaults Untersuchung des Verhältnisses von Sexualität und (Macht-)Diskursen wird die Diskussion der Sexualität und des Geschlechterverhältnisses zugleich auf ein eigentlich theoretisches Niveau gehoben.

Interessant ist, daß sich in Bruckner/Finkielkrauts Denken eine Bewunderung des Weiblichen andeutet, die sich bei einigen soziologischen Theoretikern in unterschiedlicher Form wiederfindet und bei dem als Phallogozentriker verschrieenen Psychoanalytiker Lacan eme besonders interessante theoretische Wendung nimmt.

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