Auszüge aus Ottmar Hanke's
"Gewalt in der Peer-Group von Jungen"

Konzeptioneller Zugang – pädagogische Folgerungen

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Einleitung

Durch die zunehmende Häufigkeit der Gewalttaten von Kindern und Jugendlichen aufgeschreckt, ist in vielen Bereichen der Gesellschaft eine zum Teil leidenschaftlich geführte Diskussion um die zunehmende Gewaltbereitschaft und Gewalttätigkeit unserer Jugend aufgeflammt. Daß etliche dieser Gewalttaten im politischen, insbesondere im rechtsradikalen bzw. rechtsextremistischen Umfeld stattfinden und fremdenfeindlichen Charakter haben, erklärt auch die Wortmeldungen der politischen Entscheidungsträger zu diesem Thema.

Überdies ist eine zunehmende Sensibilisierung der Allgemeinheit für bislang tabuisierte Themenbereiche wie sexuelle Gewalt, sexueller Mißbrauch oder sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz zu vermerken; in der Öffentlichkeit werden diese Thematiken in zunehmend offeneren Diskussionen behandelt. So rückt das Thema Gewalt insgesamt sukzessive in das gesellschaftliche und wissenschaftliche Interesse.

Durch den Anstieg kindlicher und jugendlicher Gewalttätigkeit beunruhigt, wurden von Institutionen unterschiedlichster Trägerschaft (Bundesregierung, Universitäten, Länderregierungen) eine Vielzahl von Kommissionen eingesetzt, wissenschaftliche Studien in Auftrag gegeben und Gutachten bestellt, mit dem Ziel, einen Verständnishorizont für diese gewalttätigen Phänomene zu entwickeln. In dieser Situation sah sich nicht zuletzt auch die Pädagogik als legitime gesellschaftliche Präventions- und Interventionsinstanz aufgerufen, Konzepte zur Verhinderung oder Verminderung von Gewalt bzw. Gewaltbereitschaft bei Kindern und Jugendlichen zu entwerfen und vorzulegen.

Bei genauerer Analyse der Grundlagen der meisten der vorliegenden Konzepte zur Erklärung des Gewaltphänomens bzw. pädagogischer Präventions- und Interventionsansätze wird indes deutlich, daß bei der Analyse zugrunde liegender Bedingungen gewalttätigen Handelns, wie soziales Umfeld, Bildungsstand, Familie, o.ä. eine Größe nur am Rande erwähnt oder gar nicht bedacht wird: das Geschlecht. Und das, obwohl Statistiken zu Gewalttaten und Tatverdächtigen eine deutliche männliche Dominanz in der Jugendkriminalität aufzeigen.

Der folgende Abschnitt weist in der Darstellung und Interpretation einiger zentraler Statistiken, insbesondere solcher des Bundeskriminalamtes und des Statistischen Bundesamtes, dieses männliche Übergewicht bei Gewalttaten durch Kinder und Jugendliche nach.

Die Ausgangssituation: Gewalttaten von männlichen Kindern und Jugendlichen

Gemäß der polizeilichen Kriminalstatistik 1996 (PKS) steigen die erfaßten Fälle der gesamten Straftaten 1995 gegenüber dem Vorjahr um 2,0% an, wobei sich der Anteil der Tatverdächtigen im Segment der Kinder (Alter bis 14 Jahre) von 4,9 auf 5,5%, im Segment der Jugendlichen (Alter 14 bis 18 Jahre) von 11,0 auf 12,0% und im Segment der Heranwachsenden (Alter 18 bis 21 Jahre) von 9,6 auf 9,8% erhöht hat. Das bedeutet, daß die Kinder- und Jugendkriminalität im Berechnungszeitraum insgesamt und relativ angestiegen ist. Die Geschlechterverteilung bei den Tatverdachtigen ist dabei insgesamt 77,9% männlich und 22,1% weiblich.

Auch der Bereich der Gewaltkriminalität erfährt insgesamt eine Steigerung aller Fälle, nämlich um 8,9%. Die dabei ermittelten Tatverdächtigen unterteilen sich dabei in 4,2% Kinder, 19,3% Jugendliche, 14,9% Heranwachsende und 61,7% Erwachsene. Damit sind die jüngeren Altersgruppen als Tatverdächtige stärker betroffen, als es ihrem Bevölkerungsanteil von 22,5% entspricht. Von diesen Tatverdächtigen sind insgesamt 89,2% männlich und nur 10,8% weiblich – eine deutliche Steigerung bei den männlichen Tatverdächtigen in diesem Bereich gegenüber den Straftaten insgesamt.

Der Bereich der Gewaltkriminalität speziell im Kinder- und Jugendsegment ist genauer betrachtet männlich dominiert. So sind beispielsweise in der Straftatengruppe Raub – hier ist der Anteil der Minderjährigen von allen Gewalttaten am höchsten und die Zunahme der Tatverdächtigen (von 30,5 auf 35,5%) am dramatischsten – im Kinderbereich 89,0% der Tatverdächtigen männlich, im Jugendbereich 90,7%. Ähnlich bei der Kategorie gefährliche und schwere Körperverletzung: bei den Kindern sind 81,6% der Tatverdächtigen, bei den Jugendlichen 84,3% männlich.

Allgemein gesehen sind laut PKS bei der aufgeführten Gewaltkriminalität männliche Jugendliche ab 16 Jahre und Heranwachsende bezogen auf ihren Bevölkerungsanteil unter den Tatverdächtigen am stärksten überrepräsentiert Das Alterssegment der 14- bis 16-jährigen folgt dabei an dritter Stelle.

Eine gesonderte Auswertung einer polizeilichen Auskunftsdatei für das Bundesland Baden-Württemberg durch das Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht vermittelt ein aufschlußreiches, über die oben aus der PKS aufgeführten Zahlen hinausgehendes Bild der Gewaltdelinquenz im Kindes- und Jugendalter. So ist das Verhältnis von männlichen Kindern und Jugendlichen zu weiblichen bei Gewaltstraftaten mit 15:1 deutlich höher als für die Gesamtheit der Delikte (5:1). Das Zahlenverhältnis von (dominierenden) Gewaltstraftaten gegen Sachen zu Gewaltstraftaten gegen Personen flacht sich mit steigendem Alter ab. Bei deutschen Jugendlichen stehen eher Gewalttaten gegen Sachen als solche gegen Personen im Vordergrund. Bei ausländischen Jugendlichen ist diese Relation eher umgekehrt. Bei männlichen Kindern und Jugendlichen ist die jährliche Prävalenzrate für Gewalt gegen Sachen bis einschließlich dem 16. Lebensjahr die für die Gewalt gegen Personen. Bei weiblichen Kindern und Jugendlichen ist die jährliche Prävalenz für Gewalt gegen Personen schon ab dem 14. Lebensjahr höher.

Auf die Gültigkeit dieser geschlechtsspezifischen Ergebnisse für die gesamte Bundesrepublik (alte und neue Bundesländer) soll an dieser Stelle hingewiesen werden. Aufgrund der Ergebnisse von vergleichenden Dunkelfelduntersuchungen bei Studienanfängern kann generell gesagt werden, daß die Unterschiede zwischen den Geschlechtem bei nahezu allen erfaßten Delikten deutlich ausgeprägt und in beiden Systemen vorhanden sind. "Männliche Studienanfänger berichten mehr über delinquentes Verhalten als ihre Kommilitoninnen. Das Ausmaß dieser Geschlechtsunterschiede übertrifft in der Regel das der Ost-West-Unterschiede bei weitem."

Der hohe prozentuale Anteil der männlichen Tatverdächtigen spiegelt sich beispielsweise auch im Geschlechterverhältnis bei Strafgefangenen und Sicherungsverwahrten im Strafvollzug wieder. Von den insgesamt einsitzenden Jugendlichen sind 96,5% männlich, bei den Heranwachsenden 97,9%. Männliche Jugendliche und Heranwachsende wurden im Verhältnis zu weiblichen Jugendlichen und Heranwachsenden in der oben erwähnten Gewaltstraftatenkategorie Raub ca. 50 mal häufiger und in der Kategorie gefährliche und schwere Körperverletzung ca. 33 mal häufiger verurteilt.

Zusammenfassend ist zu sagen, daß Jugendliche im Vergleich zu ihrem Bevölkerungsanteil weit überproportional straffällig werden. Dies gilt vor allem für männliche Kinder, Jugendliche und Heranwachsende. Insgesamt gesehen kommt fast ein Drittel der jungen Männer unter 30 irgendwann einmal mit dem Gesetz in Konflikt.

Trotz des in diesem Abschnitt belegten Faktums, daß Jugendgewalt eindeutig männlich dominiert ist, wird, wie schon erwähnt, in aktuellen Untersuchungen zum Gewaltphänomen darauf oft nur bedingt bzw. keine Rücksicht genommen: eine Untersuchung zu Jugend und Gewalt aus Magdeburg z.B. berücksichtigt in ihrer Analyse der Entstehungsbedingungen von Gewalt die Größe Geschlecht nicht mit einem Wort.

Es gibt hierbei aber auch rühmliche Ausnahmen, wie z.B. die Forschergruppe um den Skandinavier Dan Olweus, die die geschlechtliche Bedingtheit gewalttätigen Handelns in der Schule als eine basale Größe behandelt.

Insgesamt gesehen jedoch wird das Geschlecht nicht in dem Maße berücksichtigt, wie das die statistischen Ergebnisse nahelegen. Diese Berücksichtigung soll in der vorliegenden Arbeit geschehen.

Erkenntnisleitendes Interesse und Vorgehensweise

"Jugend-Gewalt ist männlich." Dieses im vorstehenden Abschnitt belegte Faktum stellt einen Ausgangspunkt dieser Arbeit dar.

Ein zweiter Ausgangspunkt bezieht sich auf den Entstehungszusammenhang dieses Faktums und ist die These, daß das Gewaltverhalten von männlichen Kindern und Jugendlichen in seiner Genese durch gewaltträchtige Verhältnisse evoziert wird, auf welche diese Kinder und Jugendlichen aufgrund ihrer spezifischen Konstitution sensibel reagieren. Auf eine Kurzformel von Olweus gebracht, ist in der Regel davon auszugehen, daß "Gewalt Gewalt erzeugt".

Dieser zweite Ausgangspunkt findet seine Basis in der anthropologischen Grundannahme, daß Menschen auch in bezug auf Gewaltverhalten nicht instinktgebundene und genetisch determinierte, sondern primär sozialisationsbedingte und erziehungsgeleitete Wesen sind.

Ohne an dieser Stelle auf die in der pädagogischen Anthropologie eingehend geführten Anlage-Umwelt-Diskussion zurückzugreifen, soll hier, kurz gesagt, eine physiologische Einflußnahme auf menschliches Verhalten zwar nicht geleugnet werden, wohl aber einer Determination des Verhaltens durch diese widersprochen sein.

All human behavior is, however, regulated and formed by cultural factors. Accordingly, the difference in aggressiveness between the sexes has been attributed to their social roles, in addition to or instead of biological factors.

Alles menschliche Verhalten wird durch kulturelle Faktoren reguliert und geformt. Entsprechend beziehen sich die Unterschiede zwischen den Geschlechtern im Aggressionsverhalten auf ihre sozialen Rollen, wegen oder trotz biologischer Faktoren.

Da männliche Kinder und Jugendliche gewalttätiger sind als Mädchen, beinhaltet diese These auch, daß sie mit ihren spezifischen Lebenswelten weit mehr als Mädchen von Beginn ihrer Entwicklung an in gewaltträchtige, seien es gewaltfordernde oder -hemmende Strukturen einbezogen sind.

Im wesentlichen interessiert sich die vorliegende Arbeit nun dafür, welche Möglichkeiten der Prävention und Intervention die Pädagogik beim beschriebenen Klientel hat. Sie geht, von den beiden beschriebenen Gesichtspunkten geleitet, zunächst der Frage nach, wie sich männliches Gewaltverhalten entwickelt bzw. welche Einflußgrößen berücksichtigt werden müssen. Wenn bekannt ist, auf welche Weise männliches Gewaltverhalten entsteht, können aus den dadurch gewonnenen Ergebnissen pädagogische Folgerungen abgeleitet werden. Welche Folgerungen es sind und ob diese sich in den gegenwärtig zentralen pädagogischen Konzepten zur Gewaltprävention und -intervention berücksichtigt finden, klärt der zweite Teil der Arbeit.

Im ersten Teil der Arbeit (Konzeptioneller Zugang) werden Überlegungen zum Erstellung eines Instrumentariums zur Untersuchung des beschriebenen Sachverhaltes angestellt.

In einer ersten Annäherung an die Beantwortung der gestellten Fragen wird im Kapitel Zwei zunächst ein zentraler Begriff der Arbeit, nämlich Gewalt, diskutiert. Die eingehende Analyse seiner vielfältigen Begriffshorizonte führt zur Definition nach Galtung, dem sog. erweiterten Gewaltbegriff. Die Darstellung einer Gewalttypologie und ein Exkurs exempli causa erläutern diesen Terminus.

Das zweite Kapitel geht weiterhin der Frage nach, inwiefern schon vorhandene sozialwissenschaftliche Theorien zur Entstehung von Gewalt den geschlechtsspezifischen Aspekt berücksichtigen. Dazu werden die wichtigsten Aggressionsentstehungstheorien aus der Psychologie und die zentralen Theorien zur Entstehung von deviantem Verhalten aus der Soziologie dargestellt und ausgewertet. Sie werden anschließend zudem dahingehend befragt, inwieweit sie dem Konzept des erweiterten Gewaltbegriffes gerecht werden.

Das Kapitel Zwei abschließend werden als Resultat der Auseinandersetzung mit dem Gewaltbegriff und den vorhandenen Theorien zur Gewaltentstehung Kriterien benannt, die an ein theoretisch überzeugendes Konzept zur Erklärung von gewalttätigem Handeln von männlichen Kindern und Jugendlichen zu richten sind.

Die Ergebnisse des zweiten Kapitels führen zum Konzept der Ökologie der menschlichen Entwicklung nach Bronfenbrenner. Nach einer detaillierten Einführung in dieses sozialisationstheoretische Modell wird im dritten Kapitel die Reichweite des erweiterten Gewaltbegriffes im ökologischen Kontext überprüft.

Der Überschneidungsbereich des Gewaltbegriffs nach Galtung mit dem ökologischen Konzept von Bronfenbrenner läßt die Möglichkeit erkennen, die Entwicklung von Gewaltverhalten bei männlichen Kindern und Jugendlichen mit dem ökologischen Modell zu beschreiben. Die hierbei einzuhaltende Vorgehensweise wird anhand eigener Untersuchungen Bronfenbrenners expliziert. Weiterhin werden Kriterien an empirische Arbeiten herausgearbeitet, die von Bronfenbrenner anführt werden; diese sind notwendig, da nicht jede Untersuchung für den ökologischen Kontext gleichermaßen aussagekräftig ist.

Mit den Ergebnissen dieses dritten Kapitels läßt sich ein Konzept der Gewaltentwicklung im human-ökologischen Kontext entwerfen, das weiterführende Erkenntnisse über die Entstehung von Gewaltverhalten bei männlichen Kindern und Jugendlichen ermöglicht.

Teil II der vorliegenden Arbeit (Die Gleichaltrigen-Gruppe von männlichen Kindern und Jugendlichen) interessiert sich nun für die Folgen, die das Konzept der Gewaltentwicklung im human-ökologischen Kontext in pädagogischer Hinsicht nach sich zieht.

In der Analyse des wichtigsten Lebensbereiches von (männlichen) Kindern und Jugendlichen für ihre Entwicklung, dem der Gleichaltrigengruppe oder peer-group, wird erläutert, welche Aspekte von einem pädagogischen Konzept berücksichtigt werden müssen, das sich um eine Verminderung von gewalttätigem Verhalten bei männlichen Kindern und Jugendlichen im Rahmen der Arbeit mit Gleichaltrigen bemüht. Nach der Entfaltung des theoretischen Konzeptes der Gewaltentwicklung im human-ökologischen Kontext in Teil I der Arbeit folgt so in Teil II die Anwendung im eigentlichen Problemfeld.

Im vierten Kapitel der Arbeit werden nun unterschiedliche Einflußgrößen differenter Typen von Gewalt innerhalb der Mikro-, Meso-, Exo- und Makrosysteme anhand von Studien aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen aufgeführt. Der Lebensbereich der peer-group erfährt dabei hinsichtlich seiner Elemente und Charakteristika, wie molare Aktivitäten, Rollen und zwischenmenschliche Strukturen, eine Analyse bezüglich gewalttätiger Einflußnahmen; auch die temporäre Dimension von Gewalt wird hierbei berücksichtigt.

Die Ergebnisse der Studien werden mit dem Ziel eines besseren Verständnisses des Entwicklungsraumes Gleichaltrigengruppe von männlichen Kindern und Jugendlichen untereinander systematisch in Zusammenhang gebracht.

Aus den empirischen Resultaten des Konzeptes der Entwicklung von Gewaltverhalten im human-ökologischen Kontext von männlichen Kindern und Jugendlichen in ihrer peer-group am Ende von Kapitel 4. ergeben sich für die Pädagogik zu bedenkende Anforderungen oder Postulate, die in vier Aspekten pädagogischer Tätigkeit in diesem Lebensbereich zusammengefaßt werden: Akzeptanz, Kommunikation, Clique und Vernetzung.

Das fünfte und abschließende Kapitel beschäftigt sich mit der Reflexion der im vorstehenden Kapitel erarbeiteten pädagogischen Postulate. Es wird geklärt, ob und inwiefern die vier Aspekte in pädagogischen Konzepten oder Handlungsanweisungen Berücksichtigung finden. So können die gegenwärtig zentralen pädagogische Konzepte und Reaktionsweisen bezüglich gewaltbereiter männlicher Kinder und Jugendlicher daraufhin untersucht werden, ob sie den erarbeiteten pädagogischen Postulaten standhalten; sie werden damit (teilweise) verifiziert, gewichtet und empirisch abgesichert. Gleichzeitig vermittelt sich hierdurch ein Bild einer gewaltpräventiven Pädagogik in der Gleichaltrigengruppe männlicher Kinder und Jugendlicher.

Aus der Reflexion der in der vorliegenden Arbeit resultierenden Aspekte der Arbeit mit der Gleichaltngengruppe männlicher Kinder und Jugendlicher im Lichte vorhandener pädagogischer Konzepte zum Thema Gewalt läßt sich zusammenfassend die Skizze eines Qualifikationsproflis für einen im diesem Bereich tätigen Pädagogen erstellen. Zudem wird mit der Einführung der sozialräumlichen Jugendarbeit auch der Vorschlag für ein mögliches Rahmenkonzept der gewaltpräventiven Arbeit mit der Gleichaltrigengruppe männlicher Kinder und Jugendlicher gemacht.

Nun scheint die vorliegende wissenschaftliche Arbeit eine von vielen zum in der Pädagogik so breit behandelten Themenkreis Jugend und Gewalt zu sein. Doch fällt bei genauerer Betrachtung der pädagogischen Publikationen zum Thema dann jedoch auf, daß Fragestellungen zum Gewaltbereich zu Beginn dieses Dezenniums zwar intensiv diskutiert wurden, seit ca. 1994 die Anzahl der Veröffentlichungen jedoch drastisch abgenommen hat. Dieses auf- und schließlich wieder abflauende Interesse der Pädagogik am Thema Gewalt läßt die Interpretation zu, daß die Pädagogik als Teil des gesellschaftlichen Bewußtseins, nach anfänglicher Teilhabe aufgrund reißerischer Medienberichterstattung, das Interesse an rechtsradikalen Gewaltverbrechen ebenso verloren hat, wie so viele andere Teile. Mit einiger Vorsicht läßt sich dieser pädagogische Popularismus insofern verurteilen, als in vielen Publikationen auf die Dringlichkeit, den Forschungsbedarf und vor allem auf die nötige Langfristigkeit von pädagogischen Interventionen hingewiesen wurde.

Vor diesem Hintergrund gewinnt eine pädagogische Arbeit zum jetzigen Zeitpunkt zum Thema Jugend und Gewalt zum einen insofern an Bedeutung, als sie die Diskussion um gewaltpräventive pädagogische Konzepte weiter vorantreibt und ihr mit der vorliegenden Konzeption Diskussionsstoff gibt.

Zum anderen wird damit auf die Dringlichkeit der kontinuierlichen Behandlung des Themas Gewalt in der Pädagogik (und natürlich auch in anderen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Bereichen) hingewiesen.

Vorbemerkungen

(1)     Es ist deutlich, daß sich das erkenntnisleitende Interesse nicht primär auf die Phylo- oder Aktualgenese von Gewalt bezieht, sondern ontogenetisch angelegt ist, wobei sekundär aber auch aktualgenetische Zusammenhänge berücksichtigt werden. Weiterhin versucht diese Arbeit keine neue atiologische Theorie von Gewaltverhalten von männlichen Kindern und Jugendlichen zu entwerfen. Sie soll im wesentlichen heuristisch sein, dabei die Erforschung lohnender Fragestellungen, Problemkreise und Möglichkeiten identifizieren. Sie versucht mit Hilfe des erweiterten Gewaltbegriffes eine Eingliederung der bestehenden Theoriemodelle zur Entstehung von Gewalt unter dem Dach der ökologischen Sichtweise menschlicher Entwicklung und hofft auf den synergetischen Effekt dieser Integration.

(2)     Die vorliegende Arbeit beschränkt sich mit der Analyse der gewalttätigen Einflüsse auf das Segment der männlichen Kinder und Jugendlichen. Die Begrenzung dieses Segmentes ist in der Literatur jedoch uneinheitlich: Unterscheidet das "heutige Alltagsverständnis" zwischen Säugling (bis 12 Lebensmonat), Kleinkind (2.-5. Lebensjahr) und Schulkind (6.-14. Lebensjahr), wird an anderer Stelle eine "rein pragmatische" Einteilung in frühe Kindheit (bis Ende des zweiten oder dritten Lebensjahres) und Kindheit unterstützt. Kindheit gilt als eigener Status, und das Kind wird als grundsätzlich vom Erwachsenen verschieden konzipiert. Kindheit selbst ist nicht durch bestimmte qualitative und quantitative psychische Veränderungen bestimmbar und ist zudem auch kulturell definiert, so daß es eine allgemeingültige zeitliche Begrenzung kaum geben dürfte.

Weiterhin stößt auch die Bestimmung der Grenze des Segments hin zum Erwachsenenalter auf einige Schwierigkeiten. Denn was nun das Jugendalter ausmacht und definiert, gleichzeitig das Übertreten in das Erwachsenenalter bestimmt, ist kontrovers. So wird das Jugendalter traditionell als Verhaltensphase des Menschen verstanden, in der er nicht mehr die Rolle des Kindes spielt und noch nicht die Rolle des Erwachsenen übernommen hat.

Andere Auffassungen über die Beendigung des Jugendalters stellen die Übernahme unterschiedlicher Kriterien in den Vordergrund: Berufstätigkeit, Ehe, Neolokalität, heterosexuelle Partnerschaft und Konsumkompetenz werden von differenten Konzepten in unterschiedlichen Merkmalskombinationen genannt. Zudem wird mit der Deklaration eines historischen neuen Altersstatus die Jugendphase weiter differenziert (und das Problem der Abgrenzung noch größer), wenn es heißt: "Zwischen Jugend und Erwachsensein tritt eine neue gesellschaftlich regulierte Altersphase ... eine Nachphase des Jungseins ... die Post-Adoleszenz", die das dritte Lebensjahrzehnt bestimmt. So wird eine bloße Altersdatierung auf das 18te Lebensjahr, was aus pragmatischer Sicht durchaus möglich wäre, dem Problem des Endes der Jugendphase und dem Beginn des Erwachsenenalters in keiner Weise gerecht.

Aufgrund dieser Abgrenzungsprobleme des Segments von Säuglings- bzw. Kleinkindalter zu Kindheit und von Jugend- zu Erwachsenenalter sollen in dieser Arbeit diese Grenzen dynamisch gehalten werden. Ausgehend von der soziologischen Einteilung sollen immer dann Extensionen bzw. Verschiebungen berücksichtigt werden, wenn sie sinnvoll erscheinen. Ist die Stichprobe einer empirischen Untersuchung zum Beispiel bis zum Alter von 23 ausgelegt, der Hauptteil der Befragten jedoch unter 18 Jahren, scheint es sinnvoll, ihre Ergebnisse für diese Arbeit gelten zu lassen.

(3) Infolge der Hereinnahme unterschiedlicher Begriffshorizonte und Konzepte ist eine Verortung der vorliegenden Arbeit in eine wissenschaftliche Disziplin diffizil. Zum einen wird der aus der Friedensforschung stammende Terminus eines erweiterten, d.h. eines auf personale und struktuelle Momente bezogenen Gewaltbegriffes eingeführt, zum anderen ist dieser in ein entwicklungspsychologisches Modell der Entwicklung sozusagen eingebaut. Die zugrunde liegende Motivation (siehe auch Abschnitt 1.3 dieser Arbeit) und die Zielsetzung (Aussagen über die Arbeit mit männlichen Kindern und Jugendlichen zum Thema Gewalt zu machen) sind letztlich pädagogischer Art. Viele der aufbereiteten Forschungsergebnisse und Theoriezusammenhänge entspringen zudem soziologischen Fragestellungen und Denktraditionen. So bewegt sich diese Arbeit im Überschneidungsfeld von soziologischen und psychologischen, hier insbesondere entwicklungspsychologischen Erkenntnissen, ist jedoch pädagogisch motiviert und zugleich friedens-pädagogisch ausgerichtet.

Eine Art Exkurs: Die Motivation zur vorliegenden Arbeit

Gewalt ist – wie zu sehen sein wird – ein multifaktorelles Phänomen. Keine simplen wenn-dann-Relationen greifen bei seiner Erklärung. Dementsprechend kann auch eine pädagogische Herangehensweise nur unter Berücksichtigung vielfältiger Entstehungsfaktoren und -zusammenhänge bestehen und muß letztlich versuchen, deren Grundlage zu verändern.

Doch die pädagogische Tradition weist auch andere Wege auf. Bronfenbrenner umschreibt solch einen Weg folgendermaßen:

Die (pädagogischen, O.H.) Bestrebungen ... unterliegen einer Ideologie, die in erheblichem Maße von einem "Defizit-Modell" der Funktion und Entwicklung des Menschen geprägt ist. Dieses Modell beruht auf der Annahme, daß alles, was wir als Störungen im menschlichen Verhalten und in der menschlichen Entwicklung ansehen – sogar oder sogar besonders, was nicht durch organische Schäden bedingt ist –, auf Unzulänglichkeiten der Person selbst schließen läßt oder, aus einsichtiger, aber im Grunde gleicher Perspektive, auf Unzulänglichkeiten ihrer unmittelbaren Umgebung. Man geht vom Individuum aus, man sucht nach Anzeichen von Apathie, Hyperaktivität, Lernschwächen, Abwehrmechanismen und dergleichen mehr. Findet man keine, so weiß man, wo man weiter zu suchen hat, denn wenn der Ursprung des Defizits nicht beim Kind zu finden ist, muß er bei den Eltern liegen: Sie bieten ihrem Kind nicht genügend kognitive Anregung, sie haben sich nicht erschöpfend über ihre eigenen Beziehungen auseinandergesetzt, ihre Persönlichkeiten sind auf präödipalem Niveau fixiert ... Und wenn der Ursprung der Schwierigkeiten weiter nicht zu fassen ist, kann die Schuld immer noch der ethnischen oder der sozialen Gruppe der Familie zugeschrieben werden. Mit irgend jemandem muß irgend etwas nicht in Ordnung sein, und für gewöhnlich zeigt sich, daß dieser Irgendjemand die Person oder die Gruppe ist, die mit diesen Schwierigkeiten kämpft. Die Fachleute, Forscher wie Praktiker, sehen ihre Aufgabe darin, das Defizit zu orten und nach bestem Vermögen zu korrigieren, ohne von diesen Maßnahmen allzuviel zu erhoffen: Denn diese Leute sind nun einmal so und wollen sich gar nicht wirklich ändern.

Vielleicht ist diese Aussage hart und zu allgemein, vielleicht gibt sie jedoch einen Trend wieder. Man beachte nur die große Anzahl von Menschen, die angestellt sind, um Defizite zu diagnostizieren und Korrekturmaßnahmen vorzunehmen. Und vielleicht ist dies ein Ansatz, der vorerst Effekte aufweist und im Einzelfall von Bedeutung ist.
Ganz grundsätzlich scheint er aber nicht die im Makrosystem enthaltenen Leitlinien – Bronfenbrenner nennt sie Konstruktionsanweisungen – unserer Kultur zu betreffen. Eine Bezugnahme auf sie scheint jedoch dringend nötig, da sie über den Weg der Meso- und Mikrosysteme das Verhalten des Individuums entscheidend mitbeeinflussen und mitbestimmen. Ohne die Rückwirkung auf diese Konstruktionsanweisungen bleibt jede pädagogische Anstrengung allenfalls im einzelnen hilfreich, weil das Defizit eindämmend, strukturell jedoch bleibt sie ohne weitreichende Bedeutung.

Mit der vorliegenden Arbeit soll bezüglich des Themas Gewaltentwicklung bei männlichen Kindern und Jugendlichen gerade auch aus pädagogischer Motivation heraus der Aspekt mit bedacht werden, bestehende Systeme so zu verändern, daß die in einer Kultur oder Subkultur verbreiteten Formen der sozialen Organisation, der Weltanschauungen und Lebensstile in Frage gestellt werden. Diese Infragestellung, Veränderung und Umbildung sozialer Systeme, Weltanschauungen und Lebensstile geht über eine bloße Defizitbeseitigung hinaus. Sie kann neue Mikro-, Meso- und Exosysteme ausfindig machen und schaffen, die den Bedürfnissen der Menschen besser entsprechen, und diese Systeme, wenn sie funktionieren, in eine revidierte Konstruktionsanweisung unserer gesellschaftlichen Ordnung eintragen. Als solche erlaubt sie gleichzeitig eine Dokumentation des aktiven, konstruktiven und kooperativen Potentials der Spezies Mensch.

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Zur Entstehung von Gewalt

Wie kann Gewalthandeln von männlichen Kindern und Jugendlichen erklärt werden? Diese Frage versuchen verschiedene Wissenschaftsdisziplinen mit der Bildung unterschiedlicher Theorien zu beantworten – freilich geschlechtsunspezifisch. Obwohl diese Theorien einen Gewaltbegriff im engen Sinne implizieren, damit also vorab für eine insgesamt tragfähige Theoriebildung nicht hinreichend breit argumentieren, können sie gleichwohl wertvolle Hinweise für die Entstehung gewalttätigen Handelns liefern. Sie können theoretisch für einzelne Dimensionen der Gewalttypologie Erklärungsmöglichkeiten anbieten.

Unter diesem Aspekt werden im folgenden zunächst die klassischen Aggressionstheorien der Psychologie, dann Theorien zur Entstehung devianten Verhaltens aus der Soziologie dargestellt und in einer Zusammenfassung erläutert.

Psychologische Theorien zur Aggressionsentstehung

Bevor die psychologischen Theorien zur Aggressionsentstehung im einzelnen erörtert werden, muß zunächst der Begriff der Aggression definiert werden, denn es ist zu bemerken, daß im allgemeinen Sprachgebrauch oft "Aggression verwendet wird, wo Gewalttätigkeit gemeint ist". Gerade auch in der Fachliteratur findet sich diese irreführende Synonymität von Aggression und Gewalt.

Ein prominentes Beispiel dafür bieten Bründel und Hurrelmann, die in ihrem pädagogischen Ratgeber Gewalt macht Schule schreiben:

"Aggression" und "Gewalt" sind wissenschaftliche und umgangssprachliche Begriffe für dieselben Vorgänge, wobei der Begriff "Gewalt" den der "Aggression" wegen seiner größeren Anschaulichkeit mehr und mehr verdrängt. Wir folgen in unserem Buch dieser Begrifflichkeit.

Solch einer pragmatischen Gleichsetzung der Begriffe kann aus theoretischer Sicht keinesfalls gefolgt werden, was nach der Bestimmung des Terminus Gewalt die folgende Analyse des Begriffes Aggression zeigen wird.

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