Auszüge aus Christopher Lasch's
"Das Zeitalter des Narzißmus"

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Vorwort

Kaum fünfundzwanzig Jahre, nachdem Henry Luce das "amerikanische Jahrhundert" proklamiert hat, ist das amerikanische Selbstvertrauen auf einen Tiefstand gesunken. Die jüngst noch von Weltmacht träumten, verzweifeln heute bereits an der Verwaltung der Stadt New York. Die Niederlage in Vietnam, die wirtschaftliche Stagnation und das drohende Versiegen der natürlichen Rohstoffquellen haben in höheren Kreisen eine pessimistische Grundstimmung aufkommen lassen, die sich in der übrigen Gesellschaft in dem Maße verbreitet, wie die Menschen das Vertrauen zu den Führungsschichten verlieren. Diese Krise des Selbstvertrauens ergreift auch andere kapitalistische Länder. In Europa zeigen die wachsende Stärke der kommunistischen Parteien, das Wiederaufleben faschistischer Bewegungen und die Terrorismuswelle auf jeweils verschiedene Weise die Schwäche der etablierten Regierungen und den Verfall der überkommenen Traditionen an. Sogar Kanada, lange eine träge Bastion bürgerlicher Verläßlichkeit, sieht sich angesichts der Separatistenbewegung in Quebec jetzt in seiner staatlichen Existenz bedroht.

Die internationalen Dimensionen der gegenwärtigen Misere machen deutlich, daß sie nicht einfach einer amerikanischen Nervenkrise zur Last gelegt werden kann. Allerorten scheint die bürgerliche Gesellschaft ihren Vorrat an konstruktiven Ideen aufgebraucht zu haben. Sie hat Fähigkeit und Willen eingebüßt, den Schwierigkeiten, die sie zu überwältigen drohen, entgegenzutreten. Die politische Krise des Kapitalismus spiegelt eine allgemeine Krise der westlichen Kultur wider; sie zeigt sich in der Verzweiflung an der Aufgabe, den Lauf der modernen Geschichte zu verstehen oder ihn rational zu steuern. Der Liberalismus, die politische Theorie des aufsteigenden Bürgertums, ist seit langem nicht mehr in der Lage, die Geschehnisse in der Welt des Wohlfahrtsstaats und der multinationalen Konzerne zu deuten. An seine Stelle aber ist nichts getreten. Politisch bankrott, ist der Liberalismus auch intellektuell am Ende. Die Wissenschaften, denen er zur Blüte verholfen hat und die sich ehedem zuversichtlich zeigten, die Finsternis der Zeiten zu vertreiben, liefern heute keine befriedigenden Erklärungen mehr für die Phänomene, die sie zu erhellen vorgeben. Die neoklassische ökonomische Theorie kann das Nebeneinander von Arbeitslosigkeit und Inflation nicht begreiflich machen; die Soziologie verzichtet auf den Versuch, eine allgemeine Theorie der modernen Gesellschaft zu entwerfen, und die akademische Psychologie flüchtet vor der Herausforderung durch Freud in die Messung von Banalitäten. Die Wissenschaften, die früher übertriebene Ansprüche geltend gemacht haben, beeilen sich jetzt zu verkünden, daß die Wissenschaft keine Wunderkuren für gesellschaftliche Probleme anzubieten hat.

In den Geisteswissenschaften hat die Demoralisierung sogar ein solches Ausmaß erreicht, daß allgemein eingeräumt wird, das humanistische Studium habe zum Verständnis der modernen Welt nichts beizutragen. Die Philosophen erklären nicht mehr das Wesen der Dinge und behaupten nicht mehr, uns lehren zu können, wie wir zu leben haben.
Literaturkritiker und -wissenschaftler fassen den Text nicht mehr als Repräsentation der realen Welt, sondern als Widerspiegelung der Innenwelt des Künstlers auf. Die Historiker geben, mit einer Formulierung David Donalds, ein "Gefühl der Irrelevanz der Geschichte und der Öde der neuen Ära" zu, "in die wir eintreten". Weil aber die liberale Kultur immer aufs stärkste mit historischer Bildung zusammenhing, findet der Zusammenbruch eben dieser Kultur eine besonders drastische Illustration im Zusammenbruch des historischen Vertrauens, das einst die Überlieferung öffentlicher Ereignisse mit der Aura von moralischer Würde, Patriotismus und politischem Optimismus umgab. Früher setzten die Historiker voraus, daß die Menschen aus ihren vergangenen Fehlern lernten. Jetzt, da sich die Zukunft bedrohlich und unsicher ausnimmt, gilt die Vergangenheit als "irrelevant" – sogar bei denen, die ihr Leben ihrer Erforschung widmen. David Donald schreibt:

Das Zeitalter des Überflusses ist vorbei. Die "Lehren", die die amerikanische Vergangenheit erteilt hat, sind heute nicht nur bedeutungslos, sondern auch gefährlich ... Meine sinnvollste Aufgabe bestünde wahrscheinlich darin, den Reiz der Geschichte für die Studenten zu entzaubern, ihnen dabei zu helfen, der Irrelevanz der Vergangenheit gewahr zu werden ... und ihnen in Erinnerung zu rufen, in welch begrenztem Maße die Menschen ihr Geschick selbst zu gestalten vermögen.

So sieht die Perspektive der Leute an der Spitze aus – die Hoffnungslosigkeit gegenüber der Zukunft, wie sie heute weitgehend von denen geteilt wird, die die Gesellschaft lenken, die öffentliche Meinung mitgestalten und die wissenschaftlichen Forschungen leiten, auf die die Gesellschaft angewiesen ist. Wenn man aber die Frage stellt, wie der Mann auf der Straße seine Zukunftschancen sieht, stößt man wohl auf eine Vielzahl von Beweisen, die den Eindruck bestätigen, daß die moderne Welt der Zukunft ohne sonderliche Hoffnung entgegensieht, findet andererseits aber auch Hinweise, die diesen Eindruck abschwächen und die Überzeugung erkennen lassen, daß die westliche Zivilisation die moralischen Ressourcen schon noch hervorbringen könnte, um ihre gegenwärtige Krise zu überwinden. Das weitverbreitete Mißtrauen gegenüber den Machthabern hat die Gesellschaft zunehmend schwerer regierbar gemacht, worüber die herrschende Klasse unentwegt jammert, ohne einzusehen, wie sehr sie selbst daran schuld ist; doch mag eben dies Mißtrauen auch die Grundlage für eine neue Befähigung zur Selbstbestimmung hervorbringen, die schließlich die Situation beenden könnte, die eine herrschende Klasse überhaupt erst notwendig macht und begründet. Was den Politikwissenschaftlern als Wählerapathie erscheint, kann eine gesunde Skepsis gegenüber einem politischen System darstellen, in dem die öffentliche Lüge grassiert und zur Gewohnheit geworden ist. Ein Mißtrauen gegenüber den Experten mag dazu beitragen, die Abhängigkeit von Experten zu verringern, die die Fähigkeit zur Eigeninitiative verkrüppelt hat.

Die moderne Bürokratie hat frühere Traditionen regionaler bürgerlicher Eigeninitiativen untergraben. Nur wenn sie in erweiterter Form wiederaufleben, besteht Hoffnung, daß aus dem Zusammenbruch des Kapitalismus eine vernünftige Gesellschaft erwachsen wird. Die unangemessenen Lösungen, die von oben herab diktiert werden, zwingen die Menschen heute, von unten her Lösungen zu finden. Und die Desillusionierung ist nicht mehr auf staatliche Bürokratien beschränkt, sie betrifft inzwischen auch die Bürokratie der Firmen und Konzerne – der realen Machtzentren der zeitgenössischen Gesellschaft. In Kleinstädten wie in dichtbesiedelten Großstadträumen, ja sogar in Trabantenstädten haben Männer und Frauen mit bescheidenen Versuchen begonnen, ihre Rechte gegen Wirtschaftsunternehmen und Staat zu verteidigen. Was der Elite von Politikern und Managern wie eine "Flucht aus der Politik" vorkommt, mag in Wahrheit den wachsenden Unwillen der Bürger anzeigen, am politischen System als bloße Konsumenten vorfabrizierter Schauspiele teilzunehmen. Es geht hier, mit anderen Worten, vielleicht gar nicht um eine Abkehr von der Politik, sondern um den Beginn einer allgemeinen politischen Revolte.

Vieles wäre zu den Zeichen eines neuen Lebensgefühls in den Vereinigten Staaten zu sagen. Das vorliegende Buch beschreibt jedoch einen niedergehenden Lebensstil – die Kultur des vom Konkurrenzdenken geprägten Individualismus, die in ihrem Niedergang die Logik des Individualismus ins Extrem eines Krieges aller gegen alle getrieben und das Streben nach Glück in die Sackgasse einer narzißtischen Selbstbeschäftigung abgedrängt hat. Die narzißtischen Überlebensstrategien geben sich als Emanzipation von den repressiven Lebensbedingungen der Vergangenheit aus und verhelfen so einer "Kulturrevolution" zur Entstehung, die die schlimmsten Eigenschaften eben der zerfallenden Kultur reproduziert, die sie zu kritisieren vorgibt. Linke Kulturkritik ist so modisch-schick und leistet dem Status quo unwissend einen so verheerenden Vorschub, daß jede Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Gesellschaft, die unter die Oberfläche zu dringen hofft, zugleich einen Großteil dessen aufs Korn nehmen muß, was gegenwärtig unter dem Begriff einer fortschrittlichen linken Kulturkritik kursiert.

Die emanzipatorische Kritik an der modernen Gesellschaft ist von den Ereignissen überholt worden – und ein Großteil der früheren marxistischen Kritik ist nicht minder hoffnungslos veraltet. Viele Kulturkritiker wenden sich noch immer entrüstet gegen die autoritäre Familie, eine repressive Sexualmoral, die literarische Zensur, die protestantische Arbeitsethik und andere Grundlagen der bürgerlichen Ordnung, die vom entwickelten Kapitalismus selbst längst untergraben oder zerstört worden sind. Diese Kulturkritiker und ihre Gefolgsleute sehen nicht, daß die "autoritäre Persönlichkeit" nicht mehr der Prototyp des "ökonomischen Entscheidungsträgers" ist, und der Homo oeconomicus hat seinen Platz seinerseits dem Homo psychologicus unserer Tage geräumt, dem Endprodukt des bürgerlichen Individualismus. Der neue Narzißt wird nicht von Schuldgefühlen gequält, sondern von Ängsten. Er versucht nicht, seine eigenen Gewißheiten anderen aufzudrängen, sondern im Leben einen Sinn zu finden. Vom Aberglauben der Vergangenheit befreit, bezweifelt er sogar die Realität der eigenen Existenz. Auf oberflächliche Weise entspannt und tolerant, weiß er mit Dogmen ethischer und rassischer Reinheit wenig anzufangen, geht zugleich jedoch der Sicherheit von Gruppenloyalitäten verlustig und faßt jedermann als Rivalen um die Vergünstigungen auf, die ein paternalistischer Staat zu vergeben hat. Seine sexuelle Einstellung ist eher lax als puritanisch, wenn ihm auch die Befreiung von alten Tabus sexuell keine Ruhe schenkt. Einerseits in seinem Verlangen nach Anerkennung und Bewunderung von ungestümem Konkurrenzdenken geprägt, mißtraut er dem Wettbewerb doch, weil er ihn unbewußt mit ungezügeltem Zerstörungsdrang assoziiert. Dementsprechend lehnt er auch die Wettbewerbsideologien ab, die frühere Phasen der kapitalistischen Entwicklung kennzeichneten, und beargwöhnt sogar ihre Ausdrucksformen in Spiel und Sport. Er preist Kooperation und Teamwork an, während er in sich tief sitzende antisoziale Impulse birgt. Er predigt Achtung vor Regeln und Ordnungsprinzipien in der heimlichen Überzeugung, daß sie für ihn selbst nicht gelten. Habsüchtig in dem Sinne, daß seine Erwartungen und Ansprüche unermeßlich sind, sammelt er keine Güter und Rücklagen für die Zukunft an, wie es der erwerbssüchtige Individualist der politischen Ökonomie des 19. Jahrhunderts getan hat, sondern verlangt nach unverzüglicher Befriedigung seiner Wünsche und lebt in einem Zustand ruhelosen, ewig unbefriedigten Begehrens.

Daß der Narzißt kein Interesse an der Zukunft hat, liegt zum Teil daran, daß er so wenig Interesse an der Vergangenheit hat. Es bereitet ihm Schwierigkeiten, glückliche Assoziationen zu verinnerlichen oder sich einen Grundstock von liebevollen Erinnerungen aufzubauen, mit dem er für seine zweite Lebenshälfte gewappnet ist, die für ihn auch im besten Falle stets Trauer und Schmerz bereithält. In einer narzißtischen Gesellschaft – einer Gesellschaft, die narzißtische Charakterzüge fördert und ihnen zunehmend Bedeutung gibt – spiegelt die kulturelle Entwertung der Vergangenheit nicht nur die Dürftigkeit der herrschenden Ideologien, denen die Wirklichkeit entglitten ist und die es aufgegeben haben, sie zu meistern, sondern auch die innere Armut des Narzißten. Eine Gesellschaft, die "Nostalgie" als marktgängiges Konsumgut an der kulturellen Börse handelt, kann sich bald nicht mehr vorstellen, daß das Leben in der Vergangenheit in bedeutsamer Weise besser gewesen sein könnte als heute. Nachdem die Menschen die Vergangenheit insofern trivialisiert haben, als sie sie mit veralteten Konsumgewohnheiten, abgelegten Moden und Verhaltensweisen gleichsetzen, nehmen sie an jedem Anstoß, der ernsthaft auf die Vergangenheit Bezug nimmt oder in ihr Maßstäbe zur Beurteilung der Gegenwart zu finden sucht.

Und das vorherrschende intellektuelle Klima sieht in jeder derartigen Bezugnahme auf die Vergangenheit bereits eine Ausdrucksform von Nostalgie. Wie Albert Parr bemerkt hat, erklärt der Mensch bei solcher Einstellung "alle durch persönliche Erfahrung gewonnenen Einsichten und Wertbegriffe für ungültig, weil solche Erfahrungen immer in der Vergangenheit liegen – und damit im Bereich der Nostalgie".

Die Vielschichtigkeit unseres Verhältnisses zur Vergangenheit unter dem Motto "Nostalgie" diskutieren, heißt Schlagworte an die Stelle objektiver Gesellschaftskritik setzen, als welche sich diese Einstellung aber gern ausgibt. Das modisch-schicke Hohnlachen, das heute nahezu automatisch jedem liebevollen Umgang mit der Vergangenheit entgegenschlägt, versucht, die Vorurteile einer pseudoprogressiven Gesellschaft zugunsten des Status quo auszubeuten. Wir wissen jedoch – dank der Arbeiten von Christopher Hill, E. P. Thompson und anderer Historiker –, daß viele revolutionäre Bewegungen der Vergangenheit ihre Kraft und Ausdauer aus dem Mythos oder der Erinnerung an ein Goldenes Zeitalter in der noch weiter entlegenen Vergangenheit geschöpft haben. Dieser historische Befund bekräftigt die psychoanalytische Erkenntnis, daß liebevolle Erinnerungen für die menschliche Reife ein unerläßliches psychologisches Kraftfeld bilden und daß, wer sich nicht auf solche positiven Erinnerungen aus der Vergangenheit berufen kann, in der Folge an schwersten Störungen leidet. Die Überzeugung, daß die Vergangenheit eine in mancher Hinsicht glücklichere Zeit gewesen sei, beruht keineswegs auf einer sentimentalen Illusion, noch führt sie zu einer rückwärtsgewandten, reaktionären Lähmung des politischen Willens.

Mein eigenes Verständnis der Vergangenheit ist das genaue Gegenteil der Auffassung von David Donald. Weit entfernt, sie als nutzlose Hypothek aufzufassen, sehe ich die Vergangenheit als politische und psychologische Schatzkammer, aus der wir die Reserven beziehen (wenn auch nicht immer in Form von "Lehren"), die wir brauchen, um uns der Zukunft gewachsen zu zeigen. Die Gleichgültigkeit unserer heutigen Kultur gegenüber der Vergangenheit – die nur allzu leicht in aktive Feindseligkeit oder Ablehnung umschlägt – liefert den schlagendsten Beweis für den Bankrott dieser Kultur.

Die vorherrschende Einstellung, die sich an der Oberfläche so aufgeschlossen und vorausschauend gibt, rührt von einer narzißtischen Verarmung der Psyche und aus der Unfähigkeit, unsere Bedürfnisse in dem Erlebnis von Befriedigung und Zufriedenheit zu verankern. Anstatt uns auf unsere eigenen Erfahrungen zu verlassen, überlassen wir es den Fachleuten und Experten, unsere Bedürfnisse für uns zu formulieren und sind dann erstaunt, daß diese Bedürfnisse offenbar nie zufriedengestellt werden können. Dazu schreibt Iwan Illich:

Da die Menschen gefügige Schüler sind, die sich ihre Bedürfnisse vorformulieren zu lassen lernen, wird die Fähigkeit, Wünsche aus selbsterfahrener Befriedigung zu bilden, zu einer seltenen Gabe, die sich nur bei sehr Reichen oder ernstlich Unterprivilegierten findet.

Aus allen diesen Gründen ist die Abwertung der Vergangenheit zu einem besonders bedeutsamen Symptom der Kulturkrise geworden, mit der sich das vorliegende Buch befaßt, das selbst häufig auf die Vergangenheit Bezug nimmt, um zu erläutern, was an unseren gegenwärtigen Verfahrensweisen falsch ist. Ein Leugnen der Vergangenheit, das sich oberflächlich progressiv und optimistisch gibt, erweist sich bei genauerem Hinsehen als Ausdruck der Verzweiflung einer Gesellschaft, die der Zukunft nicht ins Auge zu sehen vermag.

...

Das neue Bewußtsein und der gesellschaftliche Eingriff ins Ich

Das marivauxsche Dasein kommt nach Poulet einem vergangenheitslosen, zukunftslosen Menschen zu, der in jedem Augenblick von neuem geboren wird. Die Augenblicke sind Punkte, die sich zu einer Linie zusammensetzen, aber was zählt, ist der Augenblick, nicht die Linie. Das marivauxsche Dasein hat gewissermaßen keine Geschichte. Nichts folgt aus dem, was voraufgegangen ist. Es wird beständig überrascht. Es kann seine eigene Reaktion auf Ereignisse nicht voraussagen. Es wird beständig von Ereignissen überholt. Ein Zustand von Atemlosigkeit und Geblendetsein umgibt es. Donald Barthelme

Der Gedanke, daß man gern woanders sein möchte, irritiert lediglich. Wir sind hier und jetzt. John Cage

Der Verfall des historischen Zeitgefühls

Während sich das 20. Jahrhundert seinem Ende nähert, wächst die Überzeugung, daß mit ihm vieles andere zu Ende geht. Sturmwarnungen, böse Vorzeichen und Katastrophendrohungen suchen unsere Epoche heim. Die Ahnung von einem bevorstehenden Weltuntergang, die die Literatur des 20. Jahrhunderts maßgeblich geprägt hat, hat inzwischen die breite Öffentlichkeit erfaßt. Der Holocaust der Nazis, die Gefahr einer nuklearen Vernichtung, das Versiegen der Rohstoffquellen und wohlbegründete Voraussagen einer ökologischen Katastrophe haben Prophezeiungen der Dichter erfüllt und dem Alptraum – oder der Todessehnsucht – historisch-konkrete Gestalt verliehen, dem die Künstler der Avantgarde als erste Ausdruck gaben. Die Frage, ob die Welt im Feuer verlodern oder in Eis erstarren, ob sie mit einem Knall oder mit einem Wimmern enden wird, interessiert nicht mehr nur Künstler. Die drohende Katastrophe gehört zur alltäglichen Sorge und ist zu einem so vertrauten Gemeinplatz geworden, daß eigentlich niemand mehr darüber nachdenkt, wie sie abgewendet werden könnte. Statt dessen befassen sich die Menschen mit Taktiken zum persönlichen Überleben, mit Maßnahmen zur Verlängerung des eigenen Daseins oder Programmen, die Gesundheit und Seelenfrieden garantieren sollen.

Wer Luftschutzbunker aushebt, hofft zu überleben, indem er sich mit den Erzeugnissen modernster Technologie umgibt. Die Kommunarden auf dem Lande haben einen entgegengesetzten Plan: sich aus der Abhängigkeit von dieser Technologie zu lösen und so ihren Zusammenbruch oder Ruin zu überleben. Der Besucher einer Landkommune in North Carolina schreibt: "Jeder hier scheint dieses Gefühl eines unmittelbar bevorstehenden Jüngsten Gerichts zu teilen." Steward Brand, der Herausgeber des Whole Earth Catalogue, berichtet, daß das "Survival Book [Überlebenshandbuch] einen Verkaufsboom erlebt; es ist einer unserer bestgehenden Titel". Beide Strategien spiegeln die wachsende Verzweiflung wider, die Gesellschaft verändern oder auch nur verstehen zu können, die auch dem heute so weitverbreiteten Kult der Bewußtseinserweiterung, der Gesundheit und des persönlichen "Wachstums" zugrunde liegt.

Nach der politischen Turbulenz der sechziger Jahre haben die Amerikaner sich auf rein private Neigungen zurückgezogen. Da die Leute die Hoffnung aufgegeben haben, ihr Leben in entscheidenden objektiven Dingen verbessern zu können, haben sie sich klargemacht, es komme lediglich auf eine psychische Selbstverbesserung an: sie wollen in Übereinstimmung mit ihren Gefühlen leben, naturreine Nahrungsmittel essen, Ballettunterricht nehmen oder Bauchtanz lernen, sich in die Weisheit des Ostens versenken, jogging treiben, miteinander in "Verbindung" kommen oder die "Angst vor der Lust" überwinden. Solcherlei ist an sich harmlos; doch zum Programm erhoben und in Verknüpfung mit dem Begriff vom echten, ursprünglichen Leben und vom erweiterten Bewußtsein, markieren solche Praktiken eine Abwendung vom Politischen und die Ablehnung der jüngsten Geschichte. In der Tat scheinen die Amerikaner nicht nur die sechziger Jahre, den Aufruhr auf den Straßen, die neue Linke, die Unruhen in den Universitäten, Vietnam, Watergate und die Präsidentschaft Nixons vergessen zu haben, sondern ihre gesamte historische Vergangenheit, sogar in der sterilen Form, wie sie ihnen während der Zweihundertjahrfeiern präsentiert wurde. Woody Allens Film Sleeper aus dem Jahre 1973 hat die Stimmung der siebziger Jahre exakt eingefangen. Der Film ist formal eine Parodie auf die futuristische Science-fiction und vermittelt auf vielerlei Weise die Erkenntnis, daß "politische Lösungen nicht mehr greifen", wie Allen es einmal kategorisch ausspricht. Gefragt, woran er glaube, erklärt Allen, nachdem er Politik, Religion und Wissenschaft ausgeklammert hat: "Ich glaube an Sex und Tod – zwei Erfahrungen, die einmalig sind."

Für den Augenblick, für sich selbst zu leben und nicht für Vorfahren oder Nachwelt, das ist die heute vorherrschende Passion. Das Gefühl einer historischen Kontinuität, das Wissen, in einer Folge von Generationen zu stehen, die aus der Vergangenheit kommen und in die Zukunft weiterführen – das geht immer mehr verloren. Es ist dieser Verfall des historischen Zeitgefühls – insbesondere das Nachlassen eines entschiedenen Sorgens um die Nachwelt –, der die Krise der siebziger Jahre von früheren Ausbrüchen religiöser Endzeitstimmungen unterscheidet, denen sie auf oberflächliche Weise ähnelt. Die Ähnlichkeiten sind von vielen Kulturkritikern aufgegriffen worden, um die zeitgenössische "Kulturrevolution" zu verstehen, ohne daß ihre Abweichungen von den religiösen Phänomenen der Vergangenheit berücksichtigt worden wären. So proklamierte Leslie Fiedler vor einigen Jahren ein "Neues Zeitalter des Vertrauens". Tom Wolfe hat den neuen Narzißmus vor kurzem als ein "drittes großes Erwachen" gedeutet, als Ausbruch einer orgiastischen und ekstatischen Religiosität. In einem Buch, das sich zugleich als Kritik und als Lob der zeitgenössischen Dekadenz anzubieten scheint, vergleicht Jim Hougan die Grundstimmung von heute mit dem Chiliasmus des Spätmittelalters. "Die Ängste des Mittelalters sind von denen der Gegenwart nicht so sehr verschieden", schreibt er: damals wie heute seien durch gesellschaftliche Umwälzungen Sekten entstanden, die den Ausbruch des tausendjährigen Reiches verkündeten.

Hougan wie Wolfe liefern jedoch, ohne es zu wollen, Hinweise, die eine religiöse Deutung der heutigen Tendenzen untergraben. Hougan bemerkt, daß Überleben zur "Losung der siebziger Jahre" und "kollektiver Narzißmus" zur vorherrschenden Einstellung geworden ist. Da "die Gesellschaft" keine Zukunft hat, sei es sinnvoll, einzig für den Augenblick zu leben, das Augenmerk auf "persönliches Gelingen" zu richten, die eigene Dekadenz liebevoll zu genießen und eine "transzendentale Selbstbezogenheit" zu kultivieren. Das aber sind nicht die Haltungen, die sich mit den historischen Ausbrüchen von Chiliasmus in Verbindung bringen lassen. Die Wiedertäufer des 17. Jahrhunderts erwarteten die Apokalypse keineswegs mit transzendentaler Selbstbezogenheit, sondern mit der ungeduldigen Hoffnung auf das Goldene Zeitalter, das sie herbeiführen sollte. Und sie standen auch der Vergangenheit nicht gleichgültig gegenüber. Alte Volksüberlieferungen wie die vom "schlafenden König" – von einem Herrscher, der zu seinem Volk wiederkehren und ein verlorenes Goldenes Zeitalter zurückbringen wird – waren in den chiliastischen Bewegungen jener Epoche lebendig. Der Revolutionär vom Oberrhein, der anonyme Autor vom Buch mit den hundert Kapiteln, erklärte:

Die Deutschen hielten einst die ganze Welt in Händen und werden es wieder tun, und mit mehr Macht als je zuvor.

Er prophezeite, daß Friedrich II., der "Herr der letzten Tage", auferstehen, die ursprüngliche Religion wiedereinführen, die Hauptstadt der Christenheit von Rom nach Trier verlegen, das Privateigentum abschaffen und die Unterschiede zwischen arm und reich aufheben werde.

Solche Überlieferungen, die häufig mit nationalem Widerstand gegen fremde Eroberer zusammenhängen, hat es in vielen Epochen und in mancherlei Form gegeben, nicht nur in der christlichen Vorstellung vom Jüngsten Gericht. Sogar die radikalsten der jenseitsorientierten, religiösen Bewegungen der Geschichte geben aufgrund ihrer egalitären und quasihistorischen Glaubensinhalte zu erkennen, daß Hoffnung auf soziale Gerechtigkeit und ein Bewußtsein geschichtlicher Kontinuität vorhanden waren. Die Mentalität der siebziger Jahre aber ist dadurch gekennzeichnet, daß ihr solche Wertvorstellungen abgehen. Die "Weltauffassung, die sich in unseren Tagen entwickelt", schreibt Peter Marin, kreist "ausschließlich um das Ich" und kennt "als einziges Gut nur das individuelle Überleben". In seinem Versuch, die besonderen Wesenszüge der zeitgenössischen Religiosität ausfindig zu machen, weist Tom Wolfe selbst darauf hin, daß die

meisten Menschen der Geschichte ihr Leben nicht so gelebt haben, als hätten sie gemeint: "Ich habe nur ein Leben." Statt dessen haben sie gelebt, als lebten sie das Leben ihrer Ahnen und das ihrer Nachkommen ...

Diese Bemerkungen treffen sehr genau den Kern des Problems, lassen jedoch Wolfes Deutung des neuen Narzißmus als eines dritten großen Erwachens fragwürdig erscheinen.

Die Verdrängung des religiösen durch therapeutisches Denken

Das zeitgenössische Klima ist eben nicht religiös, sondern therapeutisch. Heute sehnen die Menschen sich nicht nach Erlösung, geschweige denn nach der Wiederherstellung eines Goldenen Zeitalters, sondern nach dem Empfinden, der momentanen Illusion von persönlichem Wohlbefinden, von Gesundheit und seelischer Geborgenheit. Sogar die linke Bewegung der sechziger Jahre diente vielen, die sich ihr eher aus persönlichen denn aus politischen Motiven anschlossen, nicht als Religionsersatz, sondern als eine Art Therapie. Politisches Engagement füllte bei vielen eine persönliche Leere, gab ihnen das Gefühl, Sinn und Ziel gefunden zu haben.

In ihren Erinnerungen an die Weathermen beschreibt Susan Stern deren Anziehungskraft in einer Sprache, die der Psychiatrie und der Medizin mehr verdankt als der Religion. Wenn sie ihre geistige Verfassung während der Demonstrationen des Jahres 1968 beim Parteitag der Demokraten in Chicago erläutern will, beschreibt sie statt dessen ihren Gesundheitszustand:

Ich fühlte mich wohl. Ich spürte, wie geschmeidig, stark und schlank mein Körper war; ich hätte meilenweit laufen können, und ich spürte, wie sicher und behend meine Füße sich unter mir bewegten.

Einige Seiten weiter bemerkt sie:

Ich hatte ein Gefühl meiner eigenen Wirklichkeit.

Sie betont immer wieder, daß sie in Verbindung mit bedeutenden Leuten ihre eigene Bedeutung spürt:

Ich fühlte es, ich war Teil eines riesigen Zusammenhangs von starken, auf regenden, brillanten Menschen.

Als ihre Idole sie enttäuschten, wie es immer wieder geschah, hielt sie nach Ersatz, nach neuen Heroen Ausschau, in der Hoffnung, sich an deren "Glanz" zu wärmen und das Gefühl der eigenen Belanglosigkeit zu überwinden. In ihrer Gegenwart kam sie sich gelegentlich "stark und fest" vor – nur um sich, wenn die Ernüchterung erneut einsetzte, von der "Arroganz" derer, die sie vordem bewundert hatte, von ihrer "Verachtung für alle in ihrer Umgebung" zurückgestoßen zu fühlen.

Viele Einzelheiten aus Susan Sterns Bericht über die Weathermen wären Kennern der revolutionären Mentalität früherer Epochen durchaus vertraut: der Eifer ihrer revolutionären Bindung, die endlosen Gruppendiskussionen über die Feinheiten des politischen Dogmas, die unnachgiebige "Selbst-Kritik", zu der alle Mitglieder der Sekte unentwegt aufgefordert wurden, und das Bemühen, jede Faser des eigenen Lebens in Übereinstimmung mit der revolutionären Überzeugung zu bringen. Doch jede revolutionäre Bewegung gehört der Kultur ihrer Epoche an, und diese Bewegung enthielt Elemente, die sie unmittelbar als Produkt der amerikanischen Gesellschaft in einer Zeit schwindender Erwartungen auswies. Die Atmosphäre, in der die Weathermen lebten – ein Klima von Gewalt, Gefahr, sexueller Promiskuität und moralischem wie physischem Chaos – erwuchs nicht so sehr aus einer älteren revolutionären Tradition, als vielmehr aus dem Aufruhr und der narzißtischen Angst des zeitgenössischen Amerika.

In der vorrangigen Beschäftigung mit dem eigenen seelischen Befinden und der gleichzeitigen Abhängigkeit ihres Identitätsgefühls von anderen Menschen unterscheidet sich Susan Stern von dem Typus des religiösen Suchers, der sich der Politik zuwendet, um eine säkularisierte Erlösung zu finden. Ihr ging es darum, eine eigene Identität aufzubauen, nicht aber in einem größeren Ziel aufzugehen. Der Narzißt unterscheidet sich in der dürftigen Ausbildung seines Selbstgefühls auch von einem früheren Typus des amerikanischen Individualisten, dem "amerikanischen Adam", wie ihn R. W. B. Lewis, Quentin Anderson, Michael Rogin und Beobachter des 19. Jahrhunderts wie Tocqueville analysiert haben. Zwar gibt es eine oberflächliche Ähnlichkeit zwischen dem zeitgenössischen Narzißt mit seiner größenwahnsinnigen Selbstbezogenheit und dem "heroischen Ich", das in der amerikanischen Literatur des 19. Jahrhunderts so häufig besungen und dargestellt worden ist. Wie seine heutigen Nachfahren versuchte der "amerikanische Adam", sich von der Vergangenheit zu befreien und etwas zu errichten, was Emerson als "ursprüngliche Beziehung zum Universum" bezeichnet hat. Die Redner und Schriftsteller des 19. Jahrhunderts formulierten in vielfältigen Variationen die Lehre Jeffersons, daß die Erde den Lebenden gehört. Der Bruch mit Europa, die Aufhebung des Erstgeburtsrechts und die Lockerung der Familienbande unterstützten sie in ihrem Glauben (wenn der sich letztlich auch als Illusion erwies), daß die Amerikaner sich als einziges Volk der Erde dem erstickenden Einfluß der Vergangenheit zu entziehen vermochten. Laut Tocqueville waren sie von der Vorstellung beflügelt, daß sie "ihr Geschick in ihren eigenen Händen" hielten. Die gesellschaftlichen Bedingungen in Amerika, schrieb Tocqueville, lösten die Bande, die früher eine Generation mit der anderen verknüpften:

Das Gewebe der Zeit reißt mit jedem Augenblick ab, und die Spur der Generation ist verwischt. Die Vorfahren sind bald vergessen; von denen, die nachkommen, hat niemand eine Vorstellung: das Interesse der Menschen beschränkt sich auf die Personen ihres engeren Umkreises.

Der Narzißmus der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts ist gelegentlich mit ähnlichen Worten beschrieben. Die neuen Therapien, wie sie von der Bewegung zur "Weckung des menschlichen Potentials" am laufenden Bande ausgeheckt werden, lehren laut Peter Marin, daß "der Wille des einzelnen allmächtig ist und völlig sein Schicksal bestimmt", wodurch sie die "Isolation des Ich" verschärfen. Solche Gedankengänge entsprechen einer bekannten gesellschaftstheoretischen amerikanischen Tradition. Manns Plädoyer, sich auf den "ungeheuer großen gemeinsamen Nenner der menschlichen Gemeinschaft" zu besinnen, erinnert an Van Wyck Brooks, der die Transzendentalisten Neu-Englands kritisierte, weil sie den "freundlichen, gemeinsamen Boden der menschlichen Tradition" außer acht ließen. Als Brooks seine eigene Anklage gegen die amerikanische Kultur formulierte, bezog er sich auf Santayana, Henry James, Orestes Brownson und Tocqueville.

Die kritische Tradition, die sie begründeten, kann uns immer noch einiges über die Schattenseiten eines zügellosen Individualismus lehren, muß jedoch neu formuliert werden, damit die Unterschiede zwischen dem "Adam" des 19. Jahrhunderts und dem Narzißt unserer Tage berücksichtigt werden. Die Kritik am "Privatismus" mag helfen, das Wissen um die Notwendigkeit der Gemeinschaft lebendig zu halten; sie führt jedoch immer mehr in die Irre, wie die Möglichkeit einer echten Privatsphäre dahinschwindet. Der zeitgenössische Amerikaner mag es – wie seine Vorgänger – versäumt haben, eine wie immer geartete Form von Gemeinschaftsleben aufzubauen; die Integrationstendenzen der modernen Industriegesellschaft haben zur gleichen Zeit jedoch seine "Isolation" abgebaut. Da er den größten Teil seiner handwerklichen und technischen Fertigkeiten an die Unternehmen abgetreten hat, kann er seine materiellen Bedürfnisse nicht mehr selbst befriedigen. Da die Familie nicht nur ihre materiell produktiven, sondern auch viele ihrer erzieherischen Funktionen verliert, vermögen Männer und Frauen ihre Kinder nicht einmal mehr ohne die Hilfe diplomierter Fachleute aufzuziehen. Die Auszehrung von älteren Traditionen des Sich-zu-helfen-Wissens hat die Kompetenz des Menschen im täglichen Leben auf einem Gebiet nach dem anderen beschnitten und das Individuum von Staat, Firmen und anderen Bürokratien abhängig gemacht.

Der Narzißmus stellt die psychologische Dimension dieser Abhängigkeit dar. Ungeachtet der gelegentlichen Illusionen über seine Allmacht ist der Narzißt zur Bestätigung seiner Selbstachtung auf andere angewiesen. Ohne bewunderndes Publikum kann er nicht leben. Seine scheinbare Freiheit von familiären Bindungen und institutionellen Zwängen befähigt ihn keineswegs, auf eigenen Füßen zu stehen oder sich seiner Individualität zu freuen. Im Gegenteil: sie trägt zu seiner Unsicherheit bei, die er nur überwinden kann, wenn er sein "grandioses Ich" in der Aufmerksamkeit anderer reflektiert sieht oder indem er sich Menschen anschließt, die Berühmtheit, Macht und Charisma ausstrahlen. Für den Narzißten ist die Welt ein Spiegel, während der robuste Individualist in ihr nichts als eine freie Wildnis sah, die er nach seinem Willen formen wollte.

In der amerikanischen Phantasie des 19. Jahrhunderts symbolisierte der Kontinent mit seiner riesigen Ausdehnung nach Westen die Chance, der geschichtlichen Vergangenheit zu entkommen, im positiven wie im negativen Sinne, als Verheißung und Gefahr. Der Westen bot die Chance, eine neue Gesellschaft ohne feudale Hemmungen aufzubauen, führte die Menschen aber auch in Versuchung, sich der Kultur zu entledigen und in die Barbarei zurückzufallen.

Aufgrund von zwanghaftem Fleiß und einer unerbittlichen Verdrängung des Geschlechtlichen errangen die Amerikaner des 19. Jahrhunderts einen (allerdings unsicheren) Sieg über das Es. Die Gewalt, die sie gegen Natur und Indianer richteten, entsprang nicht einem ungezügelten Impuls, sondern dem Über-Ich der weißen Angelsachsen, das die Wildnis des Westens fürchtete, weil sie die innere Wildnis des einzelnen veranschaulichte. Während die Amerikaner in ihrer volkstümlichen Literatur noch die Abenteuerromatik des Westens feierten, drückten sie der Wildnis in Wirklichkeit eine neue Ordnung auf, die den spontanen Impuls im Zaum halten, gleichzeitig aber dem Erwerbsstreben alle Freiheiten lassen sollte.

Kapital anzuhäufen als Tätigkeit, die an sich schon wertvoll war, sublimierte den Appetit des einzelnen und ordnete persönliche Interessen dem Dienst an kommenden Generationen unter. In der Hitze des Kampfes um den Westen ließ der amerikanische Pionier seiner Habgier und seiner mörderischen Grausamkeit freien Lauf, hatte dabei vom Endresultat jedoch immer – nicht ohne böse Vorahnungen, die in einem nostalgischen Kult der verlorenen Unschuld zum Ausdruck kamen – die Vision einer friedlichen, achtbaren und kirchentreuen Gemeinschaft, die den Frauen und Kindern Sicherheit bot. Er stellte es sich so vor, daß seine Nachkommen, erzogen unter dem moralisch bessernden Einfluß weiblicher "Kultur", zu besonnenen, gesetzestreuen und häuslichen amerikanischen Bürgern heranwachsen würden, und der Gedanke an die besseren Umstände, die ihnen zufallen würden, rechtfertigte seine Plackerei und entschuldigte, wie er meinte, seine Rückfälle in Brutalität, Sadismus und Raub.

Heute sind die Amerikaner nicht vom Gefühl unbegrenzter Möglichkeiten, sondern von der Banalität der gesellschaftlichen Ordnung überwältigt, die sie dagegen errichtet haben. Sie haben die gesellschaftlichen Einschränkungen, mittels derer sie einst versuchten, diese "unbegrenzten" Möglichkeiten innerhalb zivilisierter Grenzen zu halten, verinnerlicht und fühlen sich jetzt von einer vernichtenden Langeweile überkommen – wie Tiere, deren Instinkte in der Gefangenschaft verdorrt sind. Ein Rückfall in die Barbarei stellt für sie eine so geringe Gefahr dar, daß ihnen gerade ein kraftvolleres Triebleben wünschenswert erscheint. Die Menschen klagen heutzutage über einen Mangel an Empfindungen. Sie jagen starken Erlebnissen hinterher, versuchen, das schlaffe Fleisch zu neuem Leben aufzupeitschen und mühen sich, abgestumpfte Sinnesreize wiederzubeleben. Sie verdammen das Über-Ich und verherrlichen das verlorene Sinnesleben. Die Menschen des 20. Jahrhunderts haben so viele psychologische Schranken gegen starke Gefühle aufgerichtet und in diese Abwehrmechanismen so viel von der Energie gesteckt, die aus den verbotenen Triebimpulsen abgeleitet ist, daß sie sich gar nicht mehr erinnern können, was es heißt, von Lust und Begehren überflutet und umgetrieben zu werden. Eher neigen sie dazu, sich von Zorn und Wut verzehren zu lassen, die aus der Abwehr des Begehrens rühren und ihrerseits neue Abwehrmechanismen gegen diese Wut entstehen lassen. Nach außen hin nett und freundlich, unterwürfig und umgänglich, kochen sie innerlich vor zorniger Erregung, für die es aber in einer dichten, übervölkerten und bürokratisierten Gesellschaft nur wenige legitime Ventile geben kann.

Die wachsende Bürokratie schafft ein kompliziertes Netz persönlicher Beziehungen, belohnt gesellschaftliche Fertigkeiten und macht den zügellosen Egoismus des amerikanischen Adams unhaltbar. Gleichzeitig aber baut sie alle Formen patriarchalischer Autorität ab und schwächt damit das kollektive Über-Ich, das einst von Vätern, Lehrern und Pfarrern verkörpert wurde. Der Verfall der institutionalisierten Autorität in einer offenkundig permissiven [freizügigen] Gesellschaft führt jedoch keineswegs zu einem "Verfall des Über-Ichs" bei den Individuen. Er fördert vielmehr die Entwicklung eines harten, strafenden Über-Ichs, das angesichts fehlender, maßgebender, gesellschaftlicher Verbote einen Großteil seiner psychischen Energie aus den destruktiven aggressiven Impulsen im Es herleitet. Das Über-Ich wird allmählich von unbewußten, irrationalen Elementen in ihm selbst beherrscht. In dem Maße, wie die Autoritätsfiguren in der modernen Gesellschaft ihre "Glaubwürdigkeit" verlieren, entwickelt sich das individuelle Über-Ich zunehmend aus den primitiven Phantasien des Kindes über seine Eltern – Phantasien, die mit sadistischer Wut aufgeladen sind – und kaum mehr aus verinnerlichten Ich-Idealen, wie sie aus der späteren Erfahrung mit geliebten und geachteten Vorbildern gesellschaftlichen Verhaltens erwachsen. Der Kampf um die Erhaltung des psychischen Gleichgewichts in einer Gesellschaft, die Unterordnung unter die Regeln des gesellschaftlichen Umgangs verlangt, sich jedoch weigert, diese Regeln in einem moralischen Verhaltenskodex zu verankern, ermutigt eine Form der Selbstbefangenheit, die mit dem ursprünglichen Narzißmus des herrischen Ich wenig gemein hat.

Die Persönlichkeitsstruktur wird in wachsendem Maße von archaischen Elementen beherrscht, und "das Selbst schrumpft", mit den Worten von Morris Dickstein, "auf einen passiven und urzeitlichen Zustand zurück, in dem die Welt ungeschaffen und formlos bleibt". Das selbstsüchtige, Erfahrungen gierig aufgreifende, herrische Ich bildet sich zurück zu einem Ich, das pompös, narzißtisch, infantil, leer ist: "ein dunkles, feuchtes Loch", wie Rudolph Wurlitzer in Nog schreibt, "in dem sich früher oder später einmal alles findet. Ich bleibe nahe dem Eingang und nehme die Dinge an, wie sie hereingestoßen werden, höre zu und nicke zustimmend. Ich habe mich in dieser Gefangenschaft langsam aufgelöst".

Von Angst, Depressionen, vagen Mißgestimmtheiten und dem Gefühl innerer Leere gequält, sucht der Homo psychologicus des 20. Jahrhunderts weder individuelle Selbsterhöhung noch die Transzendenz, sondern den Seelenfrieden, und das unter zunehmend schwierigeren Bedingungen. In seinem Ringen um Gemütsruhe sind seine Hauptverbündeten nicht etwa Priester, populäre Verkünder des "Hilf-dir-Selbst" oder Erfolgsvorbilder, wie beispielsweise Industriekapitäne, sondern Therapeuten; ihnen wendet er sich in der Hoffnung zu, das moderne Äquivalent von Erlösung zu finden: "psychische Gesundheit". Die Therapie hat den stiernackigen Individualismus wie auch die Religion abgelöst; das heißt aber keineswegs, daß eine "dominierende Therapeutik" zu einer neuen, eigenständigen Religion geworden ist. Die Therapie bildet eine Gegenreligion, und zwar ganz gewiß nicht deshalb, weil sie sich an rationale Erklärungen oder wissenschaftliche Heilmethoden hält, wie ihre Verfechter uns glauben machen wollen, sondern weil die moderne Gesellschaft "keine Zukunft" kennt und deswegen an nichts denkt, was über ihre unmittelbaren Bedürfnisse hinausgeht. Selbst wenn Therapeuten vom Bedürfnis nach "Lebenssinn" und "Liebe" sprechen, verstehen sie Liebe und Lebenssinn nur im Sinne einer Erfüllung der emotionalen Forderungen des Patienten. Es fällt ihnen kaum ein – und in Anbetracht der Natur der therapeutischen Praxis wäre dafür auch kein Grund zu sehen –, die Patienten zu ermutigen, ihre Bedürfnisse und Interessen einem anderen Menschen, einer Sache oder einer Tradition unterzuordnen.

"Liebe" als Selbstopfer oder Selbsterniedrigung, "Sinn" als Loyalität gegenüber einer höheren Instanz – solche Sublimierungsformen gelten der therapeutischen Sensibilität als unerträgliche Unterdrückung, dem gesunden Menschenverstand unzumutbar und persönlichem Glück und Wohlbefinden abträglich. Die nachfreudianischen Therapien und insbesondere ihre populären Vertreter haben es sich zur vordringlichsten Aufgabe gemacht, die Menschheit von solchen überholten Vorstellungen wie Liebe und Pflicht zu befreien. Für sie ist die psychische Gesundheit gleichbedeutend mit dem Überbordwerfen von Hemmungen und mit der unverzüglichen Befriedigung jeder impulsiven Regung.

Der Abschied von der Politik

Nachdem das therapeutische Denken die Religion als formenden Rahmen der amerikanischen Kultur ersetzt hat, droht sie nunmehr, auch die Politik und damit das letzte Refugium der Ideologie abzulösen. Die Bürokratie macht aus kollektiven Mißständen persönliche Probleme, die sich therapeutisch behandeln lassen; insofern die neue Linke diesen Prozeß, diese Trivialisierung politischer Konflikte ins Licht rückte, leistete sie in den sechziger Jahren einen ihrer wichtigsten Beiträge zum politischen Denken. In den siebziger Jahren haben sich jedoch viele frühere Linke selbst der therapeutischen Sensibilität verschworen. Rennie Davis läßt die radikale Politik fahren und folgt dem Teenager-Guru Maharaj Ji. Abbie Hoffman, der frühere Anführer der Yippies, hält es für wichtiger, den eigenen Kopf in Ordnung zu bringen als die Massen zu bewegen. Sein ehemaliger Verbündeter Jerry Rubin zieht, nachdem er das gefürchtete dreißigste Lebensjahr erreicht hat und sich privaten Ängsten und Phobien gegenübersieht, von New York nach San Francisco, wo er sich – bei anscheinend unerschöpflichen Einkünften – auf den intellektuellen Märkten der Westküste tummelt: "In den fünf Jahren von 1971 bis 1975", schreibt Rubin, "habe ich Est, Gestalttherapie, Bioenergetik, Rolfing, Massage, Jogging, biologisch reine Nahrungsmittel, Tai Chi, Esalen, Hypnotismus, modernen Tanz, Meditation, Silva Mind Control, Arica, Akupunktur, Sexualtherapie, Reichsche Therapie und More House ausprobiert – ein Selbstbedienungskurs im Neuen Bewußtsein".

In seinem Buch mit dem kokettierenden Titel Growing (Up) at Thirty-seven bezeugt Rubin die Heilwirkungen seiner therapeutischen Diätkuren. Nach Jahren der Vernachlässigung seines Körpers gab er sich die "Erlaubnis, gesund zu sein", und verlor rasch dreißig Pfund an Gewicht. Biologisch reine Nahrungsmittel, Jogging, Yoga, Sauna-Bäder, Chiropraktiker und Akupunkteure haben es schließlich geschafft, daß er sich mit siebenunddreißig Jahren "wie fünfundzwanzig" fühlte. Der geistig-psychische Fortschritt erwies sich als gleichermaßen zufriedenstellend und schmerzlos. Er sprengte seinen Schutzpanzer, änderte seine Einstellung zur Sexualität, legte seine "Liebeshörigkeit" ab und lernte am Ende, sich "selbst so zu lieben, daß ich niemanden mehr brauche, um glücklich zu sein". Er begriff, daß seine revolutionären, politischen Aktivitäten lediglich eine "puritanische Verfassung" verschleiert hatten, die ihm überdies gelegentlich wegen seiner Berühmtheit und der finanziellen Vorteile, die daraus erwuchsen, ein schlechtes Gewissen verursachte. Es bedurfte allerdings für Rubin keiner großen seelischen Anstrengungen, um sich davon zu überzeugen, daß es "o.k. ist, sich der Vergünstigungen des Lebens zu erfreuen, die Geld mit sich bringen".

Er lernte, Sex nicht mehr überzubewerten und ihn zu genießen, ohne ihn mit "symbolischen Bedeutungen" zu besetzen. Unter dem Einfluß einer ganzen Folge von Seelenheilexperten wütete er gegen seine Eltern und den selbstgerechten, strafenden "Richter" in sich selbst und schaffte es schließlich, seinen Eltern und seinem Über-Ich zu verzeihen. Er ließ sich die Haare schneiden, schor sich den Bart ab und ihm "gefiel, was ich sah". Jetzt "trat ich ein, und niemand wußte, wer ich war, weil ich dem Bild nicht mehr entsprach, das man von mir hatte. Ich war fünfunddreißig Jahre alt, sah aber aus wie dreiundzwanzig".

Rubin sieht seine "Reise in mein Inneres" als Teil des "neuen Bewußtseins" der siebziger Jahre. Und doch hat diese "massive Selbstprüfung" wenig Hinweise auf ein neues – persönliches oder kollektives – Selbstverständnis erbracht. Das Bewußtsein von sich selbst bleibt an Emanzipationsklischees gefesselt. Rubin diskutiert "das Weibliche in mir", die Notwendigkeit einer toleranteren Haltung gegenüber der Homosexualität und die Notwendigkeit, sich mit den Eltern auszusöhnen, so als ob diese Gemeinplätze hart erkämpfte Einsichten in die Condition humaine böten. Als erfahrener Manipulator des gerade gängigen Gedankenguts, als eingestandener "Medienfreak" und Propagandamacher nimmt er an, daß alle Ideen, Charakterzüge und kulturellen Verhaltensweisen von Propaganda und "Umwelteinflüssen" herrühren. Seine Heterosexualität entschuldigt er, indem er schreibt: "Männer machen mich nicht an, weil ich als Kind in einer Umgebung aufwuchs, die Homosexualität als Krankheit auffaßte." Mit Hilfe therapeutischer Behandlung versuchte er, die "negative Programmierung der Kindheit rückgängig zu machen". Zwischen seinen politischen Aktivitäten der sechziger Jahre und seiner gegenwärtigen Beschäftigung mit seinem Körper und mit seinen "Gefühlen" versucht er, eine Beziehung herzustellen, indem er sich einredet, daß gesellschaftliche und politische Veränderungen auf der Grundlage einer kollektiven Entprogrammierung stattfinden werden. Wie viele frühere Linke tauscht auch er nur zeitgemäß therapeutische Slogans gegen die politischen Redensarten ein, die er früher im Munde zu führen pflegte. Um die eigentlichen Inhalte kümmert er sich nicht, weder jetzt noch damals.

Rubin gibt vor, daß "die innere Revolution der siebziger Jahre" aus der Erkenntnis erwuchs, daß die politische Linke der sechziger Jahre es versäumte, sich der Fragen des persönlichen und kulturellen Lebens anzunehmen, weil man der irrigen Auffassung gewesen sei, daß Probleme der "persönlichen Entwicklung", wie er sagt, "bis nach der Revolution" warten könnten. Dieser Vorwurf ist nicht ganz falsch. Die Linke hat nur zu häufig als Zufluchtsort vor den Schrecken der Innenwelt gedient. Ein anderer ehemaliger Linker, Paul Zweig, hat sich dahingehend geäußert, er sei in den späten fünfziger Jahren Kommunist geworden, weil "der Kommunismus ... ihn von den ramponierten Räumen und zerbrochenen Vasen eines bloß privaten Lebens" befreite. Solange politische Bewegungen eine fatale Anziehungskraft auf Menschen ausüben, die das Gefühl persönlichen Versagens in kollektivem Handeln zu ertränken suchen – als ob kollektives Handeln eine intensive Beachtung des persönlichen Befindens eines Menschen ausschlösse –, werden politische Bewegungen über die persönliche Dimension sozialer Krisen wenig aussagen können.

Und doch begann die neue Linke, im Gegensatz zur alten, sich in ihrer kurzen Blütezeit Mitte der sechziger Jahre diesen Problemen zuzuwenden. In jenen Jahren wuchs die – keineswegs nur auf die Mitglieder der neuen Linken beschränkte – Erkenntnis, daß die Krise der Persönlichkeit im heutigen Ausmaß ein eigenständiges, politisches Problem darstellt und daß eine gründliche Analyse der modernen Politik und Gesellschaft unter anderem zu erklären hat, warum persönliche Entwicklung und persönliches Wachstum so schwer zu erreichen sind; warum in unserer Gesellschaft die Angst vor Erwachsenwerden und Altem so groß ist; warum persönliche Beziehungen so zerbrechlich und heikel geworden sind und warum die "Innenwelt" keine Zuflucht mehr vor den Gefahren rundum bietet. Das Entstehen einer neuen literarischen Form in den siebziger Jahren, die Kulturkritik, politische Reportage und Autobiographie miteinander verbindet, bedeutete einen Versuch, Fragen auszuloten und den Schnittpunkt von Privatsphäre und Politik, von Geschichte und persönlicher Erfahrung zu erhellen. Bücher wie Norman Mailers Heere aus der Nacht ermöglichten dadurch, daß sie bis dahin übliche journalistische Objektivität aufgaben, häufig einen tieferen Einblick in die Ereignisse als Berichte von angeblich unvoreingenommenen Beobachtern. Die Literatur dieser Epoche, in der der Autor seine persönliche Anteilnahme oder seinen Standpunkt unumwunden zugab, bewies, daß der Akt des Schreibens zum durchaus eigenständigen literarischen Thema werden konnte. Die Kulturkritik nahm einen persönlichen und autobiographischen Zug an, der im schlimmsten Fall in bloßen Exhibitionismus ausartete, im besten Falle aber verdeutlichte, daß kulturelle Phänomene nur verstanden werden können, wenn der Kritiker berücksichtigt, wie sie sein eigenes Bewußtsein geprägt haben. Die politischen Umwälzungen waren in allen Diskussionen präsent und machten es unmöglich, die Zusammenhänge zwischen Kultur und Politik außer acht zu lassen. Und indem die politischen Veränderungen der sechziger Jahre die Illusion zerstörten, die Kultur habe eine unabhängige Entwicklung, die nichts mit der Verteilung von Reichtum und Macht zu tun habe, wirkte sie auch auf die Aufhebung der Trennung zwischen hoher und populärer Kultur hin und machte das Triviale zum Gegenstand ernsthafter Untersuchungen und Diskussionen.

Fragwürdige Formen von Bekenntnis und Selbstenthüllung

Daß die autobiographische, bekenntnishafte Literatur so beliebt ist, weist natürlich auf den neuen Narzißmus hin, der die gesamte amerikanische Kultur durchsetzt; die besten Arbeiten dieses Genres versuchen jedoch, eben durch Selbstenthüllung eine kritische Distanz zum Ich aufzubauen und Einsicht in die geschichtlichen Mächte zu gewinnen, die den Begriff der persönlichen Identität so problematisch gemacht haben. Der bloße Akt des Schreibens setzt ja bereits eine gewisse Distanzierung vom Ich voraus, und die Objektivierung der eigenen Erfahrung ermöglicht, wie psychiatrische Untersuchungen zum Narzißmusproblem gezeigt haben, von den "tiefen Quellen von Größenvorstellungen und Exhibitionismus – nach adäquater Zielhemmung, Zähmung und Neutralisierung – zu den realitätsorientierten Oberflächenaspekten des Ichs Zugang [zu] finden und sich mit diesen [zu] verbinden".

Und doch weist die wachsende wechselseitige Durchdringung von Literatur, Journalismus und Autobiographie unbestreitbar auch darauf hin, daß viele Autoren es für immer schwieriger halten, jene für die Kunst unerläßliche Distanzierung zustande zu bringen. Anstatt autobiographisches Material zu fiktionalisieren oder auf andere Art und Weise zu ordnen, haben sie es sich angewöhnt, es im Rohzustand darzubieten und dem Leser die Deutung zu überlassen.

Anstatt ihre eigenen Erinnerungen durchzuarbeiten, bauen viele Autoren nunmehr darauf, das Interesse des Lesers durch pure Selbstoffenbarungen wachzuhalten; sie sprechen nicht seine Urteilskraft an, sondern seine wollüstige Neugier auf das Privatleben berühmter Mitmenschen. In Mailers Werken und denen seiner vielen Nachahmer endet, was als kritische Reflexion der Ambitionen des Autors beginnt, die frank und frei als Bemühung um literarische Unsterblichkeit eingestanden werden, häufig in einem geschwätzigen Monolog, in dem der Autor aus seiner Berühmtheit Kapital schlägt und Seite um Seite mit einem Stoff füllt, der nur deshalb Aufmerksamkeit beanspruchen kann, weil er mit einem bekannten Namen zu tun hat. Nachdem Erica Jong dadurch ein Publikum gewonnen hatte, daß sie so gefühllos über Sex schrieb wie ein Mann, legte sie unverzüglich einen neuen Roman vor, der von einer jungen Frau handelt, die eine literarische Berühmtheit wird.

Sogar die besten dieser autobiographisch orientierten Schriftsteller bewegen sich auf dem schmalen Grat zwischen Selbstanalyse und Sichgehenlassen. Ihre Bücher – Mailers Reklame für mich selbst, Norman Podhoretz’ Making It, Philip Roths Portnoys Beschwerden, Paul Zweigs Three Journeys oder Frederick Exleys A Fan’s Notes – schwanken zwischen harterkämpfter, persönlicher Selbstoffenbarung, die durch die innere Qual, mit der sie gewonnen wurde, geläutert ist, und jener Art einer unehrlichen Scheinbeichte, die den Leser höchstens interessieren kann, weil sie Dinge nennt, die für den Autor von unmittelbarer Bedeutung sind. Wenn diese Autoren einer Erkenntnis nahekommen, ziehen sie sich häufig auf selbstparodistische Ebenen zurück, um kritischen Einwänden von vornherein zuvorzukommen. Sie versuchen, den Leser zu bestricken, statt für die Bedeutung ihrer Erzählung zu plädieren. Sie bedienen sich des Humors nicht so sehr, um sich vom Stoff zu lösen, als um sich beim Leser einzuschmeicheln und seine Aufmerksamkeit zu fesseln, ohne aber von ihm zu verlangen, den Autor oder sein Thema ernst zu nehmen. Viele Erzählungen Donald Barthelmes, so brillant und bewegend sie in ihrer Kritik am Alltag häufig sein mögen, leiden darunter, daß er sich einen oberflächlichen Scherz nicht versagen kann.
In Perpetua beispielsweise fällt seine Satire auf eben geschiedene Ehepaare, ihre zeittotschlagenden Geselligkeitsformen und ihre pseudoliberalen "Lebensstile" in unangemessener Witzigkeit zusammen.

Nach dem Konzert zog sie ihre ... Wildleder-Jeans an, streifte sich das Hemd über, das aus bunten Halstüchern zusammengenäht war, und legte ihr holzgeschnitztes Halsband und ihr mit silberfarbenem Futter unterlegtes D’Artagnan-Cape an.

Perpetua konnte nicht mehr zwischen dem unterscheiden, was in diesem Jahr und was im letzten vorgefallen war. Hatte sich etwas gerade eben oder vor langer Zeit ereignet? Sie traf viele neue Leute. "Du bist so anders", sagte Perpetua zu Sunny Marge. "Sehr wenige Mädchen, die ich kenne, tragen eine Tätowierung des Kopfes von Marschall Foch auf dem Rücken."

Woody Allen, ein meisterhafter Parodist therapeutischer Klischees und der Selbstbezogenheit, aus der sie erwachsen, unterläuft seine eigenen Ideen häufig mit der oberflächlichen, verbindlichen, selbstabschätzigen Art von Humor, die zum Hauptrequisit des amerikanischen Konversationsstils geworden ist.

In seiner Parodie auf die modisch-oberflächliche Innenschau in einer Welt ohne Hoffnung – Ohne Leit kein Freud – untergräbt Allen die Ironie mit Scherzen, die allzu üppig wie aus unerschöpflichen Quellen fließen:

Guter Gott, warum fühle ich mich so schuldig? Weil ich meinen Vater gehaßt habe? Wahrscheinlich war es der Zwischenfall mit dem Kalbsgulasch; was hatte es aber auch in seiner Brieftasche zu suchen? ... Was für ein trauriger Mensch! Als mein erstes Stück, Eine Cyste für Gus, im Lyceum aufgeführt wurde, kam er zur Premiere in Frack und Gasmaske.

Was ist denn am Tod eigentlich so besonderes, das mich fortgesetzt in Atem hält? Wahrscheinlich die Stunde.

Schaut mich an, dachte er. Fünfzig Jahre alt. Ein halbes Jahrhundert. Nächstes Jahr werde ich einundfünfzig. Dann zweiundfünfzig. Und wenn er auf diese Weise nachzudenken fortfuhr, konnte er sich sein Alter bis fünf Jahre in die Zukunft voraus vorstellen.

Das Bekenntnisartige der heutigen Literatur erlaubt es aufrichtigen Schriftstellern wie Exley oder Zweig, eine erschütternde Darstellung der geistigen Verzweiflung unserer Tage zu bieten; sie macht es aber auch möglich, daß faule Schriftsteller "jener Art unbescheidener Selbstenthüllung frönen, die letztlich mehr verbirgt als offenbart". Die scheinbare Einsicht des Narzißten in seine eigene Verfassung, die gewöhnlich in Klischees aus der Sprache der Psychiatrie ausgedrückt wird, dient dazu, mögliche Kritik abzuwenden und Verantwortung für sein Handeln zu bestreiten. "Ich bin mir bewußt, daß das vorliegende Buch auf ziemlich verblüffende Weise einen männlichen Chauvinismus bezeugt", schreibt Dan Greenberg in seinem Scoring. A Sexual Memoir. "Was also kann ich Ihnen erzählen? ... Ich meine, so waren wir damals – was ist also Neues daran? Ich entschuldige diese Einstellung nicht, ich berichte bloß darüber." An einer Stelle beschreibt Greenberg, wie er es mit einer im Alkoholrausch zusammengebrochenen Frau hatte, die sich nicht wehren konnte, um den Leser dann im nächsten Kapitel zu informieren, daß an dem ganzen Bericht "kein Gran Wahrheit" gewesen sei:

Was halten Sie jetzt davon? Sind Sie froh? Hat dieser ganze vorgetäuschte Zwischenfall mit Irene Sie auf die Idee gebracht, ich sei so kaputt und abstoßend, daß Sie sogar die Lektüre des Buches aufgeben wollten? Offenbar nicht, denn Sie haben ja weitergelesen und jetzt dieses Kapitel erreicht ... Möglicherweise fühlen Sie sich an der Nase herumgeführt und folgern nun, daß ich, wenn ich Ihnen schon eine Unwahrheit untergeschoben habe, Ihnen auch noch andere Lügen erzählt haben könnte. Das ist aber nicht der Fall – alles andere in diesem Buch ... ist absolut wahr, und Sie mögen das, ganz nach Belieben, glauben oder nicht.

In Schneewittchen bedient Donald Barthelme sich eines ähnlichen Mittels, um den Leser in die Erfindung des Autors einzubeziehen. In der Mitte des Buches findet der Leser einen Fragebogen, der seine Meinung über den weiteren Fortgang der Geschichte einholt und ihn auf die Abweichungen des Autors vom ursprünglichen Märchen aufmerksam macht. Als T. S. Eliot seinem Gedicht Das Wüste Land Anmerkungen beigab, war er damit einer der ersten Dichter, die auf ihre eigene imaginative Umgestaltung der Wirklichkeit aufmerksam machten; er aber tat es, um das Bewußtsein des Lesers für Anspielungen zu schärfen und eine tiefere Resonanz zu erzeugen – und keineswegs, um, wie in diesen neueren Beispielen, das Vertrauen des Lesers in den Autor zu demolieren.

Ein literarisches Mittel, das eine lange Tradition hat, ist die Einführung einer unzuverlässigen, befangenen Erzählfigur. In der Vergangenheit benutzten Schriftsteller es oft, um die unvollkommene Wahrnehmungsperspektive des fiktiven Erzählers zu ironisieren, indem sie die genauere Sicht des Autors danebenstellten. In der experimentellen Literatur der Gegenwart wird dieser Kunstgriff eines fiktiven Erzählers kaum noch verwendet. Der Autor spricht jetzt mit eigener Stimme, warnt den Leser jedoch, daß seiner Darstellung der Wahrheit nicht zu trauen sei. "Nichts in diesem Buch ist wahr", kündigt Kurt Vonnegut auf der allerersten Seite von Cat’s Cradle an. Insofern der Autor auf sich als Akteur aufmerksam macht, beraubt er den Leser der Möglichkeit, sich dem Erzähler anzuvertrauen. Indem er den Unterschied zwischen Wahrheit und Täuschung verwischt, verlangt er vom Leser, seine Geschichte für wahr zu halten, nicht weil sie plausibel klingt oder der Autor sie einfach für wahr ausgibt, sondern lediglich deshalb, weil er den Anspruch erhebt, es sei – wenigstens partiell – denkbar, daß sie wahr sein könnte, falls der Leser sich entschlösse, ihm Glauben zu schenken. Der Schriftsteller verzichtet auf das Recht, ernstgenommen zu werden, und gleichzeitig entledigt er sich der Verantwortung, die mit dem Ernstgenommenwerden verbunden ist. Er bittet den Leser nicht um Verständnis, sondern um Entschuldigung. Und indem der Leser das Eingeständnis der Lüge beim Schriftsteller akzeptiert, verzichtet der Leser seinerseits auf das Recht, den Autor für die Wahrheit seines Berichts verantwortlich zu machen. Auf solche Weise versucht der Autor, den Leser zu umgarnen, statt ihn zu überzeugen, und setzt auf den Nervenkitzel der Pseudoenthüllung, um das Interesse des Lesers wachzuhalten.

In dieser Unverbindlichkeit wird die Bekenntnisliteratur das genaue Gegenteil dessen, was sie zu sein vorgibt. Das Zeugnis des Innenlebens wird zur unbeabsichtigten Parodie. Ein literarisches Genre, das die Innerlichkeit zu bestätigen und zu bejahen scheint, verdeutlicht, daß eben das Innenleben nicht mehr ernstgenommen werden kann. Das belegt, warum Allen, Barthelme und andere Satiriker so häufig den Bekenntnisstil früherer Zeiten bewußt parodieren, als der Künstler seine inneren Kämpfe und Probleme bloßlegte, weil er glaubte, sie seien ein Abbild der größeren Welt. Heute sind die "Bekenntnisse" des Künstlers nur noch ihrer totalen Banalität wegen bemerkenswert. Woody Allen schreibt eine Parodie der Briefe van Goghs an seinen Bruder, in der der Künstler zum Zahnarzt will, dem es vor allem um "orale Prophylaxe", "Wurzelkanalpflege" und die "richtige Methode des Zähneputzens" geht. Die Reise ins Innere führt nur noch zur Entdeckung der Leere. Der Schriftsteller sieht das Leben nicht mehr in seiner Vorstellungswelt reflektiert, im Gegenteil: er sieht die Welt, sogar in ihrer Leere, als Spiegel seiner selbst. Wenn er seine "inneren" Erfahrungen festhält, versucht er nicht mehr, einen repräsentativen Ausschnitt der Realität objektiv darzustellen, sondern andere zu verführen, ihm ihre Aufmerksamkeit, ihren Beifall oder ihre Sympathie zu schenken und damit sein schwankendes Selbstgefühl zu stützen.

Die innere Leere

Trotz der Abwehrmechanismen, mit denen sich die zeitgenössische Bekenntnisliteratur absichert, bieten diese Bücher häufig doch Einblicke in die Angst, die zur Suche nach seelischem Frieden führt. Paul Zweig spricht von der "wachsenden Überzeugung, die geradezu einem religiösen Glauben entspricht, daß mein Leben um einen weichen Kern herum organisiert war, der alles, was ich berührte, mit dem Schatten von Anonymität überzog"; von dem "Winterschlaf der Gefühle, der nahezu bis zu meinem dreißigsten Lebensjahr dauerte"; von dem nicht nachlassenden "Verdacht einer persönlichen Leere, die von all meinem Reden und meinem ängstlichen Bemühen, liebenswert und charmant zu sein, umgeben und verziert wird, die aber nicht zu ihr durchdringen und ihr nicht einmal nahekommen kann". In ähnlicher Weise schreibt Frederick Exley:

Ob ich nun Schriftsteller bin oder nicht, ich habe ... das Gefühl entwickelt, einer zu sein, die Abneigung vor der Herde kultiviert, in meinem unglücklichen Fall jedoch ohne die Fähigkeit, diese Abneigung zu artikulieren und nutzbar zu machen.

Mit ihrem Starrummel und ihrem Bemühen, Berühmtheiten mit Glamour und erregendem Spektakel zu umgeben, haben die Massenmedien die Amerikaner zu einer Nation von Fans und Kinogängern gemacht. Die Medien steigern narzißtische Träume von Ruhm und Ehre und geben ihnen Nahrung; sie ermutigen den einfachen Mann auf der Straße, sich mit den Stars zu identifizieren und die gewöhnliche Masse zu verachten, und sie erschweren es ihm zunehmend, die Banalität des Alltagslebens zu ertragen. Frank Gifford und die New York Giants, schreibt Exley, "hielten für mich die Illusion aufrecht, daß der Ruhm greifbar nahe und möglich war". "Von diesem schrecklichen Traum vom Ruhm zerstört", der ihn nicht losließ, "von dieser Illusion, ich könne der öden Anonymität des Lebens entgehen", schildert Exley sich selbst oder seinen Erzähler – wie gewöhnlich bleibt der Unterschied unklar – als gähnende Leere, als unstillbaren Hunger, als Vakuum, das darauf wartet, mit einem reichen Erleben gefüllt zu werden, das wenigen Auserwählten vorbehalten bleibt. In vieler Hinsicht ein durchaus gewöhnlicher Mensch, träumt Exley doch von einem "Schicksal, das groß genug für mich ist! Wie der Gott Michelangelos seine Hand nach Adam ausstreckt, so möchte ich nichts weniger, als über die Zeitalter hinüberzureichen und meine schmutzigen Finger in die Nachwelt zu stecken! ... Es gibt nichts, was ich mir nicht wünschte! Ich möchte dieses, ich möchte jenes, und ich möchte – eben alles!"

Die moderne Konsumgüterwerbung und der hohe Lebensstandard haben die sofortige Bedürfnisbefriedigung sanktioniert und entheben das Es der Notwendigkeit, sich für seine Wünsche entschuldigen oder ihr grandioses Ausmaß verschleiern zu müssen. Eben diese Konsumgüterwerbung aber hat auch Versagen und Verzicht unerträglich gemacht. Wenn jedoch der neue Narzißmus schließlich einmal erkennen muß, daß er "nicht nur ohne Ruhm, sondern sogar ohne Ich zu leben vermag, daß er leben und sterben kann, ohne daß seinen Mitmenschen auch nur der mikroskopisch kleine Raum zu Bewußtsein gekommen ist, den er auf diesem Planeten einnimmt", so erlebt er diese Entdeckung nicht bloß als Enttäuschung, sondern als erschütternden Schlag gegen sein Selbstgefühl. "Der Gedanke überwältigt mich beinahe", schreibt Exley, "und ich konnte nicht dabei verweilen, ohne unsagbar depressiv zu werden."

In seiner Leere und Bedeutungslosigkeit versucht der Mensch mit durchschnittlichen Fähigkeiten, sich am Glanz der Stars zu wärmen. In seinem Buch Pages from a Cold Island spricht Exley von seiner Faszination für Edmund Wilson und berichtet, wie er nach dem Tode des großen, maßgeblichen Kritikers und Literaten seinem Idol dadurch näherzukommen versucht habe, daß er die Hinterbliebenen des großen Mannes interviewte. Da diese Interviewberichte weitaus mehr von Exley handeln als von Wilson, und da Exley Wilsons literarische Leistung immer wieder nur in der Rhetorik konventioneller Lobeshymnen preist – "einer der großen Männer des 20. Jahrhunderts"; "fünfzig Jahre unerbittlicher Hingabe an seine Aufgabe"; "einen Mann seiner Statur hat die amerikanische Literatur ... zuvor nicht gekannt" –, wird deutlich, daß Wilson noch im Tode für Exley eine Art magischer Gestalt darstellt, mit der in Verbindung zu stehen seinen literarischen Bewunderern und posthumen Anhängern selbst sekundäre Bedeutung bringt. Exley selbst sagt, daß er sich so verhalten habe, "als ob die Nähe zu Wilson mir Glück brächte".

Andere Autoren beschreiben, wenn auch ohne Exleys Befangenheit, denselben Versuch, in der Sonne anderer zu leben, die eine größere Ausstrahlungskraft haben als man selbst. Susan Stern vermittelt den Eindruck, daß sie sich den Weathermen anschloß, weil die Beziehung zu Medienstars wie Mark Rudd und Bernadine Dohrn ihr das Gefühl gab, schließlich doch noch ihre "Nische im Leben" gefunden zu haben. Dohrn beeindruckte sie als "Königin", als "Hohepriesterin", die durch ihren "Glanz und Adel" vom "untergeordneten" und "drittrangigen Führungskreis" des SDS abgerückt war. "Welche Eigenschaft sie auch besaß, ich wünschte sie mir. Ich wollte gehegt und geachtet sein wie Bernadine." Als der Prozeß gegen die Sieben von Seattle (eine Gruppe von sieben Studenten, die 1970 wegen Verschwörung und Geheimbündelei mehrfach inhaftiert wurde) Susan Stern selbst zur Medienberühmtheit machte, glaubte sie schließlich, zu guter Letzt auch "jemand" zu sein, "weil mich so viele Leute umdrängten, die nur Fragen stellten, Antworten von mir erwarteten oder mich ganz einfach anstarrten und mir anboten, bestimmte Dinge für mich zu tun, um etwas vom Glanz des Rampenlichts auf sich zu lenken". Jetzt endlich auf dem "Gipfel", sah sie sich als "auffällig, strahlend und vulgär, hart und komisch, aggressiv und dramatisch" und versuchte, auch andere mit diesem Image zu beeindrucken. "Wohin ich ging, man liebte mich." Ihre prominente Stellung in dem gewalttätigsten Flügel der amerikanischen Linken gestattete es ihr, vor einem großen Publikum ihren Phantasien von zerstörerischer Wut freien Lauf zu lassen, die ihrer Ruhmsucht zugrunde lagen. Sie sah sich als rächende Furie, als Amazone, als Walküre. An die Wand ihres Hauses pinselte sie eine "nackte Frau von 1,90 m Größe, mit wallendem, grün-blondem Haar und einer brennenden amerikanischen Fahne, die aus ihrer Möse herausragte". In ihrer "ätzenden Raserei", schrieb sie, "hatte ich gemalt, was ich irgendwo tief in meinem Innern sein wollte: groß und blond, nackt und bewaffnet, beim Aufzehren – oder Löschen – eines brennenden Amerika."

Weder Drogen noch Zerstörungsphantasien – selbst wenn sie in einer "revolutionären Praxis" objektiviert werden – stillen das innere Hungergefühl, aus dem sie hervorgehen. Persönliche Beziehungen, die sich auf Anteilnahme an Ruhm, auf das Bedürfnis gründen, zu bewundern und bewundert zu werden, erweisen sich als flüchtig und unzulänglich. Susan Sterns Freundschaften und Liebesaffären endeten gewöhnlich mit Enttäuschungen und bitteren Vorwürfen. Sie klagt über ihre Unfähigkeit, irgend etwas gefühlsmäßig zu erfassen: "Ich vereiste innerlich mehr und mehr, je heftiger ich nach außen agierte." Obwohl ihr Leben sich um Politik drehte, bleibt die politische Welt in ihren Erinnerungen ohne Realität; sie figuriert lediglich als Projektion ihrer eigenen Wut und Unruhe, als Traum von Angst und Gewalt. Viele andere Bücher unserer Zeit, sogar Bücher, die Produkte politischer Umwälzungen sind, vermitteln dasselbe Gefühl von der Unwirklichkeit der politischen Sphäre. Paul Zweig, der in den 50ern und 60ern zehn Jahre in Paris weilte und an der Agitation gegen den Algerien-Krieg teilnahm, schrieb, daß "der Krieg allmählich zu einer Art Umwelt wurde, der jeden anderen Aspekt meiner Existenz beherrschte"; und doch führen äußere Ereignisse in seiner Erzählung nur ein Schattendasein. Sie haben den Charakter von Halluzinationen, bilden einen vagen Hintergrund von "Terror und Verwundbarkeit". Auf dem Höhepunkt der von Gewalt gezeichneten Proteste gegen den Algerien-Krieg erinnerte er sich an einen Satz, den er früher einmal in einem Buch über das Lebensgefühl von Schizophrenen gelesen hatte: "La terre bouge, elle ne m’inspire aucune confiance". Dasselbe Gefühl, so Zweig, überwältigte ihn später in der Sahara, wo er seine "innere Trockenheit" zu überwinden versuchte, indem er sich, allein, gegen die Naturgewalten auf die Probe stellte. "Die Erde bebt, ich kann kein Vertrauen zu ihr haben."

In Zweigs Lebensbericht steuern Freunde und Geliebte Augenblicke dessen bei, was Glück genannt werden könnte; sie können den "leeren Wirbel seiner inneren Existenz" nicht zum Stillstand bringen. Eine Zeitlang lebte er mit einem Mädchen zusammen, das "ohne Erfolg gegen seine Empfindungslosigkeit" anging. Eine sorgsam arrangierte Szene, die offensichtlich das Wesen dieser ihrer Beziehung einfangen soll, belegt die schwer faßbare Eigenart des Zweigschen Stils, seine Selbstverspottung, die darauf abzielt, zu bestricken und eventuelle Kritik zu entwaffnen, und das fürchterliche Eingeständnis mangelnder Echtheit, das ihr zugrunde liegt:

Gleichsam als Hohn auf die qualvolle Stimmung im Raum treibt der fahlgraue Rumpf von Notre Dame aus der Nacht hervor, auf dem Hintergrund magischer, leise surrender Autos. Das Mädchen sitzt auf dem Fußboden, neben verstreuten Farbpinseln und einer dunklen, hölzernen Palette. Der Junge, der wie zerbrochen auf dem Bett liegt – jedenfalls fühlt er sich so – sagt mit einem erstickten theatralischen Flüstern: "Je ne veux pas être un homme". Um den Sinn der Worte zu verdeutlichen, das heißt, um seine Angst ins Geistige zu heben, wiederholt er: "Je ne veux pas être un homme", auf ein prinzipielles Problem anspielend, das das Mädchen in seiner offensichtlichen Abgestumpftheit nicht begreifen kann, denn sie läßt nur ein Stöhnen hören und beginnt zu weinen.

Nach sechs Jahren derartiger Erlebnisse "heirateten sie und ließen sich nach wenigen erfrischenden Wochen wieder scheiden". Zweigs Exil ging zu Ende und damit auch sein Versuch, "seine Existenz mit der Wendigkeit dessen zu verkörpern, der nichts mehr zu verlieren hat".

Das innere Vakuum besteht jedoch weiter:

... die Erfahrung einer inneren Leere, das erschreckende Gefühl, daß ich auf einer bestimmten Ebene meiner Existenz nichts bin, daß meine Identität zusammengebrochen ist und daß ganz tief unten niemand ist.

Swami Muktananda, einem von den New Yorkern auf der Suche nach spiritueller Heilung bevorzugten Guru, bleibt es vorbehalten, Zweig beizubringen, wie man seinen "Doppelgänger" einschläfert. "Baba" – Vater – lehrt die "Sinnlosigkeit geistiger Prozesse". Unter seiner Anleitung hat Zweig das "Delirium der Befreiung" erlebt. Wie Jerry Rubin schreibt er diese "Kur", diese Empfindung, "geheilt und lebensfroh zu sein", der Zerstörung seiner psychischen Abwehrmechanismen zu. "Nicht mehr in den Anstrengungen der Selbstverteidigung gefangen", hat er den Teil seiner selbst anästhesiert, der "aus bloßer geistiger Betriebsamkeit besteht ... aus Zwangsdenken zusammengeleimt ist und von Angst angetrieben wird."

Die Kritik der Progressiven an der Vorherrschaft des Privaten

Die Popularisierung psychiatrischer Denkweisen, die Verbreitung der "Neuen Bewußtwerdungsbewegung", der Traum vom Ruhm und das gequälte Gefühl des Versagens, welche die Suche nach geistigen Allheilmitteln allesamt noch dringlicher machen, haben eins gemeinsam: eine ungewöhnlich starke Beschäftigung mit dem Ich. Diese Selbstbezogenheit prägt das moralische Klima der zeitgenössischen Gesellschaft. Es geht nicht mehr darum, die Natur zu erobern oder neue, gesellschaftliche Herausforderungen zu suchen, sondern um Selbstverwirklichung. Der Narzißmus ist zu einem der zentralen Themen der amerikanischen Kulturszene geworden; Jim Hougan, Tom Wolfe, Peter Marin, Edwin Schur, Richard Sennett und andere Autoren haben neuerlich auf jeweils verschiedene Weise darauf hingewiesen. Wenn wir uns aber nicht damit zufriedengeben wollen, unter dem Deckmantel eines psychiatrischen Jargons zu moralisieren, müssen wir den Begriff des Narzißmus genauer als in der geläufigen Gesellschaftskritik verwenden und uns seiner klinischen Implikationen bewußt werden.

Kritiker des zeitgenössischen Narzißmus und der neuen therapeutischen Sensibilität verurteilen die Orientierung an der Psychiatrie fälschlich als Opium der gehobenen Mittelschicht. Laut Marin isolieren sich die wohlhabenden Amerikaner mit ihrer Selbstbezogenheit gegen die Schrecken ihrer unmittelbaren Umgebung – Armut, Rassismus und Ungerechtigkeit –, sie "besänftigen ihr aufgestörtes Gewissen". Schur greift die "Bewußtseinsmanie" an, sie befasse sich mit Problemen, die lediglich für die Wohlhabenden relevant seien, vernachlässige die Nöte der Armen und verfälsche "soziale Ungerechtigkeit zu persönlicher Unzulänglichkeit". Er hält es für "kriminell", daß weiße Bürger der oberen Schichten "sich selbstzufrieden mit sich beschäftigen, während ihre weniger glücklichen Landsleute sich mühsam durchschlagen und hungern". Doch die Selbstbezogenheit, welche die Vertreter des Neuen Bewußtseins sich zunutze machen, rührt nicht aus Selbstzufriedenheit, sondern aus Verzweiflung; und diese Verzweiflung beschränkt sich keinesfalls auf die bürgerlichen Schichten. Schur scheint anzunehmen, daß der flüchtige, provisorische Charakter zwischenmenschlicher Beziehungen ein Problem nur für die wohlhabenden leitenden Angestellten ist, die nie wirklich seßhaft werden. Sollen wir glauben, daß die Dinge bei den Armen anders liegen? Daß die Ehen in der Arbeiterklasse glücklich und konfliktfrei sind? Daß das Getto stabile, liebevolle und zweckfreie Freundschaften hervorbringt? Untersuchungen zu den Lebensbedingungen der unteren Schichten haben wiederholt gezeigt, daß die Armut Ehe und Freundschaft gefährdet. Der Zusammenbruch des persönlichen Lebensbereichs rührt nicht aus den seelischen Nöten des Wohlstands, sondern aus dem Kampf aller gegen alle, der jetzt von den unteren Schichten, wo er lange ohne Unterbrechung gewütet hat, auf die übrige Gesellschaft übergegriffen hat.

Weil die neuen Therapien gewöhnlich teuer sind, begeht Schur den Fehler anzunehmen, daß sie Probleme angehen, die nur die Reichen betreffen und an sich trivial und "irreal" sind. Er kritisiert Autoren wie George und Nena O’Neill (die Apostel der "offenen Ehe") und ihre "unglaublich ethnozentrische Auffassung persönlicher Krisen, die offensichtlich auf ihren eigenen bürgerlichen Werten und Erfahrungen beruht". Es fällt den Experten des Neuen Bewußtseins nie ein, klagt er, "daß ökonomische Rücklagen jemandem helfen können, eine Krise zu überwinden, oder sie ihm sogar überhaupt ersparen".

Diese Experten schreiben so, als ob gesellschaftliche Klassen und Konflikte nicht existierten. Deshalb hält Schur es für "schwer vorstellbar", daß das Neue Bewußtsein, trotz zahlreicher Versuche, es mittels preiswerter Leitfäden und kostenloser Kliniken zu verbreiten, bei den Armen viel Anklang finden wird:

Gewiß, man kann sich vorstellen, daß nach Anwendung mancher der neuen Selbstverwirklichungstechniken sich auch ein armer Mensch irgendwie besser fühlen mag. Aber dieses Glück könnte bestenfalls kurzlebig sein. Dazu verführt, ihre Probleme zu verinnerlichen, würden die Armen nur von der dringenderen Aufgabe abgelenkt werden, ihre wirklichen, kollektiven Interessen voranzutreiben.

Mit seiner grob vereinfachenden Konstruktion eines Gegensatzes zwischen "wirklichen" und persönlichen Problemen läßt Schur die Tatsache außer acht, daß gesellschaftliche Fragen sich unausweichlich auch als persönliche Fragen darbieten. Die reale Welt ist in Familien- und Individualerfahrungen gebrochen, die unsere Wahrnehmung der Welt färben. Erlebnisse von innerer Leere, Einsamkeit und mangelnder Echtheit sind keineswegs "unwirklich" oder auch ohne soziale Inhalte; und sie erwachsen auch keineswegs ausschließlich aus den "Lebensbedingungen der Mittel- und Oberschicht". Sie erwachsen aus den kriegsähnlichen Bedingungen, die in der amerikanischen Gesellschaft vorherrschen, aus den Gefahren und der Unsicherheit, die uns umgeben, und aus dem Verlust des Vertrauens in die Zukunft. Die Armen haben für die Gegenwart zu leben gehabt; jetzt aber überwältigt die verzweifelte Sorge ums persönliche Überleben, manchmal als Hedonismus maskiert, auch die mittleren Schichten.

Schur selbst bemerkt, daß "aus dieser äußerst verworrenen Botschaft letzten Endes ein Ethos des Selbstschutzes" hervorzutreten scheint. Wenn er jedoch das Überlebensethos als "Rückzug ins Privatisieren" brandmarkt, geht er am Wesentlichen vorbei. Wenn persönliche Beziehungen mit keinem anderen Ziel als dem des psychischen Überstehens aufgenommen werden, bietet das "Private" keinen rettenden Hafen in einer herzlosen Welt mehr. Im Gegenteil, das persönliche Leben nimmt dann genau die Merkmale der anarchischen Gesellschaftsordnung in sich auf, gegen die sie ein Refugium bilden sollte. Was kritisiert und verurteilt werden muß ist die Verwüstung des Privaten und keineswegs der Rückzug ins Privatisieren. Das Fragwürdige an der Bewegung für ein Neues Bewußtsein rührt nicht daher, daß sie sich mit trivialen oder irrealen Problemen befaßt, sondern daß sie selbstzerstörerische Lösungen anbietet. Sie erwächst aus der vorherrschenden Unzufriedenheit mit der Qualität der persönlichen Beziehungen und rät den Menschen, sich nicht zu sehr auf Liebe und Freundschaft einzulassen, sich nicht unmäßig von anderen abhängig zu machen und für den Augenblick zu leben – und eben so ist die Krise der persönlichen Beziehungen entstanden.

Privates und öffentliches Leben: eine historische Gegenüberstellung

Richard Sennetts Kritik des Narzißmus ist subtiler und schärfer als die von Schur, weil er betont, daß "Narzißmus das genaue Gegenteil einer ausgeprägten Liebe zu sich selbst ist", schließt aber trotzdem eine ähnliche Entwertung des persönlichen Lebensbereichs ein. Die besten Elemente der kulturellen Traditionen des Westens stammen, nach der Auffassung Sennetts, aus den gesellschaftlichen Konventionen, die einst das menschliche Verhalten in der Öffentlichkeit bestimmten. Diese Konventionen, die heute als einengend, künstlich und für die Spontaneität des Gefühls tödlich verurteilt werden, schufen früher eine Distanz von Anstand und Gesittung zwischen den Menschen, schränkten die Demonstration von Gefühlen in der Öffentlichkeit ein und förderten Höflichkeit und Weltbürgertum. Im London oder Paris des 18. Jahrhunderts hing geselliger Umgang nicht davon ab, ob man miteinander intim war. "Fremde, die sich in Parks oder auf Straßen begegneten, konnten unbefangen miteinander ins Gespräch kommen." Es gab einen gemeinsamen Fundus an gesellschaftlichen Gebärden und Signalen, der es Menschen ungleichen Standes erlaubte, sich mit Anstand zu verständigen und in der Öffentlichkeit zusammenzuarbeiten, ohne sich aufgerufen zu fühlen, ihre tiefinnersten Geheimnisse zu enthüllen. Solche Zurückhaltung brach jedoch im 19. Jahrhundert zusammen, und man kam zu der Überzeugung, daß öffentliches Handeln die innere Persönlichkeit des Handelnden offenbart. Der romantische Kult der Aufrichtigkeit und Authentizität riß den Menschen die Masken ab, die sie in der Öffentlichkeit getragen hatten, und trug die Grenzen zwischen privatem und öffentlichem Leben ab. In dem Maße, in dem die Öffentlichkeit als Spiegel des Ich verstanden wurde, verloren die Menschen die Fähigkeit, sich distanziert und folglich auch spielerisch zueinander zu verhalten, was ja einen gewissen Abstand vom eigenen Ich voraussetzt.

In unseren Tagen, so meint Richard Sennett, ist gesellschaftliches Verhalten todernst geworden, weil es als eine Form der Selbstenthüllung verstanden wird. Die Unterhaltung wird zum Bekenntnis. Das Klassenbewußtsein schwindet; die Menschen sehen ihre gesellschaftliche Stellung als Widerspiegelung ihrer Fähigkeiten und machen sich selbst verantwortlich für die Ungerechtigkeiten, die sie zu tragen haben. In der Politik geht es nicht mehr um gesellschaftliche Veränderungen; sie ist zum Kampf um Selbstverwirklichung entartet. Wenn die Schranken zwischen dem Ich und der übrigen Welt fallen, wird ein Verhalten im Sinne aufgeklärten Eigennutzes, wie es früher jede Phase politischen Handelns durchdrang, unmöglich. Der Homo politicus früherer Zeiten verstand sich besser darauf, die Dinge zu nehmen als sich an seine Wunschvorstellungen zu halten und entsprach damit Sennetts Definition der psychologischen Reife. Er betrachtete die Politik, wie er die Wirklichkeit allgemein betrachtete – um zu sehen, "was für ihn dabei heraussprang, anstatt um sich dort selbst zu finden". Der Narzißt demgegenüber "suspendiert ichbezogene Interessen" in einem Taumel des Begehrens.

Sennetts Überlegungen sind weitaus komplexer und anregender, als ein kurzer Abriß verdeutlichen kann, und sie veranschaulichen, wie wichtig eine Distanz zum eigenen Ich für Spielverhalten und für das Zusammenspiel der Menschen beim Reorganisieren der Wirklichkeit ist. Wir können viel von ihm lernen über die Projektion des Selbstverwirklichungsstrebens in die Politik und über die verhängnisvollen Auswirkungen eines Denkens, das alles am Maßstab persönlicher Echtheit mißt.

Doch Sennetts Auffassung, daß Politik von aufgeklärtem Eigennutz abhängt, von der sorgsamen Abwägung persönlicher und Klassenvorteile, wird den irrationalen Elementen kaum gerecht, die die Beziehungen zwischen herrschenden und beherrschten Klassen immer gekennzeichnet haben. Sie berücksichtigt zu wenig die Fähigkeit der Reichen und Mächtigen, ihren Aufstieg mit erhabenen moralischen Prinzipien gleichzusetzen, gegen die Widerstand zu leisten dann nicht nur ein Verbrechen gegen den Staat, sondern gegen die Menschheit überhaupt bedeutet. Die herrschenden Klassen haben stets versucht, in den ihnen Unterworfenen die Neigung zu wecken, ihre Ausbeutung und materiellen Entbehrungen als Schuld zu erleben, während sie selbst der Täuschung anhingen, ihre eigenen materiellen Interessen seien identisch mit denen der ganzen Menschheit. Wenn Sennett ein erfolgreiches Funktionieren des Ich gleichsetzt mit der Fähigkeit, sich "zu nehmen", was man kann, statt "zu begehren", so ist das fragwürdig genug, insofern die Raubgier als einzige Alternative zum Narzißmus ausgegeben zu werden scheint. Außerdem kann doch nicht geleugnet werden, daß die Menschen ihre Interessen nie mit vollkommener Klarheit erkannt und deshalb in der gesamten Geschichte immer dazu geneigt haben, irrationale Aspekte ihrer selbst in den politischen Bereich zu projizieren. Die irrationalen Züge moderner Politik dem Hang zum Privaten, dem "Persönlichkeitskult" oder dem Narzißmus zur Last zu legen, heißt nicht nur die Rolle der Ideologie in der historischen Entwicklung übertreiben, sondern auch die Irrationalität der Politik früherer Epochen unterschätzen.
Sennetts Vorstellung von der eigentlichen Politik als einer Interessenpolitik steht im Banne der von Tocqueville ausgehenden pluralistischen Tradition, aus der sie offensichtlich ein eigenständiges ideologisches Element ableitet. Die Tendenz einer solchen Analyse geht dahin, den bürgerlichen Liberalismus als die einzige kultivierte Form politischen Lebens und bürgerlichen "Anstand" als die einzige akzeptable Form öffentlicher Kommunikation zu überhöhen. Vom pluralistischen Standpunkt aus bleiben die eingestandenen Unzulänglichkeiten der bürgerlichen Gesellschaft einer politischen Verbesserung unzugänglich, weil das politische Leben wesensmäßig als Bereich radikaler Unvollkommenheit aufgefaßt wird. Wenn Männer und Frauen also grundlegende Veränderungen des politischen Systems fordern, projizieren sie demnach in Wirklichkeit private Ängste auf die Politik. Auf diese Weise definiert sich der Liberalismus als das Äußerste an politischer Rationalität und tut alles, was über den Liberalismus hinauswill, eingeschlossen die gesamte revolutionäre Tradition, als narzißtische Politik ab. Weil Sennett eine Perspektive Tocquevilles übernimmt, wird es ihm unmöglich, zwischen der Korruption einer radikal linken Politik durch irrationale Elemente in der amerikanischen Kultur, die sich in den späten sechziger Jahren anbahnte, und der Gültigkeit vieler radikaler, politischer Ziele zu unterscheiden. Sein analytisches Modell läßt jede revolutionäre Bewegung und alle Arten von Politik, die eine Gesellschaft schaffen möchten, welche nicht auf Ausbeutung beruht, automatisch suspekt erscheinen. Trotz seiner Idealisierung des öffentlichen Lebens in der Vergangenheit spiegelt auch Sennetts Buch nur den gegenwärtigen heftigen Ekel vor Politik überhaupt – die Abkehr von der Hoffnung, Politik als Instrument gesellschaftlicher Veränderungen verwenden zu können.

In seinem Eifer, zwischen öffentlicher und privater Sphäre wieder zu trennen, übersieht Sennett außerdem, in welch vielfältiger Weise sie immer und überall ineinander verflochten sind. Die Sozialisierung der Jugend reproduziert politische Herrschaft auf der Ebene der persönlichen Erfahrung. In unseren Tagen ist dieser Eingriff von Mächten organisierter Herrschaft in die Privatsphäre so umfassend geworden, daß es ein privates Leben kaum mehr gibt. Weil Sennett Ursache und Wirkung verwechselt, legt er die zeitgenössische Malaise dem Eindringen des Persönlichen und Privaten in den öffentlichen Bereich zur Last. Für ihn wie für Marin und Schur stellt die gegenwärtige Beschäftigung mit Selbst-Entdeckung und -Verwirklichung, psychischer Entwicklung und intimen persönlichen Beziehungen eine ungehörige Selbstbezogenheit und zügellos um sich greifende romantische Schwärmerei dar. In Wirklichkeit aber rührt die Betonung des Privaten keineswegs aus einer starken Geltung der Persönlichkeit, sondern aus ihrem Zusammenbruch. Weit davon entfernt, das Ich zu glorifizieren, schreiben Dichter und Romanautoren heute an der Chronik seines Verfalls. Therapien, die dem erschütterten Ich Hilfe leisten wollen, machen das ebenso deutlich. Unsere Gesellschaft fördert mitnichten die Privatsphäre auf Kosten der öffentlichen und hat dauernde und tiefe Freundschaften, Liebesgeschichten und Ehen zunehmend schwieriger gemacht. In dem Maße, wie das gesellschaftliche Leben immer barbarischer und kriegsähnlicher wird, geraten die persönlichen Beziehungen, die scheinbar Linderung dieser Bedingungen verheißen, selbst zu vehementen Auseinandersetzungen. Einige der neuen Therapien beschönigen diesen Kampf als "Selbstbehauptung" und als "schönen Kampf in Liebe und Ehe". Andere loben unbeständige Bindungen mit Formeln wie "offene Ehe" und "Beziehungen auf unbestimmte Zeit". So intensivieren sie das Übel, das sie zu heilen vorgeben. Sie tun das aber nicht etwa, indem sie die Aufmerksamkeit von sozialen Problemen auf persönliche, von realen auf falsche ablenken, sondern dadurch, daß sie die gesellschaftlichen Ursprünge des Leidens verschleiern – eines Leidens, das nicht mit gefälliger Selbstbezogenheit verwechselt werden sollte und das schmerzlich, aber fälschlicherweise als rein persönliches und privates erfahren wird.

Die narzißtische Persönlichkeit unserer Zeit

Narzißmus als Metapher der Condition humaine

Jüngste Kritiker des neuen Narzißmus verwechseln Ursache und Wirkung, wenn sie Entwicklungen, die aus der Desintegration des öffentlichen Lebens erwachsen, der Überbewertung des Privaten zuschreiben; mehr noch, sie benutzen den Begriff Narzißmus so ungenau und allgemein, daß von seinem psychologischen Inhalt wenig übrigbleibt. In seinem Buch Das Menschliche in uns entkleidet Erich Fromm den Begriff gänzlich seiner spezifischen Bedeutung und faßt ihn so weit, um damit alle Formen von "Selbstgefälligkeit", "Selbstbewunderung", "Selbstbefriedigung" und "Selbstverherrlichung" beim einzelnen und alle Arten von Engstirnigkeit, ethnischen oder rassistischen Vorurteilen und "Fanatismus" bei gesellschaftlichen Gruppen umschreiben zu können. Mit anderen Worten, Fromm verwendet den Begriff als Synonym für den "asozialen" Individualismus, der nach seiner Auffassung von Humanismus und Fortschritt die Zusammenarbeit, die brüderliche Liebe und das Verlangen nach umfassenderen Loyalitäten unterminiert. Der Narzißmus wird so einfach der Gegenbegriff zu jener vagen Menschheitsliebe (einer selbstlosen "Fernstenliebe"), wie sie Fromm unter dem Namen Sozialismus propagiert.

Fromms Erörterungen über den "individuellen und gesellschaftlichen Narzißmus", die sinnigerweise in einer Reihe mit dem Titel "Religiöse Perspektiven" erschienen sind, bieten ein ausgezeichnetes Beispiel für die Neigung unseres therapeutischen Zeitalters, moralistische Plattheiten mit Hilfe von psychiatrischem Jargon aufzuputzen. ("Wir leben in einer historischen Phase, die durch eine schaffe Diskrepanz zwischen der intellektuellen Entwicklung des Menschen ... und seiner geistig-emotionalen Entwicklung charakterisiert wird und ihn noch immer im Zustand eines auffälligen Narzißmus mit allen seinen pathologischen Symptomen festhält.") Während Sennett daran erinnert, daß Narzißmus mehr mit Selbsthaß als mit Selbstbewunderung zu tun hat, verliert Fromm in seinem Eifer, die Segnungen brüderlicher Liebe zu predigen, sogar dieses wohlbekannte Faktum aus dem Blick.

Hier wie im ganzen Werk Fromms kommt der Fehler von dem irreführenden und überflüssigen Bemühen, Freuds Denken von seinen im 19. Jahrhundert verankerten "mechanistischen" Voraussetzungen zu befreien und es in den Dienst eines "humanistischen Realismus" zu zwingen. Praktisch läuft das dann darauf hinaus, daß an die Stelle einer theoretisch-begrifflichen Anstrengung erbauliche Sprüche und Empfindungen treten. Fromm bemerkt am Rande, daß Freuds ursprünglicher Narzißmusbegriff noch davon ausging, daß die Libido im Ego als einem "großen Reservoir" undifferenzierter Selbstliebe beginnt, während er 1922 die gegensätzliche Auffassung vertrat, daß "wir als das große Reservoir der Libido, im Sinne der Einführung des Narzißmus ... jetzt nach der Scheidung von Ich und Es das Es anerkennen [müssen]". Fromm setzt sich über diese Sachfrage mit der Formulierung hinweg: "Die theoretische Frage, ob der ursprüngliche Ausgangspunkt der Libido im Ich oder im Es liegt, ist für den Sinn des Begriffs Narzißmus selbst ohne wesentliche Bedeutung." Es ist jedoch festzustellen, daß die Strukturtheorie des psychischen Geschehens, wie sie von Freud in Massenpsychologie und Ich-Analyse und in Das Ich und das Es entwickelt wurde, Modifikationen seiner früheren Vorstellungen erforderlich machte, die für die Narzißmustheorie äußerst wichtig sind. Aufgrund der Strukturtheorie gab Freud die einfache Dichotomie von Trieb und Bewußtsein auf; so erkannte er die unbewußten Elemente von Ich und Über-Ich, die Bedeutung nichtsexueller Triebimpulse (Aggression oder "Todestrieb") und den Zusammenhang von Über-Ich und Es, Über-Ich und Aggression. Diese Entdeckungen ermöglichten es, die Rolle der Objektbeziehungen beim Entstehen des Narzißmus zu begreifen, und so wiederum kam es zu der Erkenntnis, daß der Narzißmus wesentlich ein Abwehrmechanismus gegen aggressive Impulse ist und nicht etwa Eigenliebe.

Eine theoretische Präzisierung des Narzißmuskonzepts ist nicht nur dringlich, weil der Begriff so leicht moralistisch verwässert wird, sondern vor allem auch deshalb, weil die Gewohnheit, alles Egoistische und Unerfreuliche mit Narzißmus gleichzusetzen, ein Verständnis für historische Besonderheiten erschwert. Die einzelnen Menschen sind immer selbstsüchtig und Gruppen stets ethnozentrisch gewesen; diesen Eigenschaften ein psychiatrisches Etikett anzuheften, bringt überhaupt nichts. Daß Charakterstörungen zum wichtigsten Gebiet der psychiatrischen Pathologie geworden sind und daß sich, wie daran erkennbar, die Persönlichkeitsstruktur gewandelt hat, hängt mit ganz spezifischen Veränderungen in unserer Gesellschaft und Kultur zusammen – mit der Verbürokratisierung, mit dem Überfluß von Eindrücken und Bildern, therapeutischen Ideologien, der Rationalisierung des Innenlebens, dem Konsumkult und, in letzter Instanz, mit Wandlungen des Familienlebens und veränderten Sozialisationsmustern.

Dies alles entschwindet aus dem Blick, wenn Narzißmus einfach zur "Metapher der Condition humaine" wird, wie es in einer anderen existentialistisch-humanistischen Interpretation geschieht, nämlich in Shirley Sugermans Buch Narzissmus als Selbststörung.

Wenn in jüngster Zeit Autoren, die über den Narzißmus schreiben, die Ätiologie des Narzißmus übergehen oder die wachsende klinische Literatur zu diesem Thema kaum berücksichtigen, so wird das sicher Absicht sein; dahinter steht wohl die Befürchtung, ein Eingehen auf die klinischen Aspekte des narzißtischen Syndroms könnte die gesellschaftsanalytische Brauchbarkeit des Begriffs schmälern. Solch ein Versäumnis hat sich jedoch als Fehler erwiesen. Da diese Autoren die psychologische Dimension außer acht lassen, verfehlen sie auch die soziale. Sie untersuchen keinen der mit pathologischem Narzißmus assoziierten Charakterzüge, die in weniger extremer Form im Alltagsleben unserer Epoche so überreichlich in Erscheinung treten: die Abhängigkeit von der bei anderen entlehnten Wärme, im Verein mit der Angst vor Abhängigkeit; das Gefühl innerer Leere, die maßlose unterdrückte Wut und die unbefriedigten oralen Süchte. Sie beschäftigen sich auch nicht mit dem, was man als die sekundären Merkmale des Narzißmus bezeichnen könnte: die Formen scheinbarer Selbsterkenntnis, das berechnende Verführungsgehabe, den nervösen, selbstabschätzigen Humor. Damit aber berauben sie sich jeder Möglichkeit, eine Verbindung herzustellen zwischen dem narzißtischen Persönlichkeitstyp und bestimmten charakteristischen Grundmustern unserer zeitgenössischen Kultur, wie etwa der intensiven Angst vor Alter und Tod, dem veränderten Zeitgefühl, der Faszination für Berühmtheiten, der Scheu vor Wettbewerb, dem Niedergang der Lust am Spiel oder dem sich verschlechternden Verhältnis der Geschlechter. Für diese Autoren bleibt Narzißmus ganz allgemein ein Synonym für Selbstsucht und bestenfalls eine Metapher – nicht mehr –, die jene geistige Verfassung beschreibt, in der die Welt als Spiegel des Selbst erscheint.

Psychologie und Soziologie

Die Psychoanalyse befaßt sich mit Individuen und nicht mit Gruppen. Bemühungen, klinische Befunde auf kollektives Verhalten zu übertragen und zu verallgemeinern, stoßen immer wieder auf die Schwierigkeit, daß Gruppen ein Eigenleben haben. Der Kollektivgeist, sofern es dergleichen gibt, spiegelt die Bedürfnissse der Gruppe als einer Einheit und nicht die psychischen Bedürfnisse der einzelnen in der Gruppe, die den Forderungen des kollektiven Lebens in der Tat untergeordnet werden müssen.

Eben diese Unterordnung der einzelnen unter die Gruppe verspricht die psychoanalytische Theorie aber aufzuklären, indem sie ihre seelischen Auswirkungen untersucht. Eine intensive Psychoanalyse einzelner Fälle, die sich nicht auf normale, menschliche Eindrücke verläßt, sondern auf klinischem Beweismaterial beruht, kann einiges zum Verständnis der Funktionsweisen unserer Gesellschaft beitragen, gerade weil sie den Blick von der Gesellschaft abkehrt und in das individuelle Unbewußte eintaucht.
Jede Gesellschaft reproduziert ihre Kultur – ihre Normen, ihre Grundvoraussetzungen, ihre Art und Weise des Ordnens und Wertens von Erfahrungen – im Individuum, im Medium der Persönlichkeit. Wie Durkheim sagte, ist die Persönlichkeit das vergesellschaftete Individuum. Der Prozeß der Vergesellschaftung, der zuallererst von der Familie und dann in zweiter Linie von der Schule und anderen Organen ausgeführt wird, modifiziert die menschliche Natur, um sie den herrschenden gesellschaftlichen Normen anzupassen. Jede Gesellschaft versucht, die universalen Krisen der Kindheit – das Trauma der Trennung von der Mutter; die Angst, verlassen zu werden; die Qual, mit anderen um die Liebe der Mutter kämpfen zu müssen – auf ihre Weise zu lösen, und wie sie mit diesen psychischen Geschehnissen umgeht, bringt eine typische Form der Persönlichkeit hervor, eine typische Form der psychischen Deformation, mit deren Hilfe sich das Individuum mit der Triebdeprivation versöhnt und den Anforderungen des gesellschaftlichen Daseins fügt. Freuds Beharren auf dem gleitenden Übergang von psychischer Gesundheit und Krankheit ermöglicht es, Neurosen und Psychosen als in gewisser Hinsicht kennzeichnende Ausdrucksformen einer Kultur zu betrachten. Die "Psychose", hat Jules Henry festgestellt, "ist das Endergebnis alles dessen, was an einer Kultur falsch ist".

Die Psychoanalyse erklärt den Zusammenhang zwischen Gesellschaft und Individuum, Kultur und Persönlichkeit gerade dann am besten, wenn sie sich auf die sorgsame Untersuchung von Individuen beschränkt. Sie sagt über die Gesellschaft am meisten dann aus, wenn sie es am wenigsten beabsichtigt. Freuds Übertragung psychoanalytischer Prinzipien auf Anthropologie, Geschichte und Biographie kann der Soziologe getrost ignorieren; seine klinischen Untersuchungen aber sind eine Fundgrube an unentbehrlichen Ideen, wenn man einmal begriffen hat, daß das Unbewußte die kulturelle Modifikation des Natürlichen, die Auflage der Zivilisation auf den Instinkt darstellt.

"Freud ist nicht vorzuwerfen", schrieb T. W. Adorno, "daß er das konkret Gesellschaftliche vernachlässige, sondern daß er sich allzu leicht beim gesellschaftlichen Ursprung jener Abstraktheit beruhigt, bei der Starrheit des Unbewußten, die er mit der Unbestechlichkeit des Naturforschers erkennt ... Beim Übergang von den psychologischen Imagines zur geschichtlichen Realität vergißt er die von ihm selbst entdeckte Modifikation alles Realen im Unbewußten und schließt darum irrig auf faktische Begebenheiten wie den Vatermord durch die Urhorde."

Wer den zeitgenössischen Narzißmus als gesellschaftliches und kulturelles Phänomen verstehen will, muß sich zuerst mit der wachsenden klinischen Literatur zu diesem Thema vertraut machen, die keinen Anspruch auf gesellschaftliche oder kulturelle Relevanz erhebt und die Behauptung, daß "Veränderungen der zeitgenössischen Moral", wie Otto Kernberg schreibt, "etwas an dem Bedürfnis und der Fähigkeit zur Intimität in verschiedensten Formen geändert haben", entschieden in Abrede stellt.

In der klinischen Literatur ist der Narzißmusbegriff mehr als ein bloß metaphorischer Ausdruck für Selbstbezogenheit. Als eine psychische Einstellung, bei der "abgewiesene Liebe sich als Haß auf das Ich zurückwendet", ist der Narzißmus als wichtigstes Element bei den sogenannten Charakterstörungen erkannt worden, die einen Großteil der psychiatrischen Aufmerksamkeit auf sich gelenkt haben, die vordem den Hysterien und Zwangsneurosen galt. Es hat sich eine neue Theorie des Narzißmus entwickelt, die auf Freuds bekanntem Essay zu diesem Phänomen fußt (der Narzißmus – die libidinöse Besetzung des eigenen Ich – wird als notwendige Voraussetzung der Objektliebe behandelt), sich aber nicht mit dem primären, sondern mit dem sekundären oder pathologischen Narzißmus beschäftigt: der Einverleibung grandioser Objektimagines als Abwehrmechanismus gegen Angst- und Schuldgefühle. Beide Spielarten verwischen die Grenzen zwischen dem Selbst und der Objektwelt; es besteht jedoch ein wichtiger Unterschied. Das neugeborene Kind – der primäre Narzißt – nimmt seine Mutter noch nicht als von ihm getrennte Existenz wahr, und deshalb hält es seine Abhängigkeit von der Mutter, die seine Bedürfnisse befriedigt, sobald sie sich regen, fälschlich für seine eigene Omnipotenz. "Es bedarf mehrerer Wochen postnataler Entwicklung ..., bevor das Kind wahrnimmt, daß die Quelle seiner Bedürfnisse ... innerhalb und die Quelle seiner Bedürfnisbefriedigung außerhalb seiner selbst liegt."

Der sekundäre Narzißmus hingegen versucht, "die Qual enttäuschter [Objekt-]Liebe aufzuheben" und die Wut des Kindes auf alle zu beseitigen, die nicht unverzüglich auf seine Bedürfnisse reagieren, die, wie es dann merkt, anderen in seinem Umkreis zugewandt sind und es deshalb verlassen zu haben scheinen. Der pathologische Narzißmus, "der nicht einfach als Fixierung auf der Ebene des normalen primitiven Narzißmus aufgefaßt werden kann", entsteht erst, wenn das Ich sich hinreichend entwickelt hat, um sich selbst von den Objekten seiner Umgebung zu unterscheiden. Wenn das Kind dieses Trennungstrauma aus bestimmten Gründen mit besonderer Intensität erlebt, mag es versuchen, frühere Beziehungen wiederherzustellen, indem es sich in seinen Phantasien eine omnipotente Mutter- oder Vaterfigur schafft, die mit Bildern seines eigenen Selbst verschmilzt. "Durch Internalisierung versucht der Patient eine ersehnte Liebesbeziehung, die früher einmal existiert haben mag, wiederherzustellen und gleichzeitig die Angst- und Schuldgefühle zu annullieren, die durch aggressive Tendenzen geweckt werden, welche sich gegen das frustrierende und enttäuschende Objekt richteten."

Der Narzißmus in der neueren klinischen Literatur

Anhand der neueren klinischen Untersuchungen ist zu beobachten, daß sich die Aufmerksamkeit vom primären zum sekundären Narzißmus verlagert. Diese Entwicklung entspricht einer Umstellung der psychoanalytischen Theorie – von einer Beschäftigung mit dem Es zu einer Beschäftigung mit dem Ich – wie auch einem Wandel des Patiententypus, der psychiatrische Behandlung sucht. Der Übergang von der Triebpsychologie zur Ichpsychologie ist in der Tat zum Teil aus der Erkenntnis erwachsen, daß die Patienten, die sich in den vierziger und fünfziger Jahren dieses Jahrhunderts in Behandlung begaben, "nur sehr selten den klassischen Fällen von Neurose ähnelten, wie sie Freud so eingehend beschrieben hat". In den letzten fünfundzwanzig Jahren ist der Patient, der den Psychiater nicht mehr mit scharfumrissenen Symptomen, sondern mit diffusen Verstimmungen konfrontiert, immer häufiger geworden. Er leidet nicht mehr an aufreibenden Fixierungen oder Phobien oder an der Umwandlung verdrängter sexueller Energien in nervöse Störungen, statt dessen klagt er über "vage, diffuse Unzufriedenheit mit dem Leben" und empfindet "sein formloses Dasein als sinnlos und ohne Ziel". Er beschreibt das "subtile, doch alles durchdringende Erlebnis innerer Leere und Depression", "heftige Schwankungen seines Selbstwertgefühls" und eine "allgemeine Unfähigkeit, mit dem Leben zurechtzukommen". Eine "Erhöhung seines Selbstgefühls" gelingt ihm nur dadurch, "daß er sich an starke, bewunderte Gestalten anklammert, von denen er akzeptiert werden möchte und von denen er geliebt zu werden müssen glaubt". Auch wenn er seinen Alltagsverpflichtungen nachkommt und sich sogar auszeichnet, bleibt ihm das Erlebnis des Glücks versagt, und das Dasein erscheint ihm häufig nicht lebenswert.

Die Psychoanalyse, eine Therapieform, die aus dem Umgang mit moralisch starren Menschen hervorgegangen ist, die unter schweren Verdrängungen litten und mit einem strengen inneren "Zensor" fertig werden mußten, sieht sich heute mehr und mehr einem "chaotischen, impulsgetriebenen Charakter" gegenüber. Sie muß sich mit Patienten befassen, die ihre Konflikte "ausagieren", anstatt sie zu verdrängen oder zu subilmieren. Diese Menschen sind oft von gewinnendem Wesen, neigen jedoch dazu, in ihren emotionalen Beziehungen eine schützende Oberflächlichkeit zu kultivieren. Ihnen fehlt die Fähigkeit zu trauern, weil ihre so überaus starke Wut gegen verlorene Liebesobjekte, insbesondere gegen ihre Eltern, sie davor zurückhält, glückliche Erlebnisse erneut zu durchleben oder sie in der Erinnerung zu bewahren. Sexuell sind sie eigentlich eher promiskuös als gehemmt und doch finden sie es schwierig, "den sexuellen Impuls zu gestalten" oder dem Geschlechtlichen in einer spielerischen Haltung zu begegnen. Sie meiden enge Bindungen, die intensive Wutempfindungen freisetzen könnten. Ihre Persönlichkeit besteht weitgehend aus Abwehrmechanismen gegen diese Wut und gegen die Empfindung oraler Deprivation, die in der präödipalen Phase der seelischen Entwicklung ihren Ursprung haben.

Häufig leiden diese Patienten an Hypochondrie und klagen über ein Gefühl innerer Leere. Zugleich unterhalten sie Phantasien eigener Allmacht und die feste Überzeugung, andere ausbeuten zu dürfen und ein Recht auf die Erfüllung der eigenen Wünsche zu haben. Im Über-Ich dieser Patienten überwiegen archaische, strafende und sadistische Elemente, und sie fügen sich gesellschaftlichen Regeln mehr aus Angst vor Strafe als aus Schuldgefühlen. Sie erleben ihre eigenen, mit Wutregungen versehenen Sehnsüchte und Bedürfnisse als äußerst gefährlich und errichten Abwehrmechanismen dagegen, die ebenso primitiv sind wie die Wünsche, die sie zu ersticken suchen.

Im Sinne des Grundsatzes, daß alles Pathologische nur eine ausgeprägtere Version des Normalen darstellt, könnte der "pathologische Narzißmus", wie er bei Charakterstörungen dieses Typs anzutreffen ist, einiges zum Verständnis des Narzißmus als eines sozialen Phänomens beitragen. Untersuchungen von Persönlichkeitsstörungen, die an der Grenze zwischen Neurose und Psychose liegen, sind zwar ausschließlich für Fachpsychiater und ohne jeden Anspruch auf die Klärung gesellschaftlicher oder kultureller Probleme geschrieben, zeichnen aber einen Persönlichkeitstyp, der, wenn auch in abgeschwächter Form, von Beobachtern der zeitgenössischen kulturellen Szene sofort wiedererkannt werden müßte: es fällt diesem Typus leicht, auf andere Eindruck zu machen; er giert nach Bewunderung, verachtet aber alle, die er dazu bewegen kann, ihm Bewunderung zu zollen; er ist unersättlich in seinem Hunger nach Gefühlserlebnissen, mit denen sich die innere Leere füllen ließe; und er ist geängstigt von Alter und Tod.

Die überzeugendsten Versuche, die psychischen Ursprünge dieses Syndroms zu erklären, beziehen sich auf die theoretische Tradition, die Melanie Klein begründet hat. In ihrer psychoanalytischen Forschungsarbeit mit Kindern entdeckte Melanie Klein, daß frühe Empfindungen überwältigender Wut, die sich in erster Linie gegen die Mutter und in zweiter gegen die verinnerlichte Imago der Mutter als eines raubgierigen Ungeheuers richten, es dem Kind unmöglich machen, "gute" und "böse" Elterimagines zusammenzufügen. In seiner Angst vor der Aggression seitens der bösen Eltern – Projektionen seiner eigenen Wut – idealisiert es die guten Eltern, die ihm zu Hilfe kommen.
Verinnerlichte Imagines anderer Menschen, die in frühester Jugend im Unbewußten gespeichert werden, werden auch zu Bildern vom eigenen Selbst. Wenn die archaischen Phantasien des Kindes über seine Eltern nicht durch spätere Erlebnisse oder realistische Vorstellungen modifiziert werden, hat es Schwierigkeiten, zwischen Imagines des Ich und Imagines der Objekte außerhalb des Ich zu unterscheiden. Diese Bilder verschmelzen in einer Abwehr gegen die bösen Repräsentanzen des Ichs und der Objekte, die in ähnlicher Weise in Gestalt eines strengen, strafenden Über-Ichs verschmolzen sind. Melanie Klein analysierte einen zehnjährigen Jungen, der seine Mutter unbewußt für einen "Vampir" oder "schrecklichen Vogel" hielt und diese Angst als Hypochondrie verinnerlichte. Er befürchtete, daß die bösen Repräsentanzen in ihm die guten verschlingen würden. Die scharfe Trennung von guten und bösen Bildern der Ich- und Objektimagines erwuchs aus der Unfähigkeit des Jungen, Ambivalenz oder Angst zu ertragen. Weil seine Wut überaus intensiv war, konnte er sich nicht eingestehen, daß er gegen die, die er liebte, aggressive Gefühle hegte. "Angst- und Schuldregungen in bezug auf seine destruktiven Phantasien prägten sein gesamtes Gefühlsleben."

Ein Kind, das sich durch seine eigenen aggressiven Regungen – die, auf andere projiziert, dann wieder als innere "Ungeheuer" internalisiert werden – so schwer bedroht fühlt, versucht seine Neid- und Wuterlebnisse mit Phantasien von Reichtum, Schönheit und Allmacht zu kompensieren. Diese Phantasien werden, im Verein mit den verinnerlichten Imagines der guten Eltern, mit denen es sich zu verteidigen sucht, zum Kern einer "grandiosen Konzeption des Ich". Eine Art "blinder Optimismus" – so Otto Kernberg – schützt das narzißtische Kind vor den Gefahren in ihm und um sich herum, insbesondere vor der Abhängigkeit von anderen, die ausnahmslos für unzuverlässig gehalten werden.

Die unablässige Projektion der "total bösen" Selbst- und Objektimagines schafft eine Welt gefährlicher, bedrohlicher Objekte, gegen die die Imagines des "nur guten" Selbst defensiv eingesetzt und megalomanische, ideale Selbstbilder aufgebaut werden.

Die Abspaltung der durch aggressive Gefühle bestimmten Imagines von den aus libidinösen Impulsen abgeleiteten Imagines macht es dem Kind unmöglich, seine eigene Aggression zuzugeben, Schuldgefühle oder Sorge um mit Aggression und Libido zugleich besetzte Objekte zu erleben oder um Verluste zu trauern. Die Depression nimmt bei narzißtischen Patienten nicht die Form von Trauer mit einer Beimischung von Schuldgefühlen an, wie sie Freud in Trauer und Melancholie beschrieben hat, sondern von ohnmächtiger Wut und "Gefühlen der Niederlage durch externe Kräfte".

Weil die innerseelische Welt dieser Patienten so dürftig und leer ist – sie besteht laut Kernberg nur aus dem "grandiosen Selbst", den "entwerteten, schattenhaften Imagines vom Ich und von anderen sowie den "potentiellen Verfolgern" –, empfinden sie ein intensives Gefühl von Leere und fehlender Authentizität. Wenn der Narzißt auch im Alltagsleben durchaus bestehen kann und andere Menschen oft sogar bezaubert (nicht zuletzt mit seiner "Pseudoeinsicht in die eigene Persönlichkeit"), so verarmt sein persönliches Leben doch durch die Abwertung der Mitmenschen und dem Mangel an Neugier ihnen gegenüber, wodurch die "subjektive Erfahrung von Leere" bestärkt wird. Da es ihm an jeder wirklichen geistigen Auseinandersetzung mit der Welt fehlt – ungeachtet einer häufig bombastischen Überschätzung der eigenen intellektuellen Fähigkeiten –, hat er wenig Sublimierungsmöglichkeiten. Er bleibt deshalb von anderen abhängig, deren Bewunderung und Anerkennung er unentwegt braucht. Er "muß [sich] an jemanden anklammern und eine geradezu parasitische Existenz" führen. Gleichzeitig läßt seine Angst vor emotionaler Abhängigkeit, zusammen mit seiner manipulativen, ausbeuterischen Handhabung persönlicher Beziehungen, diese Beziehungen glatt, oberflächlich und zutiefst unbefriedigend werden. "Die ideale Beziehung wäre für mich eine Zweimonatsbeziehung", sagte ein Patient. "Auf diese Weise würde es keinerlei Verpflichtungen geben. Nach Ablauf der beiden Monate würde ich das Verhältnis ganz einfach abbrechen."

Ewig gelangweilt, unentwegt auf der Suche nach Augenblicksintimität – nach emotionalen Reizen ohne Verstrickung und Abhängigkeit –, ist der Narzißt promiskuitiv und häufig sogar pansexuell, weil die Verschmelzung von prägenitalen und ödipalen Impulsen im Dienste der Aggression die polymorph-perverse Disposition begünstigt. Die verinnerlichten bösen Imagines halten ihn auch fortgesetzt in Sorge um seine Gesundheit, und die Hypochondrie ihrerseits läßt ihn wieder besonders anfällig werden für Therapie wie für die therapeutischen Gruppen und Bewegungen.

Als psychiatrischer Patient ist der Narzißt ein idealer Kandidat für eine Analyse ohne Ende. Denn in der Analyse sucht er eine Art Religion oder Existenzform, in der therapeutischen Beziehung einen externen Rückhalt für seine Phantasien von Omnipotenz und ewiger Jugend. Die Stärke seiner Abwehrmechanismen widersetzt sich jedoch hartnäckig einer erfolgreichen Analyse. Die Seichtigkeit seines Gefühlslebens hält ihn häufig davon ab, eine enge Beziehung zum Analytiker zu entwickeln, wenngleich er "seine intellektuelle Einsicht häufig dazu benutzt, dem Analytiker verbal zuzustimmen, und mit eigenen Worten wiederholt, was in vorhergehenden Sitzungen analysiert worden ist". Er bedient sich seines Intellekts, um auszuweichen, statt sich selbst zu entdecken, und greift dabei zu jenen Vernebelungstaktiken, wie sie auch in der autobiographischen Bekenntnisliteratur der letzten Jahrzehnte auftauchen.

Der Patient macht sich die analytische Deutung zu eigen, entzieht ihr aber umgehend jegliche Bedeutung und Kraft, so daß lediglich sinnentleerte Wörter übrigbleiben. Die Wörter betrachtet der Patient dann als seinen ureigensten Besitz, den er idealisiert und der ihm ein Gefühl von Überlegenheit verschafft.

Obgleich die Psychoanalytiker narzißtische Störungen nicht mehr für eigentlich unanalysierbar halten, äußern sich doch nur wenige optimistisch zu den Erfolgsaussichten derartiger Analysen.

Diesen Versuch trotz der vielen Schwierigkeiten, die narzißtische Patienten bereiten, dennoch zu unternehmen, ist laut Kernberg wichtig, weil narzißtische Symptome so verheerende Auswirkungen auf die zweite Lebenshälfte der Betroffenen haben und ihnen dann mit Gewißheit entsetzliches Leiden verursachen. In einer Gesellschaft, die Alter und Tod fürchtet, bedroht das Alter Menschen, die Abhängigkeit scheuen und deren Selbstgefühl mit der Bewunderung steht und fällt, wie sie normalerweise der Jugend, der Schönheit, der Berühmtheit oder dem Zauber der Persönlichkeit entgegengebracht wird, mit besonderem Schrecken. Die gewöhnlichen Lebenshilfen gegen die Verwüstungen des Alters – die Identifizierung mit moralischen oder künstlerischen Werten, die über die unmittelbaren Eigeninteressen hinausgehen, geistige Neugier, die tröstliche emotionale Wärme, die aus glücklichen persönlichen Beziehungen in der Vergangenheit gewonnen wird – können dem Narzißten nichts nützen. Er ist ja unfähig zu erleben, was an Zuspruch aus der Identifizierung mit der historischen Kontinuität erwachsen kann; im Gegenteil, er vermag einfach nicht die Tatsache zu akzeptieren, daß jetzt eine jüngere Generation viele der früher hochgeschätzten Annehmlichkeiten von Jugend, Reichtum, Macht und insbesondere Kreativität genießt. Das Leben positiv als einen Prozeß zu erleben, der eine wachsende Identifizierung mit dem Glück und den Leistungen anderer Menschen mit sich bringt, liegt in tragischer Weise außerhalb des Vermögens narzißtischer Persönlichkeiten.

Gesellschaftliche Einflüsse

Jede Epoche entwickelt ihre eigenen, besonderen Krankheitsbilder, die in übertriebener Form die zugrundeliegende Charakterstruktur zum Ausdruck bringen. Zu Zeiten Freuds steigerten Hysterie und Zwangsneurosen jene Charakterzüge ins Extrem, die mit der kapitalistischen Gesellschaftsordnung in einer früheren Phase ihrer Entwicklung verbunden waren – Habsucht, fanatischer Arbeitseifer und eine harte Unterdrückung der Sexualität. In unseren Tagen haben neben der Schizophrenie die präschizophrenen Borderline- oder Persönlichkeitsstörungen zunehmend die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt. Dieser "Wandel der Neurosenformen ist seit dem Zweiten Weltkrieg von einer ständig wachsenden Zahl von Psychiatern beobachtet und beschrieben worden". Laut Peter L. Giovacchini "sehen sich die Kliniker mit einer allem Anschein nach steigenden Zahl von Patienten konfrontiert, die nicht in die geläufigen diagnostischen Kategorien passen" und nicht an "abgrenzbaren Symptomen", sondern an "vagen, ungenau erfaßten Beschwerden" leiden. "Wenn ich auf ›diesen Patiententypus‹ Bezug nehme", schreibt er, "weiß praktisch jeder, wovon die Rede ist." Die wachsende Bedeutung von "Charakterstörungen" scheint einen grundlegenden Wandel der Persönlichkeitsstruktur anzuzeigen – von der sogenannten innengeleiteten zur narzißtischen Persönlichkeit.

Allen Wheelis erklärte im Jahre 1958, daß ältere Psychoanalytiker den Wandel der Neuroseformen noch in ihrer Praxis erlebt hätten, während die jüngeren "sich seiner anhand der Diskrepanz bewußt werden, die zwischen den älteren Neurosenbeschreibungen und den Problemen besteht, mit denen die Patienten täglich zu ihnen kommen. Da hat ein Wandel von Symptomneurosen zu Charakterstörungen stattgefunden". Heinz Lichtenstein, der die weitere Behauptung, dieser Wandel reflektiere eine Veränderung der Persönlichkeitsstruktur, in Abrede stellt, bemerkte 1963 nichtsdestoweniger, daß der "Wandel der Neuroseformen" bereits eine "bekannte Tatsache" sei. In den siebziger Jahren sind derartige Feststellungen immer häufiger geworden. "Es ist kein Zufall", schreibt Herbert Hendin, "daß die wichtigsten Ereignisse in der Psychoanalyse zur Zeit die Wiederentdeckung des Narzißmus und die Beachtung der psychologischen Bedeutung des Todes sind." Und Michael Beldoch notiert:

Was die Hysterie und die Zwangsneurosen ... zu Beginn dieses Jahrhunderts für Freud und seine frühen Kollegen waren, sind für den praktischen Analytiker der letzten Jahrzehnte vor der Jahrtausendwende die narzißtischen Störungen. Die heutigen Patienten leiden im großen und ganzen nicht an hysterischen Paralysen der Beine oder an Waschzwängen; statt dessen ist bei ihnen das psychische Ich empfindungslos geworden, das müssen sie immer wieder bürsten, in einem endlosen, erschöpfenden Mühen, sauber zu werden.

Diese Patienten klagen über das "allesbeherrschende Gefühl von Leere und eine tiefe Störung ihrer Selbstachtung". Auch Burness E. Moore weist darauf hin, daß narzißtische Störungen immer häufiger werden. Laut Sheldon Bach "sah man früher in den Sprechstunden Menschen mit Waschzwängen, Phobien und den vertrauten Neurosen. Heute sind es meistens Narzißten." Gilbert J. Rose behauptet, daß der psychoanalytische Standpunkt, wie er "auf unangemessene Weise aus der analytischen Praxis aufs Alltagsleben übertragen worden ist", zur "globalen Permissivität" [Freizügigkeit] und zur "übermäßigen Triebdomestikation" beigetragen hat, die ihrerseits wieder mit dem Ausufern "narzißtischer Identitätsstörungen" zu tun haben. Joel Kovel zufolge ist durch die Stimulierung infantiler Sehnsüchte durch die Werbung, die Übernahme der väterlichen Autorität durch Schule und Massenmedien und die Rationalisierung des Innenlebens, im Verein mit falschen Versprechungen einer Erfüllung persönlicher Glückserwartungen, ein neuer Typus des "gesellschaftlichen Individuums" entstanden.

Das Ergebnis ist keine der klassischen Neurosen, bei denen ein infantiler Impuls durch die väterliche Autorität erstickt wird, sondern eine moderne Variante, in der ein Impuls angeregt und pervertiert wird, ohne ein angemessenes Objekt, an dem er sich befriedigen könnte, noch zusammenhängende Kontrollmöglichkeiten zu erhalten ... Der ganze Komplex, der sich eher in einem Umfeld von Entfremdung als von direkter Kontrolle abspielt, büßt die klassische Form des Symptoms ein – und die klassische therapeutische Möglichkeit, einen Impuls einfach wieder ins Bewußtsein zu rufen und so wiederherzustellen.

Das konstatierte Anwachsen der Zahl narzißtischer Patienten muß nicht zwangsläufig bedeuten, daß narzißtische Störungen heute in der Gesamtbevölkerung verbreiteter sind als früher oder daß sie häufiger auftreten als die klassischen Konversionsneurosen. Sie finden vielleicht einfach schneller die Beachtung der Psychiater. IIza Veith meint,
... mit dem wachsenden Gespür für Konversionsreaktionen und mit der Popularisierung psychoanalytischer Literatur sind die "altmodischen" somatischen Ausdrucksformen von Hysterie in den gebildeteren Schichten suspekt geworden und dementsprechend beobachten die meisten Ärzte, daß offensichtliche Konversionssymptome heute selten anzutreffen sind, und wenn überhaupt, dann bei den Ungebildeten.

Weil Charakterstörungen in der neueren klinischen Literatur eine so große Aufmerksamkeit geschenkt wird, sind die Psychiater wohl auch hellhöriger für ihr Auftreten geworden. Das schmälert die Bedeutung der Tatsache, daß Psychiater ein Überhandnehmen des Narzißmus feststellen, jedoch keineswegs, zumal diese Beobachtung zur gleichen Zeit gemacht wird, als Journalisten über den neuen Narzißmus und den verhängnisvollen Trend jener Selbstbezogenheit Vermutungen anzustellen beginnen. Der Narzißt fällt den Psychiatern teilweise aus denselben Gründen auf, die ihn in der Bewußtwerdungsbewegung und anderen Trends wie in Konzernen, politischen Organisationen und staatlichen Bürokratien zu Ansehen und hohen Positionen kommen lassen. Denn trotz seines inneren Leidens besitzt der Narzißt viele Eigenschaften, die in bürokratischen Institutionen zum Erfolg führen, welche die Manipulation zwischenmenschlicher Beziehungen fördern, die Bildung tieferer persönlicher Bindungen hemmen und dem Narzißten die Anerkennung bieten, deren er zur Bestätigung seines Selbstgefühls bedarf. Wenn er sich auch Therapien zuwenden mag, die Sinngebung und Überwindung der inneren Leere verheißen, so kann der Narzißt im Berufsleben doch häufig bemerkenswerte Erfolge verbuchen. Es fällt ihm leicht, persönlich Eindruck zu machen, und seine meisterhafte Fähigkeit, die Feinheiten der Selbstdarstellung zu handhaben, kommt ihm in politischen und wirtschaftlichen Organisationen zustatten, in denen Leistung inzwischen weniger zählt als "Präsenz", "Schwung" und persönliches Erfolgsimage. Da das loyale Unternehmensmitglied – der Typus des "corporation man" – von dem bürokratischen "Spielmacher" verdrängt und im amerikanischen Wirtschaftsleben die Loyalitätsepoche abgelöst wird vom Zeitalter der "Manager und ihrer Erfolgsspiele", kommt der Narzißt zum Zuge.

In einer Untersuchung über 250 Manager in zwölf Großbetrieben beschreibt Michael Maccoby – und zwar durchaus nicht ohne Zustimmung – den heutigen leitenden Angestellten als Typus, der mehr mit Menschen als sachbezogen arbeitet und nicht ein Imperium zu errichten oder Reichtum zu häufen sucht, sondern bestrebt ist, "das aufregende Gefühl zu erleben, seine Mannschaft zu führen und Siege davonzutragen". Er will "als Sieger gelten, seine größte Befürchtung ist, als Verlierer etikettiert zu werden." Anstatt sich an einer sachlichen Aufgabe zu messen oder einem Problem zu stellen, das gelöst werden muß, sieht er sich im Kampf mit Kollegen, und zwar "aus dem Bedürfnis zu herrschen". Wie ein neueres Handbuch für Nachwuchsmanager es formuliert, bedeutet Erfolg haben heute "nicht einfach vorwärtskommen", sondern "weiter kommen als andere". Der neue leitende Angestellte – ein jungenhafter, verspielter und "anziehender" Typ, – will sich laut Michael Maccoby "die Illusion einer unbegrenzten persönlichen Entscheidungsfreiheit aufrechterhalten". Er hat wenig Begabung zu "persönlicher Vertraulichkeit und sozialer Verpflichtung". Er bringt nicht einmal dem Unternehmen, für das er arbeitet, allzuviel Loyalität entgegen. Ein solcher Manager hat erklärt, für ihn sei Macht gleichbedeutend damit, "von der Unternehmensleitung nicht herumkommandiert zu werden". Auf seinem Weg nach oben pflegt dieser Mensch einflußreiche Großkunden und versucht, sie gegen sein eigenes Unternehmen auszuspielen. "Man braucht einen sehr, sehr wichtigen Klienten", so seine Berechnungen, "der vom Unternehmen immer neue Änderungen verlangt. So gewinnt man im eigenen Hause wie beim Klienten ganz automatisch Macht. Ich will mir alle Möglichkeiten offenhalten." Ein Managementprofessor pflichtet dieser Taktik bei. "Eine übermäßige Identifizierung mit dem Unternehmen" stattet seines Erachtens "eine Firma mit enormer Macht über die Karrieren und Geschicke" aus. Je größer das Unternehmen, desto wichtiger hält er es für leitende Angestellte, "ihre Laufbahn nach Maßgabe ihrer eigenen ... freien Entschlüsse zu gestalten" und "sich den weitesten Bereich denkbarer Optionen offenzuhalten".

Laut Maccoby ist der neue Typ des Managers "aufgeschlossen für neue Ideen, jedoch ohne Überzeugungen". Er wird mit jedem staatlichen Regime Geschäfte machen, selbst wenn er dessen politische Prinzipien mißbilligt. Unabhängiger und findiger als der firmenloyale Typus des company man, versucht er, das Unternehmen für seine eigenen Zwecke zu nutzen, weil er fürchtet, sonst "vom Unternehmen völlig entmannt" zu werden. Er meidet Freundschaft und persönliche Beziehungen, die er als Falle empfindet, und zieht die "erregende, sexgeladene Atmosphäre" vor, mit der der moderne leitende Angestellte sich bei der Arbeit zu umgeben liebt, "wo bewundernde Sekretärinnen in Miniröcken ständig mit ihm flirten". In allen seinen persönlichen Beziehungen bleibt der Manager, der seine Aufgabe als Sport und die Erfüllung seiner Arbeit als Sieg über andere versteht, davon abhängig, anderen Angst oder Bewunderung einzuflößen, damit sie ihn als Sieger bestätigen. Je älter er wird, desto schwieriger wird es für ihn, die Art von Aufmerksamkeit zu erregen, auf die er baut. Er erreicht eine Stufe, über die er in seinem Beruf nicht mehr hinauskommt, vielleicht deshalb, weil die allerhöchsten Funktionen laut Maccoby noch immer "denen zufallen, die sich als fähig erweisen, ihrem jugendlichen Rebellentum zu entsagen und sich letztlich in gewissem Grade zu treuen Anhängern des Unternehmens entwickeln". Der Job beginnt für ihn seinen Reiz zu verlieren. An fachlichem Können wenig interessiert, findet der leitende Angestellte neuen Stils wenig Gefallen an dem, was er erreicht hat, sobald er den jugendlichen Charme zu verlieren beginnt, auf dem es beruhte. Die mittleren Lebensjahre treffen ihn mit der Gewalt einer Naturkatastrophe:

Wenn seine Jugend, seine Vitalität und sogar der Kitzel des Gewissens dahin sind, wird er deprimiert und ziellos und zweifelt am Sinn seines Lebens. Da er nicht mehr vom Mannschaftskampf angespornt wird und nichts hat – außer sich selbst –, an das er glaubt und dem er sich widmen könnte ... sieht er sich plötzlich mutterseelenallein.

Bei der Häufigkeit dieses Karriereschemas überrascht es wenig, daß die Populärpsychologie so oft auf die "Krise der mittleren Lebensjahre" zurückkommt und Mittel und Wege diskutiert, ihr zu begegnen.

Da fragt eine Frau in Wilfrid Sheeds Roman Office Politics: "Bei den Problemen zwischen Mr. Fine und Mr. Tyler geht es um wichtige Dinge, nicht wahr?" Doch ihr Mann antwortet, daß es eigentlich nur um Belanglosigkeiten gehe, "in Wirklichkeit geht es da ums liebe Ego".

In seiner Managementstudie, die das Ende des firmenorientierten Managers und den Beginn einer neuen "Ära der Mobilität" vermerkt, betont Eugene Emerson Jennings, daß im Wirtschaftsleben "Mobilität mehr bedeutet als bloße berufliche Leistung". Was zählt, ist "Stil ... glanzvolle Selbstdarstellung ... die Fähigkeit, nahezu alles tun und aussprechen zu können, ohne sich andere zu Feinden zu machen". Der wendige leitende Angestellte auf dem Weg nach oben, so Jennings, versteht die Leute um sich herum zu nehmen – den "Sitzenbleiber", der unter "gebremster Mobilität" leidet und anderen den Erfolg neidet; den "Schnellkapierer"; den "mobilen Vorgesetzten". Der "mobilitätsbewußte leitende Angestellte" hat gelernt, "die Machtverhältnisse in seinem Betrieb zu entziffern" und "auch noch die versteckten und verschwiegenen Seiten seiner Vorgesetzten wahrzunehmen, insbesondere ihre Geltung bei Gleich- und Höhergestellten". Er "kann aus einem Minimum von Hinweisen schließen, wer in den Zentren der Macht sitzt, und ist bemüht, für diese Leute in hohem Maße präsent zu sein und bei ihnen aufzufallen. Er arbeitet mit dem größten Eifer darauf hin, bei ihnen etwas zu gelten, und nutzt jede Gelegenheit, von ihnen zu lernen. Er nutzt seine Chancen im gesellschaftlichen Leben, um die Männer einzuschätzen, die in der Wirtschaftswelt Gunst und Einfluß zu vergeben haben".

Jennings vergleicht die "Erfolgsspiele" der leitenden Angestellten fortgesetzt mit sportlichen Wettkämpfen oder einer Schachpartie und tut damit so, als sei die inhaltliche Seite des Managertums für den Erfolg so unwesentlich und willkürlich wie die Aufgabe, einen Ball ins Netz zu schießen oder Figuren auf einem Schachbrett hin- und herzurücken. Nie erwähnt er die gesellschaftlichen und ökonomischen Auswirkungen von Managemententscheidungen oder die Macht, die Manager gesamtgesellschaftlich ausüben. Für den karriereorientierten Konzernmanager bedeutet Macht nicht Geld und Einfluß; er sieht sie vielmehr als bewegende Kraft", als "Erfolgsimage" und in der Reputation, ein Sieger und Gewinner zu sein. Macht ist also eine Frage des Eindrucks, den man macht und hat folglich überhaupt keinen objektiven Bezug.

Die Weltanschauung des Managers, wie sie von Jennings, Maccoby und von Managern selbst beschrieben wird, ist die des Narzißten, der die Welt als Spiegel seiner selbst sieht und an den Geschehnissen in der Außenwelt nur insoweit Interesse hat, wie sie sein eigenes Image reflektieren. Die starre personalbestimmte und vorgesehene Umwelt der modernen Bürokratie, in der Arbeit eine abstrakte Qualität annimmt, die nahezu gänzlich von Leistung getrennt ist, fördert bereits von vornherein narzißtische Einstellungen, die zudem noch häufig prämiert werden. Die Bürokratie ist jedoch nur ein Aspekt eines ganzen Bündels von gesellschaftlichen Einflußfaktoren, die eine narzißtische Persönlichkeitsstruktur immer stärker hervortreten läßt.

Ein weiterer derartiger Einflußfaktor ist die technische Reproduzierbarkeit der Kultur, das Wuchern der visuellen und auditiven Bilder, die unsere Gesellschaft zur "Gesellschaft der Show" gemacht haben. Wir leben in einem Wirbel von Bildern und Echos, die das Erleben anhalten und im Zeitlupentempo zurückspielen. Kameras und Tonbandgeräte kopieren Erlebnisse nicht nur, sondern verändern sie auch qualitativ, indem sie der modernen Lebenswelt weitgehend den Charakter eines riesigen Echoraumes oder Spiegelsaales verliehen haben. Das Leben stellt sich als Abfolge von Bildern oder elektronischen Signalen dar, von Eindrücken, die mit den Mitteln der Fotografie, des Films, des Fernsehens und raffinierter Tonapparaturen aufgenommen und reproduziert werden. Das moderne Leben wird in einem so umfassenden Sinne durch elektronische Bilder vermittelt, daß wir gar nicht umhin können, auf Mitmenschen so zu reagieren, als ob ihre Handlungen – wie die unsrigen auch – aufgezeichnet und gleichzeitig einem unsichtbaren Publikum übermittelt oder zur späteren genauen Überprüfung archiviert würden. "Versteckte Kamera, bitte recht freundlich!" Das Eindringen dieses alles wahrnehmenden Auges in unser Alltagsleben trifft uns nicht einmal mehr unerwartet und ohne Vorbereitung. Es bedarf gar nicht mehr der Ermahnung, zu lächeln. Unsere Gesichtszüge sind von einem Dauerlächeln geprägt, und wir wissen schon, aus welchem Blickwinkel sie sich am vorteilhaftesten fotografieren lassen.
Die stetige Zunahme konservierter Bilder untergräbt unseren Realitätssinn. Wie Susan Sontag in ihrem Essay über die Fotografie bemerkt hat, hat sich "die Realität immer mehr dem angeglichen, was uns Kameras von ihr zeigen". Wir mißtrauen unseren Wahrnehmungen so lange, bis die Kamera sie verifiziert hat. Fotografische Abbilder liefern uns den Beweis unserer Existenz, ohne den wir es sogar als schwierig empfinden würden, unsere persönliche Geschichte zu rekonstruieren. Im 18. und 19. Jahrhundert, so Susan Sontag, stellten sich bürgerliche Familien für Porträts in Pose, um den gesellschaftlichen Status der Familie zu demonstrieren, während das heutige Familienalbum lediglich die Existenz des Individuums beglaubigt: dieser dokumentarische Bericht über seine Entwicklung von Kindesbeinen an gibt ihm das einzige Beweismaterial für sein Leben an die Hand, das er uneingeschränkt anerkennt. Unter den vielen "narzißtischen Verwendungsmöglichkeiten", die Susan Sontag der Kamera einräumt, ist die "Selbst-Überwachung" eine der wichtigsten, nicht nur, weil sie die technischen Hilfsmittel für unaufhörliche Selbstprüfung bereitstellt, sondern auch, weil sie das eigene Selbstgefühl vom Konsum von Bildern dieses Selbst abhängig macht und gleichzeitig die Realität der Außenwelt in Frage stellt.

Indem die Kamera Bilder aus verschiedenen Entwicklungsstadien erhält, trägt sie dazu bei, die ältere Auffassung von Entwicklung als moralischer Erziehung abzuschwächen und eine passivere Auffassung zu fördern, derzufolge die Entwicklung aus dem Durchlaufen der Lebensphasen zur richtigen Zeit und in der richtigen Reihenfolge besteht. Die gegenwärtige Faszination für das Phänomen der Lebenszyklen veranschaulicht die Vorstellung, daß Erfolg im politischen oder beruflichen Leben vom plangerechten Erreichen bestimmter Ziele abhängt; sie belegt aber auch, mit welcher Leichtigkeit diese Entwicklung elektronisch aufgezeichnet werden kann.

Das bringt uns zu einem anderen kulturellen Wandel, der eine weitverbreitete narzißtische Reaktion auslöst und sie in diesem Fall sogar philosophisch rechtfertigt: das Aufkommen eines Therapiedenkens, das einen normativen Ablauf der psychosozialen Entwicklung des Menschen behauptet und damit zusätzlich Anlaß zu ängstlicher Selbstprüfung bietet. Das Ideal von Entwicklungsnormen bringt die Angst hervor, daß jede Normabweichung pathologische Ursachen hat. Die Ärzte haben die regelmäßige Generaluntersuchung – eine Untersuchung, die wiederum mit Kameras und anderen Aufzeichnungsinstrumenten durchgeführt wird – eingeführt und ihren Patienten die Vorstellung eingepflanzt, daß die Gesundheit von ewiger Wachsamkeit und der Frühentdeckung von Krankheiten abhängt, wie die medizinische Technologie sie erfaßt. Der Patient fühlt sich erst wieder sicher, wenn seine Röntgenbilder ihm einen "klaren Gesundheitsbefund" bestätigen.

Medizin und Psychiatrie – ganz allgemein die therapeutische Orientierung und Sensibilität, die in der modernen Gesellschaft um sich greift – verstärken das von anderen kulturellen Einflüssen geschaffene Verhaltensmuster; das Individuum prüft sich unentwegt, ob es bei ihm Anzeichen von Alter und Krankheit, verräterischen Symptomen von seelischem Streß, Makel und Mängel gibt, die seine Anziehungskraft mindern könnten; oder ob sich umgekehrt beruhigende Hinweise erkennen lassen, daß sein Leben programmgemäß verläuft. Die moderne Medizin hat die Seuchen und Epidemien besiegt, die das Leben früher gefährdeten, nur um neue Arten von Unsicherheit zu schaffen. So hat auch die Bürokratie das Leben vorhersehbar und sogar langweilig gemacht, gleichzeitig jedoch in neuer Form den Krieg aller gegen alle wiederaufleben lassen. Unsere überorganisierte Gesellschaft, in der Großorganisationen vorherrschen, die aber ihre Mitglieder nicht mehr zu Treue und Ergebenheit bewegen können, erreicht in mancher Hinsicht einen höheren Grad von allgemeiner Feindseligkeit und Verfeindung als der primitive Kapitalismus, nach dessen Vorbild Hobbes seinen Naturrechtsstaat entwarf. Die heutigen gesellschaftlichen Lebensbedingungen begünstigen eine Überlebensmentalität, wie sie in ihrer krudesten Form in Katastrophenfilmen oder Weltraumphantasien zum Ausdruck kommt, die dem Zuschauer die Flucht von einem dem Untergang geweihten Planeten miterleben lassen. Die Menschen träumen nicht mehr davon, Schwierigkeiten zu überwinden, sondern sie nur zu überleben. Im Geschäftsleben dreht sich, laut Jennings, "alles ums emotionale Überleben" – darum, die eigene Identität, das eigene Ich zu bewahren oder zu steigern". Die Vorstellung von Entwicklungsphasen als Normen läßt das Leben als Hindernisrennen erscheinen: das Ziel besteht schlicht darin, das Rennen mit einem Minimum an Mühen und Mißlichkeiten hinter sich zu bringen. Die Fähigkeit, für sich zu manipulieren, was Gail Sheehy mit einer medizinischen Metapher als "Lebensstütz-Systeme" bezeichnet, scheint heute die höchste Form von Weisheit zu repräsentieren: als das Wissen, das, wie sie es ausdrückt, uns ohne Panik durchkommen läßt. Wer sich Sheehys "furchtlose Einstellung gegenüber dem Altern" und den Traum des Lebenszyklus erfolgreich zu eigen macht, kann, mit den Worten eines ihrer Interviewpartner, auch von sich sagen: "Ich weiß, daß ich überleben kann ... Ich verliere nicht mehr den Kopf." Eine besonders hohe Form von Zufriedenheit ist das kaum. "Die gegenwärtige Lebensphilosophie", schreibt Sheehy, "ist offenbar eine Mischung aus Überlebenstechnik, Erweckungsbewegung und Zynismus"; doch ihr äußerst erfolgreicher Leitfaden für die "vorhersehbaren Krisen des Erwachsenenlebens" mit seiner oberflächlich-optimistischen Betonung von Wachstum, Entwicklung und "Selbstverwirklichung" geht keineswegs gegen diese Lebensphilosophie an, sondern formuliert sie lediglich humanistischer um. "Wachstum" ist dabei zu einem Euphemismus für Überleben geworden.

Die Weltsicht des Resignierten

Neue gesellschaftliche Formen verlangen neue Existenzweisen, neue Sozialisationsweisen und neue Arten der Erfahrungsbewältigung. Der Narzißmusbegriff gibt uns keinen vorgefertigten psychologischen Determinismus an die Hand, öffnet aber einen Weg, die psychologischen Auswirkungen der jüngsten gesellschaftlichen Veränderungen zu verstehen – immer vorausgesetzt, daß wir uns nicht nur seinen klinischen Ursprung bewußt halten, sondern auch den gleitenden Übergang zwischen Normalität und Pathologie. Mit anderen Worten: Er ermöglicht uns ein relativ genaues Porträt der "emanzipierten" Persönlichkeit unserer Tage, mit ihrem Charme, ihrer Pseudoeinsicht in die eigene Verfassung, ihrer promiskuitiven Pansexualität, ihrer Faszination für oralen Sex, ihrer Angst vor der kastrierenden Mutter (Mrs. Portnoy), ihrer Hypochondrie, ihrer defensiven Oberflächlichkeit, ihrer Vermeidung von Abhängigkeiten, ihrer Unfähigkeit zu trauern und ihrer Angst vor Alter und Tod.

Der Narzißmus scheint praktisch die beste Art und Weise zu sein, sich den Spannungen und Ängsten des modernen Lebens gewachsen zu zeigen, und die herrschenden gesellschaftlichen Umstände bringen deshalb die narzißtischen Charaktereigenschaften deutlich zum Vorschein, die in unterschiedlichem Grade bei jedem einzelnen anzutreffen sind. Von einer Gesellschaft, die fürchtet, daß sie keine Zukunft hat, steht nicht zu erwarten, daß sie den Bedürfnissen der nächsten Generation allzuviel Aufmerksamkeit schenkt, und das allgegenwärtige Gefühl mangelnder historischer Kontinuität – der Fluch unserer Gesellschaft – befällt mit besonders verheerenden Auswirkungen die Familie. Daß moderne Eltern sich anstrengen, ihren Kindern das Gefühl zu vermitteln, erwünscht und geliebt zu sein, vermag die innere Kälte kaum zu verbergen – die Ferne derer, die der kommenden Generation wenig zu überliefern haben und jedenfalls den Anspruch auf Selbsterfüllung voranstellen. Die Kombination von emotionaler Distanzierung und Versuchen, ein Kind von seiner Vorzugsstellung innerhalb der Familie zu überzeugen, ist ein gutes Rezept für die Entwicklung einer narzißtischen Persönlichkeitsstruktur.

Über die Familie reproduzieren sich gesellschaftliche Strukturen in der Einzelpersönlichkeit. Gesellschaftsverhältnisse leben im Individuum weiter und werden tief unterhalb der Bewußtseinsschwelle gespeichert, wo sie sogar noch überdauern, wenn sie objektiv unerwünscht und überflüssig geworden sind, wie es anerkanntermaßen bei vielen unserer gegenwärtigen Umstände der Fall ist. Die Wahrnehmung der Welt als eines gefährlichen und abschreckenden Orts, wenn sie auch einem realistischen Bewußtsein der Unsicherheit des zeitgenössischen Gesellschaftslebens entspringt, wird durch die narzißtische Projektion aggressiver Impulse nach außen bestärkt. Und wenngleich der Glaube, es gebe für die Gesellschaft keine Zukunft, auf einer gewissen realistischen Einschätzung der zukünftigen Gefahren beruht, so wohnt ihm doch auch die narzißtische Unfähigkeit inne, sich mit der Nachwelt zu identifizieren oder sich als Teil der Geschichte zu empfinden.

Die Lockerung der sozialen Bindungen, die ihren Ursprung im herrschenden gesellschaftlichen Kriegszustand hat, spiegelt zugleich eine narzißtische Abwehr von Abhängigkeit. Eine kriegerisch-feindselige Gesellschaft neigt dazu, Männer und Frauen hervorzubringen, die im Innersten antisozial sind. Es sollte deshalb nicht überraschen, daß der Narzißt, wenn er sich gesellschaftlichen Normen auch aus Angst vor Bestrafung anbequemt, sich und andere doch häufig als Außenseiter sieht, nämlich als "grundsätzlich unaufrichtig und unzuverlässig, oder aber zuverlässig nur aufgrund äußeren Drucks". "Außerdem sind narzißtische Persönlichkeiten in bezug auf ihre Werteinstellungen im allgemeinen bestechlich, sehr im Gegensatz zur starken Moral des Zwangscharakters", schreibt Kernberg.

Daß Selbsterhaltung und psychisches Überleben so starke Motive sind, liegt also nicht nur an objektiven Bedingungen des wirtschaftlichen Kampfes, einer wachsenden Kriminalität und des gesellschaftlichen Chaos, sondern auch an der subjektiven Erfahrung von Leere und Isolation. Es spiegelt die Überzeugung – die eine Projektion innerer Ängste ist und zugleich ein Erkennen der Dinge, wie sie wirklich sind –, daß Mißgunst und Ausbeutung sogar die intimsten Beziehungen beherrschen. Daß persönliche Beziehungen so wichtig genommen werden – und um so wichtiger, je geringer die Hoffnung auf politische Lösungen werden –, verbirgt nur die gründliche Enttäuschung mit persönlichen Beziehungen, so wie die modische Überbetonung der Sinnlichkeit ein Verleugnen des Sinnlichen (außer in seinen primitivsten Formen) impliziert. Und die Lehre vom persönlichen Wachstum, die oberflächlich optimistisch wirkt, zeigt eine tiefe Verzweiflung und Resignation.

...

Die Banalität des Pseudo-Selbstbewußtseins: Politisches Theater und Alltagsleben

Der Tod des Gewissens ist nicht der Tod des Selbstbewußtseins.96

Harry Crosby

Die Gebrauchsgüterwerbung

Im industriellen Frühkapitalismus sahen die Arbeitgeber im Arbeiter wenig mehr als ein Lasttier – "einen Menschen von der Art des Ochsen", so der Effektivitätsexperte Frederick W. Taylor. Die Kapitalisten betrachteten den Arbeiter ausschließlich als Produzenten; was er in der Freizeit machte, jenem Minimum von freier Zeit, das ihm nach zwölf oder vierzehn Stunden Fabrikarbeit blieb, interessierte nicht. Die Arbeitgeber versuchten das Leben ihrer Werktätigen am Arbeitsplatz zu überwachen; wenn sie nach Arbeitsschluß die Fabrikhallen hinter sich ließen, war die Überwachung zu Ende. Noch als Henry Ford im Jahre 1914 in den Ford-Werken eine soziologische Abteilung gründete, faßte er die Überwachung des Privatlebens seiner Arbeiter lediglich als Mittel auf, die Männer zu nüchtern-enthaltsamen, sparsamen und fleißigen Herstellern zu machen. Fords Soziologen waren bestrebt, der Arbeiterschaft eine altmodische protestantische Moral aufzuerlegen; sie wetterten gegen Tabak, Alkohol und sexuelle Ausschweifungen.97
Damals begriffen nur wenige Arbeitgeber, daß der Arbeiter für den Kapitalisten als Konsument von Nutzen sein konnte; daß man ihm einen Sinn für höhere Dinge beibringen mußte und daß ein auf Massenproduktion basierendes Wirtschaftssystem einer kapitalistischen Organisationsform der Produktion ebenso bedurfte wie einer Organisation der Konsumtion und der Freizeit. "Die Massenproduktion", sagte im Jahre 1919 der Bostoner Warenhausmagnat Edward A. Filene, "verlangt die Erziehung der Massen; die Massen müssen lernen, sich in einer Welt der Massenproduktion wie menschliche Wesen zu benehmen ... Sie müssen nicht bloß lesen und schreiben können, sondern auch Zugang zur Kultur finden." Mit anderen Worten: Der moderne Fabrikant hat die Massen zur Konsumkultur zu "erziehen". Die massenhafte Produktion von Gebrauchsgütern in immer größerem Überfluß verlangt einen Massenmarkt, der sie absorbiert.
Als die amerikanische Wirtschaft den Punkt erreicht hatte, daß ihre Technologie die materiellen Grundbedürfnisse befriedigen konnte, verlegte sie sich auf die Erzeugung neuer Konsumwünsche – sie überredete Menschen, Dinge zu kaufen, für die sie kein Bedürfnis empfunden hatten, bis ihnen dieses "Bedürfnis" durch die Massenmedien geradezu mit Gewalt nahegebracht wurde. Die Werbung ist, wie Calvin Coolidge erläuterte, "eine Methode, mittels derer das Verlangen nach besseren Dingen erzeugt wird".98 Der Versuch, die Massen zu "zivilisieren", hat nunmehr eine Gesellschaft entstehen lassen, die vom äußeren Schein beherrscht wird – die Gesellschaft des Schauspiels. In der Phase primitiver Besitzanhäufung rangierte im Kapitalismus das Haben vor dem Sein und der Tauschwert vor dem Gebrauchswert von Waren. Jetzt ist ihm sogar der Schein wichtiger als Besitz und er bemißt den Tauschwert einer Ware danach, wieviel Prestige sie bringt, welchen Schein von Prosperität und Wohlergehen sie vermittelt. "Wenn die Notwendigkeit einer unbegrenzten wirtschaftlichen Entwicklung an die Stelle von wirtschaftlicher Notwendigkeit tritt", schreibt Guy Debord, "wird die Befriedigung von grundlegenden und allgemein anerkannten menschlichen Bedürfnissen ersetzt durch eine ununterbrochene Fabrikation von scheinbaren Bedürfnissen."99 In einfacheren Zeiten machte die Werbung nur auf das Produkt aufmerksam und stellte seine Vorzüge heraus. Jetzt stellt sie ihr eigenes Produkt her: den ewig unzufriedenen, rastlosen besorgten und gelangweilten Konsumenten. Werbung dient nicht so sehr dazu, für Produkte zu werben, als den Konsum als Lebensstil zu propagieren. Sie "erzieht" die Massen zum unersättlichen Hunger auf Konsumgüter wie auf neue Erfahrungen und persönliche Lebenserfüllung. Die Werbung verkündet Konsum als die Lösung für uralte Probleme wie Einsamkeit, Langeweile, Krankheit und mangelnde sexuelle Befriedigung; zugleich schafft sie neue Formen von Unzufriedenheit, die für unsere Zeit charakteristisch sind. Sie treibt ein verführerisches Spiel mit dem Unbehagen an der Industriekultur. Ist Ihr Beruf langweilig und sinnlos? Hinterläßt er bei Ihnen Empfindungen von Sinnlosigkeit und Erschöpfung? Ist Ihr Leben ohne Inhalt? Der Konsum verspricht die schmerzliche Leere zu füllen: daher der Versuch, Gebrauchsgüter mit einer Aura von Romantik zu umgeben, mit Anspielungen auf exotische Gegenden und belebende neue Erfahrungen und mit Bildern weiblicher Brüste, aus denen aller Segen fließen soll.
Die Gebrauchsgüterwerbung hat eine doppelte Funktion. Einmal preist sie Konsum als Alternative zu Protest oder Rebellion an. Paul Nystrom, der sich als einer der ersten mit den Problemen moderner Absatzforschung befaßt hat, bemerkt einmal, daß die Industriegesellschaft eine "Sinnlosigkeit", eine allgemeine Mattigkeit und "Enttäuschung trotz wirklicher Leistungen" aufkommen läßt, die sich dadurch Luft verschaffen, daß sie die "oberflächlichen Aspekte verändern, die dem Einfluß der Mode unterworfen sind". Anstatt sich um die Verbesserung seiner Arbeitsbedingungen zu bemühen, sucht der erschöpfte Arbeiter neue Kraft, indem er seine unmittelbare Umgebung mit neuen Konsumgütern und Dienstleistungen renoviert.100
Zum anderen macht die Verherrlichung des Konsums die Entfremdung selbst zur Ware. Sie wendet sich an die geistige Öde des modernen Lebens und legt Konsum als Heilkur nahe. Sie verspricht die alten Leiden zu lindern, die Erbteil des Fleisches sind; persönliche Unsicherheit, Statusangst oder die Besorgnis von Eltern, ob sie die Ansprüche ihres Nachwuchses zufriedenstellen können. Sehen Sie, verglichen mit Ihren Nachbarn, schäbig aus? Haben die Leute nebenan einen besseren Wagen als Sie? Sind Ihre Kinder ebenso gesund? Ebenso beliebt? Kommen sie in der Schule auch so gut voran? Werbung institutionalisiert den Neid und die ihn begleitenden Ängste.
Zwar dient die Werbung dem Status quo, nichtsdestoweniger aber hat sie mit einem umfassenden Wandel der Werte eine "Revolution der Sitten und Gebräuche" herbeigeführt, die in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts begann und sich bis in die Gegenwart hinein fortgesetzt hat. Die Forderungen einer Wirtschaft, die auf einem Massenkonsum basiert, haben die Arbeitsmoral sogar für die Arbeiterklasse obsolet werden lassen. Einst riefen die Hüter des Gemeinwohls und der öffentlichen Moral den Werktätigen zur Arbeit auf als einer moralischen Verpflichtung; heute mahnen sie ihn zur Arbeit, damit er die Früchte des Konsums mitgenießen kann. Im 19. Jahrhundert beugten sich nur die Eliten den Gesetzen der Mode und ersetzten alte Besitztümer nur deshalb durch neue, weil sie altmodisch waren. Die übrige Gesellschaft war laut der herrschenden Wirtschaftslehre zu einem Leben in Plackerei verurteilt, dem nicht mehr als das eben Notwendigste zugestanden war. Heute verbreitet die Massenproduktion von Luxusartikeln aristokratische Gewohnheiten auch in der breiten Bevölkerung. Die Maschinerie breit angelegter Werbung wendet sich gegen Ideologien, die auf dem Aufschub von Befriedigung beruhen; sie verbünden sich mit der sexuellen "Revolution"; sie ergreifen oder scheinen Partei zu ergreifen für die Frauen gegen die männliche Unterdrückung und für die Jüngeren gegen die Autorität der Älteren. Die Logik der Bedürfniserzeugung erfordert es, daß Frauen in der Öffentlichkeit rauchen und trinken, sich freizügig bewegen und ihr Recht auf Glück betonen, anstatt für andere zu leben. Die Werbeindustrie ermutigt auf diese Weise eine scheinbare Emanzipation der Frau, indem sie sie mit der einschmeichelnden Mahnung "You’ve come a long way, baby" umgarnt, und die Freiheit zu konsumieren als echte Eigenständigkeit ausgibt. In ähnlicher Weise umschmeichelt und verherrlicht sie die Jugend, in der Hoffnung, die jungen Leute in den Stand des vollwertigen Konsumenten zu erheben, so daß jeder auf seinem Zimmer Telefon, Fernsehen und Stereoanlage hat. Die "Erziehung" der Massen hat das Gleichgewicht der Kräfte in der Familie verändert, indem sie die Autorität des Mannes gegenüber der Frau und der Eltern gegenüber den Kindern geschwächt hat. Sie befreit Frauen und Kinder jedoch nur deshalb von der väterlichen Autorität, um sie dem neuen Patriarchalismus der Werbeindustrie, der Industriegesellschaft und des Staates zu unterwerfen.

Laut Paul Nystrom neigt das Familienleben von sich aus zur Förderung von Gewohnheiten, dem Gegenbegriff zur Mode. "Das häusliche Privatleben wird in sehr viel wirksamerer Weise von der Tradition bestimmt als das öffentliche oder halböffentliche Leben." Andererseits fördert der "Konflikt der Jugend mit der Konvention" rasche Veränderungen in bezug auf Kleidungs- und Konsumstile. Im allgemeinen, so Nystrom, werden Brauch und Gewohnheit durch Landleben, Analphabetentum, gesellschaftliche Hierarchie und Trägheit bestärkt, während die Mode – die Kultur der Konsumtion – von den fortschrittlichen Kräften getragen wird, die in der modernen Gesellschaft am Werk sind: öffentliche Erziehung, freie Meinungsäußerung, freier Austausch von Ideen und Informationen, die "Philosophie des Fortschritts".101

Wahrheit und Glaubwürdigkeit

Die Rolle der Massenmedien bei der Manipulation der öffentlichen Meinung hat große Besorgnis erregt, ist oft aber falsch betrachtet worden. Die meisten kritischen Stimmen meinen, es komme darauf an, die Verbreitung offensichtlicher Unwahrheiten zu verhindern; wogegen es, wie scharfsichtige Kritiker der Massenkultur dargelegt haben, doch evident ist, daß die Kategorien von Wahrheit und Unwahrheit für eine Beurteilung ihres Einflusses irrelevant sind. Wahrheit hat der Glaubwürdigkeit weichen müssen; Fakten sind ersetzt worden durch Behauptungen, die autoritativ klingen, ohne irgendeine gültige Information zu vermitteln. Da machen Behauptungen geltend, daß führende Fachleute ein bestimmtes Produkt bevorzugen, ohne zu sagen, welchen anderen Erzeugnissen es vorgezogen wird; daß ein Produkt die beste Qualität besitze, ohne daß die Konkurrenz genannt wird; daß eine bestimmte Eigenschaft einzig und allein diesem Produkt gehört, während sie in Wirklichkeit auch bei anderen Erzeugnissen vorhanden ist. Derartige Aussagen verwischen den Unterschied von Wahrheit und Lüge in einem Nebel von Wahrscheinlichkeit. Derartige Behauptungen sind "wahr" und doch völlig irreführend. Präsident Nixons Pressesprecher Ron Ziegler demonstrierte einmal die politische Anwendung solcher Techniken, als er einräumte, seine früheren Äußerungen zu Watergate seien inoperative (unwirksam) geworden. Viele Kommentatoren vermuteten, daß Ziegler auf euphemistische Weise auszudrücken versuchte, daß er gelogen hatte. Er meinte jedoch, daß seine früheren Äußerungen nicht mehr glaubhaft waren. Nicht ihre Unwahrheit, sondern daß sie keine Zustimmung erreichen konnten, machten sie inoperative. Ob sie wahr oder falsch waren, stand überhaupt nicht zur Debatte.

Werbung und Propaganda

Wie Daniel Boorstein dargelegt hat, leben wir in einer Welt von Scheinereignissen und Scheininformationen, in der die Atmosphäre mit Äußerungen gesättigt ist, die weder wahr noch falsch sind, sondern bloß glaubhaft. Aber sogar Boorstein sieht nicht das volle Ausmaß, in dem der äußere Anschein – die images102 – die amerikanische Gesellschaft beherrscht. Er weicht den noch beunruhigenderen Implikationen seiner Untersuchung aus, indem er die falsche Unterscheidung zwischen Werbung und Propaganda macht, die ihm erlaubt, eine Sphäre technologischer Rationalität zu konstituieren – eine Sphäre, die die Operationen des Staates und eines Großteils des Routinebetriebs der modernen Industrie einbezieht –, in die die Irrationalität der Imagebildung nicht eindringen kann. Propaganda ordnet er ausschließlich totalitären Regimes zu; sie besteht für ihn aus "absichtlich tendenziöser Information", die darüber hinaus in erster Linie auf "ihrer emotionalen Wirkung beruht" – während ein Scheinereignis eine "mehrdeutige Wahrheit" darstellt, die "unser aufrichtiges Verlangen nach Information" anspricht. Diese Unterscheidung läßt sich nicht halten. Sie geht von einer plumpen Vorstellung moderner Propaganda aus, einer Kunst, die sich bereits seit langem die fortgeschrittensten Techniken der modernen Werbung zunutze macht. Wie der Werbefachmann vermeidet es der propagandistische Könner, offen die Gefühle anzusprechen. Er bemüht sich vielmehr um einen Ton, der mit der prosaischen Qualität des modernen Lebens vereinbar ist – um eine trockene, glatte Sachlichkeit. Der Propagandist setzt auch keine "absichtlich tendenziöse Information" in Umlauf. Er weiß, daß Teilwahrheiten wirksamere Mittel der Täuschung sein können als Lügen. Also versucht er, die Öffentlichkeit mit Statistiken über wirtschaftliches Wachstum zu beeindrucken, ohne das Bezugsjahr anzugeben, von dem aus dieses Wachstum berechnet ist; mit genauen, aber sinnlosen Fakten über den Lebensstandard – anders gesagt: mit nicht-interpretierten Daten –, aus denen das Publikum den unvermeidlichen Schluß ziehen soll, daß das Regime das Vertrauen der Bevölkerung verdient, weil die Lage sich stetig verbessert oder umgekehrt, weil die Lage sich so rasch verschlechtert, daß das Regime Notstandsvollmachten erhalten muß, um der kommenden Krise begegnen zu können. Indem er zutreffende Details benutzt, um ein irreführendes Bild vom Ganzen zu entwerfen, macht der erfahrene Propagandist, wie einmal bemerkt wurde, die Wahrheit zum eigentlichen Vehikel der Lüge.
In der Propaganda wie in der Werbung kommt es nicht entscheidend darauf an, ob die Information eine tatsächliche Situation genau beschreibt, sondern ob sie wahrscheinlich klingt. Manchmal wird es sogar erforderlich, bestimmte Informationen zu unterdrücken, selbst wenn sie der Regierung Pluspunkte verschaffen würden – nur weil sie unglaubwürdig klingen. Jacques Ellul gibt in seiner Untersuchung über die Propaganda eine Erklärung, warum die Deutschen im Jahre 1942 nicht bekanntgaben, daß der unbesiegbare General Rommel nicht in Nordafrika weilte, als Montgomery seinen Sieg errang. "Jedermann hätte es für eine Lüge gehalten, um die Schlappe zu erklären und zu beweisen, daß Rommel nicht wirklich besiegt worden war."103 Das amerikanische Office of War Information in den Vereinigten Staaten, das die öffentliche Meinung gern mit Nachrichten von Nazigreueltaten gegen die Deutschen aufstachelte, verzichtete bewußt auf den schrecklichsten Greuel, die Ausrottung der Juden, weil Berichte darüber "verwirrend und irreführend" gewesen wären, da sie nur die Juden zu betreffen schienen. Die Wahrheit muß unterdrückt werden, wenn sie wie Propaganda klingt. "Es gibt nur einen einzigen Grund, eine Nachricht zu unterdrücken", so führte ein im Zweiten Weltkrieg benutztes Handbuch der Alliierten aus, "nämlich wenn sie unglaubwürdig ist."
Es ist richtig, daß Propaganda auf subtile Weise unsere Gefühle anspricht. Ellul vermerkt, daß Propaganda Tatsachen nicht verwendet, um Argumente zu stützen, sondern um emotionalen Druck auszuüben. Dasselbe gilt jedoch auch für die Werbung. Bei beiden bleibt der Appell an die Gefühle unterschwellig und indirekt; er liegt in den Fakten selbst; und der Appell an die Gefühle ist auch nicht unvereinbar mit unserem "aufrichtigen Verlangen nach Information". Weil der Propagandist von heute nur zu gut weiß, daß ein gebildetes Publikum Fakten will und nichts so sehr schätzt wie die Illusion, gut informiert zu sein, vermeidet er hochtrabende Sprüche; selten beruft er sich auf Schicksal und Vorsehung; er ruft selten zu Heldentum und Opfer auf und erinnert sein Publikum kaum noch an die ruhmreiche Vergangenheit. Er bleibt "sachlich". Propaganda verschmilzt mit "Information".
Eine der Hauptaufgaben der beträchtlich vergrößerten bundesstaatlichen Bürokratie besteht darin, das Bedürfnis nach dieser Art Information zu befriedigen. Die Bürokratie trägt nicht nur angeblich verläßliche Informationen für hohe Beamte zusammen; sie liefert auch Fehlinformationen für das Publikum. Je technischer und schwerer verständlich, um so überzeugender klingt es: daher die Allgegenwärtigkeit des verwirrenden pseudowissenschaftlichen Jargons in unserer Kultur. Dieser Jargon verleiht den Verlautbarungen der Behörden und Werbeleute eine Aura wissenschaftlicher Objektivität. Wichtiger noch – er ist absichtlich obskur und unverständlich und eben solcher Eigenschaften halber bei einem Publikum geschätzt, das sich in eben dem Maße informiert fühlt, wie es verwirrt wird. In einer seiner bezeichnenden Verlautbarungen verkündete John F. Kennedy auf einer Pressekonferenz im Mai des Jahres 1962 das Ende der Ideologie in Worten, die beiden Bedürfnissen seines Publikums entgegenkamen – dem Bedürfnis zu glauben, daß politische Entscheidungen in den Händen leidenschaftsloser, unvoreingenommener Fachleute liegen, und dem Bedürfnis zu glauben, daß die Probleme, mit denen die Fachleute sich abgeben müssen, für Laien unverständlich sind.

Die meisten von uns sind viele Jahre lang gewöhnt, einen politischen Standpunkt zu haben – einen republikanischen oder demokratischen, einen liberalen, konservativen oder gemäßigten. Die Probleme aber, denen wir uns jetzt gegenübersehen, sind zum größten Teil technischer und administrativer Natur. Sie stellen äußerst komplexe Sachfragen dar, die sich durchaus nicht für die leidenschaftlichen Bewegungen eignen, die dieses Land in der Vergangenheit so häufig in Erregung versetzt haben. Sie bringen Fragestellungen mit sich, die heutzutage über das Verständnis der meisten Menschen weit hinausgehen ...

Politik als Schau-Spiel

Systemanalytiker und "Gesellschaftsprüfer" sind felsenfest davon überzeugt, daß "mit dem Anwachsen der Komplexität der Gesellschaft", wie einer von ihnen, Albert Biderman, das einmal formuliert hat, "im Gegensatz zur symbolisch vermittelten Information die unmittelbare Teilnahme an den Ereignissen in dieser Gesellschaft als Informationsquelle und Urteilsgrundlage eine immer geringere Rolle spielt."105 Aber die Ablösung unmittelbarer Erfahrung durch symbolisch vermittelte Information – und die Substitution von realen Ereignissen durch Schein-Ereignisse – hat das Regieren keineswegs rationaler und effizienter gemacht, wie Technokraten und auch ihre Kritiker geltend machen. Sie hat im Gegenteil eine Atmosphäre der Unwirklichkeit aufkommen lassen, die schließlich sogar die Entscheidungsträger selbst im unklaren läßt. Unverständlichkeit breitet sich wie eine Epidemie über alle Ebenen der staatlichen Verwaltung aus. Die Propagandisten fallen ihrer eigenen Propaganda zum Opfer. Aber es gibt noch tiefere Auswirkungen. Wenn Politiker und Verwaltungsbürokraten nur noch darauf abzielen, dem Publikum ihre Führungsqualitäten zu verkaufen, berauben sie sich selbst aller begreiflichen Maßstäbe, mittels derer sie die Absichten ihrer politischen Tätigkeit bestimmen und Erfolg oder Mißerfolg beurteilen könnten. Weil Prestige und Glaubwürdigkeit zum einzigen Maßstab geworden waren, konnte die amerikanische Vietnampolitik ohne Rücksicht auf die strategische Bedeutung Vietnams oder die dortige politische Situation betrieben werden. Da es keine klaren Vorstellungen von dem gab, was erreicht werden sollte, war es nicht einmal möglich anzugeben, woran Sieg oder Niederlage eigentlich zu erkennen sein sollten, abgesehen davon, daß das amerikanische Prestige davon nicht in Mitleidenschaft gezogen werden durfte. Als Anliegen der amerikanischen Vietnampolitik wurde von Anfang an die Wahrung der amerikanischen Glaubwürdigkeit genannt. Diese Einstellung, die einem Wahn gleichkam, setzte wiederholt ganz elementare Prinzipien der Staatskunst außer Kraft, etwa die Meidung außergewöhnlich hoher Risiken, das Abwägen der Wahrscheinlichkeit von Erfolg und Fehlschlag oder die Vorausberechnung der strategischen und politischen Konsequenzen im Falle einer Niederlage.
Die Kunst des Krisenmanagements, die heute weitgehend als Kern politisch-staatsmännischen Handelns betrachtet wird, verdankt ihre modische Konjunktur der Verschmelzung von Politik und Schau-Spiel. Die Propaganda versucht in der Öffentlichkeit eine chronische Krisenstimmung zu erzeugen, die wiederum eine Erweiterung der Regierungsgewalt und der Geheimhaltung begründet, die sie umgibt. Der Präsident macht dann seine "Präsidentschafts"-Qualitäten geltend, indem er seine Entschlossenheit kundgibt, sich der Krise gewachsen zu zeigen, worin die jeweilige Krise auch bestehen mag, keine Gefahr zu scheuen, seine Fähigkeiten unter Beweis zu stellen, Risiken auf sich zu nehmen und zu kühnen und entschlossenen Maßnahmen zu greifen, wenngleich die Situation vielleicht Vorsicht und Zurückhaltung erfordert. Kennedy sowohl wie Nixon veranschaulichen in ihrer persönlichen Laufbahn ein besessenes Krisenmanagement und die Bedeutung, die die Steuerung politischer Eindrücke hat. Kennedy in seinem heftigen Bestreben, den Eindruck der Schwäche vergessen zu machen, den das Fiasko in der Schweinebucht hinterlassen hatte – und das Engagement in der Schweinebucht war selbst Ausdruck einer quälenden Angst, daß die kubanische Revolution das amerikanische Prestige in Lateinamerika untergraben haben könnte –, polterte in Wien gegen Nikita Chruschtschow, rief Berlin als "den großen Prüfstand des westlichen Mutes und der westlichen Willensstärke" aus und riskierte anläßlich der kubanischen Raketenkrise einen Atomkrieg, obwohl die sowjetischen Raketen in Kuba, mochten sie auch eine bewußte Provokation darstellen, das militärische Kräfteverhältnis in keiner Weise veränderten.106 Das in vieler Hinsicht bedeutsamste Ereignis der Kennedy-Ära – ihr Höhepunkt, alles andere danach war nur Abstieg – war sein Amtsantritt, ein Schau-Spiel, das den Mythos von Camelot107 festigte, bevor Camelot überhaupt entstanden war. "Die Fackel ist an eine neue, in diesem Jahrhundert geborene Generation von Amerikanern weitergereicht worden, die der Krieg gestählt, die ein harter und bitterer Friede diszipliniert hat ..." Mit diesen Worten beschwor Kennedy Disziplin, Widerstandskraft und Zähigkeit im Namen des – so bald erschütterten – Glaubens einer ganzen Nation, daß sie am Anfang neuer Größe stehe. "Fragt nicht, was euer Land für euch tun kann; fragt, was ihr für euer Land tun könnt." Kein anderer Präsident hat so ausschließlich wie Kennedy die Unterordnung der Politik unter das nationale Prestige, unter den Schein und die Illusion nationaler Größe verkörpert.
Mit Nixon erreichte die Politik des Schau-Spiels einen tragikomischen Höhepunkt. Ohne jedes Interesse für Prinzipien und Programme, einzig getrieben von Ehrgeiz und einem vagen Widerwillen gegen das liberale Establishment der Ostküste, verwandte Nixon den größten Teil seiner Laufbahn darauf, ein Publikum mit seinen Führungsqualitäten zu beeindrucken. Die Wendepunkte dieser seiner Laufbahn, die "sechs Krisen", über die er so selbstenthüllend geschrieben hat, stellten sich ihm als Augenblicke dar, in denen er versucht war, das Feld zu räumen, dann aber doch überlebte – in allen Fällen durch einen öffentlichen Auftritt –, indem er seine Fähigkeit demonstrierte, eine Situation zu meistern. Entsprechend seiner theatralischen Auffassung von Politik, rühmte sich Nixon seines Talents, zwischen überzeugenden und dürftigen Darstellungen unterscheiden zu können, wie im Falle von Hiss, als er sich darüber klar wurde, daß Whittaker Chambers die Wahrheit sagte, weil "ich nicht den Eindruck hatte, daß [sein Auftritt] gespielt war". Nachdem er die General McCarthy-Hearings im Fernsehen beobachtet hatte, äußerte er geringschätzig: "Mir sind Berufsschauspieler lieber als Laien." Während seiner berühmten Auseinandersetzung mit Nikita Chruschtschow gewann er die sichere Überzeugung, daß Chruschtschow "Theater spielt", und später warf er Marschall Georgi Schukow vor, die Intelligenz des sowjetischen Volkes zu unterschätzen. "Sie sind nicht dumm. Sie merken, wenn jemand schauspielert und wann es ihm ernst ist – vor allem dann, wenn die Auftritte so laienhaft gewesen sind." Im Jahre 1960 brandmarkte Nixon Kennedy in einer ihrer gemeinsamen Fernsehdiskussionen, weil Kennedy eine aktivere Unterstützung der Castro-feindlichen Kräfte in Kuba forderte – genau das, was die Regierung Eisenhowers insgeheim durchführte, zum Teil sogar auf Nixons Betreiben. Bemerkenswerter noch als der Auftritt selbst, bei dem Nixon die schlüssigsten Einwände gegen eine Politik formulierte, mit der er vollständig übereinstimmte, ist die kühle Sachlichkeit, mit der Nixon in seinem Buch Six Crises darauf zurückkommt. Er kommentiert seinen eigenen Auftritt mit derselben Objektivität, die er in seinen Kommentaren über Hiss und Chambers zeigt, und stellt mit nicht geringem Vergnügen – ohne aber die Ironie der Situation zu bemerken – fest, daß er das "genaue Gegenteil der Wahrheit" so wirkungsvoll gesagt habe, daß ihn mehrere liberale Zeitungen heftig lobten und Kennedy sogar zwangen, seine eigene Position zu modifizieren.108

Als Präsident erbte Nixon die innenpolitischen Spannungen und die Verwirrung, die das größte Schau-Spiel der sechziger Jahre, der Vietnam-Krieg, geschaffen hatte. Er beschränkte sich jedoch nicht darauf, die Opposition zu ersticken und die Linke zu zerstören. Statt dessen richtete er einen massiven Angriff gegen eine Einzelperson (Daniel Ellsberg), begründete ein ausgeklügeltes Sicherheitsprogramm, um zukünftige Indiskretionen sogenannter hochgradiger Geheiminformationen zu verhindern, und redete sich ein, daß Ellsberg mit dem führenden Präsidentschaftskandidaten der Demokraten paktierte. Diese "Sicherheits"-Maßnahmen hatten, wenngleich sie in hohem Maße irrational waren, ihren Ursprung wahrscheinlich in dem nicht unberechtigten Glauben, daß die Macht des Präsidenten inzwischen damit stehe oder falle, ob er Nachrichten und Informationen manipulieren kann, und daß diese Macht, um wirklich und völlig zu sein, von allen anderen als unteilbar anerkannt werden mußte. Als sich Watergate zur großen "Krise" entwickelte, widmete sich Nixon der Aufgabe, die Bevölkerung davon zu überzeugen, daß er dieser kritischen Situation gewachsen sei. Bis zum Schluß faßte er seine wachsenden Schwierigkeiten als ein Problem der Öffentlichkeitsarbeit auf. In langen Unterredungen mit seinem Chefberater, der selbst Public-Relations-Fachmann war, zeigten sich Nixon wie auch H. R. Haldeman der Wahrheit gegenüber so gleichgültig, daß man nicht einmal mehr von Zynismus sprechen kann – ihre Gleichgültigkeit läßt sich eigentlich nur so erklären, daß der Begriff der Wahrheit für Männer, die verantwortungslos mit der Macht umgehen, seinen Sinn verloren hat. "Ich meine, wir sollten einen Weg finden, Stellungnahmen abzugeben", sagte Nixon an einer bestimmten Stelle, "... irgendeine Art von Stellungnahme ... so allgemein wie möglich ... nur eben so, daß jeder sagen kann, daß ... vom Präsidenten eine Stellungnahme abgegeben worden ist, auf die er seine Verlautbarung des Inhalts gründet, daß er Vertrauen zu seinem Mitarbeiterstab hat ... Ich habe dies nicht getan, da da da da da da da dum, da da da da, da da da dum. Haldeman hat dies nicht getan. Ehrlichman hat jenes nicht getan. Colson hat das nicht getan." Haldemans Antwort – "Ich würde nicht sagen, daß das die ganze Wahrheit ist" – gibt zwar noch die bereits schwindende Fähigkeit zu erkennen, zwischen Wahrheit und Unwahrheit zu unterscheiden, ändert aber nichts an der Tatsache, daß Worte, die um ihres bloßen Effekts willen in der Öffentlichkeit gewählt werden, rasch jeden Bezug zur Realität verlieren. Die auf derartige Prinzipien gegründete politische Diskussion artet selbst dann in standpunktloses Geschwätz aus, wenn sie hinter geschlossenen Türen geführt wird.

Radikalismus als Straßentheater

Der Verfall der Politik zum Schau-Spiel hat den politischen Entscheidungsprozeß zur Reklame werden lassen, die politische Auseinandersetzung verdorben und Wahlen zu Sportereignissen gemacht, bei denen jede Seite beansprucht, die stärkere "Stoßkraft" zu besitzen; sie hat es darüber hinaus schwieriger denn je gemacht, eine politische Opposition zu formieren. Wenn die Bilder der Macht die Realität überschatten, so kämpfen die Machtlosen gegen Trugbilder an. Namentlich in einer Gesellschaft, in der Macht sich im Gewand der Menschenliebe darzustellen liebt – in der die Regierung selten zur Anwendung nackter Gewalt greift –, fällt es schwer, den Unterdrücker auszumachen, geschweige denn, ihn persönlich zu identifizieren oder bei den Massen die helle Aufregung über Mißstände wachzuhalten. In den sechziger Jahren versuchte die neue Linke, diese mangelnde Faßbarkeit des Establishments durch die Methoden der Konfrontation zu überwinden. Sie provozierte absichtliche gewaltsame Repressionen und hoffte, so zu verhindern, daß die abweichende politische Meinung von den herrschenden Kreisen kooptiert wurde. Der Versuch, die behördliche Unterdrückung zu dramatisieren, verstrickte die Linke jedoch in eine Politik des Theaters, der dramatischen Geste und eines Stils ohne Substanz – ein Spiegelbild dessen, was zu demaskieren ein Ziel der Linken hätte sein sollen.110
Die Verfechter des Kalten Krieges sahen in der Taktik der "Eskalation" ein Mittel, die "betreffenden Zuschauerkreise" von der Festigkeit der Nation zu beeindrucken; die Strategen der neuen Linken, die in ähnlicher Weise im Banne von Äußerlichkeiten standen, glaubten, daß Gesten und Gebärden eines eskalierenden Widerstandes das Establishment schließlich in die Knie zwingen würden. In beiden Fällen erschien Politik als Spiel mit dem Ziel, dem Gegner den steigenden Preis für seine Politik bewußt zu machen. Wenn ihn dieser Preis hinreichend beeindruckte, würde er – so nahm man an –seine Unnachgiebigkeit aufgeben und sich zu Verhandlungen herbeilassen. So kündigten Gegner des Vietnam-Krieges im Jahre 1967 lautstark an, sie beabsichtigten vom "Dissens zu aktivem Widerstand überzugehen", und sie rechneten damit, daß dieser Widerstand auf repressive Gegenmaßnahmen stoßen würde, die eine liberale öffentliche Meinung als untragbar empfinden müßte. "Es wird blutig ausgehen", sagte einer der Linksradikalen zur Rechtfertigung einer besonders sinnlosen Protestaktion, "aber Blut macht die Liberalen wahnsinnig." Doch eine solche Politik des Straßentheaters brachte keineswegs die erwartete liberale Reaktion hervor; vielmehr zementierte sie die Opposition gegen die Linken und ließ die Forderung nach law and order immer stärker werden. Die Eskalation militanter Taktiken zersplitterte die Linke und trieb die mehr revolutionären Elemente in eine selbstmörderische Konfrontation mit der Polizei und der Nationalgarde. "Wir arbeiten daran, eine Gruppe von Stadtguerillas aufzubauen", kündigte im Jahre 1967 der Generalsekretär des SDS an. In Wirklichkeit legte der SDS den Grundstein zu seinem Zusammenbruch, der zwei Jahre danach eintrat. Der Irrtum, das Straßentheater sei die neueste Form des Guerillakampfes, half die unangenehme Erkenntnis zu verdrängen, daß es sich hier lediglich um eine besondere Form der Selbstdarstellung handelte, mit der die Medienstars der Linken landesweit auf sich aufmerksam machten und die damit verbundenen Vorteile ernteten. Nachdem ein Vertreter des "Guerillatheaters" seine Gefolgsleute ermahnt hatte, sich ihres Verstandes zu bedienen, erläuterte er sofort darauf, "sich seines Verstandes bedienen, heißt nicht, es dem hart schuftenden Arbeiter nachzumachen, der ist ein kleiner Kapitalist, sondern dem lateinamerikanischen Guerillero nachzueifern, der ein Sozialist der unteren Klassen ist".111 Solche Reden hatten keineswegs nur den Zweck, die eigenen Anhänger zu stärken, sondern richteten sich auch an die "maßgeblichen Kreise" der Schwarzen und der Militanten der Dritten Welt, die die weiße Linke über Gebühr faszinierte und die sie mit ihrem revolutionären Machismo verzweifelt zu beeindrucken versuchte.
Das Gerede von black power korrumpierte die weiße und die schwarze Linke gleichermaßen, da sie die im Süden vorher todernst ausgefochtenen Bürgerrechtskämpfe durch eine Politik der Medien ersetzte. Als die black-power-Propagandisten die Bürgerrechtsbewegung unterstützten, nahmen sie auch weiße Liberale für sich ein, die ihre mit dem "Privileg der weißen Haut" verknüpften Schuldgefühle zu lindern suchten, indem sie Gebärden und Sprache des militanten schwarzen Flügels übernahmen. Weiße wie Schwarze machten sich einen radikalen Stil statt linksradikaler Substanz zu eigen.

Als sich im Jahre 1968 die Linke zu ihrem "festival of life" neben der Democratic National Convention in Chicago zusammenfand, machte die führende Rolle der Youth International unter Jerry Rubin und Abbie Hoffman deutlich, daß eine theatralische Auffassung von Politik ältere und vernünftige Vorstellungen verdrängt hatte. "Yippie ist das Gestalttheater112 der Straße", hat Jerry Rubin behauptet, "das die Menschen durch sein Beispiel nötigt, ihr Bewußtsein zu ändern. Wenn man den Raum eines Kongreß-Hearings im Kleidungsstil Paul Reveres betritt oder zu einer Gerichtssitzung in Richterroben erscheint, so ist das ein Weg, Phantasien auszuleben und Repressionen zu beenden."113 Das Ausleben von Phantasien beendet jedoch keine Repressionen; es dramatisiert bloß die zulässigen Grenzen antisozialen Verhaltens. In den sechziger und frühen siebziger Jahren hatten Linksradikale, die diese Grenzen in der irrigen Annahme überschritten, daß sie die Revolution vorbereiteten oder – laut Rubin – "mit dem ganzen Volk Gestalttherapie betrieben" – häufig einen hohen Preis dafür zu zahlen: sie wurden verprügelt, verhaftet, von der Polizei belästigt, und jene Terroristen – die Weathermen und die Mitglieder der Symbionese Liberation Army –, die die Logik des Guerillatheaters bis zum unvermeidlichen Ende befolgten, zahlten dafür sogar mit ihrem eigenen Leben. Und doch hatten die Radikalen im Verhältnis zu den Opfern, die sie brachten, so wenig praktische Ergebnisse vorzuweisen, daß wir uns zu dem Schluß gedrängt sehen, sie hätten sich einer radikalen Politik in erster Linie nicht deshalb verschrieben, weil sie praktische Resultate verhieß, sondern weil sie sich als neue Methode der Selbstdramatisierung anbot.

Heldenverehrung und narzißtische Idealisierung

In den Randzonen der linken Bewegung gab es viele gequälte Geister, die für sich eine Art Märtyrertum suchten, das der Glanz moderner Medienreklame besonders verlockend erscheinen ließ. Die Linke mit ihrer Vision eines gesellschaftlichen Umsturzes hat zu allen Zeiten relativ viele Verrückte angezogen; die Massenmedien aber haben antisozialen Auftritten eine merkwürdige Art von Legitimität verliehen, nur weil sie darüber berichteten. In einem Fußballspiel steht der Torjäger für einen kurzen Augenblick im Blickpunkt aller. Der Verbrecher, der eine berühmte Persönlichkeit ermordet oder entführt, überträgt das öffentliche Interesse seines Opfers auf sich. Die Manson-Bande, die Sharon Tate und ihre Freunde ermordete, und die Symbionese Liberation Army, die Patty Hearst entführte, haben in psychologischer Hinsicht vieles mit den Präsidentenmördern und Möchtegernmördern der letzten Jahre gemein. Solche Menschen sind dem allgemeinen Berühmtheitswahn verfallen und fest entschlossen, selbst berühmt zu werden, koste es, was es wolle. Der Narzißt teilt die Gesellschaft in zwei Gruppen ein: die Reichen, Großen und Berühmten auf der einen Seite, die Menge der gewöhnlichen Menschen auf der anderen. Narzißtische Patienten, so Kernberg, "sind ständig bemüht, selber auch zu den Großen, Reichen und Mächtigen zu gehören, und fürchten dauernd, es könnte sich herausstellen, daß sie auch nur ›mittelmäßig‹ sind, was für sie nicht nur ›durchschnittlich‹ im üblichen Sinne heißt, sondern praktisch gleichbedeutend ist mit einer wertlosen und verächtlichen Existenz".114 Sie verehren ihre Helden, wenden sich aber sofort gegen sie, wenn sie sie enttäuschen.
In ihrer unbewußten Fixierung auf ein idealisiertes Selbstobjekt, nach dem sie sich weiterhin sehnen ..., suchen solche Menschen fortwährend nach äußeren allmächtigen Kräften, von deren Hilfe und Unterstützung sie Stärke erlangen möchten.115
So geht der Präsidentenmörder mit seinem Opfer eine tödliche Intimität ein, folgt allen seinen Bewegungen und klammert sich an seinen aufgehenden Stern. Die Maschinerie der Massenmedien und ihres Personenkults fördert diese Art von Identifikation, indem sie die jeweiligen Olympier erhöht und vermenschlicht und sie gleichzeitig mit denselben Lüsten und Ticks ausstattet, wie wir sie bei unseren Nachbarn kennen.116 Durch seinen Akt der Verzweiflung tritt der Mörder oder Möchtegernmörder in ihre erhabene Gemeinschaft ein. Der Mord wird zu einer Form von Schau-Spiel, und das Innenleben von Mördern – Oswalds Schwierigkeiten mit Mama, Bremers Seelenzustand, wie er in seinem Tagebuch festgehalten ist – bieten eine ebenso beliebte Unterhaltung wie das Privatleben ihrer Opfer oder Beinahe-Opfer.
Narzißtische Patienten, so Kernberg, "haben häufig irgendein Idol oder sonst eine herausragende Persönlichkeit, die sie bewundern" und "erleben sich selbst als Teil dieser bewunderten Person". Sie sehen die bewunderte Person "nur als eine Erweiterung ihrer selbst". Wenn diese Person sie zurückweist, "so reagieren sie mit Haß, Furcht und Entwertung des früheren Idols".117 Genau wie Heldentum sich auf feine Weise vom Berühmtsein abhebt, so muß auch die Heldenverehrung, bei der ein Mensch die Taten eines Helden achtet und ihnen nachzueifern oder sich ihrem Beispiel wenigstens würdig zu erweisen hofft, von der narzißtischen Idealisierung unterschieden werden. Der Narzißt bewundert und identifiziert sich mit "Siegern" aus Angst, als Versager etikettiert zu werden. Er sucht sich an ihrem Abglanz zu wärmen; aber seine Bewunderung enthält auch ein starkes Element Neid, und sie schlägt oft in Haß um, wenn der Gegenstand seiner Anhänglichkeit irgend etwas tut, das ihn an seine eigene Bedeutungslosigkeit erinnert. Dem Narzißten fehlt das Selbstvertrauen, das ihn ermutigen könnte, sich nach dem Vorbild eines anderen zu formen. Die narzißtische Faszination für Berühmtheit, wie sie in unserer Gesellschaft grassiert, fällt daher historisch mit dem zusammen, was Jules Henry das "Schwinden der Fähigkeit nachzueifern" nennt, den "Verlust der Fähigkeit, sich selbst bewußt nach dem Vorbild eines anderen Menschen zu formen". Einer der von Henry interviewten High-school-Absolventen sagte freimütig: "Ich meine, niemand sollte sich einen anderen zum Vorbild nehmen." Henry schreibt:
Sich jemand aussuchen, nach dessen Vorbild man das eigene Ich formt, ist ein offensiver Willensakt, und Bull war zu ängstlich und passiv, um das zu tun ... Wenn sich Zynismus, Resignation und Passivität im Leben breitmachen, so läßt dem Zynismus jegliche Wahl von Eigenschaften, die man für sich übernehmen könnte, vergeblich erscheinen, und Passivität und Resignation schläfern die Willensbereitschaft ein, die für den Entschluß zum Nacheifern erforderlich ist. Im positiven Sinne aber muß bei einer moralisch fundierten Vorbildwahl ein gewisses Selbstvertrauen vorhanden sein, ein bestimmtes Maß von naivem Optimismus und Willenskraft.

Wenn das Über-Ich nicht so sehr aus bewußten Ich-Idealen, als vielmehr aus unbewußten, archaischen Phantasien über Elternfiguren von übermenschlichem Zuschnitt besteht, wird das Nacheiferungsstreben nahezu völlig unbewußt und bringt nicht die Suche nach Vorbildern, sondern die Leere der Ich-Imagines zum Ausdruck. Der Protagonist von Joseph Hellers Roman Was geschah mit Slocum?, dem jeder "naive Optimismus" und jedes Selbstgefühl fehlt, erlebt einen "fast sklavischen Drang, so sein zu wollen wie jeder, mit dem ich gerade zusammen bin ... Es betrifft nicht nur die Art zu reden, sondern auch körperliche Bewegungen ... Das geschieht unbewußt ... mit einer Eigendynamik, trotz meiner Wachsamkeit und meines Widerwillens dagegen, und meist merke ich erst hinterher, daß ich in eine fremde Persönlichkeit geschlüpft bin".118 Der Narzißt kann sich nicht mit jemand anderem identifizieren, ohne ihn als erweiterten Teil seines Selbst zu sehen, ohne die Identität des anderen auszulöschen. Zur Identifizierung – zunächst mit Eltern und anderen Autoritätsfiguren – gänzlich außerstande, ist er folglich auch unfähig zur Heldenverehrung und zur Aussetzung des Mißtrauens, das es ihm ermöglicht, sich ins Leben anderer hineinzuversetzen und zugleich ihre unabhängige Existenz anzuerkennen. Eine narzißtische Gesellschaft vergöttert eher Berühmtheit als Ruhm und setzt das Spektakel an die Stelle der älteren Formen des Dramas, die eine Identifizierung und ein Nacheifern von Vorbildern eben deshalb ermöglichten, weil sie sorgsam eine gewisse Distanz zwischen Publikum und Schauspielern, dem Heldenverehrer und dem Helden wahrten.

Der Narzißmus und das Theater des Absurden

Zur gleichen Zeit, da das öffentliche und sogar das Privatleben die Eigenarten des Schau-Spiels annimmt, gibt es eine Gegenströmung: Show, Theater und alle anderen Arten von Kunst nach der Realität zu formen und die Trennung von Kunst und Leben überhaupt aufzuheben. Beide Entwicklungen popularisieren ein Gefühl des Absurden, das ein Charakteristikum der zeitgenössischen Sensibilität darstellt. Man führe sich den engen Zusammenhang zwischen visuellem Bildüberfluß, dem zynischen Illusionsbewußtsein, das er schon bei Kindern hervorbringt, und der daraus resultierenden Gleichgültigkeit gegenüber dem Unterschied von Illusion und Realität vor Augen.
"Wir sind Zyniker", schreibt Joyce Maynard über sich und ihre vierjährige Tochter, die sie in den Zirkus mitnahm, "die die Falltür in der Zaubernummer, die Kissenausstaffierung bei den Heilsarmee-Nikoläusen und die Kameratricks in Fernsehwerbungen durchschauen (›Das ist nicht wirklich die Hand eines bösen Geistes, die da aus der Waschmaschine kommt‹, sagt Hanna, ›das ist nur ein Schauspieler mit Handschuhen an.‹). So lehnte sie sich im Zirkus ... in ihrem Sitz zurück, meine Vierjährige ... und erwartete die Clownssprünge und -plumpse stur, frech, betrübt, altklug gelangweilt und mehr mit ihren Bonbons beschäftigt als mit der Größten Schau der Welt ... Wir hatten schon größere Schaukünste ungerührt gesehen, unsere ganze Welt war ein einziger visueller Überfluß, ein Zirkus mit zehn Manegen, mit dem sich nicht einmal die Ringling-Brothers messen konnten. Ein Mann steckte einem Tiger seinen Kopf in den Rachen, und ich erklärte das, mit mehr Verblüffung als ich wirklich verspürte, meiner kühlen unbeeindruckten Kleinen, drehte ihr, wenn sie nicht zuschaute, den Kopf hin und zwang sie, das Gebotene zur Kenntnis zu nehmen. Der Tiger hätte dem Dompteur den Kopf abbeißen, ihn völlig verschlingen oder sich in einen Affen verwandeln können, und sie hätte nicht einmal geblinzelt. Wir sahen, wie ungefähr zwei Dutzend Clowns aus einem Volkswagen emporstiegen, ohne daß Hanna wußte, worum es da eigentlich ging. Es ist aber keineswegs das Wissen, daß sie aus einer im Sägemehl verborgenen Falltür heraufklettern, was Hanna davon abhält hinzuschauen. Selbst wenn sie den Trick, der hier im Spiel ist, noch nicht kennen würde, bliebe sie genau so unbeteiligt."119
Die fabrizierten Illusionsbilder verlieren für den, der ihnen im Übermaß ausgesetzt ist, bald ihre symbolisch-repräsentative Kraft. Die Illusion der Realität führt nicht, wie man erwarten könnte, zu einem gesteigerten Realitätssinn, sondern zu einer bemerkenswerten Gleichgültigkeit gegenüber der Wirklichkeit. Unser Wirklichkeitssinn scheint seltsamerweise auf unserer Bereitschaft zu beruhen, uns durch die inszenierte Illusion von Realität gefangennehmen zu lassen. Sogar ein Wissen um die Techniken, mittels derer eine bestimmte Illusion hervorgebracht wird, macht es uns nicht zwangsläufig unmöglich, sie als Darstellung der Realität zu erleben. Der Drang, die Tricks eines Zauberkünstlers zu durchschauen – ähnlich wie das jüngste Interesse an den technischen Spezialeffekten eines Films wie Star Wars (Krieg der Sterne) – lebt wie auch die Beschäftigung mit der Literatur von der Aufgeschlossenheit, von den Meistern der Illusionskunst über die Realität zu lernen. Die vollständige Gleichgültigkeit gegenüber der Mechanik der Illusionserzeugung aber zeigt den Zusammenbruch einer Realitätsvorstellung überhaupt an, die immer und überall von der Unterscheidung zwischen Natur und Kunstwerk, Wirklichkeit und Schein abhängt. Solche Gleichgültigkeit verrät den Verfall der Gabe, sich für irgendetwas außerhalb des eigenen Ich zu interessieren. So stopft sich das altkluge Kind ungerührt mit Zuckerwerk voll und "wäre genau so unbeteiligt", wenn es nicht wüßte, wie vierundzwanzig Clowns es fertiggebracht haben, in einem einzigen Auto Platz zu finden.
Die Geschichte des Theaters veranschaulicht das Prinzip, daß sich bei den festen Konventionen einer formalisierten Illusionskunst ein Realitätssinn entwickelt und daß er mit dem Verfall dieser Konventionen schrumpft. Das experimentelle Theater hat lange Zeit einen regelrechten Krieg gegen die Illusionsbühne geführt und versucht, die Theaterkonventionen abzubauen, die den Zuschauer ermutigten, das Schauspiel als Abbildung der Realität zu akzeptieren. Ibsen, ein Meister im Handhaben dieser Konventionen, sagte von seinem Werk: "Die Illusion, die ich hervorzubringen versuchte, war die der Realität." Dramatiker der Avantgarde des 20. Jahrhunderts andererseits glauben, daß die Realität selbst Illusion ist, und unternehmen deshalb keinen Versuch mehr, in ihren Werken illusionistische Wirkungen zu erzeugen. Die Stücke von Pirandello erforschten das Verhältnis von Wirklichkeit und Illusion und "stellten das Recht und den Anspruch der Alltagswelt in Frage, für realer gehalten zu werden als die hergestellte Welt des Stückes". Brecht lenkte, anstatt die Bühnenkonventionen zu verschleiern, die Aufmerksamkeit absichtlich auf sie, um beim Zuschauer die zeitweilige Aufhebung seiner normalen Wirklichkeitsorientierung zu verstärken. So haben auch experimentelle Romanautoren alles Erdenkliche getan, um den Leser zu befremden, es ihm unmöglich zu machen, sich mit den Figuren ihrer Werke zu identifizieren, und ihn bei jeder Gelegenheit daran erinnert, daß Kunst – wie das Leben selbst – Fiktion ist: die eigenmächtige Ausstattung einer sonst bedeutungslosen Erfahrung mit Bedeutung. Moderne Schriftsteller haben Ibsens Formel auf den Kopf gestellt: die Realität, die sie in ihren Arbeiten nachzugestalten versuchen, ist die Illusion.120
Die Realisten des 19. Jahrhunderts wußten, daß der Eindruck der Wahrscheinlichkeit in ihren Werken zum Teil darauf beruhte, daß der Künstler zwischen Publikum und Kunstwerk eine Distanz zu schaffen vermochte. Diese Distanz, die am deutlichsten im Theater durch die räumlich-physische Trennung von Zuschauern und Schauspielern gegeben ist, erlaubte es dem Zuschauer paradoxerweise, die Vorgänge auf der Bühne zu beobachten, als wären sie Ereignisse aus dem Leben selbst. "Die Wirkung des Stücks", schrieb Ibsen, "besteht in hohem Maße darin, daß der Zuschauer das Gefühl vermittelt bekommt, tatsächlich Ereignisse des realen Lebens zu sehen, zu hören und daran teilzunehmen." Er klagte darüber, daß eine Inszenierung der Gespenster im Jahre 1883 zu wenig Raum zwischen Zuschauern und Bühne gelassen habe. In Bayreuth ließ Richard Wagner über dem Rand des Orchestergrabens einen zweiten Proszeniumbogen anbringen, um so zwischen Publikum und Bühne eine "mystische Kluft" zu schaffen. "Sie vermittelt dem Zuschauer die Vorstellung, daß die Bühne ganz weit entfernt ist, obwohl er sie in aller Deutlichkeit aus nächster Nähe wahrnimmt, und das läßt wiederum die Illusion entstehen, daß die auf der Bühne auftretenden Personen von großer, übermenschlicher Statur sind."
In dem Maße, in dem die Kunst den Versuch aufgibt, das Publikum mit Illusionen zu umgeben und eine überhöhte Form von Realität zu bieten, versucht sie die Kluft zwischen Publikum und Schauspielern aufzuheben. Gelegentlich rechtfertigt sie dies Verfahren damit, daß sie sich auf Theorien beruft, die die Ursprünge des Dramas auf das religiöse Ritual, die orgiastische Gemeinschaft zurückführen. Bedauerlicherweise kann der Versuch, den Sinn für die religiöse Gemeinschaft wiederherzustellen, nicht die Einheit des Glaubens neu begründen, die solchen Formen früher Leben verlieh.
Die Verschmelzung von Schauspielern und Publikum macht den Zuschauer nicht zum Kommunikanten; sie bietet ihm – sofern sie ihn nicht gänzlich aus dem Theater vertreibt – lediglich die Chance, sich selbst in der neuen Rolle eines Pseudodarstellers zu bewundern – eine Erfahrung, die sich qualitativ nicht, auch dann nicht, wenn sie in den Jargon der Avantgarde gekleidet ist, von der des Studiopublikums beim Fernsehen unterscheidet, das geradezu vernarrt ist in die Aufnahmen, die von ihm in periodischen Abständen über die Monitore flimmern. Bei den Aufführungen des Living Theatre, in der mit viel Beifall bedachten Inszenierung Dionysos’69 und anderen kurzlebigen Sensationen der späten sechziger Jahre, beleidigten und umschmeichelten die Schauspieler die Zuschauer abwechselnd und riefen sie auf, sich mit ihnen auf der Bühne zu Pseudoorgien oder Gesten politischer Solidarität zusammenzufinden. "Ich will nicht die Antigone spielen", sagte Judith Malina, "ich will Judith Malina spielen." Solche Strategien schaffen, wie Erich Bentley beobachtet hat, das Publikum nur ab, um die Schauspielertruppe zu vergrößern.121
Der Aufstieg des absurden Theaters scheint, wie betont worden ist, "den Wandel der vorherrschenden Form von psychischen Störungen widerzuspiegeln, wie er seit dem Zweiten Weltkrieg von einer wachsenden Zahl von Psychiatern beobachtet und beschrieben worden ist". Während das "klassische" Drama des Sophokles, Shakespeare und Ibsen auf Konflikten fußte, die mit "klassischen" Neurosen verbunden sind, stellt das absurde Theater von Albee, Beckett, Ionesco und Genet die Leere, Isolation, Einsamkeit und Verzweiflung in den Mittelpunkt, wie sie von der Borderline-Persönlichkeit erfahren werden. Die Affinität zwischen dem Theater des Absurden und der Angst des Borderline-Typus "vor engen Beziehungen" sowie den "begleitenden Empfindungen von Hilflosigkeit, Verlust und Wut", der Angst "vor destruktiven Impulsen" und der "Fixierung auf frühe Omnipotenzphantasien" schlägt sich nicht nur im Inhalt dieser Stücke nieder, sondern auch – und das berührt die Ausführungen an dieser Stelle mehr – in ihrer Form. Der zeitgenössische Dramatiker verzichtet auf die Bemühung, zusammenhängende und allgemein anerkannte Wahrheiten darzustellen und bietet statt dessen seine persönliche, intuitive Wahrheit. Die charakteristische Entwertung der Sprache, die Ungenauigkeit von Zeit und Ort, die sparsamen Szenenbilder und das Fehlen einer ausgeprägten Handlung gemahnen an die öde Welt der Borderline-Persönlichkeit, an ihren fehlenden Glauben an Wachstum und Entwicklung von Objektbeziehungen, ihre oft "konstatierte Feststellung, daß Worte nicht zählen und nur Taten wichtig sind", und vor allem an ihre Überzeugung, daß die Welt aus Illusionen besteht.
Anstelle des neurotischen Charakters mit genau umrissenen Konflikten, in deren Mittelpunkt verbotene Sexualität, Autorität oder Abhängigkeit und Unabhängigkeit im Familienverband stehen, sehen wir Charaktere, die voller Unsicherheit darüber sind, was denn eigentlich real ist.122

Diese Unsicherheit dringt heute in alle Kunstformen ein und kristallisiert sich in einer Bildwelt des Absurden, die wiederum ins Alltagsleben zurückdrängt und eine theatralische Haltung gegenüber dem Leben, eine Art absurden Theaters des Ich fördert.

Das Theater des Alltagslebens

Verschiedene historische Strömungen sind in unseren Tagen zusammengekommen, um nicht nur bei Künstlern, sondern auch bei gewöhnlichen Männern und Frauen in immer stärkerem Maße einen Zyklus von Selbstbeobachtung und Selbstbewußtsein auszulösen – ein Gefühl von sich selbst als Darsteller unter den ständig wachen Blicken von Freunden und Unbekannten. Erving Goffman, der sich als Soziologe mit dieser Thematik beschäftigt hat, schreibt an einer bezeichnenden Stelle:
Als menschliche Wesen sind wir vermutlich Geschöpfe mit variabler Triebstärke und mit Stimmungen und Energien, die sich von einem Augenblick zum andern verändern. Als Charaktere aber, die einem Publikum vorgeführt werden, dürfen wir keinen Hochs und Tiefs unterworfen sein ... Eine gewisse Bürokratisierung des Geistes wird erwartet, so daß man sich bei uns darauf verlassen kann, daß wir zu jedem festgesetzten Zeitpunkt eine vollkommen homogene Vorstellung geben.123
"Diese Bürokratisierung des Geistes" ist zunehmend beklemmender geworden und heute, dank Goffman, weithin als bedeutsames Element des zeitgenössischen Unbehagens erkannt. Die Selbstbefangenheit, die alle Bemühungen spontanen Handelns oder Genießens vereitelt, rührt letztlich aus dem Verlust des Glaubens an die Realität der Außenwelt, die in einer von "symbolisch vermittelter Information" überschwemmten Gesellschaft ihre Unmittelbarkeit eingebüßt hat. Je mehr der Mensch sich in seiner Arbeit objektiviert, desto mehr nimmt die Realität den Anschein von Illusion an. Während die Funktionsweisen der modernen Wirtschaft und der modernen Gesellschaftsordnung in wachsendem Maße der Alltagsintelligenz unzugänglich werden, verzichten Kunst und Philosophie auf die Aufgabe, sie den vermeintlich objektiven Gesellschaftswissenschaftlern zu erläutern, die ihrerseits davor zurückscheuen, die Realität zu fassen, und sich in die Klassifikation von Banalitäten flüchten. Die Realität stellt sich somit für Laien wie für "Wissenschaftler" als undurchdringliches Geflecht von gesellschaftlichen Beziehungen dar – als "Rollenspiel", als "Präsentation des Ich im Alltagsleben". Für das Ich und seine "Selbst"-Darstellung ist die einzige Realität die Identität, die es sich aus Materialien bilden kann, wie sie ihm Werbung und Massenkultur, Themen populärer Filme und Romane sowie Bruchstücke vermitteln, die aus ihrem Umfeld kultureller Traditionen herausgerissen und für das heutige Bewußtsein allesamt gleichermaßen zeitgenössisch sind.124
Um sich in der Rolle, die er für sich selbst zurechtgelegt hat, zu vervollkommnen, blickt der neue Narzißt in sein eigenes Spiegelbild, nicht so sehr in Bewunderung versunken als auf unermüdlicher Suche nach Mängeln, nach Zeichen von Ermüdung und Verfall. Das Leben wird zum Kunstwerk, während "für den Künstler das erste Kunstwerk", der Verlautbarung von Norman Mailer zufolge, "in der Formung seiner eigenen Persönlichkeit besteht"125 – ein Prinzip, das sich heute nicht nur diejenigen zu eigen gemacht haben, die Eigenreklame in Buchform veröffentlichen, sondern auch die Alltagskünstler auf der Straße.
Ob Schauspieler oder Zuschauer, wir alle leben im Bannkreis von Spiegeln. In ihnen suchen wir uns unserer Fähigkeiten zu vergewissern, andere für uns einzunehmen oder zu beeindrucken, halten wir ängstlich nach Makeln Ausschau, die den Eindruck, den wir erwecken möchten, beeinträchtigen könnten. Die Werbeindustrie fördert diese Beschäftigung mit dem äußeren Aussehen bewußt. In den zwanziger Jahren "waren die in Zeitschriften abgebildeten Frauen fortgesetzt damit beschäftigt, sich selbst zu beobachten, immer selbstkritisch ... Ein beträchtlicher Anteil der Zeitschriftenwerbung, die Frauen ansprechen sollte, zeigte Frauen, wie sie in den Spiegel schauten ... Die Anzeigen der zwanziger Jahre stellten den narzißtischen Appell ganz deutlich heraus. Sie machten schamlos Gebrauch von Fotos verschleierter Aktmodelle und von Frauen in autoerotischen Posen, um die Leserinnen anzustacheln, sich mit ihnen zu vergleichen und sie an die vorrangige Bedeutung ihrer Sexualität zu erinnern". Eine Werbebroschüre für Mittel der Schönheitspflege bildete auf dem Umschlag einen Frauenakt ab mit der Unterschrift: "Ihr Meisterwerk – Sie selbst."126
Heute werden solche Themen und Motive direkter dargestellt als je zuvor; zudem propagiert die Werbung als höchste Form von Kreativität für Männer wie Frauen die "Kreation" ihrer selbst. In einem früheren Stadium der kapitalistischen Entwicklung machte die Industrialisierung den Handwerker oder Kleinbauern zum Proletarier, nahm ihm sein Land und seine Werkzeuge und warf ihn auf den Markt, wo er außer seiner Arbeitskraft nichts zu verkaufen hatte. In unseren Tagen sind nicht nur im Bereich der manuellen Arbeit, sondern auch bei den Angestellten spezifische Fertigkeiten so wenig ausgebildet, daß unter den veränderten Bedingungen die Arbeitskraft weniger in physischer Stärke oder Intelligenz als in der Persönlichkeit ist. Männer und Frauen haben ein gefälliges Image zu projizieren und müssen ihre Rollen spielen, gleichzeitig aber auch ihr eigenes Rollenspiel kritisch und genau beobachten. Die Änderungen mitmenschlicher Beziehungen im Produktionsprozeß, die die Gesellschaft undurchsichtig gemacht haben, haben auch zu einer neuen Vorstellung von der Persönlichkeit geführt, die Richard Sennett in seinem Buch The Fall of Public Man beschrieben hat. Während der Charakterbegriff des 18. Jahrhunderts die gemeinsamen Elemente der menschlichen Natur betonte, begann das 19. Jahrhundert, die Persönlichkeit als einmaligen und einzigartigen Ausdruck individueller Charakterzüge zu sehen. Diesem Verständnis zufolge drückten Äußerlichkeiten unwillentlich das Innere eines Menschen aus. Leute wurden, wie Sennett erläutert, bald von der Angst erfaßt, sich durch ihre Handlungen, Mienen und Kleidungsdetails unfreiwillig zu verraten. Im selben Jahrhundert stellte, wie Edgar Wind nachgewiesen hat, der Kunstkritiker Giovanni Morelli die Theorie auf, daß Originalkunstwerke von Fälschungen durch eine genau Prüfung unscheinbarer Details unterschieden werden könnten – die charakteristische Darstellung eines Ohres oder Auges –, die die unverkennbare Hand des Meisters verraten. "Jeder Maler", behauptete Morelli, "hat seine Besonderheiten, die sich in seine Arbeit einschleichen, ohne daß er sich ihrer bewußt wäre."127
Natürlich führten diese Erkenntnisse über die Persönlichkeit und ihre unfreiwilligen Ausdrucksdimensionen bei Künstlern ebenso wie bei gewöhnlichen Menschen zu Unsicherheit und befangener Selbstbeobachtung. Die Künstler sollten nie mehr Details ausführen, ohne besonders darauf zu achten; und, wie ein Kritiker festgestellt hat, entwertete diese neue Aufmerksamkeit auf das Detail eigentlich den Begriff des Details überhaupt.128 In ähnlicher Weise wurde der Mensch im Alltagsleben zum überaus kenntnisreichen Beobachter seines eigenen und des Rollenspiels der anderen, indem er die Meisterschaft eines Romanciers entwickelte, "isolierte Details der äußeren Erscheinung zu entschlüsseln", wie Sennett über Balzac schreibt, wobei der "das Detail zu einem Emblem des ganzen Menschen erweiterte".129 Aber solche neuen gesellschaftlichen Fertigkeiten haben, obwohl sie einen höheren ästhetischen Genuß mit sich brachten, neue Formen von Beunruhigung und Angst begründet. In seinem Selbst-Bewußtsein gefangen wie in einem Kerker, sehnt sich der moderne Mensch nach der verlorenen Unschuld des spontanen Empfindens. Unfähig, seine Gefühle auszudrücken, ohne ihre Wirkungen auf andere zu berechnen, zweifelt er daran, daß die Gefühlsäußerungen seiner Mitmenschen echt sind, und hat wenig von den Reaktionen Dritter auf sein eigenes Rollenspiel, selbst wenn sein Publikum tief bewegt zu sein vorgibt. Andy Warhol klagt:
Tag für Tag schaue ich in den Spiegel und sehe immer noch etwas – einen neuen Pickel ... Ich tauche einen Johnson & Johnson-Wattebausch in Johnson & Johnson-Alkohol und betupfe den Pickel mit dem Alkohol ... Und während der Alkohol trocknet, denke ich an gar nichts. Immer stilvoll. Immer in gutem Geschmack ... Wenn der Alkohol abgetrocknet ist, kann ich endlich das fleischfarbene Akne-Medikament auftragen ... Jetzt ist der Pickel verdeckt. Aber bin ich geschützt? Ich muß im Spiegel nach weiteren Anhaltspunkten Ausschau halten. Alles ist da. Der gefühllose Blick ... Die gelangweilte Stumpfheit, die fahle Blässe ... Die grau werdenden Lippen. Das struppige silberweiße Haar, weich und metallisch ... Nichts fehlt. Ich bin all das, was mein Merkbuch über mich sagt.130
Das Sicherheitsgefühl, das der Spiegel vermittelt, erweist sich als flüchtig. Jede neue Gegenüberstellung mit dem Spiegel bringt neue Risiken. Warhol bekennt, daß er "noch immer unter der Zwangsvorstellung leidet, in den Spiegel zu sehen und dort nichts zu sehen, niemand".

Die Analyse zwischenmenschlicher Beziehungen im Theater des Alltags – eine Analyse, die sich vorsätzlich an die Oberfläche der gesellschaftlichen Verkehrsformen hält und keinen Versuch unternimmt, psychologische Tiefenschichten auszuloten – führt zu ähnlichen Schlüssen wie die Psychoanalyse. Die psychoanalytische Beschreibung des pathologischen Narzißten, der in seinem Selbstgefühl auf die Bestätigung durch andere angewiesen ist, die er nichtsdestoweniger abwertet, stimmt in vielem mit der Beschreibung der Selbstdarstellung in der Literaturkritik und in der Soziologie des Alltagslebens überein. Die Entwicklungen, die zu einer neuen Sensibilität gegenüber unbewußten Motiven und unwillkürlichen Ausdrucksformen geführt haben – und zu diesen Entwicklungen gehört nicht zuletzt auch die Popularisierung psychiatrischer Denkweisen –, können nicht unabhängig von den historischen Veränderungen betrachtet werden, die nicht nur eine neue Auffassung der Persönlichkeit, sondern auch eine neue Art der Persönlichkeitsstruktur hervorgebracht haben. Der pathologische Narzißt offenbart auf einer tieferen Ebene dieselbe Angst, die in milderer Form im allgemeinen gesellschaftlichen Umgang so häufig geworden ist. Die herrschenden Formen des gesellschaftlichen Lebens fördern, wie wir gesehen haben, viele Arten narzißtischen Verhaltens. Darüber hinaus haben sie – und das wird in Kapitel 7 ausführlich zu erörtern sein – den Sozialisierungsprozeß in einer Weise verändert, die narzißtische Verhaltensschemata zusätzlich bestärkt, indem sie sie in der frühesten Kindheitserfahrung des Individuums Fuß fassen läßt.

Ironische Distanzierung als Flucht vor der Routine

Wir haben jedoch das, was schon allein von der Rollentheorie zu lernen ist, noch keineswegs erschöpft. In unserer Gesellschaft dient die ängstliche Selbstbeobachtung (nicht zu verwechseln mit der kritischen Selbstprüfung) nicht nur dazu, die an andere gerichtete Information zu regulieren und empfangene Signale zu deuten; sie richtet auch eine ironische Distanz zur tödlichen Routine des Alltagslebens auf.131 Einerseits hat die Abwertung von Arbeit und Leistung Fähigkeiten und fachliche Kompetenz für den materiellen Erfolg zunehmend irrelevant gemacht, und damit den Warencharakter der Selbstdarstellung gefördert; andererseits unterminiert die Entwertung der Arbeit eine Bindung an den Beruf und verleitet die Menschen – als einzige Alternative zu Langeweile und Verzweiflung –, ihre Arbeit mit selbstkritischer Distanzierung zu betrachten. Wenn Berufstätigkeiten fast nur noch aus sinnlosen Handhabungen und gesellschaftliche Routine, die früher die Würde des Rituals besaß, zum bloßen Rollenspiel entartet, versucht der Arbeitende – ob er nun am Fließband schuftet oder einen hochbezahlten Job in einer großen Bürokratie innehat – dem dadurch aufkommenden Gefühl der eigenen Belanglosigkeit zu entrinnen, indem er sich eine ironische Distanz zur Alltagsroutine schafft. Er bemüht sich, das Rollenspiel in eine symbolische Erhöhung des Alltagslebens zu verwandeln. Er sucht Zuflucht bei Witzen, Spott und Zynismus. Wenn er aufgefordert wird, eine unangenehme Arbeit zu leisten, gibt er deutlich zu erkennen, daß er den Unternehmenszielen von Effizienz und Produktionssteigerung keinen Glauben schenkt. Wenn er eine Party besucht, zeigt er durch sein Verhalten, daß alles nur ein Spiel ist – falsch, künstlich, unaufrichtig; eine lächerliche Travestie von Geselligkeit. Auf diese Weise versucht er sich selbst gegen die Spannungen der Situation immun zu machen. Indem er sich weigert, die Routinearbeiten, die er auszuführen hat, ernst zu nehmen, bestreitet er ihre Macht, ihm zu schaden. Obgleich er annimmt, daß es unmöglich ist, die ihm von der Gesellschaft auferlegten eisernen Grenzen zu verändern, scheinen sie weniger wichtig, wenn er sie nicht ernst nimmt. Indem er das Alltagsleben entmystifiziert, vermittelt er sich und anderen den Eindruck, daß er darüber hinausgewachsen ist, selbst wenn er sich anpaßt und tut, was von ihm erwartet wird.
Da immer mehr Menschen in Stellungen arbeiten, die von ihnen weniger verlangen, als sie können, da Freizeit und geselliges Leben andererseits die Eigenart von Arbeit annehmen, wird zynische Distanziertheit zum beherrschenden Modus des alltäglichen Umgangs. Viele Formen der Massenunterhaltung appellieren an diese Einstellung und fördern sie so noch. Sie parodieren bekannte Rollen und Themen und veranlassen das Publikum, sich seiner Umwelt überlegen zu fühlen. Populäre Gattungen beginnen sich selbst zu parodieren: Western nehmen Western aufs Korn; Rührstücke wie Fernwood, Soap oder Mary Hartman, Mary Hartman geben dem Zuschauer zu verstehen, er sei höchst gebildet, da er ja über die Konventionen der Rührstücke spotten kann. Und doch bleibt ein Großteil der Massenunterhaltung "romantisch" und eskapistisch, enthält sich dieses Theaters des Absurden und verheißt Flucht aus der Routine statt ironische Distanzierung davon. Werbung und Trivialliteratur blenden ihr Publikum mit Bildern von Abenteuer und Erlebnisreichtum. Sie versprechen Teilnahme an der Handlung, eine Rolle im Drama des Geschehens, statt an den Zynismus des bloßen Zuschauens zu appellieren. Emma Bovary, prototypische Konsumentin der Massenkultur, träumt noch immer, und ihre Träume, von Millionen geteilt, steigern die Unzufriedenheit mit Beruf und Alltagsroutine.

Die gedankenlose Anpassung an diese Routine wird zunehmend schwieriger. Während die moderne Industrie die Menschen zu Tätigkeiten verurteilt, die ihrer Intelligenz hohnsprechen, stopft die Massenkultur mit ihren romantischen Eskapismen ihre Köpfe mit Visionen von Erfahrungs- und Lebensmöglichkeiten voll, die ihre Mittel – wie auch ihre emotionalen und imaginativen Fähigkeiten – übersteigen, und trägt damit zu weiterer Entwertung der Alltagsroutine bei. Die Kluft zwischen Phantasie und Realität, zwischen der Welt des Schönen und der Alltagswelt führt zu einer Haltung ironischer Gleichgültigkeit gegenüber der Welt, die den Schmerz betäubt, aber auch den Willen lähmt, die gesellschaftlichen Bedingungen zu verändern, auch nur bescheidene Verbesserungen in Freizeit und Arbeit anzustreben und dem Alltagsleben Bedeutung und Würde zurückzugewinnen.

Ausweglosigkeit

Die Flucht vor der Wirklichkeit mittels Ironie und kritischem Selbstempfinden ist in jedem Fall selbst eine Illusion; bestenfalls gewährt sie momentane Befreiung. Das Sich-Distanzieren wird rasch wieder selbst zur Routine. Das über Bewußtsein kommentierende Bewußtsein verstrickt sich in einem eskalierenden Zirkel von Selbstbefangenheit, der Spontaneität hemmt. So verstärkt sich das Gefühl fehlender persönlicher Echtheit, das zunächst aus dem Ressentiment gegen die sinnlosen Rollen erwächst, die die moderne Industrie vorschreibt. Selbstgeschaffene Rollen werden ebenso zwanghaft-unnatürlich wie die gesellschaftlichen, denen gegenüber sie eine ironische Distanz schaffen sollten. Wir sehnen uns nach der Aufhebung der Selbstbefangenheit und der pseudoanalytischen Haltung, die uns zur zweiten Natur geworden ist; doch weder Kunst noch Religion, historisch gesehen die beiden großen emanzipatorischen Kräfte zur Befreiung aus einem Gefängnis des Ich, haben noch die Kraft, den Vertrauensschwund aufzuhalten. In einer so weitgehend auf Illusionen und äußerlichem Schein beruhenden Gesellschaft haben Kunst und Religion als die höchsten Illusionen keine Zukunft. Credo quia absurdum, das Paradoxon der religiösen Erfahrung in der Vergangenheit, hat wenig Bedeutung in einer Welt, in der nicht nur die Wunder, die mit religiösem Glauben und Handeln verbunden sind, sondern schlichtweg alle Dinge absurd scheinen. Der Kunst gelingt es nicht mehr, die Illusion von Wirklichkeit hervorzubringen; sie leidet darüber hinaus aber unter derselben Selbstbefangenheit, die dem Mann auf der Straße zu schaffen macht. Schriftsteller und Dramatiker lenken das Augenmerk ihrer Leser und Zuschauer auf die artifizielle Beschaffenheit ihrer Werke und vereiteln so eine Identifizierung mit ihren Figuren. Mittels Ironie und Eklektizismus distanziert sich der Autor von seinem Thema, wird sich dieser Verfremdungstechniken zugleich jedoch so deutlich bewußt, daß es ihm zunehmend schwerer fällt, über irgend etwas zu schreiben, ausgenommen die Schwierigkeiten des Schreibens. Das Schreiben übers Schreiben wird dann seinerseits zum Gegenstand von Selbstparodie, etwa wenn Donald Barthelme in eine seiner Erzählungen die Reflexion einfügt:
Schon wieder eine Geschichte über das Schreiben von Geschichten! Schon wieder ein Regressus ad infinitivum! Wer zöge nicht eine Kunst vor, die wenigstens in aller Offenheit etwas anderes imitiert als ihre eigenen Entwicklungen? Eine Kunst, die nicht fortgesetzt verkündet: "Nicht vergessen, ich bin ein Kunstwerk!"
In ähnlicher Weise fragt John Barth plötzlich inmitten des Schreibens einer Erzählung:
Wie schreibt man eigentlich eine Erzählung? Wie findet man, in diesen Buchten und Spalten verwirrt, einen Ausweg? Geschichtenerzählen ist nicht mein Bier; ist niemandes Bier; meine Fabel steigt und fällt nicht in sinnvollen Entwicklungsschritten, sondern ... schweift ab, weicht zurück, zögert, stöhnt unter ihrem Drum und Dran, bricht zusammen, verendet.
Der "emotionale Rückzug" des experimentellen Autors droht, so behauptet Morris Dickstein, in Katatonie zu entarten. Wenn der Autor sich nicht mehr die Mühe macht, die "Realität zu meistern", zieht er sich auf eine oberflächliche Selbstanalyse zurück, die nicht nur die Außenwelt auslöscht, sondern auch eine tiefere Subjektivität, "die die Vorstellungskraft beflügelt ... Seine Streifzüge ins Ich sind genauso sinnlos und leer wie seine Streifzüge durch die Welt".132 Die psychologische Analyse bestätigt, was die Kunstsoziologie und die Soziologie des alltäglichen Rollenspiels uns gelehrt hat. Wenn die Unfähigkeit, Zweifel und Ungläubigkeit aufzuheben, aus dem Wandel künstlerischer Konventionen herrührt wie aus der Selbstbefangenheit, mittels derer wir uns vom Alltagsleben zu distanzieren versuchen (und das uns auf seine eigene Weise versklavt), so hat diese unermüdliche Selbstbeobachtung auch eine psychologische Grundlage. Wer sich der Fähigkeit seines Ichs sicher fühlt, das Es zu beherrschen, genießt es laut Kohut, den sekundären Prozeß aufzuheben (beispielsweise im Schlaf oder bei sexueller Aktivität), weil er weiß, daß er ihn zurückgewinnen kann, wann er will. Der Narzißt dagegen hält seine eigenen Wünsche für so bedrohlich, daß er oft größte Schwierigkeiten hat, zu schlafen, den Sexualtrieb in der Phantasie auszugestalten ("die wichtigsten Indikatoren für die Fähigkeit eines Menschen, dem Sekundärprozeß Besetzung zu entziehen") oder während psychoanalytischer Sitzungen die Gegenwartsrealität zu suspendieren. Der Erzähler von Hellers Was geschah mit Slocum? bekennt: "Beim Erwachen aus tiefem, traumlosem Schlaf packt mich die Angst, wenn ich bedenke, wie weit ich mich vom Leben entfernt hatte und wie wehrlos ich gewesen sein muß, während ich dort war ... Wie, wenn ich nun nicht hätte zurückkommen können? Ich mag den Kontakt zu meinem Bewußtsein nicht gänzlich verlieren."133
In psychiatrischen Sitzungen wie im Theater unterstützen die Konventionen, die den Rahmen für die psychoanalytische Begegnung abgeben, normalerweise die "Aufhebung der Alltagsrealität": die "Dämpfung der Reize aus der unmittelbaren Umwelt" ermöglicht es, sich einer "Welt imaginativ und künstlerisch überarbeiteter Erinnerungen" zuzuwenden. Bei manchen Patienten wird die "Unfähigkeit, den Entzug des Wollens hinsichtlich der täglichen Wirklichkeit zu ertragen und die Doppeldeutigkeit der analytischen Situation hinzunehmen", jedoch zum zentralen Problem der Analyse selbst. Wie gewöhnlich, fügt Kohut hinzu, ist es sinnlos, dem Patienten mit einem moralischen Argument gegen diese seine Unfähigkeit zu begegnen oder zu ermahnen, sein Verhalten zu ändern. Der Angriff auf die Theaterillusion, der die Kunst im 20. Jahrhundert ebenso wirksam untergräbt wie der Angriff auf religiöse Illusionen im 19. Jahrhundert die Religion, hängt mit der Angst vor der Phantasie zusammen, die mit dem Widerstand gegen die "Aufhebung der täglichen Wirklichkeit" zu tun hat. Wenn Kunst, Religion und sogar die Sexualität keine Entlastung der Phantasie vom Alltagsleben mehr bieten können, wird die Banalität der Selbsterfahrung so überwältigend stark, daß der Mensch sich am Ende überhaupt keine Entlastung mehr vorzustellen vermag, es sei denn in totaler Nichtigkeit und Leere. Warhol hat eine gute Beschreibung dieses Geisteszustandes gegeben:
Die beste Liebe ist die Gar-nicht-daran-denken-Liebe. Manche Leute können Sex haben und ihren Kopf dabei wirklich ausleeren und mit Sex füllen; andere Leute können ihren Kopf nie ausleeren und mit Sex füllen, denn noch während sie Sex haben, denken sie. "Kann das hier wirklich ich sein? Tue ich das hier wirklich? Das ist sehr seltsam. Vor fünf Minuten habe ich das noch nicht getan. Schon bald werde ich es nicht mehr tun. Was würde Mutter dazu sagen. Was haben sich die Leute überhaupt dabei gedacht, wenn sie so etwas gemacht haben?" Deshalb ist der erste Menschentyp ... besser dran. Der zweite Typ muß etwas anderes ausfindig machen, bei dem er sich entspannen und in dem er sich verlieren kann.134

In einem Pseudobewußtsein von sich selbst gefangen, nähme der neue Narzißt liebend gern Zuflucht zu einer idée fixe, zu einem neurotischen Zwang, einer "wunderbaren Obsession" – zu irgend etwas, um seinen Kopf von sich selbst freizubekommen. Sogar die gedankenlose Anpassung an die Alltagsmühle erscheint, da sie als Möglichkeit in die historische Ferne entrückt ist, eine geradezu beneidenswerte Geistesverfassung. Es kennzeichnet den besonderen Schrecken des zeitgenössischen Lebens, daß es die schlimmsten Züge früherer Zeiten – die Abgestumpftheit der Massen, die Besessenheit und Rastlosigkeit der Bourgeoisie – vergleichsweise reizvoll wirken läßt. Der Kapitalist des 19. Jahrhunderts mit seinem zwanghaften Fleiß, dem Streben, sich der Versuchung zu entziehen, litt entsetzlich unter seinen inneren Dämonen. Der zeitgenössische Mensch aber, den seine Selbstbefangenheit peinigt, wendet sich neuen Kulten und Therapien nicht zu, um sich von seinen Zwangsvorstellungen zu befreien, sondern um Sinn und Ziel im Leben zu finden, um irgendeiner Sache auf die Spur zu kommen, für die es sich zu leben lohnt, genauer: um sich eine Obsession zuzulegen, und wenn es nur die passion maitresse der Therapie selbst ist. Er würde sein Selbstbewußtsein liebend gern gegen Vergessen eintauschen und seine Freiheit, sich neue Rollen zu erfinden, gegen irgendeine Form äußeren Diktats, je willkürlicher, desto besser. Der Held eines vor kurzem erschienenen Romans verzichtet auf die Freiheit der eigenen Entscheidung und ordnet sein Geschick dem Würfelspiel unter: "Ich stellte für mich jetzt und auf ewig den unumstößlichen Grundsatz auf, das zu tun, was die Würfel mir diktierten."135 Die Menschen pflegten die Ironie des Schicksals zu verwünschen; heute ziehen sie diese Ironie der Ironie des nie aussetzenden Selbstbewußtseins vor. Während frühere Zeiten das willkürliche Diktat von außen wie von innen durch die Vernunft zu ersetzen suchten, empfindet das 20. Jahrhundert die Vernunft in der Form des ironischen Selbstbewußtseins als strengen Herrn; es versucht frühere Formen der Sklaverei wiederzubeleben. Das Gefängnisdasein der Vergangenheit nimmt sich in unseren Tagen geradezu wie Freiheit aus.

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