Auszüge aus Sascha Lehnartz'
"Global Players"

Warum wir nicht mehr erwachsen werden

Wer keine Haltung hat, braucht Moden
Wir taumeln in Retro-Trainingsjacken durch unsere Epoche und sehen die Welt durch getönte Pilotenbrillen. Wir glauben nichts mehr, und weil wir nichts mehr glauben, glauben wir jeden Mist. Weil wir keine Haltung haben, gehen wir mit jeder Mode und drehen uns doch nur im Kreis. Wir sind uns nicht sicher, wann das angefangen hat, aber wir haben eine vage Ahnung, daß es so nicht wertergehen kann.
Wir werden immer flexibler, dynamischer und mobiler. Nur erwachsen werden wir nicht mehr. Wenn uns der globale Wind zu kraß ins Gesicht bläst, ziehen wir die Kapuze über den Kopf, stopfen die Hände in die Taschen und sneaken flinken Retro-Turnschuhs ins Kindchenschema weg.
Warum uns die Globalisierung, der Pop und die Postmoderne die Fähigkeit austreiben, in Ruhe erwachsen zu werden: Sascha Lehnartz liefert eine politisch erfrischend unkorrekte Polemik mit hohem Spaßfaktor – über Retro-Wahn, Popkultur, Hipster, Schaumschläger, lebenslängliche 68er, Alt-78er, Neokons und Berufsjugendliche jeglicher Couleur.
Sascha Lehnartz zeichnet das sarkastische Portrait einer Gesellschaft, die schon lange nicht mehr weiß, wie es politisch, moralisch oder ästhetisch weitergehen soll. Alle fünf Jahre entdeckt eine neue "Generation", daß es nicht leicht ist, damit klarzukommen, daß nichts mehr klar ist. Die Autoritäten sind erfolgreich demontiert und bloßes Dagegensein taugt als Haltung schon lange nicht mehr, wird aber weiter munter geprobt. Schuld an der allseits verbreiteten Planlosigkeit sind die Globalisierung, der Pop und natürlich wir selbst. Ein nachhaltiges Plädoyer dafür, wenigstens ab und zu den Versuch zu unternehmen, trotz allem irgendwie erwachsen auszusehen.
Sascha Lehnartz wurde 1969 in Remscheid geboren. Er studierte Vergleichende Literaturwissenschaften in Paris, Berlin, Santa Barbara und New York und promovierte an der Columbia University. Er war Redakteur bei der FAZ und Mitarbeiter beim SZ-Magazin. Heute lebt er in Berlin und schreibt vor allem für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung.

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Check in

Alles ist jetzt ultra, alles transzendiert unaufhaltsam, im Denken wie im Tun. Niemand kennt sich mehr, niemand begreift das Element, worin er schwebt und wirkt, niemand den Stoff, den er bearbeitet. Goethe, Brief an Zelter, 6. Juni 1825

Die Leute sind furchtbar zappelig geworden. Sie benehmen sich wie Kinder. Sie wissen nicht mehr, wo vorne und hinten ist. Sie fürchten, sie kämen zu kurz. Die fetten Jahre seien vorbei und außerdem sei Schluß mit lustig. Wir müßten den Gürtel enger schnallen und ein Ruck müsse her, bitte irgendein Ruck. An dieser Unruhe ist, um es so platt wie möglich zu formulieren, die Globalisierung schuld. Und erst danach die SPD. Beide zusammen machen die Menschen unsicher, hektisch, sprunghaft und albern. Sie reden uns ständig ein, wir sollten jetzt bitteschön Hochpotenzler werden: flexibel, mobil, dynamisch und für uns selbst verantwortlich.

Das kann natürlich nicht klappen, denn mindestens die Hälfte aller Menschen, die ich kenne, ist eigentlich unterpotent, stur, unbeweglich, träge, und beim Ausfüllen von Formularen muß man ihnen zur Hand gehen.

Die andere knappe Hälfte besteht aus so, na ja, Mittelpotenten, die sich bewegen, wenn sie unbedingt müssen, zum Beispiel beim Betriebssport oder am Vatertag. Für diese Menschen wurde einst das Modell der automatischen Beförderung erfunden. Es kam dem menschlichen Naturell entgegen und schaffte die beruhigende Illusion, es ginge im Leben gleichmäßig voran und schon deshalb ergebe alles einen Sinn. Dieses tröstliche Modell ist leider im Verschwinden begriffen, und jene, für die es gemacht war, fallen daher in Schockstarre, oder aber, sie werden hektisch, weil sie fürchten, sie müßten auf ihre alten Tage auch noch flexibel, mobil und dynamisch werden oder die Kindersparbücher anknabbern.

Flexibel, mobil und dynamisch zu sein ist aber recht eigentlich nur etwas für überehrgeizige Jungspunde, die es nicht mehr erwarten können, ihrer provinziellen Kleinstadtjugend in – sagen wir mal – Wipperfürth zu entfliehen. Für Menschen, die sich in dieser Lebenslage befinden, ist es legitim zu glauben, ein aufregendes Leben bestehe daraus, immer wieder woanders zu sein. Sie wollen ständig etwas Neues, weil sie fürchten, sie würden Gott-weiß-was verpassen, wenn sie mal irgendwo bleiben. Deswegen bewerben sie sich permanent ganz aufgeregt um Praktika bei undurchdringlichen Großorganisationen in aller Welt. Ihre besten Jahre verbringen junge Menschen damit, in muffigen UNO-Büros rundgewellte Kaffee-Filter rekordhoch zu stapeln, sich bei der Weltbank sinnlos in eine verheiratete Mitpraktikantin aus Ecuador zu verlieben, bei McKinsey-Assessment-Centern Teamfähigkeit vorzutäuschen oder für die Unesco Aktenvorträge über die Rechtschreibreform in Tansania vorzubereiten. Daß man von solchen Trips nur schlecht wieder herunterkommt, werden sie erst sehr viel später merken.

Die Zahl derer, die so drauf sind, mag bei unter zwei Prozent liegen. Aber sie prägen den Zeitgeist. Dabei machen sie sich selbst unglücklich und alle anderen mit. Sie sind die, denen es noch nie schnell genug ging, die seit jeher den Hals nicht vollkriegen konnten. Die, welche sich früher immer schon auf dem Pausenhof in der Schlange am Milchbüdchen nach vorne gedrängelt haben. Als Berufstätige hampeln sie später immer kurz vor Abflug an Lufthansa-Schaltern herum und wedeln wild mit der Senator-Card, während sie das Bodenpersonal herablassend behandeln, denn das heißt ja nicht umsonst so. Komischerweise bilden sich die meisten Senator-Card-Wedler ein, das Leben tauge nur etwas, wenn möglichst alle zu hektischen Senator-Card-Wedlern würden.

Das ist selbstverständlich furchtbarer Quatsch und macht alle krank. Aber wir machen trotzdem alle mit. Kapitalismus ist, wenn man mit muß.

Und der sportliche globale Pop-Kapitalismus, den wir jetzt gerade genießen, treibt den Menschen auf eigenartig paradoxe Weise die Fähigkeit aus, in Ruhe erwachsen zu werden und in Würde zu altern, wenn ich das mal so systemkritisch formulieren darf. Indem er nichts so sehr feiert, preist und verlangt wie dynamische Jugendlichkeit, diskreditiert er das Alter und verdammt zu ewiger Jugend als scheinbar einzigem Weg zum Erfolg. Andererseits jedoch bietet er nur eine einzige Rückzugszone, die nicht von seinem Tempo erfaßt wird: Es gibt anscheinend nur einen Fluchtraum, den die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung verschont: die Erinnerung an die eigene Kindheit. In dieses Retro-Refugium zieht sich zurück, wer einen sicheren, überschaubaren Ort sucht, wer sich von den vielen Möglichkeiten des Marktplatzes überfordert fühlt, wer sich vor lauter Angeboten nicht entscheiden kann oder aber erst gar kein Angebot bekommt.

Das Resultat ist ein eher gruseliges Szenario: Wir werden demnächst fast alle circa 104 Jahre alt werden, aber nicht mehr erwachsen. Erwachsen ist so was von last millenium. Wir strecken die letzten achtzig Jahre unserer Existenz mit Botox glatt und ziehen sie mit Viagra in die Länge. Die Quarterlife Crisis wird so zur Terminal Illness. Wir enden als Riesenbabies, leiden lebenslänglich an einem Benjamin-Komplex. Wir werden hundert Jahre alt werden und uns davon unbeeindruckt die letzten achtzig Jahre unseres Lebens weiter benehmen wie 22jährige. Daran, so behaupte ich keß, ist die Globalisierung schuld – und der Pop.

Nun werden Sie vielleicht sagen: "Hm, steile These, und irgendwie durch das Vorausgegangene auch gedanklich gar nicht so gut vorbereitet." Aber so ist das eben heutzutage, kaum irgendwo wird noch stringent argumentiert, Hauptsache, die These ist möglichst steil und wird so richtig laut und schrill herausgehauen, sonst hört eh kein Mensch mehr zu. Ob sie stimmt, ist dann nicht so wichtig, besser sogar meist, wenn sie nicht stimmt, dann keulen maximal viele Kritiker laut und schrill zurück, und man bekommt Einladungen zu Talkshows. Kabarett ist ja auch deshalb erledigt, weil die Welt längst eins ist.

Der unwissenschaftliche Ansatz dieser Arbeit wäre vielleicht mit "kabarettistischem Essayismus" annäherungsweise benannt. Es stimmt vielleicht nicht immer alles, aber wenn s lustig wird, war etwas Wahres dran. Nicht, daß wir uns falsch verstehen. Ich bin kein Globalisierungsgegner. Und zwar nicht deshalb, weil man "gegen die Globalisierung gar nicht sein kann, weil man auch nicht gegen das Wetter sein kann", wie einst der Hobby-Meteorologe Hans-Olaf Henkel befand.

Man kann gegen alles sein. Sogar gegen Sachen, die es nicht gibt. Und auch gegen das Wetter. Das sieht man ja in Brandenburg, wo sie eine leere Zeppelin-Garage in ein Tropenparadies verwandelt haben. Nein, ich bin bloß deshalb nicht gegen die Globalisierung, weil sie auch Vorteile bietet. Durch sie ist man nie mehr allein. Jeden Morgen bekomme ich elektronische Post. In der Betreifzeile steht dann so etwas wie Wanna score with a local whore? oder Banged so hard she can’t sit down. Mein E-Mail-Server schreibt jedes Mal Spam dran. Das ist das einzige, was ein Spam-Filter leistet: Er schreibt Spam an Spam, von dem jeder sehen kann, daß es Spam ist, auch ohne daß Spam dran steht. Das kostet 95 Cent pro Monat. Wir leben in einer Welt, in der der Spam-Filter auch immer schon Spam ist. Es ist sehr verwirrend geworden. Aber darauf kommen wir noch zurück, wenn es uns unterwegs nicht entfällt.

Jetzt kann es losgehen. Aber glauben Sie nicht, dieses Buch hätte die Antwort. Es ist nur ein Symptom.

Eigentlich sollte das hier ja Rock’n’Roll werden. Ich hätte gern Hallen gefüllt, die Leute gerne zum Tanzen gebracht, mich von der Bühne geworfen und von der wogenden Menge rücklings tragen lassen. Aber dafür bin ich leider zu alt.

Die Globalisierung ist schuld

Die Leute wollen keine Handlung. Sie wollen uns in Bikinis von Brücken springen sehen. Cameron Diaz

Ich bin mir nicht sicher. Soviel ist klar. Ich weiß nicht, wann das angefangen hat. Es gibt Tage, da geht es besser. Da scheint mir, ich habe alles im Griff. Ich komme mir erwachsen vor, denn ich weiß, wohin mit mir in der Welt. Ich habe einen Auftrag, etwas zu tun. Es ist früh. Ich muß zum Flughafen. Das ist eine Richtung. Klare Ansage.
Ich stehe mit dem Deutschlandfunk auf. Es ist noch dunkel. Ich stelle das Radio schnell wieder aus, denn meine Freundin haßt Deutschlandfunk. Seit es diese dusselige Rechtschreibreform gibt, weiß ich nicht mehr, ob sie den Deutschlandfunk hasst oder haßt. Heißt es jetzt dußelig? Ich bin mir nicht sicher.

Ich könnte den ganzen Tag Deutschlandfunk hören. Besonders gern die Reportagen der Sendung "Europa heute." Da erläutern sie dringende Probleme des gemeinsamen europäischen Marktes am Beispiel montenegrinischer Fleischereifachverkäuferinnen. Oder am Schicksal bulgarischer Schrubbelwollschafhirten. Die Reportagen beginnen immer mit einem atmosphärischen O-Ton, typischerweise Schrubbelwollschafs-Halsglockengeklingel und etwas Geblöke. Dann sagt der bulgarische Schäfer etwas unverständlich Bulgarisches. Drei, vier Sekunden darf er reden, bevor die Übersetzung über seine Stimme geblendet wird. Die Geschichte geht meistens ungefähr so:

"Dimitar Schivkow ist unzufrieden. Die Geschäfte laufen schlecht. Die transnistrische Konkurrenz produziert billigeren Schrubbelwollschafskäse und läßt ihn dann von kasachischen Niedrigstlöhnern verzehrfertig verpacken. Unter dem Namen 'Rehakles Original Griechische Party-Hirtensalat-Käsewürfel' beliefern die Transnistrier damit deutsche Lebensmittel-Discounter im großen Stil. 'Seitdem ist der Schrubbelwollschafskäsemarkt in Bulgarien zusammengebrochen', klagt Schivkow. Er fürchtet um seine Existenz. Seit fünf Generationen sind die Schiwkows Schrubbelwollschafhirten. Aber wenn das so weitergeht', übersetzt der Sprecher meinen neuen bulgarischen Freund Dimitar, 'muß ich meinen Hirtenstab an den Nagel hängen. Dann bleibt mir nichts anderes übrig, als Hütchenspieler auf dem Alexanderplatz zu werden, wie mein Vetter Krassimir. Das schwarze Schaf unserer Familie.'"

Der Satz plätschert im bulgarischen O-Ton aus und wahrlich, es ist, als war da am Ende ein Wort, das klang wie "Alksandrpiltz". Vielleicht hat der Bulgare wirklich gesagt, er wolle den Stab an den Nagel hängen. Ich wüßte jetzt gern, was schwarzes Schaf auf bulgarisch heißt. Für einen kurzen Moment habe ich das Gefühl, unsere osteuropäischen Nachbarn sind mir etwas näher gerückt, und ich habe verstanden, was Globalisierung käsemarktmäßig in Bulgarien anrichtet. Allerdings bin ich mir nie sicher, ob diese Reportagen echt sind oder weit jenseits von Borderline-Journalismus. Möglicherweise werden sie in den gleichen Studios gefälscht, wo sie damals die Mondlandung simuliert haben. Und der Schauspielschüler, der den bulgarischen Schäfer gibt, bekommt auch ungarische Salamipellenwickler, lettische Grundschullehrer und kamtschatkische Gas-Magnaten ganz überzeugend hin. Woher soll ich wissen, was echt ist? Ich bin mir nicht sicher.

Ich habe alles, was ich brauche. Nur keinen Charakter. Und keinen Plan.

Ich bin mir schon ziemlich lange nicht mehr sicher. Keine Ahnung, wann das angefangen hat, aber es war mit Sicherheit lange vor nine-eleven. Schon die Achtziger fand ich leicht verwirrend, aber da dachte ich noch: Ist normal, ist Pubertät.

Dummerweise hielt sich der Zustand in den Neunzigern. Da begann ich mich schon zu wundern: War immer noch Pubertät? Das war nicht mehr normal. Seither ist nichts anders und nichts besser geworden. Ja, ich habe 1998 Kohl gewählt. Das einzige Mal in meinem Leben. Es war eine Protestwahl. Aber das nur am Rande und nur, damit hinterher nicht wieder alle behaupten, sie hätten von nichts gewußt.

Wenn ich ehrlich bin, was mir selten gelingt, dann bin ich politisch wankelmütig, moralisch morsch und ästhetisch beeinflußbar. Ich habe alles, was ich brauche. Nur keinen Charakter. Und keinen Plan. Manchmal dauert es nur ein paar Minuten – und schon glaube ich das Gegenteil von dem, wovon ich eben noch überzeugt war. Manchmal beginne ich schon das Gegenteil von dem zu glauben, was ich sage, während ich noch rede.

Es wird dadurch nicht leichter, daß ich fast nur Leute näher kenne, denen es genauso geht. Es tröstet mich nicht, wenn man mir sagt: "Du kennst die falschen Leute." Denn jene, welche so tun, als hätten sie einen Plan, möchte ich eigentlich erst recht nicht kennenlernen. Es ist, als habe die Postmoderne mit extra viel Anlauf erst jetzt angefangen, mit dem Vorschlaghammer zu philosophieren. Die Ironie kann uns auch nicht mehr retten, weil sich inzwischen jeder Trottel einbildet, Ironiker zu sein. Wir glauben nichts mehr, und weil wir nichts mehr glauben, glauben wir jeden Mist. Wir sind uns in nichts mehr sicher. Unsere Witze sind müde. Wir taumeln durch unsere Epoche. Und "Wir" sagen dürfen wir auch nicht mehr.

Aber ich will nicht jammern. Als Globalisierungsverlierer gehe ich noch nicht durch. Noch nicht. Ich tippe dieses Zeug hier in ein schickes, geleastes Apple-Powerbook, und wenn ich auf einen meiner zwei Balkone trete, überblicke ich einen kleinen Park, in dem jetzt, abends um elf, noch die auf den Bänken herumtollen und torkeln, die schon verloren hatten, bevor die Globalisierung überhaupt begonnen hatte. Das Klima ist ein bißchen rauh hier im Kiez, einem ehemaligen Arbeiterbezirk, in dem die ehemaligen Arbeiter in der Einkaufspassage im Sommer etwa gleichlange Schlangen vor der Eisdiele wie vor den Hartz-IV-Beratungsständen bilden. Die, die im Park sitzen, trinken günstiges Bier und lassen den lieben Hartz einen guten Mann sein. Es bleibt eigentlich immer friedlich, auch wenn es gelegentlich etwas lauter wird. Dann johlt schon mal einer zwei, drei Stunden lang "Eisern Union", obwohl die Saison noch nicht angefangen hat. Oder der mit der lautesten Stimme brüllt alle anderen an, sie sollten hier nicht so laut rumbrüllen.

Es sind Menschen, denen ins Gesicht geschrieben steht, daß in ihrem Leben wenig gelingt. Manche von ihnen haben sich gleich selbst etwas Symbolisches ins Gesicht tätowiert, das "Mein Leben läuft scheiße" bedeuten soll. Ihre Kampfhunde nennen sie "Amok". Mir dagegen geht es immer noch silbern. Die gehen morgen früh zum Netto-Markt gegenüber und holen Sternburg-Nachschub, denn die Welt ertragen sie schon lange nur noch betäubt.

Ich bin bisher nur einmal entlassen worden. Das war nicht schön, aber weil das Draußenstehen nicht lange gedauert hat, war es eine Erfahrung, von der ich behaupten kann, ich möchte sie "nicht missen", und die ich abheften kann wie ein Freischwimmerzeugnis. Die da draußen im Park können nichts abheften. Sie können nur alles fortsaufen.

Am 11. September 2001 hatte ich morgens bei meinem neuen Arbeitgeber die Schlüssel für meine temporäre, Ikea-möblierte Dienstwohnung in Empfang genommen, die mir freundlicherweise gestellt wurde, bis ich "etwas Festes" gefunden hätte. Als ich die Tür aufschloß, rief mich ein Freund an und sagte mir, ich solle sofort den Fernseher anmachen. Die Wohnung war möbliert und hatte einen Fernseher. So saß ich dort und glotzte CNN, wie alle. Daß der Anschlag meine gerade begonnene Traumkarriere ein wenig entschleunigen sollte, kam mir nicht gleich in den Sinn. Mir war bloß sehr unbehaglich. Ich dachte an ein Buch über das World Trade Center, das ich mal gelesen hatte. Von Eric Darnton, Divided We Stand heißt es, es war Ende der Neunziger erschienen, nach dem ersten Attentat. Es beginnt mit der Feststellung, daß man das Gebäude mit einem optischen Trick verschwinden lassen kann, wenn man nur nah genug herangeht. All That Is Solid Melts Into Air, fiel mir beim Glotzen noch ein, so hieß ein Buch von Marshall Berman, der Titel ist ein hübsches Marx-Zitat: Alles Ständige und Stehende verdampft. Wie passend. Mehr fiel mir nicht mehr ein. Es war erst mal Schluß mit Klugscheiß-Zitaten. Abends telefonierte ich mit einer Freundin aus New York, die in Freiburg im Breisgau festsaß. Beim Telefonieren sahen wir weiter CNN. "Oh, sieh mal", sagte sie irgendwann, "Century 21 ist auch getroffen." Unser schönes Schnäppchen-Kaufhaus. Asche auf unsere Discount-Designerklamotten.

Drei Wochen danach trat ich meinen ersten richtigen und, wie ich da noch glaubte, "festen" Job an. 18 Monate später war ich ihn wieder los. Alles Ständige verdampft. Inzwischen hält man das für normal. So wie es normal geworden ist, daß man, wenn man noch einen Job hat, dauernd in Betten wach wird, die man nicht kennt. In Räumen, in denen man nie vorher war. Man merkt es immer daran, daß der Teil des Hirns, der für das Aufstehen zuständig ist, sich für einen kurzen Moment gleich nach dem Wachwerden einbildet, man sei noch in jenem Raum, in dem man tags zuvor wach geworden war. Die Startseite ist nicht aktualisiert. Die Seele hinkt nach.

Jetlag als geistiger Dauerzustand

Ich bin vor einer Weile mal aufgewacht und dachte, komisch, wieso redet Ulla Schmidt jetzt morgens in Louisiana im Radio, bis mir langsam dämmerte, daß ich wieder in Deutschland war und nicht mehr in Louisiana. Mir war über Nacht entfallen, daß ich einen Ozean überquert hatte. Deshalb mag ich den Deutschlandfunk so gern. Empfange ich ihn, bin ich auf Festland. Im Grunde ist es so, als wäre die BRD noch da. Gäbe es einen Grund, GEZ-Gebühren zu zahlen, dann wäre es der Deutschlandfunk.

Nur meine Freundin sieht das leider anders, und jetzt ist es fünf Uhr zwanzig. Da ich mir ihre Zuneigung erhalten möchte, verpasse ich das erste Politikerinterview des Tages und wanke Richtung Dusche. Liebe heißt, Verzicht genießen können. Der Deutschlandfunk interviewt Politiker in aller Herrgottsfrühe. Es ist jedenfalls deutlich vor sechs. Ich habe keine Antworten. Als es ihn noch gab, hörte ich gerne Horst Seehofer zu. Seehofer beruhigte mich. Er tat so, als hätte er etwas im Griff. Wenn Horst Seehofer im Morgengrauen über die Kopfpauschale sprach, hatte ich das Gefühl, ich bin zu Hause, und irgendeiner wird schon die Antworten haben. In Deutschland. Ich glaube nicht, daß es ein anderes Volk gibt, das morgens vor sechs seine Politiker interviewt. Der Nachteil ist, daß sich junge Menschen in Deutschland nicht mehr politisch engagieren, denn junge Menschen wollen nicht derart kraß früh interviewt werden.

Früher kam es mir so vor, als interviewten die im Deutschlandfunk jeden Tag Rudolf Dreßler, den Sozialexperten der SPD. Der konnte offenbar morgens immer. Womöglich litt er an präseniler Bettflucht. Seit einigen Jahren ist er nun Botschafter in Israel, dort ruft ihn niemand mehr an, weil es dann bei ihm erst drei Uhr zwanzig wäre. Oder wäre es in Israel sieben Uhr zwanzig?

Zu welcher Zeit sich Zeit verschiebt, habe ich nie richtig verstanden. Genauso wenig wie die Sache mit der Sommerzeit. Als ich klein war, war noch alles klar. Es gab keine Sommerzeit, und wenn wir in die Ferien fuhren, dann immer nur in Länder mit derselben Zeit. Die Welt war insgesamt übersichtlicher. Dann kam die Sommerzeit, und im Rückblick habe ich den Verdacht, genau damit hat das alles angefangen: Dieses Wackelige, die Postmoderne, Globalisierung, der ganze Wirrwarr. Für mich war es das erste Mal, daß jemand auf die Idee kam, etwas flexibler zu gestalten, was bis dahin stabil war. Hier erfuhr ich meine erste allgemeine Verunsicherung. Seither bin ich im Kopf chronisch gejetlagged.

Bis heute stehe ich ratlos vor der Frage, ob man die Uhr im März vor- oder zurückdrehen muß, um im Sommer länger grillen zu können. Ich muß mir immer erst die deppensichere amerikanische Eselsbrücke ins Gedächtnis rufen: "Spring forward, fall back."

Die Amerikaner sind ein pragmatisches Volk. Die Zeit ist aus den Fugen? Egal, machen wir eine Eselsbrücke. Ich bin ein großer Freund von Eselsbrücken. Hätten wir mehr Eselsbrücken, täten sich weit weniger Abgründe auf.

Gäbe es eine brauchbare Zeitverschiebungseselsbrücke, müßte man nicht immer erst mühsam deduzieren. "Im Osten geht die Sonne auf ... Wenn also im Osten die Sonne aufgeht, und Israel im Osten liegt, dann ist es in Israel früher hell, also ist da früher Tag – und wenn die dann den Dreßler interviewen wollen, dann, wäre es ... neun Uhr zwanzig?"

Eigentlich ist neun Uhr zwanzig eine vertretbare Zeit, um Rudolf Dreßler anzurufen. Trotzdem ruft ihn niemand mehr an. Möglicherweise, weil er jetzt Botschafter ist. Wahrscheinlich aber, weil einfach niemand mehr Lust hat, Sozialexperten zuzuhören. Sozialexperten sind out. Weicheier, Betonköpfe, Reformbremsen, Umverteilungsstalinisten. Sozialexperten warnen immer nur vor der Zweiklassen-Gesellschaft, sagen, man dürfe die Menschen nicht überfordern, ihnen nicht zuviel zumuten. Vielleicht ist Dreßler nur Botschafter in Israel geworden, weil er allen wahnsinnig auf den Wecker gegangen ist mit seinem Sozialexpertentum. Er kann froh sein, daß sie ihn nur nach Tel Aviv abgeschoben haben und nicht nach Ulan Bator.

Seit Dreßler fort ist, interviewt der Deutschlandfunk morgens andere. Den Fraktionsgeschäftsführer der CDU, oder den Verkehrsexperten der Grünen. Leute, die Norbert Röttgen heißen, oder Albert Schmidt. Und morgens vor sechs reden die schon wieder so, als seien sie in den Tagesthemen oder Aschermittwoch in der ausverkauften Nibelungenhalle in Passau.

Politiker kann man inmitten der schwärzesten Nacht aus dem Bett klingeln, und noch bevor sie die Aronal-Tube aufgeschraubt haben, fordern sie mit Nachdruck, weisen als abwegig zurück oder lassen die zuständigen Gremien schon wieder prüfen. Das alles vor sechs Uhr morgens. Zu einer Zeit, da sie noch nicht in ihren Abgeordnetenbüros, sondern zu Hause in Pantoffeln auf dem Wannenrand sitzen.

Norbert Blüm habe ich mir immer im Nachthemd vorgestellt, wie er in seinem Poppelsdorfer Reihenhaus im Flur an einem Telefontischchen steht. Sein Telefon war ein moosgrünes Standardmodell der Deutschen Bundespost mit Wählscheibe und Einheitenzähler. Über dem Tischchen hatte Frau Blüm einen "Fasse dich kurz"-Aukleber angebracht. Sehr wahrscheinlich hatte Norbert Blüms Telefon einen Stoff-Hörerbezug mit Bordüre und die Hörmuschellöcher waren ein wenig mit Norbert-Blüm-Ohrenschleim verstopft. Unter diesen Bedingungen hat er dann von 1982 bis 1998 immer morgens um halb sechs in die Sprechmuschel nasaliert, daß die Renten "sischa" seien. Es ist traurig, daß Norbert Blüm heute in einem Werbespot der Arzneimittelfirma Hexal dazu erniedrigt wird, einem Mann durch die Beine zu krabbeln, der doppelt so groß ist wie er. Aber wahrscheinlich hat er gemerkt, daß seine Rente nicht reicht.

Auch Olaf Scholz sah ich, als er noch etwas sagen durfte, immer sehr klar vor mir. Für mich trug er vor Weihnachten lustige Nikolaus-Boxerhorts. In denen schlug er dann im Deutschlandfunk telefonisch vor, umgehend mehrere tausend Elite-Universitäten für weitere zwei Millionen Elite-Studenten einzurichten. Westerwelle dagegen hockt im String-Tanga auf der Bettkante, wenn er irgendetwas Liberales fordert. Und wenn dann in den Sieben-Uhr-Nachrichten der Deutschlandfunk meldet: "Wie der FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle im Deutschlandfunk forderte, ... blablabla", – steckt der Westerwelle wahrscheinlich längst wieder unter der Decke.

...

Jedes Ego ist ein Shooter

In der Reihe vor mir spielt ein Unternehmensberater auf seinem Laptop ein Ego-Shooter-Spiel. Er hatte wohl nicht so ein gutes Wochenende. Wenn demnächst mal irgendwann ein Kienbaum-Berater nach einer mißglückten Powerpoint-Präsentation eine Pumpgun aus seinem Pilotenkoffer zieht und in Robert-Steinhauser-Manier die Insassen eines Konferenzsaals eliminiert, werden danach bei Sabine Christiansen wieder alle mit übereinandergeschlagenen Beinen sitzen und fragen: "Wie konnte das bloß passieren?"

Und dann blubbert die Runde: "Jaja, dieser Druck – diese Angst – diese Unsicherheit." Ich wundere mich ein bißchen, daß es nach Powerpoint-Präsentationen nicht viel öfter knallt.

Ich bin nicht sicher, ob man sich vor Islamisten mit Nageletuis, Steirern mit Samuraischwertern oder Counterstrike spielenden McKinseyanern mehr fürchten muß. Das Durchschnittsalter von Videospielern ist in den letzten Jahren von 18 auf 29 gestiegen, Tendenz steigend. Die Zahl der Erwachsenen, die Kinderbücher lesen, hat sich durch Titel wie Harry Potter verdoppelt. In England gibt es für solche Titel inzwischen eine eigene Kategorie in den Bestsellerlisten: Kidult Books oder Crossovers heißen diese Titel für kindbleibende Erwachsene. Meinhard Miegel bemerkte in seinem Bestseller Die deformierte Gesellschaft, daß eine Gesellschaft, die "einen demographischen Umbruch in der sich abzeichnenden Größenordnung nicht wahrhaben will", sich mitunter wie eine alternde Diva verhalte. Sie verdränge, daß bald sehr alte Menschen den Takt schlagen würden, ironischerweise eben jene, die sich jetzt noch so jugendbeschwingt gäben. Gesund ist das wahrscheinlich nicht, denn dabei heraus kommen mehr und mehr auf jung machende Alte in einer ziemlich steuerlosen Gemeinschaft.

Kinderdarsteller

Vielleicht muß man sich an den Gedanken gewöhnen, daß demnächst in unseren Fußgängerzonen junggebliebene 65jährige ihren Ruhestand vertrödeln, indem sie mit ihren Skateboards über Waschbetonblumenkübel und Alutreppengeländer schaben. Eine eigenartige Sehnsucht zur Retrogression scheint sich schleichend in allen Altersklassen auszubreiten. Child Actors, Kinderdarsteller, hat Kara Baskin diese Gesinnungsjugendlichen in einem Text in der Washington Post genannt. Sie seien getrieben von der Sehnsucht nach einer mythischen Zeit von Unschuld und Sicherheit; im Komfort aufgewachsen, fehle diesen Menschen die Kraft, "Seelenfrieden zu erlangen." Deshalb trachten sie danach, sich in ihre Kindheit zurückzubeamen. Nachvollziehbar sei das, meint Kara Baskin, denn "Saddam (bei Drucklegung ihres Artikels noch aktiv) und Osama sind nicht gerade Hühnerbouillon für die Seele".

Vermutlich liegt Kara Baskin an dieser Stelle falsch. Denn ließe sich die Bedrohung für den Seelenfrieden allein auf leicht verständlich und theoretisch greifbare Chiffren wie "Saddam" und "Osama" reduzieren, wäre sie wohl halb so wild. Aber das ist sie nicht. Sie ist neuerdings "asymmetrisch." Sie ist überall und nirgends. In einer wirren Welt schüttelt es den einen angesichts einer alles niederflexibilisierenden globalen Wirtschaft, den anderen angesichts ungezählter, entgrenzter Terroristen, die nur noch "Netzwerk" heißen und das auch noch auf arabisch. Wer soll das verstehen? In Michael Moores reizendem Propagandaflim Fahrenheit 9-11 gibt es jene berühmte Szene, in welcher ein Berater George W. Bush ins Ohr flüstert, daß soeben ein Flugzeug ins World Trade Center geflogen ist. Der Präsident sitzt in einer Grundschulklasse in Florida, und sieht selbst aus wie ein großes, ratloses, 55 Jahre altes Kind. Hinter ihm hängt ein Plakat mit der Aufschrift Reading makes a country great, auf dem Schoß hat er ein Kinderbuch über ein Zicklein, aus dem er vorlesen soll. Nun lauscht er halb der Schulklasse, halb horcht er in sich hinein. Sieben Minuten lang sitzt er da, und Bush-Basher hatten es leicht, die Szene als weiteren Beleg für die völlige Planlosigkeit dieses Präsidenten zu halten.

Dabei ist dies wahrscheinlich eher einer jener seltenen Momente, in denen einem George W. Bush durchaus nicht unsympathisch sein muß. Wahrscheinlich würde er am liebsten einfach in dieser Grundschule sitzen bleiben und die Geschichte vom Zicklein lesen. Er sitzt da, und womöglich denkt er sich einfach nur: "Wo kam das jetzt her?" Er ist sich nicht sicher.

Wir sind selber schuld

Wir sind geboren, um niemals alt zu werden, um niemals zu sterben. Raoul Vaneigem: Traité de savoir vivre à l’usage des jeunes générations

Der New York Times fiel es im August 2003 auf: I don’t want to grow up überschrieb Christopher Noxon einen Artikel, in dem er von einer "neuen Sorte von Quasi-Erwachsenen" berichtete, welche sich in nie gekanntem Ausmaß mit ausgesprochen kindischen Dingen befaßten. Nicht nur die beunruhigend großen Zahlen erwachsener Harry-Potter-Leser und Herr-der-Ringe-Enthusiasten erstaunten Noxon. Eine immer größere Gruppe von Konsumenten kultiviere einen kindlichen Geschmack, obwohl sie das Erwachsenenalter längst erreicht hätten. Sie seien auch keinesfalls komplett entwicklungsverzögert, sondern lebten durchaus mehrheitlich erwachsene Leben, übten einen Beruf aus, und manche von ihnen hätten längst eigene Kinder. Allerdings verbrächten sie ihre Freizeit gern mit Produkten, die eigentlich für Kinder gedacht seien. Noxon nannte diese Spezies Rejuveniles.

Diese Wiederverjüngten gehören größten Teils der städtischen Mittel- und Oberschicht an und verbreiten sich pilzartig. Sie sorgen beispielsweise dafür, daß in den Vereinigten Staaten mehr Erwachsene zwischen 18 und 49 Jahren den Zeichentrickkanal Cartoon Network schauen als CNN, oder dafür, daß das Durchschnittsalter von Videospielern seit 1990 von 18 auf 29 steigen konnte. Hüftsteife 40jährige spielen nach Feierabend massenhaft Twister oder setzen sich in lustigen Stofftierpantoffeln vor die Play Station. Frauen Mitte dreißig ziehen rosa Rollkoffer mit Hello-Kitty-Motiven hinter sich her – ein Cartoon, der vor 30 Jahren entstand – oder sie setzen sich eigenartige Püppchen aufs Sofa, die Uglydolls heißen oder Furillas. Wenn ihnen langweilig ist, knabbern sie wie früher in der Schule gedankenverloren an einem Plastikerdbeerhalskettchen. Und merken erst nach der dritten zermanschten Beere: "Oh Mist. Das war ja von Prada." Und natürlich hören alle, aber auch wirklich alle, den immer wieder gleichen Kindertages-Pop aus dem Formatradio, "die größten Hits der Siebziger, Achtziger, Neunziger", rauf und runter, immer wieder. Endlosschleife ohne Chance auf Entkommen. Denn selbst "die größten Hits von heute" klingen nicht viel anders als das Zeug von früher. 50 Prozent der Käufer einer Platte von Alexander Klaws, einem vermeintlichen Teenie-Star, sind älter als 30. (Zur Erinnerung: Alexander Klaws ist der Knabe, der als Sieger aus Deutschland sucht den Superstar hervorgegangen war.)

So richtig durchschaut hat das weltweite Phänomen noch niemand. In San Francisco mühte sich die Marketingfirma Odiorne Wilde Narraway & Partners erst einmal darum, einen treffenden Begriff zu finden. Heraus kam dabei das wenig überzeugende Peterpandemonium, wohl der Versuch, das Schicksal Peter Pans – jenes Jungen, der nie erwachsen werden wollte – mit der Vorhölle zu assoziieren. Bislang ist die Wortschöpfung ebenso wenig haften geblieben wie etwa Kidults oder Adultolesescents, Postadoleszenz oder Early Adulthood, aber der Trend ist dennoch nicht zu übersehen.

Er schlägt sich sichtbar nieder in der seit gut und gern zehn Jahren grassierenden Retrowelle, die inzwischen nahezu sämtliche konsumkulturelle Hervorbringungen der siebziger Jahre wieder an die Oberfläche gespült hat. Nicht nur Zeitgeist-affine Großstadtbewohner tragen mit Begeisterung wieder die Trainingsjacken und Turnschuhe ihrer Schulzeit. Szeneläden bieten T-Shirts feil, welche die eigene Kindheit im aufgebügelten Produktlogo wieder aufleben lassen. Pustefix, Ahoi-Brause, Rotkäppchen. Semiautobiographische Generationentexte stoßen ebenso auf das Wohlwollen eines erinnerungsseligen Publikums wie eine nicht enden wollende Serie von Siebziger-, Achtziger-, Neunziger-, DDR- und sonstiger Retro-Shows. Der in die Jahre gekommene Popkulturkonsument entpuppt sich hier als hemmungsloser Melancholiker.

Dabei handelt es sich um eine internationale Erscheinung. Zumindest in den Zentren der westlichen Welt ist die Sehnsucht nach ewiger Wiederkehr der eigenen Jugend weit verbreitet. Möglicherweise war Deb Parkers Bar im New Yorker East Village Anfang der Neunziger das erste Indiz dieses Trends. Sie hieß Babyland, und die Inneneinrichtung bestand aus Kinderbetten, jeder Menge Fisher-Price-Spielzeug und einer den ganzen Raum umfahrenden Spielzeug-Eisenbahn.

"Tu nicht so erwachsen!"

Wie sehr die Sehnsucht nach Wiederaufnahme der eigenen Jugend grassiert, zeigt auch der Erfolg von Internetseiten wie Classmates.com. Inzwischen haben in den Vereinigten Staaten mehr als 35 Millionen Menschen über diese Seite Kontakt zu jenen Menschen aufgenommen, denen sie vor zwanzig bis vierzig Jahren Tafelschwämme an den Kopf gefeuert haben. In England sind es neun Millionen auf friendsreunited.co.uk. In Deutschland verzeichnete eine vergleichbare Schulfreunde-Wiedervereinigungsseite, stayfriends.de, Wachstumsraten von 45 Prozent. Die BBC zeigte in Großbritannien eine Serie unter dem Titel I love the 1970s. Es wurde jedes Jahr einzeln gezeigt. Es folgten die Achtziger und die Neunziger, bisher letzte Folge: I love 1999, ausgestrahlt im Jahr 2001. In London grassiert seit geraumer Zeit eine School-Disco-Welle, bei der Endzwanziger am Wochenende in ihren ehemaligen Schuluniformen zu den Hits ihrer Pubertät abtanzen.

Doch nicht nur die Wiederbelebung von Jugenderinnerungen ist ein Zeichen dafür, wie sehr sich der Markt bemüht, das Kind im Konsumenten anzusprechen. Eigenartig rundlich-kindliche Formen setzten sich in jüngster Zeit im Automobil-Design durch. Redesignte Varianten des Käfer oder des Mini verbinden Nostalgiemomente mit der gegenwärtigen Sehnsucht nach kindgerechten Formen. Der Audi TT sieht so aus, wie ein Kind ein Auto malt. Das knuddelige Design von Haushaltsprodukten der Firmen Koziol und Alessi spricht eine ähnliche Sprache. Das Renault-Modell Modus wurde in Deutschland gleich eingeführt mit dem Werbeslogan "Tu nicht so erwachsen." Die französische Variante wird noch deutlicher: "Grandir ... pour quoi faire?"

Seit 1950 sank der Anteil derjenigen, die jünger sind als zwanzig, in Deutschland von einem Drittel auf ein Fünftel der Bevölkerung. In 40 Jahren wird er nach Schätzung der Demographen auf 15 Prozent gefallen sein. Das Volk wird immer älter, reale Jugendliche werden immer weniger. Komischerweise benimmt sich aber die wachsende Gruppe der Alten zugleich immer jugendlicher. Wie erst kürzlich dank Frank Schirrmacher aufgefallen ist, wird im Jahr 2052 die Hälfte der deutschen Bevölkerung älter als fünfzig sein und knapp 15 Prozent sogar achtzig oder älter. Das werden alles Leute sein, die mit Dudelfunk und MTV groß geworden sind, und deshalb dürfte der Pop-Kritiker Tobias Kniebe richtig liegen mit seinem Zukunftsszenario: "Dreimal darf man raten, welche Musik dann die Charts und Radiosender dominiert, wer wirklich das Musikfernsehen einschaltet, wer in den Clubs, aufgepuscht von steigender Lebenserwartung, die Tanzflächen zum Kochen bringt: We’ll Never Stop Living This Way." Jede Generation, schreibt Kniebe, trägt ihr Popgefühl in den fröhlichen Ruhestand hinein und bewahrt es wahrscheinlich bis in alle Ewigkeit. "Hunde, wollt ihr ewig rocken? O ja, wir wollen." Wie sich diese Entwicklung auf das Lebensgefühl der heute 40-bis 50jährigen auswirkt, hat Claudius Seidl jüngst in seinem Buch Schöne neue Welt gezeigt. Das vermeintliche Methusalem-Komplott zeigt sich bei näherer Betrachtung also eher als Methusalem-Paradox oder vielleicht genauer: als Benjamin-Komplex. Wir wollen ewig die Jüngsten bleiben. Wir mögen womöglich alle 104 werden, aber wir benehmen uns dann die letzten achtzig Jahre unseres Lebens weiter, als seien wir mit maximal 24 stehengeblieben. Eine Gesellschaft, die immer weniger Jugend hat, spielt jetzt dauerhaft Kindergarten.

Alle werden Surfer

Die amerikanische McArthur Foundation erforscht das Phänomen seit einiger Zeit durch eine großangelegte Untersuchung eines Networks on transitions to adulthood. Verschiedene Forschungsinstitute sollen der Frage auf den Grund gehen, ob es überhaupt noch Menschen gibt, die erwachsen werden. Und wenn ja: wann?

In Amerika wie in Europa war diese Frage nach dem Zweiten Weltkrieg leicht zu beantworten. Irgendwann zwischen 18 und Anfang 20 war man erwachsen, denn um diese Zeit hatten die meisten Männer ihre Ausbildung beendet und arbeiteten ganztags. Die meisten Frauen waren verheiratet, zogen ihre Kinder groß und buken nachmittags Chocolate Chip Cookies oder Marmorkuchen. Also waren sie erwachsen. Heute fällt die Antwort schwerer. Bislang kamen bei neueren Umfragen vor allem Antworten heraus wie die eines 24 Jahre alten Surfers in Kalifornien: "Vielleicht mit 25? Ich schätze, nächstes Jahr." Nun ist es nichts Neues, daß Surfer nicht erwachsen werden wollen. Neu ist aber, daß sich inzwischen alle so benehmen, als seien sie Surfer.

Eine Studie des Networks on transitions to adulthood stellt fest, daß die early adulthood nicht bloß eine Verlängerung der Adoleszenz ist. Auch sei es nicht bloße Ablehnung, sogenannte "erwachsene Verantwortlichkeiten" zu übernehmen. Es gebe durchaus junge Erwachsene, die körperlich reif seien und sich durch brauchbare intellektuelle, psychologische und soziale Fähigkeiten auszeichneten. Die Sache ist komplizierter.

Erwachsensein wird von Soziologen in der Regel umrissen als Eintritt in jene Lebensphase, in der man die Schule beendet, einen Beruf erlernt hat und ausübt, das Elternhaus verlassen und seine eigene Familie gegründet hat. Oder aber, als jener Moment im Leben eines Menschen, in dem jemand die "Fähigkeiten und Einstellungen erworben hat, um fortan erwachsene Rollen" zu spielen. Was immer genau das auch sein soll. Tatsache ist jedoch, daß eine wachsende Zahl junger Erwachsener sich nicht in der Lage sieht oder nicht willens ist, diese Erwachsenenrollen zu spielen.

Sie haben keine "stabile Identität", sind sich im unklaren darüber, wer sie sind und wo sie in die "Gesellschaft hineinpassen". Die Untersuchung zitiert eine dreißig Jahre alte Mutter aus Iowa, die lachend auf die Frage, ob sie sich erwachsen fühle, antwortet: "Weiß nicht, ich fühl mich noch nicht so richtig erwachsen. Erwachsen sein klingt so nach 'Dinge besitzen, alles ist Routine, alles geht seinen geregelten Gang'. Ich hab noch nicht das Gefühl, daß alles seinen Gang geht." Das Gefühl wird wohl auch nicht mehr kommen.

Die Studie wertete Forschungsergebnisse über das Leben junger Erwachsener seit 1900 aus. Darüber hinaus wurden 500 Interviews mit jungen Erwachsenen aus allen Gegenden und Schichten der USA geführt. Das Ergebnis: "Es dauert in der Tat wesentlich länger, heute erwachsen zu werden, als noch vor einigen Dekaden." Vergleicht man die Liste der Kriterien (Elternhaus verlassen, Ausbildung beenden, finanziell unabhängig sein, Familie gründen, Kinder bekommen), dann stellt sich heraus: 1960 waren unter den 30jährigen 77 Prozent der Frauen und 65 Prozent der Männer "erwachsen". Im Jahr 2000 waren es nach dieser strengen Definition nur 46 Prozent der Frauen und 31 Prozent der Männer. Bei den Frauen waren 1960 30 Prozent der 20jährigen "erwachsen", 70 Prozent der 25jährigen. Im Jahr 2000 waren es noch sechs Prozent der 20jährigen und 25 Prozent der 25jährigen. Diese Resultate sind ähnlich in anderen Ländern der westlichen Welt. Als Hauptgrund nennt die Studie die Verlängerung der Ausbildungszeiten. Einen Arbeitsplatz zu ergattern, von dem man eine Familie ernähren kann, dauert heute einfach wesentlich länger als noch zu Beginn der sechziger Jahre.
Verschärfend kommen weitere Faktoren hinzu: Ausbildungsstand und berufliche Perspektiven von Frauen haben sich verbessert. Das ist schön für die Frauen, aber schlecht für die traditionelle Rollenverteilung und das entsprechende Familienmodell. Gerade die Einhaltung dieses Modells war und ist jedoch für viele der Befragten ein Grundkriterium des Erwachsenseins. Denn zwar geht seit den vierziger Jahren die Zahl derjenigen kontinuierlich zurück, die angeben, "Ehe und Elternschaft" seien eine Grundvoraussetzung, um als erwachsen zu gelten. Zugleich beharrt die große Mehrheit der Befragten jedoch darauf, um erwachsen zu sein, müsse man "finanziell unabhängig" und "in der Lage sein, eine Familie zu ernähren".

Soweit die Theorie. In der Praxis steigt die Zahl der Eltern aber seit Jahren an, die ihre inzwischen über zwanzig und gar über dreißig Jahre alten Kinder finanziell weiterhin unterstützen. Robert Schoeni und Karen Ross fanden in ihrer Studie On the Frontier of Adulthood heraus, daß mehr als ein Viertel der Gesamtkosten, die Eltern für ihre Kinder aufbringen, erst anfallen, wenn die Kinder älter als siebzehn sind. Zwei Drittel bekamen noch mit Anfang zwanzig, über vierzig Prozent noch mit Ende zwanzig Geld von den Eltern.

"Heranwachsender" ist ein äußerst dehnbarer Begriff geworden, und auch hierzulande sind Mittdreißiger, die "demnächst" ihre Doktorarbeit abgeben, oder "bald" mit dem Zweitstudium fertig sein wollen, keine Seltenheit.

Vor ein paar Jahrzehnten war das noch anders. Das mag in Deutschland mit daran gelegen haben, daß es kein BAfÖG gab und die wirtschaftlichen Verhältnisse der meisten Eltern es diesen nicht erlaubten, ihre Kinder 26 Semester lang marktfernes Zeug wie Lateinamerikanistik studieren zu lassen, damit diese dann mit Anfang dreißig feststellten, daß gut bezahlte Kulturkorrespondentenposten in Montevideo heutzutage nur selten neu besetzt werden. Eine Erkenntnis, die sie dann dazu bewog, einen achtsemestrigen Aufbaustudiengang Kulturmanagement dranzuhängen. So hat es Detlef gemacht. Mit 32 absolvierte er das erste Praktikum seines Lebens als Dramaturgieassistent am Landestheater Mecklenburg-Vorpommern in Neustrelitz. Das ist jetzt drei Jahre her. Es hat ihm nicht so gut gefallen. Seitdem orientiert er sich neu, und wenn alles schiefgeht, baut er sich eventuell bei Mutti das Dach aus. Vorher macht er aber noch mal ein unbezahltes Praktikum im PR-Bereich.

Gebühr bezahlt Empfängerin: Forever Sponsered by Mom

Früher lief das anders. In der guten alten Zeit fingen Heranwachsende brav mit 14 an zu arbeiten, und lieferten, solange sie noch zu Hause wohnten, Kostgeld ab. Heute ist es umgekehrt: 30jährige holen sich Kostgeld ab, wenn sie einmal im Monat im von Mutti geerbten Golf die Strecke von ihrem mondänen Studienort in die heimische Provinz zurücklegen, um die Eltern am Wochenende zu Hause zu besuchen. Da es keine ordentlichen Themen mehr gibt, aus denen sich ein Generationenkonflikt stricken ließe, ist das Verhältnis zu den Eltern in der Regel sehr entspannt:

"Ja, Mami, ich nehme gerne noch von dem Butterstreusel. Du willst dir einen neuen Audi A3 bestellen?"

"Wieviel hat denn der alte drauf?"

"60.000? Ist ja gar nicht so viel. Und den gibst du in Zahlung?

"Ob ich ihn nicht haben will?"

"Na ja, ist sicher kein schlechtes Auto, aber ehrlich gesagt bin ich zur Zeit etwas knapp bei Kasse ..."

"Ach, du meinst, du könntest mir das quasi vorstrecken oder stunden, also eher so Nießbrauch, bis ich mal Kohle verdiene, was zwar wahrscheinlich eh nie ..., aber ist ja auch nicht so schlimm. Nee, also dann, ja, von meiner Seite aus spricht nichts dagegen."

"Toll, Mami, vielen Dank. Ja, und gerne noch von dem Butterstreusel. "

Vier Wochen später kann der Sohn, der sich zur Feier des Tages vom Vater auch gerne einmal "Sohnemann" nennen und in die Wange kneifen läßt, dann den A3 abholen. Mutti hat wieder Butterstreusel gebacken, und Herr Wittek junior, vom Audi-Partner Autohaus Wittek und Sohn, wo die Familie schon seit Jahr und Tag ihre Autos erwirbt, hat sich für den Stammkunden sehr ins Zeug gelegt. Er hat das Fahrzeug bereits anmelden lassen. Jetzt steht er strahlend unter einem Schild mit der Aufschrift "Dialogannahme": "Gucken Sie mal; extra für Sie", sagt Herr Wittek stolz und deutet auf das Nummernschild. Dort prangt die Zwei-Buchstaben-Kombination des Heimatorts zusammen mit den Initialen des Sohnemannes und der Zahl 71. "Ist doch Ihr Geburtsjahr", zwinkert der Dienstleistungsprofi Wittek junior. Der ewige Sohn macht gute Miene zur ihm peinlichen Nummer, bedankt sich und ist froh, daß ihm Herr Wittek nicht auch noch eine Wiederauflage seines "Abi 1990 – man gönnt sich ja sonst nix"-Auklebers auf die Heckscheibe gepappt hat. Das Original zierte damals seinen ersten Polo Fox. Aber die Heimatbindung per Kfz-Zulassung hat schließlich Vorteile. Die Versicherungsprämie ist hier in der zweibuchstabigen Heimat wesentlich niedriger als in der Metropole, in der er sein Studium bald abzuschließen hofft. Und da die Versicherungsrechnung dann an seine Heimatadresse geschickt wird, zahlt Mutti, wenn sie gut gelaunt ist, die Rechnung dann vielleicht auch ab und an mal mit, wenn sie eh gerade "einen Schwung Überweisungen" machen muß. Sehr praktisch das alles.

Sohnemann – ein widerliches, aber treffendes Wort – hat jetzt einen A3, Garagenfahrzeug, so gut wie neu, und vielleicht schafft er nächstes Jahr im dritten Anlauf auch das Vordiplom.

Kinder als lebenslanger Dauerauftrag

Für eine stetig wachsende Zahl von Eltern scheint die unbefristete Bezuschussung ihrer Sprößlinge inzwischen so unabwendbar geworden zu sein wie die Subventionierung der Steinkohle für den Bundesfinanzminister. Dabei handelt es sich um eine volkswirtschaftlich vergleichbar sinnvolle Transferleistung. Regt sich dagegen ausnahmsweise mal elterlicher Widerstand, läßt sich dieser notfalls gerichtlich brechen. In Italien wurde 2002 der ehemalige Parlamentsabgeordnete und Anatomie-Professor an der Universität Neapel, Giuseppe Andreoli, dazu verurteilt, seinem dreißig Jahre alten Sohn Marco 750 Euro monatlich zu zahlen, bis dieser eine Anstellung gefunden habe, die "seinen Erwartungen entspricht". Marco lebte allerdings bei seiner Mutter und machte keine Anstalten, eine Anstellung zu finden, die seinen Erwartungen entsprach. Ob er inzwischen eine gefunden hat, ist nicht bekannt. Vielleicht hatte er auch einfach keine Erwartungen.

In Hannover gewann im November 2004 der dreißig Jahre alte Axel K. den inzwischen neunten Unterhaltsprozeß gegen seinen Vater Alexander K., einen Arzt. Der Vater findet, nach fünf abgebrochenen Ausbildungen sei es langsam mal an der Zeit, daß sein Sohn für seinen Unterhalt selbst aufkomme und nicht weiter in der Techno-Szene versacke. Seit Alexanders 18. Lebensjahr zahle er dem Sohn zwischen 500 und 750 Euro im Monat. Eine weitere Ausbildung sei er sogar noch bereit zu finanzieren, aber nicht, daß der Sohn weiter auf der "faulen Haut" liege. Der stehe nämlich erst um 3 Uhr nachmittags auf. Die Prozeßkosten mußte der Vater tragen, da Alexander K.s Antrag auf Prozeßkostenbeihilfe abgelehnt worden war.

Boomerang Kids

In den USA, in England oder auch in Japan beobachten Soziologen seit einiger Zeit, daß die Zahl erwachsener Kinder steigt, die während des Studiums zu Hause wohnen bleiben. Lebten in England 1994 noch 14 Prozent der Erstsemester bei Muttern, waren es 1999 schon 20 Prozent. Das müßte noch nicht verwundern, es ließe sich vielleicht darauf zurückführen, daß junge Leute heute einfach besser mit ihren Eltern auskommen, die Mieten steigen und das Leben zu Hause bekanntermaßen kostenarm ist und zusätzliche Vergünstigungen wie regelmäßig frisch gebügelte Wäsche und kaum reglementierten Zugang zu einem ordentlichen Weinkeller zu bieten vermag.

Das alles erklärt allerdings nicht, weshalb auch die Zahl der jungen Erwachsenen steigt, die nach Ende ihres Studiums zu Hause wohnen bleiben – oder wieder bei den Eltern einziehen! Eine Untersuchung in England namens Social Trends 2002 kam zu dem Resultat, daß fast ein Drittel der Männer zwischen 20 und 35 es sich weiter bei ihren Eltern gutgehen läßt. 1978 war es nur ein Viertel. Andere Untersuchungen zeigen, daß die Zahl der 30- bis 34jährigen, die immer noch bei ihren Eltern leben, in den letzten fünf Jahren gar um 20 Prozent gestiegen sein soll.

Die britische Sozialwissenschaftlerin Valerie Wiener hat über dieses Phänomen ein Buch geschrieben mit dem Titel The Nesting Syndrome. In Amerika, wo inzwischen rund 18 Millionen, das sind 38 Prozent, der 20- bis 34jährigen Singles bei ihren Eltern leben, nennt man diese Nestfluchtverweigerer und Spätheimkehrer Boomerang Kids, Co-resident adults oder Returnees. Der Buchmarkt steht Eltern, die mit dem Problem auszugsunwilliger Kinder konfrontiert werden, mit einer Reihe von Ratgebern zur Seite. Einer der beliebtesten ist von Richard Melheim und trägt den hübschen Titel: 101 Ways To Get Your Adult Children to Move Out (And Make Them Think It Was Their Idea).

Die japanische Fachliteratur zum Thema ist tendenziell etwas humorloser. Sie nennt die Problemkinder unverblümt "parasitäre Singles". In Japan ist die Lage allerdings auch noch dramatischer: 70 Prozent aller berufstätigen Single-Frauen zwischen 30 und 35 leben bei ihren Eltern.

Und auch in Deutschland sieht es ähnlich aus: Laut Mikrozensus aus dem Jahr 2002 leben 29 Prozent der 25jährigen in den alten Bundesländern noch bei ihren Eltern. 1972 waren es in Westdeutschland lediglich 20 Prozent. Kinder verlassen das Elternhaus immer später. Auffällig ist zudem, daß gerade Männer die Annehmlichkeiten des Hotel Mama besonders zu schätzen wissen. Sechzig Prozent der 23jährigen, vierzig Prozent der 25jährigen, zwanzig Prozent der 28jährigen, 14 Prozent der 30jährigen und immerhin noch vier Prozent der 40jährigen deutschen Männer leben noch zu Hause.

Eine stetig wachsende Zahl von jungen Erwachsenen neigt offenbar dazu, die vorgesehene Abnabelung vom Elternhaus künstlich in die Länge zu ziehen. Nesthocken ist inzwischen ein derartiger Trendsport geworden, daß die Bundeszentrale für politische Bildung (BpB) Themenblätter unter dem Titel Hotel Mama oder die Kunst erwachsen zu werden für den Unterricht konzipiert hat. Das Goethe-Institut bietet im Kulturprogramm ein Video mit dem gleichen Titel an. Der an deutschen Eigenheiten interessierte Ausländer erfährt hier aus offizieller landeskundlicher Quelle, daß immer weniger Deutsche Bock haben, erwachsen zu werden. Im BpB-Material klingt eine mögliche Erklärung dafür so, als hätten große Teile der deutschen Jugend angesichts der niederschmetternden Perspektive einer eigenständigen Erwachsenenexistenz resigniert und hingen seither depressiv auf Mamas Couch ab. Es läge daran, daß "es sich für Jugendliche nicht 'lohnt', erwachsen zu werden: Was reizvoll ist am Erwachsenenleben, darf man bereits. Was anstrengend oder belastend ist, übt keinen Reiz aus", mutmaßt die BpB über die Ursachen des Phänomens. Es erstaunt unter diesen Voraussetzungen nicht mehr, daß das Land nicht aus dem Quark kommt.

Statt Kinder in die Welt zu setzen, wie es sich gehört, bleiben nominell Erwachsene selbst so lange wie möglich in ihrer Kinderwelt sitzen. Im Extremfall ziehen sie gar nicht mehr von zu Hause aus, weil sie keinen Job finden. Oder sie kehren schleunigst zu Mama zurück, nachdem sie den ersten Job verloren haben oder die Ehe gescheitert ist.

...

Schlußverkauf der Revolution

Und es ist immer ein und dasselbe, was in uns wohnt: Lebendes und Totes, und Wachendes und Schlafendes und Junges und Altes. Denn dieses ist umschlagend jenes und jenes zurück umschlagend dieses. Heraklit

Teilnehmer an historischen Ereignissen neigen in der Rückschau zu verklärender Nostalgie. Das ist normal und in Reinform bei Fußballern nach jeder verlorenen Partie zu beobachten. Legendär ist in dieser Hinsicht nach wie vor eine Spielanalyse von Jürgen Wegmann: "Ja gut, ich mein’, erst hatten wir kein Glück, und dann kam auch noch Pech dazu." Kriegs- und Revolutionsteilnehmer sind da nicht anders. Es kann daher nicht erstaunen, daß aus dem "Damals in den Ardennen im Schützengraben" der WK-I-Teilnehmer im Laufe der Generationen so etwas wurde wie: "Damals mit Gaston beim Vietnam-Kongreß." Oder bei denen, die 1968 durch die Ungnade der späten Geburt verpaßt hatten: "Damals vor dem Raketendepot in Mutlangen mit Böll in der Sitzblockade."

Bärtige Veteranen, die mitgemacht haben, erzählen heute denn auch die Geschichte der Alternativbewegungen gern als lineare Befreiungsgeschichte. Diese geht so: Zunächst unterdrückt durch eine auf Konformismus ausgerichtete Erwachsenenwelt, bewirkt die rebellische Jugendbewegung in den Sechzigern einen Kulturwandel, der zur relativen Befreiung des Individuums von den Zwängen des Systems führt.

So oder so ähnlich geht die Sage.

Bis heute halten sich in Ehren kahl gewordene Alt-68er zugute, maßgeblich zur Liberalisierung der Adenauer-Republik beigetragen zu haben. Ohne ihr segensreiches Wirken, glauben die 68er, säßen wir heute noch in einer grunzreaktionären bis krypto-faschistischen Spießer-Republik. Einer Königsberger-Klops-Diktatur mit Krawattenzwang, in der Kleinkinder an der kurzen Leine gehalten werden. Revolutionäre kulinarische Errungenschaften wie Tüten-Cappucino, Lambrusco mit Schraubverschluß, griechischen Hirtensalat und Schinken-Brokkoli-Gratin hätten wir nach dieser Legende ohne die Unterstützung der weltoffenen Protestgeneration nie kennengelernt. In autoritär-klerikalen Kindergärten würden heute noch sexuell unbefreite Fräulein Rottenmeiers den Rohrstock schwingen. Draußen gäbe es weiter nur Kännchen, und Cappuccino zauberten beschürzte Fräuleins allenfalls mit der Sprühsahnedose. Wie an allen Legenden ist auch an dieser etwas dran, die Frage ist nur: Wieviel?

Zur Legendenbildung um die Errungenschaften der 68er tragen nicht zuletzt Pawlowsche 68er-Basher stets aufs neue bei, wenn sie ihren Lieblingshaßobjekten attestieren, für mehr oder minder alles verantwortlich zu sein, was sich in den vergangenen vierzig Jahren in der Bundesrepublik verändert hat. Ohne die 68er, lautet die Argumentationskette ihrer Feinde verknappt, gäbe es weder Kaugummi-Automaten noch jene kleinkriminellen Rotznasen, die mit ihren verschmierten Wurstfingerchen in eben diesen Automaten stecken bleiben, wenn sie wieder mal versuchen, einen davon zu knacken. Daß die Jugend moralisch überhaupt so weit degenerieren konnte, liegt natürlich nur an den sodomitisch-gomorröischen Zuständen in den autoritätsfreien Kinderläden – eine der widerwärtigsten 68er-Erfindungen. Das ist zuviel der Ehre. Die 68er als Subjekt der Geschichte werden maßlos überschätzt. Und zwar von sich selbst ebenso wie von ihren ärgsten Feinden. Teile dieser Generation mögen an guten Tagen Träger des gesellschaftlichen Wandels gewesen sein. Aber in vielen Fällen waren sie selbst auch nur Spielball komplexer kultureller und ökonomischer Veränderungen. Das wüste Bubenrudel der 68er wurde vom Schwung der Zeit genauso getrieben wie ihre bürgerlich-erwachsenen Gegner.

Gegenkultur? Eine Erfindung des Mainstreams

Es dürfte ausgesprochen schwierig sein, präzise zu ermitteln, wann und wo die böse Kultur- und Konsumindustrie anfing, sich des Geistes dieser revolutionären Bewegung zu bemächtigen und deren Ideen auszubeuten. Möglicherweise verhielt es sich oft eher so, daß die 68er gar nicht Avantgarde spielen durften, sondern nur im Windschatten eben dieser Industrie segelten, die schon eine ganze Weile dabei war, die Werte und Posen der Popkultur unter dem Label "Revolte" zu vermarkten. Frank Zappa hat früh gelästert, die ganze Counterculture sei nur eine Erfindung der Medien gewesen, und dieser Logik zufolge kann der Protest gegen die Kulturindustrie auch nur eins ihrer ersten, multimedial verwerteten Events gewesen sein.

Der Kunsthistoriker Walter Grasskamp hat diese eigenartige Symbiose aus Gegenkultur und Kulturindustrie die "Kernfusion von Woodstock" genannt. Woodstock war ein von der Musikindustrie organisiertes Event. Das wird vielleicht deshalb gerne vergessen, weil das Merchandising damals noch nicht so perfekt war wie heute. Keine Souvenir-T-Shirts, kein offizieller Bier-Sponsorpartner. Die unterentwickelte Verwertungskette läßt das Ereignis im Nachhinein reiner erscheinen als es war. Spätestens ab Woodstock jedoch wird es schwieriger, die Popkulturindustriellen von ihren Feinden zu unterscheiden, denn ausgerechnet diese werden zu den besten Kunden der Industrie. Die unterläßt es nicht, ihre erklärten Feinde auf den Titelseiten und zur besten Sendezeit zu promoten. Die Blätter des Springer-Verlages mußten die Studentenbewegung erst einmal zur Gefahr hochschreiben. Dadurch wurde diese vermutlich erst auf die Idee gebracht, dem konservativen Verlagshaus die Lieferwagen anzuzünden und die Enteignung seines Inhabers vorzuschlagen. Heute macht Springer mit Randale Reklame. Der Kinowerbespot der Berliner Morgenpost zeigt brennende Bullenwannen an einem beliebigen 1. Mai in Kreuzberg.

An die Kommune 1 könnte sich heute kein Mensch mehr erinnern, wenn der Stern ihr nicht regelmäßig ein paar Hausbesuche abgestattet hätte, wodurch die Welt erfuhr, daß die ausgehängte Klotür wohl eine der beschisseneren Ideen war, die diese Bewegung hervorgebracht hatte.

Das System hat bei der Befreiung vom System stets kräftig mitgewirkt, spätestens ab dem Moment, da es spürte, daß sich rebellischer Geist gut verkaufte.
Schon ab den Fünfzigern entdeckte die Industrie den Individualismus, in den sechziger Jahren begann sie ihn zu feiern. Sie bediente sich dabei der Jugendkultur und ihrer Vorlieben, aber daß sie diese bloß ausbeutete, ist ein bißchen übertrieben.

Die Weißen in Brandos Black Rebel Motorcycle Club zitierten die Schwarzen aus Harlem, und machten deren subkulturelle Widerstandshaltung damit massentauglich. Jugendlicher Widerstandsgeist wurde so zum Exportschlager der globalen Kulturindustrie, der buntesten Speerspitze des globalen Kapitalismus. Das lustige Paradox der Kulturindustrie besteht spätestens seit den fünfziger Jahren darin, daß sie ihre Herrschaft ausbaut, indem sie immer wieder Identifikationsfiguren für ihre schärfsten Verächter hervorbringt: Jugendliche Rebellen, die eben jene Ordnung herausfordern, welche die Kulturindustrie durch ihren kommerziellen Erfolg stetig verfestigt. Denn Revolutionäre in coolen Posen lassen sich spitzenmäßig vermarkten.

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