Auszüge aus Gérard Mendel's
"Plädoyer für die Entkolonisierung des Kindes"

Soziopsychoanalyse der Autorität

Selbst da, wo die Erwachsenen Verständnis für die Kinder als eigenständige Persönlichkeiten zeigen, weigern sie sich oft, ihnen eine eigene kollektive Existenz zuzugestehen, und statt das Entstehen einer Gesellschaft der Jugend zu fördern, widersetzen sie sich dem auf die verschiedenste Weise. Disziplinierung, Strafen, Anleitung zu Konkurrenzverhalten, Appell an die Eigenliebe und andere Maßnahmen zielen darauf ab, das Kind zur Anpassung an die Gesellschaft der Erwachsenen zu zwingen. Aus dem "Einleitenden Bericht" zur XV. Generalversammlung der UNESCO (1958).

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Vorwort

Die Neuauflage eines Buches oder seine Übersetzung können dem Autor ein willkommener Anlaß sein, sich den Weg zu vergegenwärtigen, den er seit der Niederschrift des Textes zurückgelegt hat. Dies eben möchte ich hier als Einleitung zu meinem Plädoyer für die Entkolonisierung des Kindes, das im ersten Drittel des Jahres 1971 geschrieben wurde, zu tun versuchen.

Das Buch in seiner jetzigen Gestalt hat im Grunde seinen Ursprung in einigen Kapiteln einer schon 1969 begonnenen anthropologischen Arbeit, mit der ich mich auch heute noch beschäftige und deren erster Band 1972 unter dem Titel Anthropologie différentielle erschienen ist. Ähnlich läßt sich – und das scheint mir bemerkenswert – der Leitgedanke meines Manifeste Educatif (1973), das die natürliche Fortsetzung des Plädoyers, dessen politisches Gegenstück bildet, auf den zweiten, in Vorbereitung befindlichen Band dieser Anthropologie zurückführen.

Um aber den Weg ganz verstehen zu können, der von der humanistischen und liberalen Ideologie meiner ersten beiden Schriften – Die Revolte gegen den Vater (1968) und Die Generationskrise (1969) – zur klaren Entscheidung für eine sozialistische, sich selbst verwaltende Gesellschaft führt, wie sie dem Manifeste Educatif zugrunde liegt, muß man noch eine andere, zur rein anthropologischen Betrachtung hinzutretende Dimension der soziopsychoanalytischen Disziplin einbeziehen, nämlich die Entwicklung der institutionalisierten Soziopsychoanalyse. Denn die genannte politische Entscheidung wurde, wie ich meine, aus wissenschaftlichen Gründen getroffen.

Die institutionalisierte Soziopsychoanalyse beschäftigt gegenwärtig etwa 60 Mitarbeiter, die in kleinen Gruppen in Frankreich, Belgien, Algerien und der Schweiz tätig sind; sie untersucht anhand von vorzugsweise in Bildungs- und Gewerkschaftseinrichtungen durchgeführten Studien die, man könnte sagen, psychologischen Probleme der Selbstverwaltung und der kollektiven Machtausübung in ihren Beziehungen zu den herrschenden Ideologien – einer Selbstverwaltung, die zwar erst noch zu verwirklichen ist, so hoffen wir wenigstens, die sich aber doch schon in einigen Institutionen, deren Angehörige die Macht kollektiv ausüben, andeutet. Eine Methode zur Analyse der Komponenten institutionalisierter Macht ist bereits Schritt für Schritt erarbeitet worden. Die Protokolle der Analysen, die Denkmodelle wurden seither in drei Bänden veröffentlicht: Sociopsychanalyse I – Psychosociologie ... psychomanipulation? (1972), Sociopsychanalyse II – La plus-value de pouvoir (1973) und Sociopsychanalyse III – Psychanalyse et Sociopsychanalyse (1973). Außerdem erschien ein Buch, das ein spezielleres Problem behandelt: L’Angoisse atomique et les centrales nucléaires (1973).
Ich habe oben das Manifeste Educatif aufgeführt. Sein Untertitel, "Contestation et socialisme", spricht für sich selbst. Es bildet die Ergänzung zum vorliegenden Buch, das zwar, wie ich glaube, was die Analyse des Phänomens Autorität und die These über den Kindheitsstatus angeht, seine Gültigkeit hat und durch die gesellschaftliche Entwicklung seit 1971 bestätigt wurde, das jedoch diese Aspekte nur sehr unzureichend in den gegenwärtigen politischen Kontext, d.h. die merkantile kapitalistische Gesellschaft und ihre vorherrschend bürgerliche Gesellschaftsideologie integriert hat.

Das eben genannte Buch, Le Manifeste Educatif, gibt demnach auf Fragen wie diese Antwort: Wie entwickelt sich bei der Jugend die Ideologie des Protests, d.h. die antiautoritäre Ideologie, ausgehend von den Gegebenheiten des Schulsystems und der Gesellschaft? Inwiefern hängt diese Protest-Ideologie direkt zusammen mit den mächtigen Strömungen, die im neunzehnten Jahrhundert entstanden sind und als utopischer Sozialismus, Anarchismus, freiheitliche Bewegung und anarchistische Gewerkschaftsbewegung in Erscheinung traten? Wieso war die Durchschlagskraft der Marxschen ökonomischen Analysen in gewisser Weise der Entfaltung einer Theorie der Autorität und der Macht hinderlich? Warum konnte eine Theorie der Autorität – der Autorität, die Gegenstand der bekannten heftigen Auseinandersetzungen zwischen dem Anarchisten Bakunin und dem "wissenschaftlichen Sozialisten" Marx auf der 1. Internationale war – überhaupt erst nach den entscheidenden Beiträgen Freuds und Reichs zu diesem Problem konzipiert werden? Wie wird die Jugend als Ganzes zu einer ideologischen Klasse, und warum liegt es objektiv in ihrem eigenen Interesse, sich dem Sozialismus anzuschließen, warum muß sie aber auch den Kampf auf ihre eigene spezifische Weise führen, wenn sie in den Sozialismus die Elemente einbringen will, die sie selbst braucht? Und endlich: Wie kann dem Problem der institutionalisierten Macht klinisch begegnet und wie kann es vom Phänomen Autorität abgespalten werden?

Wir sind in der vorliegenden Einleitung auf diese Punkte etwas näher eingegangen; denn die beiden Schriften – Plädoyer für die Entkolonisierung des Kindes und Manifeste Educatif – bilden, wie uns scheint, gewissermaßen ein Diptychon, bei dem jeder Teil zwar ein in sich geschlossenes Ganzes ist, zugleich aber die Fragen beantwortet, die im anderen in der Schwebe blieben.

Einleitung

Die Atombombe hat das Leben auf dem Planeten nicht (noch nicht?) vernichtet. Die als technologische Revolution bekannte tiefgreifende Veränderung der Produktionsmittel, zu deren Erzeugnissen u.a. die Bombe gehört, hat jedoch weithin zur Auflösung der traditionellen sozialen und kulturellen Strukturen geführt. Wir sind uns noch längst nicht aller sich hieraus ergebenden Konsequenzen bewußt.

Eine der Thesen der vorliegenden Abhandlung besagt, daß jede Gesellschaft seit den Anfängen der Menschheit auf dem Phänomen Autorität basierte. Insbesondere haben alle Formen der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen auf religiösem wie auf ökonomischem Gebiet – Ausbeutung der Kolonialvölker, Ausbeutung der Frau, des Kindes – sich das Phänomen Autorität, das seinen Ursprung in der biologischen und psychisch-affektiven Abhängigkeit des Kleinkindes vom Erwachsenen hat, zunutze gemacht.

Daher geht die Zerstörung unserer Gesellschaft, die uns Tag für Tag in einer Kette von kulturellen Hiroshimas vor Augen geführt wird, sehr viel tiefer, als es den Anschein hat, und greift unter verschiedenen Aspekten auf alle Gesellschaften der Erde über, die mit der technologischen Revolution in Berührung kommen. Die Zerstörung reicht bis an die Wurzeln der Beziehungen des Individuums zu sich selbst und zur Gesellschaft, so daß man sich fragen muß, ob das Individuum – der Begriff des Individuums, individuelles Denken – die gegenwärtige Krise überhaupt überstehen wird.

Der auffälligste Aspekt dieser Krise ist der zunehmende Schwund jeden sozialen Konsenses, d.h. jener unausgesprochenen Anerkennung bestimmter gemeinsamer Werte und Überzeugungen, die das soziale Gefüge erst zu einem lebendigen Ganzen machen und die Beziehungen zwischen Individuum und Gesellschaft regeln. Unter Gesellschaft wird hier verstanden, was sie seit eh und je war: die Herrschaft einer Minderheit von Großen über die Mehrheit der Kleinen. Im Grunde sind wir Opfer der Gewohnheit, der Selbsttäuschung und mangelnder Einsicht in die Gesamtzusammenhänge; denn in Wirklichkeit führen die sozio-kulturellen Institutionen heute nur noch ein Scheindasein. Der Rest von Leben, der ihnen noch innewohnt, wird von Tag zu Tag weniger. Sobald sich ein Sturm erhebt, werden sie wie Kartenhäuser zusammenfallen.

Es sei vorerst nur darauf hingewiesen, daß vor unser aller Augen ein neuer Konsens den früheren, auf Autorität basierenden, abzulösen beginnt. Die innergesellschaftlichen Beziehungen haben den Charakter purer Gewalt angenommen. Pressure groups oder Gewerkschaften bieten dem Staat Trotz, der seinerseits in dem Maß, wie er an Autorität verliert, die Polizei verstärkt.

Unter solchen von Gewalt bestimmten Verhältnissen, wo Rechte und Werte wenig gelten, ist das Individuum dem Staat gegenüber ein Nichts. Wenn dann eines Tages der Information der Mund gestopft wird, wenn die Emotionen aufgepeitscht und manipuliert werden, ist der Sturm, der dann losbricht, ganz sicher nicht der Sturm der Freiheit!
Wir kennen sie schon, die auf pure Gewalt gegründete Gesellschaft, zumindest kennen wir ihre Vor-Formen – Faschismus und Stalinismus. Eine neue Gesellschaft dieser Art wäre weit besser fürs Überleben ausgerüstet: eine hochtechnisierte Polizei, psychologische Konditionierung, Psychopharmakologie, Psychotherapie im Dienste der "Umerziehung" und "Resozialisierung" ...

Es gibt wohl keine dringendere Frage als die, welcher Art nach dem unvermeidlichen Untergang der Autorität ein nicht von nackter Gewalt bestimmter Konsens sein kann.
Bei dem Versuch, Ansätze zur Beantwortung dieser Frage auf zuzeigen, gehe ich von dem Standpunkt aus, daß der natürliche Zustand des Menschen der Konflikt ist.
Konflikte gibt es zum einen im Innern jeden Individuums, und die Psychoanalyse hat uns ausgiebig damit bekannt gemacht: Konflikt zwischen den unbewußten Trieben und dem Ich wie auch zwischen dem Ich und der äußeren Wirklichkeit. Darüber gibt u.a. die langdauernde Periode der Kindheit Aufschluß, die relativ verzögerte psychomotorische Entwicklung gegenüber der relativ beschleunigten sensorischen (sensorisch-motorische Diskrepanz), die Struktur des Unbewußten, das Vorherrschen erworbener Verhaltensweisen gegenüber angeborenen Automatismen.

Konflikte bestehen ferner zwischen der äußeren Wirklichkeit und dem Ich, jenem zwischen innen und außen vermittelnden Ich, das sich zum Sprachrohr der äußeren Wirklichkeit in der Innenwelt macht und zugleich die Interessen, Wünsche und Illusionen der Innenwelt gegen den brutalen Druck der äußeren Realität verteidigt.

Es ist also nicht verwunderlich, wenn das Ich in seiner Lage zwischen Hammer und Amboß dazu neigt, sich in Illusionen zu flüchten. Allerdings hat die Gesellschaft ihm dabei kräftig auf den Weg geholfen. Es ist der Weg der Konfliktverschleierung, und bei der zwischen individuellem Ich und Gesellschaft bestehenden Komplizenschaft ist oft sehr schwer zu durchschauen, wieviel dabei auf das Schuldkonto der einen oder der anderen Seite geht. Das Individuum verdrängt, idealisiert, projiziert unbewußt ("nicht ich bin’s, sondern der andere"), und die Gesellschaft treibt es zum Verdrängen und Unterdrücken, zeigt an, auf wen projiziert werden soll – auf den Feind – und wer idealisiert werden soll – die Vatergestalt, der große Mann, der Führer, wobei sie diese Prozesse verstärkt, perpetuiert und für sich ausbeutet. Bisher ist es der Gesellschaft gelungen, recht und schlecht – denkt man an Krieg, Verfolgung, Ausbeutung aller Art, mehr schlecht als recht – eine gewisse Ordnung aufrechtzuerhalten, indem sie Projektion und Idealisation als "soziale Prothesen" institutionalisierte. Es herrschte Ordnung, d.h. jedem – je nach Größe – sein Platz, sein Rang, seine Privilegien, seine Macht. Das Gerüst, die Mittelachse aller dieser Prothesen, war das Phänomen Autorität. Seien wir uns klar darüber, daß ein Ende des Kampfes innerhalb der beiden Konflikttypen, dem innerpsychischen und dem außerpsychischen (Individuum und Gesellschaft) nicht denkbar ist. Das Unbewußte ist Bestandteil der menschlichen Natur, und das Individuum wird erst innerhalb der Gesellschaft zum lebensfähigen Wesen (das Umgekehrte ist nicht richtig; und es könnte dem Staat in Zukunft vielleicht gelingen, die Individualität zu paralysieren). – Der Konflikt ist also der natürliche Zustand des Menschen, ein Konflikt, dessen beide Pole zwar veränderlich, entwicklungsfähig sind, doch nicht zum Verschwinden gebracht werden können, ein Konflikt, der kein Kampf auf Leben und Tod, sondern ein unendliches Spiel gegensätzlicher Kräfte ist.

Das Phänomen Autorität hat sich im Lauf der Menschheitsgeschichte im Widerstreit antagonistischer Kräfte stark verändert. Die ehemals willkürlich und uneingeschränkt herrschende innere und äußere Autorität (die Kräfte des Unbewußten einerseits, die gesellschaftlichen Zwänge andererseits) wurden relativiert. Was so der Autorität nach und nach abgerungen wurde, nennen wir Werte: so wurden der Willkür der Gewalt das Recht, dem "Belieben" der Großen das Gesetz abgerungen, der Offenbarung die wissenschaftliche Wahrheit, der Allmacht der Gesellschaft die Macht des Individuums, der bedingungslosen Identifikation mit der eigenen Kultur das Bewußtsein von der Zufälligkeit der Kulturen; der Abhängigkeit wurde die (relative) Freiheit, der totalen Ungleichheit die (relative) Gleichheit, der Intoleranz die Toleranz abgerungen.
Das Entstehen dieser Werte läßt sich als eine völlig ungeplante Entkonditionierung des Autoritätsreflexes charakterisieren; sie bewirkte, daß die Mythen, die Götter, die Führer, die Großen dem Individuum immer weniger als die Verkörperung jener magischen Allmacht erschienen, die das Kleinkind unweigerlich seinen Eltern und den Erwachsenen allgemein beilegt. Das Individuum wurde im Lauf der Zeit erwachsen.

Der Ursprung dieser Entkonditionierung ist, nach meiner Überzeugung, von einem bestimmten Entwicklungsstadium an, in einer jeweiligen Veränderung auf der Ebene der Produktivkräfte zu sehen.

Heute jedoch ist als Folge der Revolution im Bereich der Produktivkräfte das Phänomen Autorität, das, wenn auch relativiert, die Gesellschaft immerhin noch zusammengehalten und den Konsens zwischen ihr und dem Individuum begründet hatte, in Zerfall begriffen.

Es ist leicht einzusehen, daß in dem Augenblick, wo die Entkonditionierung des Autoritätsreflexes ihren Höhepunkt erreicht, die Konfliktnatur des Menschen und seiner Beziehungen zur Gesellschaft am deutlichsten in Erscheinung treten muß.

Da aber das Individuum unglücklicherweise nicht gelernt hat, mit seinen Konflikten umzugehen, weicht es ihnen verzweifelt aus, sucht nach neuen Wegen, sie ins Dunkel abzuschieben, während es sich gleichzeitig – was jedoch mit dieser Konfliktverschleierung korreliert – angesichts der sich ihm eröffnenden Freiheit schuldig fühlt. Um ein Bild zu gebrauchen: es ist so, als wenn die Menschheit in eine neue geologische Epoche, z.B. eine neue Eiszeit, mit den Bekleidungs- und Lebensgewohnheiten einer Zeit mit tropischem Klima einträte.

Damit besteht die Gefahr, daß die Angst und das Schuldgefühl des Individuums gemeinsam mit der verstärkten Polizeigewalt des Staates einen auf pure Gewalt gegründeten sozialen Konsens herbeiführen. Eine neue Ordnung, die eine technologische Barbarei wäre.

Der andere mögliche – vielleicht mögliche, auf jeden Fall aber, meine ich, wünschenswerte – Konsens würde, wie der Leser bereits begriffen hat, auf dem nicht mehr verschleierten, sondern durchschauten, akzeptieren, institutionalisierten und zum Wert erhobenen Konflikt beruhen.

Eine derartige Entwicklung, die einen entscheidenden Schritt nach vorn bedeuten würde, kann sich, wie ich glaube, nicht vollziehen, ohne daß einerseits die bestehenden Werte als gültig anerkannt und bewahrt werden und andererseits das Phänomen Konflikt als neuer kollektiv akzeptierter Wert hinzutritt.

Da Konflikte nur ertragen werden können, wenn gelernt wird, sie offenzulegen und mit ihnen umzugehen, und da dies nur unter Mitwirkung der Gesellschaft geschehen kann, ist eine solche Entwicklung ohne eine pädagogische Revolution nicht vorstellbar.

Eine pädagogische Revolution vor allem deshalb, weil ein möglichst früh einsetzender Einübungsprozeß nötig ist, damit der Mensch lernt, offenen Auges mit seinen Konflikten zu leben. Und nichts ist dieser Reifung so hinderlich wie der Schatten, den die Gesellschaft auf die Kindheit wirft. Seit eh und je sind, von einer Generation zur anderen, auf das Schuldgefühl, das sich unvermeidlich beim Kind entwickelt, noch zusätzlich soziale Schuldgefühle gehäuft worden: "Das ist nichts für dich, das geht dich nichts an. Das geht nur die Großen etwas an. Und wenn du nicht gehorchst, haben wir dich nicht mehr lieb!"

Eine pädagogische Revolution auch deshalb, weil in der allgemeinen Auflösung der Gesellschaft das Kind und der Jugendliche in vorderster Linie, auf Vorposten stehen und den Folgen der radikalen Veränderungen der Produktivkräfte unmittelbar ausgesetzt sind. Darum muß für sie vor allem ein neuer modus vivendi gefunden werden.

Bisher wurde das Kind traditionsgemäß nach dem Modell der Gesellschaft, in der es aufwuchs, geprägt. Diese Tatsache macht verständlich, warum es nicht der Protagonist eines möglichen gesellschaftlichen Fortschritts sein, sondern ihn nur widerspiegeln, später als Erwachsener weitertradieren, günstigenfalls ausbauen konnte.

Heute ist dieses Modell zerbrochen, und meine Analyse scheint zu zeigen, daß es offenbar nicht wiederherstellbar ist.

Das Kind und der Jugendliche können sich also nicht mehr mit der sie umgebenden Kultur identifizieren, sie lehnen sie ab und werden sie immer energischer ablehnen; sie sind von der Gesellschaft, in der sie leben, abgeschnitten und werden sich immer mehr von ihr isolieren.

Die hier formulierten Vorschläge – Stimmrecht ab 12. Lebensjahr, konfliktbestimmte Koedukation der Altersstufen, Entfaltung der Kindheit als eines Zustandes sui generis und seine Erhaltung das ganze Leben hindurch parallel zum Erwachsensein – sowie das angeführte Beispiel: die Videoskopie als neues Instrument einer neuen Kultur – das alles sind nur Versuche, aufgrund der Analyse der heute aktuellen Widersprüche neue Funktionsgesetze aufzuzeigen, eine neue Form der Begegnung und der, nunmehr wechselseitigen, Beeinflussung von Kindheit und Jugend einerseits und Erwachsenen andererseits. Die Kindheit ist ebensowenig ein Zustand "an sich" wie das Erwachsensein; beide haben ihre jeweils spezifischen psychischen und neurobiologischen Charakteristika, ihre eigene, sozusagen niemals abgeschlossene Entwicklung, und beide lassen sich nur in bezug aufeinander definieren.

Es war soeben von "aktuellen Widersprüchen" die Rede. Dazu gehört z.B., daß von der Erwachsenen-Gesellschaft verlangt werden muß, die ihr antagonistische Klasse selbst mit heranbilden zu helfen. Dazu gehört auch, daß von einer Jugend, die bisher von jeder Verantwortung ausgeschlossen war, verlangt werden muß, ihren Kampf mit taktischer Klugheit zu führen und sich langfristige Ziele zu setzen. Die Widersprüche würden aber verschleiert, wollten die Erwachsenen die Jugend für alle Übel des Jahrhunderts verantwortlich machen und meinten, auf der anderen Seite die Jugendlichen, die Gesellschaft müsse samt ihren Werten radikal zerstört werden. Das würde zu einem neuen kalten Krieg führen, bei dem die Existenz eines Kollektivfeindes es jeder Gruppe, wie bei allen bisherigen Kriegen, erlauben würde, ihrer Aggressivität guten Gewissens freien Lauf zu lassen.

Eine andere regressive Lösung bestünde darin, daß die Erwachsenen die Leidenschaftlichkeit der Jugend benutzten, um die jungen Menschen zu fanatisieren und als eine neue "Hitlerjugend" auf einen beliebigen Sündenbock loszulassen.

Diese zweite negative Lösung könnte übrigens auf die erste folgen, wenn diese ihre Wirkung getan hat.

Die "Alternative" oder eine der "Alternativen" zu einer konfliktbestimmten Soziokultur ergäbe sich also unter Umständen aus dem Zusammenwirken des technologischen Polizeistaates, der Fanatisierung der Jugend und der seinen Schuldgefühlen entspringenden Weigerung des Individuums, "erwachsen zu werden".

In der vorliegenden Studie werden, wie auch in allen meinen früheren Schriften, die Beziehungen zwischen individuellem und gesellschaftlichem Bereich diskutiert; doch wird hier die Frage noch schärfer formuliert, unter welchen Bedingungen der Kampf im Innern des Individuums (die Verarbeitung des Schuldgefühls) und die gesellschaftlichen Kämpfe (gegen die verschiedenen Formen der Ausbeutung) sinnvoll zusammenwirken können.

Freud, Pawlow, Marx, Proudhon. Freud: das Unbewußte; Pawlow: die bedingten Reflexe und das zentrale Nervensystem; Marx: der Klassenkampf; Proudhon: der ewige Konflikt der Antagonismen. – Für Freud ist das Gesellschaftliche im wesentlichen die Widerspiegelung dessen, was von Geburt an im Individuum angelegt ist, für Marx dagegen ist das Individuum ein soziales Wesen und tendiert bei ihm eher dazu, nichts als das zu sein.

Die Schwierigkeit besteht darin, dem Individuellen und dem Gesellschaftlichen gleichermaßen gerecht zu werden. In meiner Studie über die Generationenkrise habe ich einen für die Gattung Mensch spezifischen Teilaspekt des Individuellen herausgestellt – ich nannte ihn den "spezifischen anthropogenetischen Kern" –, der mit den neurobiologischen Eigentümlichkeiten der Gattung in Zusammenhang steht, bei Tieren nicht existiert, durch die Soziokulturen nicht determiniert ist, in ihnen aber seinen Ausdruck findet.

Ich bekenne mich nicht vorbehaltlos zur Theorie des Klassenkampfes; meine Vorbehalte lassen sich jedoch schon bei Marx selbst finden: der entscheidende Einfluß des technologischen Faktors auf die Klassenkämpfe, die unauflösliche Problematik der sich gegenseitig beeinflussenden Prozesse, der Wert dieser Problematik an sich und schließlich noch der Gedanke, daß Fortschritt sich nur auf der Basis der in der Vergangenheit gemachten Errungenschaften vollzieht; er fügt ihnen etwas Neues hinzu.
"Ohne Gegensatz kein Fortschritt; das ist das Gesetz, dem die Zivilisation bis heute gefolgt ist." Die verschiedenen sozialistischen Regime, die inzwischen entstanden sind, haben aber trotz dieser wissensdiaftlichen Erkenntnis den Kampf der Gegensätze sorgfältig unterdrückt, indem sie ihre tatsächlichen und möglichen Gegner mundtot machten, etwa wie ein Psychoanalytiker, der seine Kenntnis des Unbewußten dazu benutzt, den Patienten, der sich ihm anvertraut, zu unterjochen. Das Fehlen jeglicher Gegenkräfte (die ja schon im Keim erstickt werden) gegen die Staatsmacht, d.h. die Macht der Besitzenden, ist ohne Zweifel der Grund für das ökonomische und politische Scheitern der bestehenden sozialistischen Regime, die damit "das absurde Problem, die Geschichte auszustreichen" erfolgreich gelöst hätten. Auf innenpolitischer Ebene ist die Geschichte in der Sowjetunion zwar "ausgestrichen", auf internationaler Ebene kehrt sie jedoch zurück.

Was, außer der verstärkten Macht des Individuums, könnte ein Gegengewicht gegen die Allmacht des Staates bilden?

In seiner Beschreibung der revolutionären Rolle der Bourgeoisie (im Manifest der Kommunistischen Partei) spricht Marx von den Masken, Schleiern und Illusionen, die sie zerrissen habe. "Sie hat, mit einem Wort, an die Stelle der mit religiösen und politischen Illusionen verhüllten Ausbeutung die offene, unverschämte, direkte, dürre Ausbeutung gesetzt." (Manifest, p. 26) Marx konnte allerdings zu seiner Zeit die soziale und psychisch-affektive Bedeutung des Phänomens Autorität als eines Hauptfaktors bei der Konsolidierung jeder Form von Ausbeutung noch nicht sehen. Erst die Einbeziehung unbewußter Faktoren läßt erkennen, in welchem Ausmaß das Versagen der sozialistischen Regime auf die Konditionierung des Autoritätreflexes beim Kind zurückzuführen ist, eines Reflexes, der in diesen Systemen einfach deshalb vorhanden ist, weil er schon im voraufgehenden Gesellschaftssystem da war und weder aufgedeckt noch durch einen anderen ersetzt wurde. Es läßt sich sogar behaupten – ich verweise auf die Arbeiten von Bronfenbrenner –, daß diese Konditionierung mittels Manipulation der frühkindlichen Angst vor Liebesentzug und Verlassenheit, d.h. also mittels Verstärkung und Perpetuierung seines archaischen Schuldgefühls, heute in der Sowjetunion ausgeprägter ist als im Westen oder in den USA.

Damit diese letzte Maske (aber gibt es nicht noch andere? ...) fiel und so vielleicht der Weg zu einem illusionslosen Sozialismus frei wurde, in dem das antagonistische Wechselspiel zwischen Individuum und Gesellschaft wirklich den sozialen Konsens bestimmt, war es sicher notwendig, daß die Umwälzungen im Bereich der Produktionsmittel sich zum kapitalistischen System auswuchsen. Nachdem die Maske gefallen ist, muß aber noch eine pädagogische Revolution dafür sorgen, daß das Kind so früh wie möglich, und zwar noch im kapitalistischen System, eine ständig und unvermeidlich von Schuldgefühlen begleitete Freiheit erlernen kann. Hat nicht schon Marx behauptet, daß alle einer bestimmten Form von Produktionsverhältnissen inhärenten Widersprüche sich noch vor dem Übergang zur nächsten Phase enthüllt haben müßten?
Unter diesem Gesichtspunkt entspricht der Begriff des Klassenkampfes, wie ich meine, so genau der faktischen Wirklichkeit, daß man ihn täglich in den Kämpfen neuer, im Gefolge der technologischen Revolution auftauchender Kräfte bestätigt finden kann.

So führte die radikale Veränderung der Produktivkräfte, die den Konflikt auf neue soziale Schichten ausweitete, in diesen zur Entwicklung neuer Formen von Klassenbewußtsein: Bewußtsein der Altersklasse, der sexuellen, der nationalen Klasse (Entwicklungsländer der Dritten Welt).

In den sozialistischen Ländern hat die Blockierung der Antagonismen, bevor das Phänomen Autorität demaskiert, bevor der Autoritätsreflex in Familie und Gesellschaft entkonditioniert wurde, im ganzen gesehen die innere, nationale Geschichte "ausgestrichen".

In den kapitalistischen Ländern bewirkte der Antagonismus von Bürgertum und Arbeiterklasse eine allgemeine Hebung des Lebensstandards, freilich ohne, zumindest bis jetzt, einen Fortschritt auf politischer und menschlicher Ebene herbeigeführt und ohne an die Privilegien der herrschenden Klasse und des Kapitals gerührt zu haben.
In den kapitalistischen Ländern könnte sich, dank der nachlassenden autoritären Konditionierung des Kindes eine gesellschaftlich-politische Klasse der Kinder und Jugendlichen herausbilden, die für einen nicht nur ökonomischen Fortschritt kämpfte. Doch ich glaube weder an die messianische Sendung einer Klasse, noch an eine geschichtliche Notwendigkeit. Jede Klasse hat ihre besondere Rolle: Die bürgerliche und die Arbeiterklasse haben im Westen ihre antagonistische Rolle gespielt; die Arbeiterklasse hat 1930-33 in Deutschland ihre antagonistische Rolle nicht gespielt.

Der wunde Punkt bei diesem neuen von den Kindern und Jugendlichen zu führenden Klassenkampf liegt darin, daß dieser Kampf ohne Mitwirkung der Erwachsenen nicht in Gang kommen kann.

Die politische Analyse dieser Perspektiven wird durch die Tatsache erschwert, daß dieser Klassenkonflikt (d.h. Alters- und im weiteren gesellschaftlich-politischer Konflikt) sich innerhalb der bürgerlichen Klasse und innerhalb der Arbeiterklasse abspielt (es sind ja jeweils deren eigene Kinder); die Solidarität der Erwachsenen untereinander kann u.U. stärker sein als die Bindung an die eigene Klasse.

Der Klasse der Kinder und Jugendlichen steht noch die Aufgabe bevor, ein Klassenbewußtsein, langfristige Ziele und eine, je nach dem bestehenden Kräfteverhältnis, zwischen Klugheit und Kühnheit wechselnde Taktik zu entwickeln.

Es wäre ohne Frage wichtig, daß die traditionellen linken Kräfte die Altersklasse der Kinder und Jugendlichen bei der politischen Analyse wie auch in ihrem Kampf unterstützten. Es hat jedoch nicht den Anschein, als seien diese Kräfte, die mit im übrigen durchaus verständlichen ökonomischen Forderungen vollauf beschäftigt sind, sich des Einsatzes voll bewußt, um den es bei den gegenwärtigen Auseinandersetzungen innerhalb der Schule geht.

Die Grundvoraussetzung für einen "Sozialismus mit menschlichem Gesicht" ist ohne Frage eine irreversible pädagogische Revolution, die schon im kapitalistischen System beginnt und sich soweit durchsetzt, daß von Anfang an eine Gegenkraft gegen die in den ersten Zeiten des Sozialismus unvermeidliche Verfestigung der Staatsgewalt vorhanden ist. Der auf dem Phänomen Konflikt gründende Konsens muß dann im Grunde schon den auf Autorität basierenden abgelöst haben und wenigstens z.T. als kollektiver Wert akzeptiert worden sein. Die Blockierung der Gegensätze in den derzeitigen sozialistischen Ländern (in denen der überkommene Konsens auf der noch intakten Autorität beruht) verhindert eine solche Revolution.

Natürlich kann die autoritäre Verfestigung der sozialistischen Systeme auch in anderen als psychisch-affektiven Problemen ihren Ursprung haben. Aber selbst wirtschaftliche Schwierigkeiten stehen in hohem Maß mit "Gefühlen", d.h. mit psychisch-affektiven Faktoren, in Zusammenhang: z.B. mit der Teilnahmslosigkeit und mangelnden Verantwortungsfreude, die sich einstellen, sobald das rein persönliche Interesse nicht im Spiel ist. Wenn diese Motivation auch nach einer pädagogischen Revolution, die den Abbau der Projektionen und Idealisationen möglich macht, noch weiter besteht, so wird sie doch nicht mehr die einzige sein.

Im "kommunistischen Polizeistaat" ist also die Geschichte fürs erste "ausgestrichen". Geschichte kann sich heute, unter bestimmten Bedingungen, nur im kapitalistischen System entfalten.

Unter der trügerisch glatten Oberfläche der gegenwärtigen politischen Situation ist, wie mir scheint, schon ein Wettlauf im Gang zwischen den in dieser Studie formulierten neuen Tendenzen und der wieder zur Macht strebenden Diktatur, d.h. dem Faschismus.

Nachdem ich schon mehr als ein Jahr an einer kritischen Abhandlung zur Anthropologie gearbeitet habe, wurde mir von der UNESCO eine Studie über die Autorität in Auftrag gegeben. Sie bildet den ersten und zweiten Teil der vorliegenden Schrift, während der dritte aus einigen Grundgedanken der in Vorbereitung befindlichen Abhandlung hervorgegangen ist.

Ich möchte bei dieser Gelegenheit allen denen danken, die mir seit 1968 mit Ermutigung und Kritik zur Seite gestanden haben. Besonderen Dank schulde ich Herrn Professor Naraghi, dem Leiter der Jugendabteilung bei der UNESCO, der mich mit der vorliegenden Studie über die Autorität beauftragte und dessen Hinweis und Ratschläge mir bei ihrer Abfassung eine große Hilfe waren. Ganz besonders danke ich auch Gerald Belkin, der mir Einblick in die praktische Anwendung der Videoskopie verschaffte.

Ein Wort noch zur äußeren Form der Studie. Die detaillierte Inhaltsangabe, die bewußt die Beziehungen zwischen dem individuellen und dem gesellschaftlichen Bereich in den Mittelpunkt stellt, bildet eine Art von Kontrapunkt zum eigentlichen Text. Diese zweifache Möglichkeit der Lektüre kann, wie ich hoffe, dem Leser helfen, sich gegen den etwas "terroristischen" Versuch einer Einschüchterung seines kritischen Verstands abzuschirmen, als welcher jede Darstellung dieser Art erscheinen muß, die ihre Hypothesen und Argumente notgedrungen in Form einer allein- und allgemeingültigen Theorie vorbringt, während sich der Autor der Grenzen und Schwächen seines Buches sehr wohl bewußt ist.

Die am Schluß der Studie aufgeführte Inhaltsangabe ist als Arbeitsinstrument gedacht, dessen sich der Leser jederzeit bedienen kann, um sich bestimmte innere Beziehungen klarer zu verdeutlichen oder einen größeren Überblick zu gewinnen: sie entspricht damit in etwa den detaillierten maßstabtreuen Karten, die manchen Büchern beigegeben sind und auf denen man feststellen kann, wo und in welcher Umgebung sich die Handlung abspielt.

Die drei Charakteristika des Phänomens Autorität

Befaßt man sich mit dem Studium der Beziehungen zwischen den Erwachsenen und der Jugend in Gegenwart oder Vergangenheit, stößt man immer wieder mit nachgerade irritierender Regelmäßigkeit auf das Problem der Autorität. Auch die gegenwärtige Protestbewegung richtet sich ja offensichtlich vor allem gegen die traditionelle Autorität auf den verschiedensten Gebieten – Politik, Bildungswesen, Moral, Religion – ganz gleich, ob sich die Autorität auf Alter, Erfahrung, Tradition oder Geld, gesellschaftliche Position oder hierarchischen Stellenwert beruft.

Ich sagte, man "stößt" bei seinen Überlegungen auf dieses Problem, ganz so, als könne es unmöglich noch weiter hinterfragt werden. Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist nun gerade, einen methodischen Zugang zum Phänomen Autorität aufzuweisen, der es erlaubt, über die klassische Antinomie zwischen zwei Formen der Autorität hinauszukommen, zwischen einer vom Individuum ausstrahlenden und der Gruppe oktroyierten Autorität – der "Führer", der eine "natürliche", charismatische Autorität im Sinne Max Webers besitzt – und einer Autorität, die von der Gruppe auf einen einzelnen delegiert wird, womit sie ihn zum Träger ihrer kollektiven Vorstellungen macht. Meine These mag zwar gewagt erscheinen, ich hoffe jedoch, die Argumente, die ich zu ihrer Begründung beibringen werde, und ihr heuristischer Wert, für den die sich ergebenden Folgerungen und Implikationen sprechen, werden den Leser für sie gewinnen.

Bevor ich aber im zweiten Teil dieser Studie meine These darlege, möchte ich in einem ersten Teil nach einer vorläufigen Begriffserklärung, die den Problemkreis abzugrenzen erlaubt, mich einer kurzen semantischen Analyse des Terminus "Autorität" zuwenden und anschließend einige theoretische Positionen zum Problem der Autorität aufführen.

Vorläufige Begriffsbestimmung und semantischer Hinweis

Vorläufige Begriffsbestimmung

Hier die Definition der Encyclopaedia Universalis:

Autorität ist das Vermögen, ohne Rückgriff auf physischen Zwang ein bestimmtes Verhalten auf seiten derer, die ihr unterworfen sind, zu erwirken. Indem die Definition die Anwendung von Gewalt ausschließt, rückt sie das dem Phänomen Autorität inhärente psychische Element in den Vordergrund. Zugleich hebt sie damit die Tatsache hervor, daß das Phänomen notwendig aus dem Verhältnis zwischen dem jeweiligen Träger der Autorität und dem Subjekt, dessen Verhalten er beeinflußt, zu definieren ist. Damit ist gesagt, daß die psychische Komponente der Autorität nicht allein durch eine Analyse der individuellen Psychologien erschlossen werden kann. Sie besteht in einem bestimmten Verhältnis von Befehl und Gehorsam, so daß Autorität als ein soziales Phänomen anzusehen.

Wir werden später sehen, daß ich für meinen Teil hinsichtlich des Fehlens von physischem Zwang und Gewalt bei der Ausübung von Autorität einige Bedenken habe.
Nach der "enzyklopädischen" Formulierung möchte ich die Definition anführen, die Schüler des Gymnasiums von Bordeaux-Bastide, Mitglieder des Jugendklubs der UNESCO, als Ergebnis ihrer Diskussionen vorlegten:

Sie ist der Respekt vor der Gesamtheit der freiwillig akzeptierten, für jede organisierte Gemeinschaft unerläßlichen Regeln. Es wird eine der bleibenden Aufgaben der Erziehung sein, die Entfaltung dieser Autorität zu fördern.

Der Unterschied zwischen der Unterwerfung unter die Autorität, von der die klassische Definition spricht, und dem "freiwilligen Respekt" in der zweiten Formulierung springt sofort ins Auge.

Die breite Fächerung der möglichen Bedeutungen, die der Begriff, wie wir gleich sehen werden, annehmen kann, macht eine der Hauptschwierigkeiten bei der Beurteilung des Phänomens Autorität aus.

Semantischer Hinweis

Das Wörterbuch von Robert (Dictionnaire Robert) führt sechs mögliche Bedeutungen des Begriffs Autorität auf:

1.       "Das Recht zu befehlen, die (anerkannte oder nicht anerkannte) Macht, Gehorsam zu erwirken."

2.       "Die Organe der Macht", anders gesagt: "die Obrigkeit: die Personen, die eine Amtsgewalt ausüben."

3.       "Allgemeinverbindliche Vollstreckungsgewalt von Akten der öffentlichen Autorität. Autorität des Gesetzes."

4.       "Autoritäre oder sehr selbstsichere Haltung."

5.       "Auf Verdienst oder Verführung beruhende Überlegenheit, die ohne Zwang Respekt, Vertrauen bewirkt. Siehe: Achtung, Ansehen, Einfluß, Gewicht, Glaubwürdigkeit, Herrschaft, Magnetismus, Prestige, Ruf, Verführung.

6.       "Person, die eine Autorität ist. Ein Historiker, ein Werk, ein Gelehrter können eine Autorität sein."

Vorerst einmal ist zu sagen, daß die Bedeutungen 1 und 2 miteinander verwandt sind (die Obrigkeit übt Autorität nur in ihrer Eigenschaft als Beauftragte aus), ebenso verhält es sich mit den Bedeutungen 4 und 5, die es mit den Begriffen "Einfluß, natürliche Autorität, Charisma" zu tun haben. Bedeutung 3 ist insofern interessant, als sie den Begriff der Ausschaltung oder Einschränkung von Willkür ins Spiel bringt: das Gesetz setzt per Definition, selbst wenn es ungerecht oder drakonisch ist, der totalen Willkür, die mit dem bloßen "Belieben" der Autoritäten gegeben wäre, Grenzen. Bedeutung 6 schließlich nimmt eine fast vollständige Entmythisierung der Autorität vor: der Gelehrte ist, zumindest heutzutage, erst dann eine Autorität, wenn er sich durch seine Arbeiten als solche ausgewiesen hat; die Autorität eines Gelehrten gründet heute nicht mehr auf einem Autoritätsprinzip, demzufolge ein "Aristoteles dixit" als Wahrheitsbeweis genügte: früher war es der Mensch oder der Text, der Autorität beanspruchte, heute ist es der experimentelle Nachweis.

So läßt schon Bedeutung 3 und mehr noch Bedeutung 6 eine semantische Weiterentwicklung der Vorstellung von Autorität, ja selbst des Wortgebrauchs erkennen. Im Fall 6, könnte man sagen, hat der Terminus fast völlig sein ursprüngliches Gewicht verloren und wird wohl in dieser Bedeutung überhaupt verschwinden: man spricht schon jetzt immer mehr von der wissenschaftlichen Glaubwürdigkeit eines Gelehrten, immer weniger von seiner Autorität.

Kommen wir jedoch noch einmal auf Bedeutung 1, die Hauptbedeutung, zurück. Dabei fällt angesichts der im Wörterbuch aufgeführten Beispiele auf, daß der Terminus an sich ganz unbestimmt und verschwommen ist, und erst durch das ihn begleitende Adjektiv, das den Sinn des Begriffs ins radikale Gegenteil verändern kann, seinen Aussagewert erhält: legitime Autorität und illegale Autorität.

Versuchen wir auszumachen, welcher gemeinsame Nenner sich für die verschiedenen Anwendungsmöglichkeiten des Begriffs Autorität in der ersten der sechs Bedeutungskategorien finden ließe.

"Die höchste Autorität. Die Autorität des Souveräns, des Staatsoberhauptes. Die Autorität des Vorgesetzten gegenüber seinen Untergebenen, des Heerführers gegenüber seinen Soldaten ... Väterliche Autorität, Autorität des Vormunds gegenüber dem Minderjährigen ... Legitime, etablierte Autorität; illegale, usurpierte, angemaßte. Absolute, despotische, diktatorische, uneingeschränkte, unkontrollierte Autorität. Autoritäres Regime. Siehe: Absolutismus, Autoritarismus, Autokratie, Cäsarismus, Despotie, Diktatur, Herrschaft, Totalitarismus, Tyrannei, Unterdrückung."

Das mindeste, was sich hierzu sagen läßt, ist, daß der Begriff vor einem recht bedrohlichen Horizont erscheint. Da die Bedeutungen 4 und 5 keinerlei Abgrenzung gegen die Willkür enthalten – ein Souverän kann durchaus natürliche Autorität besitzen und zugleich ein Autokrat sein und, wenn er durch Erbfolge auf den Thron gelangt ist, die rechtmäßige Autorität verkörpern –, wird die der Autorität sozusagen wesensmäßig inhärente Willkür allein durch den Begriff des Gesetzes oder besser noch dessen, was man, wie in der Definition des UNESCO-Jugendclubs, das Recht nennen könnte, eingeschränkt.

Kurz der Begriff der Autorität umfaßt von der Willkür bis zum Gesetz, ja bis zum Recht, ein weites Feld, und es wäre zu fragen, ob der so umgrenzte räumliche Bereich sich nicht auch in zeitliche Kategorien übersetzen ließe, wobei die Willkür der älteren, das Gesetz der neueren Zeit entspräche. Jedenfalls kann man sagen, daß sich heutzutage die Autorität immer auf das Gesetz oder auf scheinbare Gesetze stützt und Hemmungen hätte, sich offen zur Willkür zu bekennen oder sich auch nur auf ihre natürlichen Rechte statt auf das Gesetz zu berufen.

Bedeutung 5, die gewissermaßen in Bedeutung 4 schon in nuce enthalten ist, entspricht, wie mir scheint, vollkommen dem Begriff des Charisma, wie ihn Max Weber entwickelt hat. Im Wörterbuch Die Soziologie, das zugleich mit den soziologischen Termini Begriffsanalysen und Biographien liefert, heißt es:

... etymologisch bedeutet "Charisma" soviel wie göttliche Gnade. Die katholische Theologie bezeichnet damit die besonderen spirituellen Gaben, die der Heilige Geist im Hinblick auf das Wohl der Kirche spendet. So das Charisma der Unfehlbarkeit des Papstes. Der Begriff ... wurde von Max Weber, der ihn zu einem der Idealtypen politischer Herrschaft macht, übernommen und präzisiert. Weber definiert die Politik als Herrschaft des Menschen über den Menschen. Dieses Verhältnis besteht jedoch nie in reiner Gewalt. Es impliziert eine psychologische Wechselbeziehung (Herrschaft-Unterwerfung) und eine Sprachregelung (die Legitimation) ... Die charismatische Herrschaft beruht auf dem persönlichen Wert des Herrschenden, der historisch begründeten oder exemplarischen Heiligkeit seiner Person. Ihre Grundlagen sind emotionaler Art. Sie impliziert die Hingabe des Menschen an die Person dessen, der aufgerufen ist, eine "Mission" zu erfüllen.

Nach diesem rein semantischen Hinweis, der geeignet ist, die unterschiedlichen Bedeutungen des Begriffs der Autorität und bestimmte innere Widersprüche sichtbar zu machen, werden wir uns jetzt an einer kurzen Bedeutungs- und Begriffsanalyse der Autorität versuchen.

Versuch einer Bedeutungs- und Begriffsanalyse des Phänomens Autorität

Wenn die Schüler des UNESCO-Klubs die klassische Definition des Begriffs Autorität auszuweiten und ihm den von ihnen gewünschten Sinn zu geben suchten, dann deshalb, weil sie angesichts der Frage, die sie sich gestellt hatten und die in der Tat von grundsätzlicher Bedeutung ist, alles, was dem Terminus Autorität noch an Magischem anhaften mag, einbeziehen und es nicht denen, die sich nach autoritärer Führung sehnen, als Monopol überlassen wollten.

Ich werde versuchen, meinerseits einige Ansätze zur Beantwortung dieser Frage aufzuweisen. Im Augenblick jedoch erscheint es mir sinnvoller, mich auf die klassischen Bedeutungen des Begriffs zu beschränken.

Der "enzyklopädischen" Definition und den oben aufgeführten semantischen Hinweisen lassen sich zwei Merkmale entnehmen, denen ich noch ein drittes, wie mir scheint, ebenso auffälliges hinzufügen möchte, nämlich die für die Entfaltung des Phänomens Autorität unerläßliche Atmosphäre des Geheimnisvollen: Autorität braucht wie die Endivie Schatten, um gedeihen zu können.

1.       Das Moment der Ungleichheit zwischen dem, der eine Autorität ist oder Autorität hat, und dem, auf den sie sich auswirkt. Sowohl in Bedeutung 1 wie auch in 5 ist dies ein entscheidendes Charakteristikum.

In Bedeutung 1 kann diese Ungleichheit wesensmäßiger, faktischer oder rechtlicher Art sein.

Die höchste Autorität ist letzten Endes die Autorität Gottes; ihr gegenüber besteht wesensmäßige Ungleichheit. Die Autorität des Souveräns ist ihrerseits "von Gottes Gnaden": der Gesalbte des Herrn geht aus der göttlichen Wesenheit hervor. Auch in Bedeutung 5 ist das Charisma eine göttliche Gnade, eine Gabe Gottes, die einen Wesensunterschied zu anderen Menschen bewirkt. Hinsichtlich der väterlichen Autorität läßt sich sagen, daß auch hier, in geringerem Grad (gleichsam auf der untersten Stufe der Autoritätsleiter), seit je ein Wesensunterschied zwischen Vater und Kind bestand; auf anderer Ebene gab es hier, wie jeder sehen kann, genau die gleichen Sakrilege, Vergehen gegen "Heiliges", die den Gottesmörder (den Juden oder den Hostiendieb), den Königs- oder den Vatermörder gleichermaßen mit der Aura tiefster Verworfenheit umgaben. In allen drei Fällen erzitterten die "Säulen der Gesellschaft" in ihren Grundfesten, und die Prozedur der Urteilsfindung wie der Vollstreckung vollzog sich unter anderen als den üblichen Formen. In den Beispielen, die ich in der Reihenfolge: "Höchste Autorität, Autorität des Souveräns, des Staatsoberhauptes, des Vorgesetzten, des Heerführers, des Vaters, des Vormunds" aufgeführt habe, ist eine stufenweise Abschwächung von Autorität erkennbar, bei der noch anderes als einfach nur quantitative Phänomene im Spiel sind.

Das Phänomen Autorität bedarf offenbar also notwendig der Transzendenz – einer religiösen (die Götter bzw. Gott) oder weltlichen (der vergötzte Staat oder der Sinn der Geschichte) –, aus der sie herabsteigt, um in hierarchischer Stufenfolge ihre Repräsentanten zu belehnen.

Das Phänomen Autorität basiert nicht auf Legalität, sondern auf Legitimität. Es herrscht heute eine Begriffsverwirrung in bezug auf die Wörter Autorität und Macht, ganz so als könne man sich nicht entschließen – und wir werden gleich sehen warum –, alle archaischen Elemente aufzugeben, die der Macht einen sakralen Charakter verleihen.
Wenn von der Autorität der Macht oder der Obrigkeit die Rede ist, dann kommt genau das Element ins Spiel, das wir hier als das Phänomen Autorität untersuchen.

Zusammenfassend ist zu Punkt 1 zu sagen: das Phänomen Autorität ist, meines Erachtens, unlöslich mit dem Glauben an eine – religiöse oder auch weltliche – Transzendenz verknüpft, aus der sich ihre Legitimität ableitet und sich in hierarchischer Ordnung in verschiedenen Personen oder Institutionen inkarniert. Ein weiteres Moment: Autorität wirkt immer von oben nach unten, vom Höhergestellten auf den Tieferstehenden. So wie der Fluß nicht zu seiner Quelle zurückströmt, fließt auch Autorität nie von unten nach oben. Nicht die Autorität der Bürger als Individuen begründet heutzutage auf dem Weg über Wahlen die Autorität des Staatsoberhauptes: sie fließt ihm aus der Transzendenz – dem Staat, dem Volk, Frankreich – zu. Das geht so weit, daß der Präsident der Republik sich keineswegs als von seinen Wählern Beauftragter fühlt – was er de facto ist; denn er hütet sich ängstlich, es mit ihnen zu verderben und verliert nie die Wahlen aus dem Auge –, sondern er behauptet, unter Mißachtung der Sprache wenn nicht gar des Rechts, von allen Franzosen gewählt zu sein und Frankreich als Ganzes wenn nicht zu verkörpern, so doch zu "repräsentieren". Hier zeigen sich die letzten Reste des sakralen Charakters, der früher dem "König von Gottes Gnaden" zugeschrieben wurde. Die feierliche Amtseinsetzung mit ihrem Zeremoniell und die Verleihung des Großcordons der Ehrenlegion treten an die Stelle der Salbung des Königs.

Transzendenz. Legitimität. Hierarchie. Nichtumkehrbarkeit.

Hier noch ein Beispiel für die Tendenz zur Nichtumkehrbarkeit in unserer Gesellschaft, die immer noch starr an der Autorität festhält und nicht imstande ist, sich von ihr freizumachen. Der Präsident einer Vereinigung wird häufig nach Ablauf seines Mandats zum "Ehrenvorsitzenden" ernannt, womit das Minimalsakrileg vermieden wird, das darin bestünde, ihn, in dem sich bislang die Autorität verkörperte, wie einen entthronten König der Autorität seines ehemaligen Untergebenen zu unterstellen. Je mehr eine Vereinigung vom traditionellen Typ ist, desto häufiger wird die Ernennung zu Ehrenmitgliedern vorgenommen. Jeder Notar, der sich vom Berufsleben zurückzieht, wird Ehrenmitglied. Ein General, der seinen Abschied nimmt, verliert seinen Titel nicht, sondern wird zum "General der Reserve" ernannt.

Schließlich sei noch festgestellt, daß unter der letzten Sprosse der hierarchischen Stufenleiter, die von irgendeiner Transzendenz bis zur väterlichen – heute elterlichen – Autorität oder der Vormundschaft des Volljährigen über den Minderjährigen reicht, nur noch das Kind steht, über das alle anderen autoritär verfügen – Gott, der Staat, die Eltern, die Lehrpersonen, ja jeder Passant, der sich das Recht anmaßt, ihm als "Autorität" Vorhaltungen zu machen, seinerseits aber keinerlei Verfügungsgewalt hat, nicht einmal über sich selbst.

Autorität bedeutet demnach eine auf der hierarchischen Stufenleiter von oben nach unten zunehmende Enteignung, und man könnte sagen, die Leiter, auf der sämtliche Inhaber von Autorität stehen, ruhe auf den Schultern des Kindes, des total Enteigneten. Wir werden Gelegenheit haben zu sehen, daß es sich hier um mehr als nur ein Bild handelt.

2.       Wir kommen nun zum wesentlichen Element der in der Encyclopaedia entwickelten Definition: "Autorität ist das Vermögen, ohne Rückgriff auf physischen Zwang ein bestimmtes Verhalten auf seiten derer, die ihr unterworfen sind, zu erwirken." Unterwerfung unter Autorität und Obrigkeit also, ohne daß diese Gewalt anwenden müßten.

Diese Definition ist insoweit brauchbar, als "Autorität" nicht schlicht und einfach mit "Gewalt" identisch ist; doch scheint sie mir insofern unvollständig, als die Autorität ja doch zu ihrer Durchsetzung als erstes und als letztes Mittel Gewalt gebraucht.

Als erstes Mittel: davon wird die Rede sein, wenn ich meine These über die Erscheinungsformen des Phänomens Autorität darlege.
Als letztes Mittel: es gibt keine Autorität ohne ein Strafsystem für Übertretungsfälle.

Das Phänomen Autorität scheint mit im Bereich zwischen diesen beiden Manifestationen von Gewalt angesiedelt zu sein. Aber auch in diesem Bereich selbst versäumt die Obrigkeit nicht, mit dem Hinweis auf mögliche Gewaltanwendung (wie der bekanntlich sehr autoritäre Lyautey sagt: "um sich ihrer nicht bedienen zu müssen") ihre Autorität zu bekräftigen.

Wir werden noch sehen, daß der große Vorteil der Autorität für die, die sie besitzen, darin besteht, daß sie mit ihr das gleiche Resultat, ja sogar ein weitaus günstigeres erzielen, als es mit nackter Gewalt möglich gewesen wäre, und sich dabei noch jede Gewaltanwendung sparen können.

Hinsichtlich des Problems der Gewalt und der Vergewaltigung – Gewaltanwendung bedeutet immer eine Vergewaltigung dessen, der ihr Objekt ist – glaube ich, daß die Absicht, die Obrigkeit oder die Polizei zu provozieren und ihnen Trotz zu bieten, wie sie offensichtlich bei vielen Protestlern vorhanden ist, dem mehr oder weniger bewußten Wunsch entspringt zu beweisen, daß Autorität letztlich nichts als Gewalt, brutale, repressive Gewalt ist. Die so von den ihr Ausgelieferten bloßgestellte Autorität enthüllt sich damit als die täuschende Maske der Gewalt. Und hält nicht auch wirklich – ich wiederhole – jede Autorität für den Übertretungsfall Sanktionen bereit?

Autorität ist, so scheint mir, nie etwas anderes als die täuschende Maske der Gewalt. Es ist jedoch nicht die Absicht der vorliegenden Untersuchung, der Autorität einfach nur die Maske vom Gesicht zu reißen, sie zu zwingen, sich offen zu zeigen; sie will versuchen, verständlich zu machen, wie und warum die Maske geschaffen und benutzt wird, wie und warum die "unten" und die "oben" getäuscht werden. Denn wenn es etwas gibt, was sich durch alle Formen gesellschaftlicher Veränderungen hindurch ständig gleichbleibt, so ist es die Tatsache, daß immer einige Menschen von ihresgleichen auf ein Piedestal gestellt werden. Das Problem der Autorität erschöpft sich keineswegs im Problem der Gewaltanwendung, und die Entfremdung, die sie bewirkt, ist sehr viel tiefer und verborgener, als daß sie aus einem einfachen Kräfteverhältnis erklärt werden könnte.

Die Autorität, die täuschende Maske der Gewalt, erhält ihre Illusionen erzeugende, sich ständig erneuernde Macht nur zwischen zwei Manifestationen von Gewalt aufrecht. Ihre repressive Gewalt, die alle gegen die Autorität gerichteten Übergriffe bestraft, kennt jeder. Die Gewalt aber, die die Etablierung von Autorität erst ermöglicht, liegt nicht so offen zutage: sie zu untersuchen ist eine der Absichten der vorliegenden Arbeit. Die Maske wird weiterhin von Gesicht zu Gesicht überwechseln, solange die einzelnen Menschen immer wieder "bereit" sind, sie anzulegen oder ihr Respekt zu zollen.

Die Autorität kann es sich nicht leisten, "das Gesicht zu verlieren". Der politischen Macht aber geht es nur darum, die Kräfteverhältnisse zu harmonisieren. Hierin liegt der Unterschied, der beide eigentlich trennen sollte. Als General de Gaulle erklärte, Macht weiche keinen Schritt zurück, setzte er unausgesprochen "Macht" und "Autorität" in eins und deutete damit an, daß die Autorität alles zu verlieren hat, wenn sie entmystifiziert wird. Sie gäbe sich damit quasi "dem Gespött der Leute preis", ein Ausdruck, der ihren emotionalen Ursprung und Charakter sehr gut bezeichnet. Die Autorität verliert das Gesicht, wenn sie gezwungen wird, sich als das, was sie ist, zu erkennen zu geben; denn ihr Gesicht ist nichts als eine Maske.

Fassen wir den zweiten Punkt zusammen: Autorität als psychologisches Phänomen manifestiert sich zwischen einem ersten und einem letzten Rückgriff auf Gewalt. Autorität ist das Mittel, mit geringstem Aufwand Unterwerfung zu erwirken. Die oben herrschen, die unten unterwerfen sich.

3.       Zur Illustration des dritten Punktes benutze ich den Text eines in den vorangehenden Abschnitten schon einmal zitierten Autors, der sich selbst als Autorität, als die Verkörperung von Autorität verstand. Eine Autorität, die in unserer Zeit noch einmal im Stil eines Königs von Gottes Gnaden auftritt, ein solcher Schwanengesang der Autorität, ist ein ebenso erstaunlicher Anachronismus, wie wenn Ludwig XIV. auf dem Fernsehschirm die Mondlandung verfolgte. Hier bietet sich aber eine wohl einmalige Gelegenheit – meines Erachtens kann heute oder in Zukunft Autorität nur noch in korrumpierter Form als Polizeidiktatur in Erscheinung treten –, die charakteristischen Merkmale der Autorität zu analysieren, wie de Gaulle sie 1932 in Le Fil de l’Èpée beschrieben hat.

Im Angesicht der Ereignisse verläßt sich der Mann von Charakter ganz auf sich selbst ... Mehr noch, er reißt die Initiative mit herrscherlichem Stolz an sich; er handelt, sein ist die Tat ... Seine Untergebenen spüren das, und manchmal stöhnen sie darüber. Im übrigen ist ihnen eine solche Führerpersönlichkeit weit entrückt; denn Autorität geht immer mit Prestige zusammen, und Prestige immer mit Distanz. Die Menschen unter ihm sprechen flüsternd von seiner Größe und seinen Forderungen ... Umgekehrt aber feuert das Vertrauen der kleinen Leute den Mann von Charakter an ...; denn er ist der geborene Beschützer. ... Was er an Sicherheit bietet, wird ihm in Gestalt von Respekt zurückgegeben.

Vor allem aber kann es ohne Geheimnis kein Prestige geben; denn vor dem, was man zu genau kennt, hat man keinen großen Respekt. Jeder Kult hat seinen Tabernakel, und vor seinem Diener ist keiner ein großer Mann. Darum muß in seinen Plänen, seinem Gebaren, seinen Gedanken immer etwas sein, was die anderen nicht begreifen, was ihre Neugierde reizt, ihr Gemüt erregt, sie in Atem hält ...

Die Erhöhung eines Menschen über andere ist nur gerechtfertigt, wenn er für die gemeinsame Sache die Stoßkraft und Verläßlichkeit eines starken Charakters mitbringt. Denn wie sollten das Privileg der Herrschaft, die Befehlsgewalt, der Stolz, Gehorsam zu erwirken, die tausend Rücksichten, Ehrungen und Vergünstigungen, die mit der Macht verbunden sind, umsonst sein?!

Die Menschen, deren Ehrgeiz von höchstem Rang ist, für die der Sinn des Lebens einzig darin besteht, den Ereignissen ihren Stempel aufzudrücken ...

Wir finden hier alle oben beschriebenen Merkmale der Autorität wieder, wobei besonderer Nachdruck auf die Hierarchie, auf Niveau- und Größenunterschiede gelegt wird (die "unter ihm sprechen flüsternd von seiner Größe", "das Vertrauen der kleinen Leute", die "Erhöhung eines Menschen über die anderen", "das Privileg der Herrschaft").
Die Autorität verdankt ihre Legitimität nur sich selbst ("Im Angesicht der Ereignisse verläßt sich der Mann von Charakter ganz auf sich selbst") und darüber hinaus einer Art von ursprünglicher Begabung: "Er ist der geborene Beschützer."

Höchst interessant ist die Bemerkung über das, was die "kleinen Leute" durch ihre Unterordnung gewinnen: Schutz und "die Sicherheit, die er ihnen bietet".

Ich möchte jedoch besonders ein Element hervorheben; denn es bildet, meiner Meinung nach, das dritte wesentliche Kennzeichen der Autorität: es ist das unerläßliche Element von Geheimnis, Dunkel, Abstand und Ferne – alles Dinge, durch die die Proportionen und die objektive Realität verwischt werden und die es dem Führer leicht machen, seine Person überlebensgroß erscheinen zu lassen und die "kleinen Leuten" beinahe hypnotisch unter seine Autorität zu zwingen. Nachts, wenn die Phantasie freien Lauf hat, haben die Kinder Angst vorm Wolf und vor Hexen, und da die kritische Vernunft ausgeschaltet ist, drängen sie sich an den Erwachsenen, der ihnen Schutz und Sicherheit bietet. Aber im vollen Tageslicht der geschichtlichen Realität gibt es weder Große noch Kleine, sondern nur Menschen mit verschiedenen Kompetenzen, die ihnen durchaus nicht die Berechtigung geben, sich mit Geheimnistuerei ein moralisches Übergewicht zu verschaffen.

Das Phänomen Autorität kann ohne ein Minimum von Geheimnis und Ferne, das die Projektion idealisierender Wünsche auf den Führer begünstigt, nicht Gestalt annehmen. Wie schon das Bibelwort treffend sagt: "Kein Prophet gilt etwas in seinem Vaterland." Wenn ein Patient von vornherein alles über seinen Analytiker weiß, ist eine psychoanalytische Behandlung kaum möglich; und doch ist es eine der Aufgaben der Analyse und nicht ihre geringste, dem Patienten seine Idealisationen bewußt zu machen und ihm ihre Elemente selbst auffinden zu lassen.

In ihren archaischen oder korrumpierten Formen sinkt das Phänomen Autorität zum magischen Zeremoniell herab. Wir werden später sehen, wie und warum es in der entwickelteren Bedeutung, in der es uns in den Zitaten aus Le Fil de l’Èpée vorliegt, auf das Vaterbild ausgerichtet ist, während es sich in seiner rein magischen Bedeutung auf ein sehr archaisches Mutterbild bezieht. Auch dieser weiterentwickelten Bedeutung liegt aber das magische Material zugrunde.

Magische Tricks und Zauberkunststücke setzen voraus, daß die kritische Vernunft des Zuschauers bis zu einem gewissen Grad ausgeschaltet oder eingeschüchtert ist. Die Allgegenwart des Großen Mannes (in Porträts, Plakaten, Fotos, Fernsehauftritten) verleiht ihm eine gleichsam hypnotische Macht.

Gestern hörte man ununterbrochen in der ganzen Stadt die Trommeln der SS, zwei langsame Schläge, drei schnelle. Es ist drei Uhr morgens: Trommelwirbel in der Nähe haben mich aufgeweckt, und jetzt höre ich sie immer noch in der Ferne. Jetzt geht es los, das große Tamtam der entfesselten Horde.

... Von der Schwelle des Cafés aus kann man den ganzen Platz vor der Oper überblicken. Tausende von SA- und SS-Leuten stehen unbeweglich in Reih und Glied. Um 11 wird der Führer auf dem Balkon erscheinen. Bis dahin (6 Stunden lang) dürfen sie sich nicht rühren. Ungeheurer Trommelwirbel, der nur ab und zu von Fanfarenstößen unterbrochen wird .., eine Million Zuschauer werden anwesend sein.

... Manchmal dringt durch die geöffneten Fenster ein Brausen wie von hochgehenden Wogen, hunderttausend Menschen branden gegen die Wände des Saales ...
Jetzt aber ein Getöse, als bräche eine Flutwelle herein, draußen schmettern Trompeten, die Lampen im Saal erlöschen, während unter der Wölbung Lichtpfeile zucken und sich auf eine Tür in Höhe des ersten Rangs richten. Ein Scheinwerfer läßt ein ekstatisch lächelndes kleines Männchen in brauner Uniform ohne Kopfbedeckung erkennen. Vierzigtausend Menschen, vierzigtausend Arme fahren mit einem Schlag in die Höhe. Der Mann tritt sehr langsam nach vorn, hebt langsam, mit bischöflicher Segensgeste, den Arm zum Gruß unter dem ohrenbetäubenden Donner von skandierten "Heil"-Rufen (bald höre ich nur noch die rauhen Schreie meiner nächsten Nachbarn vor dem Hintergrund eines Gewitters dumpfer Trommelwirbel.) Schritt für Schritt bewegt er sich auf dem Laufsteg, der zur Tribüne führt, nach vorn und nimmt die Ovationen entgegen, sechs Minuten lang, und das ist sehr lang ... sie stehen stramm, unbeweglich und brüllen im Takt, die Augen auf diesen beleuchteten Punkt, dieses Gesicht mit dem ekstatischen Lächeln geheftet, und über die Gesichter im Dunkeln rollen Tränen (...)

Ich habe begriffen.

Das wird einem nur unter Herzklopfen mit einem Schauder eigener Art begreiflich ... Was ich jetzt empfinde, kann man nur als heiligen Schrecken bezeichnen.
Ich glaubte, an einer Massenversammlung, an einer politischen Kundgebung teilzunehmen. Sie aber feiern ihren Kult. Es ist eine Liturgie, die da zelebriert wird, die große heilige Feier einer Religion, der ich nicht angehöre und die mich zermalmt ...
Ich bin allein, sie aber sind eine Gemeinschaft.

Hier seien noch einmal die drei Punkte aufgeführt, die bisher herausgearbeitet worden sind und deren Untersuchung der erste Teil dieser Studie gewidmet ist.

1.       Transzendenz, Legitimität, Hierarchie, Nichtumkehrbarkeit.

2.       Herrschaft, die zwischen zwei Gewaltanwendungen ausgeübt wird und Unterwerfung mit anderen Mitteln als mit nackter Gewalt erreicht.

3.       Notwendigkeit eines Minimums an Geheimnis, Dunkel, Abstand, Ferne; letzte Spur einer magischen Welt, in der das Phänomen Autorität wurzelt.

Fehlt einer der drei Punkte, kann von Autorität in unserm Sinn nicht gesprochen werden. Dann wäre entweder von nackter Gewalt, von Vergewaltigung oder von Machtausübung zu sprechen. Es ist also unsinnig, von demokratischer Autorität zu sprechen oder, beispielsweise, von der Übertragung von Autorität auf andere oder von funktionaler Autorität.

Das Phänomen Autorität steht mit psychologischen, soziologischen und politischen Charakteristika in Zusammenhang, die der Vergangenheit angehören. Das Weiterbestehen – wir werden gleich sehen warum – bestimmter psychologischer Charakteristika bewirkt das Übergreifen des Begriffs der Autorität auf Gebiete, wo er nichts zu suchen hat. Man sollte nicht von der Autorität eines Gelehrten sprechen, sondern von seiner Kompetenz und wissenschaftlichen Glaubwürdigkeit. Man sollte nicht von der Autorität des Gesetzes sprechen, sondern von seinem Nutzen, seinem Zweck. Man sollte nicht von der Autorität des Staates sprechen, wenn es sich nur noch um Staatsgewalt handelt; die Verstärkung der Polizei und der Repressionen zeigt deutlich, daß die Eskalation auf die ultima ratio der Gewalt hin ihren Anfang genommen hat.

Mit anderen Worten, das Phänomen Autorität ist, in unserem Sinn, ein archaisches soziopsychologisches Phänomen, das längst überholt sein könnte und sollte – und in vielen Fällen auch schon überholt ist. Es ist ein Akt öffentlicher Hygiene, meine ich, wenn die Bereiche der Autorität, der Gewalt (und ihrer Anwendung) und der Macht (und ihrer Mechanismen) immer säuberlich gegeneinander abgegrenzt werden.

Denn die Gefahr besteht gerade darin, daß die über Gewalt oder Macht Verfügenden immer und überall danach streben, sich die Maske der Autorität anzulegen, um, wie es heißt, "ihr Ansehen zu festigen". Ihre Herrschaft wirkt sich dann um so brutaler und verhängnisvoller aus, als sie sich rationaler Kritik zum großen Teil entzieht. Aus dem politischen Bereich gleitet man in den psychologischen hinüber, mit allen damit verbundenen Risiken.

Die westlichen Gesellschaften der Gegenwart: Autorität und Legitimität oder ein neues, nicht hierarchisches Kräfteverhältnis?

Es wäre zu fragen, ob die Begriffe Autorität und Legitimität in ihrer traditionellen Bedeutung auf die Gesellschaften des Westens, insbesondere auf die Vereinigten Staaten, heute noch anwendbar sind. Diese Frage soll anhand des ausgezeichneten Entwurfs einer Theorie der Autorität von François Bourricaud erläutert werden. Das Werk, das sich mit der Entwicklung der Autorität befaßt, gibt, wie mir scheint, unausgesprochen zu verstehen, daß in den Gesellschaften des Westens kaum noch von legitimer Autorität die Rede sein kann, sondern nur noch von Kräfteverhältnissen, die bestimmten Spielregeln gehorchen. Dennoch wollte der Autor offenbar nicht auf die Verwendung des Terminus "Autorität" verzichten, nicht einmal im Buchtitel. Ein Titel wie "Die soziale Maschinerie, ihr Funktionieren in den demokratischen Ländern von heute" schiene mir dem Inhalt des Buches angemessener.

Ich werde in aller Kürze einige Definitionen aus Bourricauds Werk zitieren und dann zur Beschreibung dessen übergehen, was der Autor in Anlehnung an einen Ausdruck von R. Dahl Polyarchien nennt, in denen "Macht, die der Macht Grenzen setzt" an die Stelle von Autorität oder Legitimität getreten ist.

Bourricauds Definition der Autorität ist, alles in allem, die klassische:

... Autorität läßt sich von Zwang insofern unterscheiden, als Anweisungen, die sich auf sie berufen, ohne physische Gewaltanwendung befolgt werden können. Autorität ist demnach das ergänzende Element, das, mit dem Hinweis auf mögliche Gewaltanwendung verbunden, genügt, bestimmte Direktiven an sich schon wirksam werden zu lassen.

Man beachte die bezeichnende Bedeutungsverschiebung in Richtung dessen, was man den Pol "Gewaltanwendung" nennen könnte. In der Enzyklopädie war Autorität durch das Fehlen von Gewaltanwendung definiert, Bourricaud, der mit der heutigen Wirklichkeit vertrauter ist, scheint dagegen der Meinung zu sein, daß wenn auch nicht physischer Zwang, so doch der Hinweis auf Gewalt nötig ist, damit eine Anweisung respektiert wird.

"Ausgangspunkt", schreibt Bourricaud, "ist die Frage nach der Legitimität der Autorität, d.h. nach den Bedingungen, unter denen der Mensch, dem ein Befehl oder, um bewußt einen neutralen Terminus zu gebrauchen, eine Instruktion erteilt wird, mehr geneigt ist, sie zu befolgen, als ihr auszuweichen oder sich ihr zu widersetzen. Diese Definition der Legitimität mag zu eng erscheinen ..."

Ich neige im Gegenteil zu der Ansicht, daß sie zu weit ist und das von der klassischen Definition abgegrenzte Bedeutungsfeld erheblich überschreitet. Wozu aber Begriffe über ihre Grenzen hinaus "forcieren"?

Hier ein Beispiel für den "illegitimen" Gebrauch des Begriffs "legitime Autorität":

Wenn ein Pilot in der Luft die Landeanweisungen des Kontrollturms befolgt, so nicht, weil dieser die legitime Autorität verkörpert, sondern weil der Pilot technisch diese Anweisungen braucht, um auf die bestmögliche Weise landen zu können, und weil er auf den nach Ansicht des Bodenkontrollpersonals präzisen, auf die momentane Situation bezogenen Plan für dieses technische Manöver vertraut. Diese Glaubwürdigkeit der anonymen Stimme der Technik ist von gleicher Art wie die "Zuverlässigkeit" – wie es heute heißt – des Taxometers oder der Benzinuhr.

Der traditionelle Bedeutungsinhalt des Phänomens Autorität scheint sich also zu verdünnen und einer Spaltung zu unterliegen, wobei ein Teil in den Bereich der schlichten technischen Glaubwürdigkeit, der andere in den Bezirk des Kräfteverhältnisses polyarchischen Typs abwandert.

In den sogenannten primitiven Gesellschaften dagegen gibt es, könnte man sagen, keine Aktivitäten, die sich außerhalb des Phänomens Autorität abspielen. Ein einheitliches mythisches System gibt allen Gesten, Verhaltensweisen, Beziehungen ihren bestimmten Sinn, und ein Durchbrechen der verinnerlichten Regeln, die den Zusammenhalt der Gruppe sichern, ist schlechterdings unvorstellbar. Das moralische Gerüst des einzelnen gründet auf der Autorität des Mythos, der alle Glieder der Gruppe miteinander verbindet. Dem, der aus der Gruppe ausgeschlossen wird, weil er sich gegen die Autorität aufgelehnt hat, bleibt nicht viel anderes übrig, als zu sterben. Die Autorität ist mit Hilfe der Konditionierung so tief in jedes Individuum hineingeprägt, daß der Ausschluß aus ihrem Bereich den Betreffenden erst moralisch und dann physisch tötet. Man erkennt hier, wie sehr Autorität zugleich ein psychisches und soziales Phänomen ist.

Bourricaud untersucht die Bedingungen der Autorität nach drei Richtungen hin: auf dem von Moreno, dem von Bales und den Interaktionisten und dem von Lewin beschrittenen Weg. Ich kann nichts Besseres tun, als den Leser auf seine Beschreibung des Phänomens zu verweisen.

"Polyarchien", sagt Bourricaud, "lassen sich als differenzierte, dezentralisierte Systeme beschreiben, in deren Mittelpunkt eine mit schiedsrichterlichen Funktionen ausgestattete Macht steht und in denen die Methode der Konfliktbegrenzung praktiziert wird."

Der Autor erläutert den Typus der in einer Polyarchie bestehenden Machtverhältnisse am Beispiel des amerikanischen Unternehmens "General Motors" mit seinen möglichen Konflikten zwischen der Peripherie und dem Zentrum des kommerziell-administrativen Apparats.

Alles, was der Autor über die Polyarchie sagt, scheint mir besonders insofern interessant, als die gleichen Spielregeln, die das Kräfteverhältnis innerhalb der Polyarchie regeln – wobei Gruppen die Macht in Händen halten, die von äußeren Notwendigkeiten oder von Eigeninteressen zur Koexistenz gezwungen werden –, heute immer mehr auch die Beziehungen innerhalb der Gesellschaft (bzw. bestimmter Gesellschaften) und zwischen den Nationen regeln.

Diese Spielregeln sind verhältnismäßig einfach. Konflikte werden als unvermeidlich, ja natürlich angesehen. Sie müssen in Grenzen gehalten werden, und sie müssen auf dem Weg über kollektive Verhandlungen gelöst werden.

Polyarchie, das bedeutet "rivalisierende Verbündete", die zum Zusammenleben, zur Koexistenz gezwungen sind.

Die Elemente des Systems sind nicht mehr Individuen, sondern mehr oder weniger autonome, jedoch voneinander abhängige Gruppen. Ihre Legitimität versteht sich von selbst, vorausgesetzt, daß es sich um gesetzlich erlaubte Unternehmen handelt, sie leitet sich aus ihrer Aktivität, ihrem Erfolg ab.

Die Verwendung des Wortes "Autorität" zur Definition derartiger ausschließlich von Machtverhältnissen beherrschter Systeme (eine Gewerkschaft, die in einer Machtposition ist, fordert Lohnerhöhungen, ein Land in Machtposition verstärkt seinen politischen Druck nach außen usw.) erscheint mir nicht nur unangemessen, sondern stiftet auch Verwirrung auf theoretischer Ebene. Damit soll folgendes gesagt sein: indem Bourricaud Autorität dort sieht, wo sie nicht ist (da es sich um reine Machtverhältnisse handelt), sieht er auch nicht, wo Zwang ins Spiel kommt – d.h. Gewalt als der ultima ratio der Autorität, die sich damit enthüllt und ihre Maske fallen läßt.

Mit anderen Worten, im polyarchischen System gibt es sehr wohl Zwang (nicht aber Autorität): nämlich den Zwang, in dessen Namen unausgesprochen der Konflikt in Grenzen gehalten wird. Wenn der Kampf nicht zum Kampf auf Leben und Tod wird, dann nur, weil im Fall der General Motors das Geld, im Fall der Beziehungen zwischen den USA und der UdSSR der Wunsch zu überleben, auf die jeweiligen beiden Partner einen Zwang ausübt. Weder die Gewerkschaften noch die Unternehmensleitung wünschen den Bankrott, weder die UdSSR noch die USA wollen einen Atomkrieg.

Der Bereich des Humanen spielt dabei keine Rolle mehr: ein quasi-biologischer Zwang (Überleben), bzw. ein ökonomischer (Lebensstandard), das sind die obersten und im höchsten Maß autoritären Gesetze, aus denen sich die Spielregeln ableiten.

Aber auch ein System, das den menschlichen Aktivitäten einen Sinn gäbe, würde nicht mehr die ganze Skala des im eigentlichen Sinn Humanen einschließen.
In den "primitiven" Gesellschaften sorgte die Autorität des einheitlichen mythischen Systems nicht nur für den Fortbestand des Lebens oder den ökonomischen Tauschverkehr, sondern gab auch den Gesten, Verhaltensweisen, Beziehungen, kurz, dem Leben jedes einzelnen Gruppenangehörigen seinen Sinn.

Dieser Typ von Autorität liegt heute in den letzten Zügen. Er ist auf biologischer Ebene (Überleben) und auf ökonomischer von bestimmten Spielregeln, die den Zwang institutionalisieren, abgelöst worden. Dabei bleibt jedoch ein ganzer Bereich leer: der Bereich der Sinngebung sowohl des täglichen Lebens des einzelnen als auch des Lebens als solchem. Diesen Sinn zu finden – oder nicht zu finden – bleibt jedem selbst überlassen.

Als alle Autorität sich noch in gerader Linie von Gott oder sonst einer Transzendenz herleitete, kannte jeder einzelne je nach seiner sozialen Stellung, nach Geschlecht und Alter den Platz, den Rang, der ihm zustand, und sein Verhalten war in ein Netzwerk von Bedeutungen eingespannt.
Offensichtlich warten, ja lauern die Menschen heute angesichts des Todes Gottes und der Agonie der von der technologischen Revolution enthaupteten legitimen Autorität auf eine Antwort, die die ungewohnte Leere ausfüllt.

A-human ist die technische Zuverlässigkeit, die die Übermittlung der Anweisungen sichert. A-human ist das Kräftespiel auf einem Schachbrett, das von zwei Zwängen (dem Willen zum Überleben und dem ökonomischen Imperativ) begrenzt wird, von Zwängen, die zugleich die soziale Maschinerie in Gang halten. Die traditionelle Autorität liegt im Sterben. Alles scheint darauf hinzuweisen, daß wir uns in einer echten Kulturkrise befinden.

Die psychisch-affektive Komponente der Autorität

Bevor ich meine These darlege, möchte ich kurz auf einige die psychisch-affektive Komponente der Autorität betreffende Punkte hinweisen, wie sie sich im Licht der modernen Psychologie, vor allem der Psychoanalyse darstellen.

Die hier erörterten Fakten werden im Verlauf der folgenden Kapitel wieder aufgegriffen und vervollständigt; ich hielt es jedoch für angezeigt, erst einmal die psychisch-affektive Komponente als Ganzes zu beschreiben.

Definiert man Liebe als Beziehung des Subjekts zur Quelle seiner Lust, so ist klar, daß das Kind von den ersten Lebensmonaten an die Person lieben wird, die sich um sein Wohl kümmert, d.h. seine Mutter. Denn sie spendet ihm Nahrung, Wärme, Fürsorge, Liebe – d.h. Lust. Alles was der Säugling und später das Kleinkind an Befriedigung erfährt, schreibt er bzw. es seiner Mutter zu, wodurch sich die psychisch-affektive Bindung an sie weiter verstärkt.

Die Rückseite der Medaille ist jedoch, daß auch jede Frustration, jedes Gefühl der Unlust in diesem Alter vom Subjekt als von der für allmächtig gehaltenen Mutter ausgehend und als von ihr gewollt erlebt wird. Die unvermeidbaren Frustrationen und Gefühle der Unlust – die andererseits jedoch, soweit sie sich in bestimmten Grenzen halten, für den Reifungsprozeß notwendig sind – erzeugen eine gegen die Mutter gerichtete reaktive Aggressivität.

In der archaischen, magischen Welt des Säuglings oder des Kleinkindes werden Phantasien und Wirklichkeit noch nicht unterschieden. Ein nur imaginierter Angriff auf die Mutter kann ihre Vernichtung bewirken. Wird sie aber vernichtet, so versiegt damit auch die Quelle aller Lust.

Das, was man das menschliche Schuldgefühl zu nennen pflegt, ist nichts anderes als die Angst des Subjekts, die Liebe des Objekts – in diesem frühen Stadium: der Mutter – zu verlieren, entweder, weil das Objekt (in der Einbildung oder in Wirklichkeit) vernichtet wurde, oder weil es sich für den Angriff des Subjekts rächt, indem es sich von ihm abwendet und es allein und hilflos sich selbst überläßt. Das menschliche Schuldgefühl erwächst aus der Angst vor Liebesentzug. Frustration des Subjekts – Aggressivität gegen das Objekt – imaginierte Vernichtung des Objekts – Angst vor Liebesentzug – Schuldgefühl: das sind die Glieder der vollständigen Kette; die Anzahl der unbewußt bleibenden Kettenglieder ist dabei variabel.

Aggressivität und Schuldgefühl sind, wie gesagt, bis zu einem gewissen Grad unvermeidbar. Andererseits sind sie, in bestimmten Augenblicken und in bestimmten Grenzen, nützlich: ein beschränktes Maß an Angst zwingt das Subjekt, sich in Bewegung zu setzen, seine archaisch-affektive Stellung dem Objekt gegenüber aufzugeben und sich im Zuge seiner neurophysiologischen und besonders seiner motorischen Entwicklung den für sein Leben unerläßlichen Lustgewinn selber zu verschaffen.

Normalerweise erlauben das wachsende Selbstvertrauen, die Teilhabe am Leben der Gemeinschaft, die zunehmende Kenntnis der zu besiegenden Widerstände, die Entwicklung des Wirklichkeitssinns dem Subjekt, sich nach und nach von seinen Abhängigkeiten vom Objekt zu befreien, von Abhängigkeiten, die ursprünglich mit seiner rein biologischen, materiellen Abhängigkeit und seiner Schuldgefühle erzeugenden Aggressivität in Zusammenhang stehen.

Der Erwachsene kann verschieden auf diesen Durchgang eines von ihm abstammenden anderen Wesens durch die Frühzeit der Kindheit reagieren.

Die Allmacht, die das Kleinkind ihm beilegt, muß seinem Narzißmus schmeicheln; er wird versuchen, sich entsprechend zu verhalten: Mythen, Rituale werden den Glauben des Kindes nähren, daß es ein magisches, geheimnisvolles und nur den Erwachsenen zugängliches Reich gibt. Einweihungszeremonien führen dann den jungen Mensehen in diese Welt der Erwachsenen ein.

Der Erwachsene kann auch durch gehäufte Frustrationen die reaktive Aggressivität des Subjekts und damit zugleich dessen Schuldgefühl verstärken. Dieses Phänomen findet sich in verschiedenen Kulturen. Es ist denkbar, daß die frühzeitige Dressur, der das Kind – besonders hinsichtlich des Schließmuskelbereichs – in den Industriegesellschaften unterworfen wird, und seine forcierte Einbeziehung in den schulischen und sozialen Leistungswettbewerb der Ursprung eines an sich vermeidbaren Aggressionsüberschusses sind.

Der Erwachsene kann aber auch – und das ist ein Punkt, auf den ich ganz besonders aufmerksam machen möchte – das Schuldgefühl des Kindes dazu benutzen, das Kind zur Unterwerfung unter die Erwachsenen, unter die Autorität abzurichten. Das Ergebnis einer solchen Konditionierung – denn um Konditionierung im Pawlowschen Sinn des Wortes handelt es sich hierbei – ist eine "Dressur", als deren Folge sich das Subjekt später als Erwachsener allen, die Autorität repräsentieren, unterwirft.

Da die Wurzeln des Schuldgefühls im Unbewußten bleiben – denn sie bilden sich zu früh, um später sprachlich erfaßt werden zu können, und unterliegen zudem der Verdrängung – kann sich das erwachsene Subjekt die Voraussetzungen für diese frühe Konditionierung nicht mehr bewußt machen. Ein so konditioniertes Kind wird zu einem, zumindest teilweise, entfremdeten Erwachsenen.

Das wirksame Agens bei einer solchen Konditionierung ist vor allem die Drohung mit Liebesentzug, die schon sehr früh, schon beim Säugling angewandt werden kann.

Unterwirft sich das Subjekt nicht, äußert es einen eigenen Willen, dann gibt der Erwachsene seine Mißbilligung zu erkennen, indem er dem Kind zeigt, daß er es nicht mehr liebhat. Das Kleinkind wird so, noch ehe es sprechen kann, Selbstbehauptung und Liebesverlust zu einer unauflöslichen Assoziationseinheit verbinden. Bedenkt man aber, was der andere Mensch für den Säugling bedeutet – nämlich das Leben schlechthin –, so begreift man die Wirksamkeit eines solchen Vorgehens.

Das Subjekt kann sich auf diese Weise nicht natürlich zu einer autonomen Persönlichkeit entfalten. Die Angst, der Liebe der Erwachsenen verlustig zu gehen – eine Angst, die mit einem bestimmten Alter normalerweise von selbst verschwinden sollte, jedoch sorgfältig erhalten und genährt wird –, zeichnet es mit einer unauslöschlichen Prägung (das Wort in dem Sinn verstanden, den Konrad Lorenz ihm gibt).

Eine bestimmte, durch die Angst vor Liebesentzug gekennzeichnete Lebensphase beeinflußt so die ganze künftige Entwicklung des Individuums. Der Erwachsene fühlt sich "verloren" und sucht verzweifelt nach dem Großen Mann, der ihn unter seine Fittiche nimmt. So blieb den Chinesinnen früher, als man ihnen die Füße verstümmelte, indem man sie am Wachsen hinderte, nichts anderes übrig, als beim Mann, ihrem Herrn und Gebieter, eine Stütze zu suchen.

Diese unauslöschliche Prägung, diese anachronistische Angst, verlassen zu werden (anachronistisch, da sie nichts mit der realen Gegenwart zu tun hat, sondern nur mit der Vergangenheit in Zusammenhang steht): das ist die psychisch-affektive Grundlage, auf der das Phänomen Autorität beim Erwachsenen beruht.

In Wirklichkeit aber können diese Prägung, dieser konditionierte Unterwerfungsreflex aufgehoben werden – wobei das Alter des Kindes und die jeweilige (Vater- oder Mutter-)Imago zu berücksichtigen sind.

Man kann sagen, daß sich für das Kleinkind Autorität im Mutterbild verkörpert; genau gesagt handelt es sich dabei um ein Mutterbild, wie es vom Subjekt erlebt und verinnerlicht wird, d.h. um ein allmächtiges Wesen, das die Quelle aller Lust, aber auch aller Frustrationen ist und das beides willkürlich, nach Belieben spenden kann. Dieses unbewußte Bild, dessen Doppelantlitz sich in den Mythen widerspiegelt: die Mutter als Bild des Lebens (die große Muttergöttin, die den Vaterreligionen vorausging, die Fruchtbarkeitsgöttinnen Cybele, Demeter, die Jungfrau Maria ...) oder aber die Mutter als Bild des Todes (Kali, die Gorgonen, Hekate, Medea, die Parzen ...) wird allgemein als die archaische Mutter-Imago bezeichnet.

Der Autoritätstyp, der sich in diesem Bild für das Subjekt verkörpert, ist der einer willkürlichen, absoluten Autorität. Die archaische Mutter, wie sie – ich wiederhole – vom Subjekt aufgrund seiner eigenen, der Mutter zugeschriebenen Aggressivität verinnerlicht wird und die folglich mit der objektiven Realität der Mutter wenig zu tun hat, ist Autorität schlechthin. In Kulturen und Gesellschaften, in denen der Einfluß der Mutter auf die Kindererziehung anerkanntermaßen oder öfter noch insgeheim vorherrscht, ist es diese Art der Prägung, die sich später beim Erwachsenen am nachhaltigsten auswirkt. Mit anderen Worten: die Person, in der sich Autorität verkörpert, wird dann als ein allmächtiges Wesen gefürchtet, und der Unterwerfungsreflex zwingt das Subjekt, ihm bedingungslos zu gehorchen, andernfalls sich als Reaktion Schuldgefühle und Angst vorm Verlassen- und Ausgestoßenwerden einstellen. In dieser Angst kehrt, ohne daß das Subjekt sich dessen im mindesten bewußt ist, die ursprüngliche Angst des Kleinkindes vor Liebesentzug zurück.

Die archaische Mutter ist Autorität, der Vater hingegen, so wie das Kind ihn erlebt, wenn die Gesellschaftskultur dem Vater die Chance gibt, sich der Mutter gegenüber zu behaupten, hat Autorität. Anders gesagt: In der Entwicklungsphase des Kindes, wo der Vater erst eigentlich für das Kind zu existieren anfängt, wird die Person des Erwachsenen vom Kind nicht so sehr als Inkarnation magischer Allmacht erlebt, sondern mehr als ein über Macht Verfügender.

Entweder behauptet der Vater in der Gesellschaftskultur und in der Familie seine Unabhängigkeit gegenüber der Autorität der Mutter, dann ist sein Wertsystem maßgebend; oder es gelingt ihm nicht, sich dem verinnerlichten Mutterbild gegenüber durchzusetzen, dann ist das archaisch-mütterliche Wertsystem maßgebend. Ich habe in mehreren Schriften zu zeigen versucht, wie die Einweihungsriten die Aufgabe hatten, im Leben des Knaben eine dramatische und irreversible Trennung vom Reich der Mutter und die Integration in die neue Welt des Vaters herbeizuführen. Auf die Prägung durch die Mutter folgte die Prägung durch den Vater, übrigens oft ganz real in Gestalt von Einschnitten ins Fleisch, Tätowierungen, von verschiedenen Arten von harmlosen Verstümmelungen.

Der Vater kann entweder das Gesetz repräsentieren oder da, wo dem Mitmenschen ein höherer Eigenwert zugestanden wird, das Recht. Während das Gesetz dem Individuum der Gesellschaft gegenüber Verpflichtungen auferlegt, verweist ihn das Recht auf seine "berechtigten" Ansprüche gegenüber der Gesellschaft.

Es wäre hier, wenn dazu genügend Raum wäre, auch von dem eigentümlichen Autoritätsverhältnis zu sprechen, das zwischen dem Kind und anderen, älteren Kindern besteht. Es kommt sehr häufig vor, daß der Erwachsene einen Teil seiner Autorität und seiner Macht auf Kinder delegiert mit dem Auftrag, sie über jüngere auszuüben und dem Erwachsenen darüber Rechenschaft abzulegen. Ein solches System gibt es z.B. im polynesischen Kulturbereich, im sowjetischen Erziehungssystem oder in englischen Colleges. Das ältere Kind erfüllt dabei oft, mutatis mutandis, die Funktion eines Kapos.

Anhand dieser psychologischen Fakten und der Beobachtung der herrschenden politischen Autoritätsform, kann man vorsichtig versuchen, einige Verbindungslinien zu ziehen.

Wenn auch jeder Repräsentant der Autorität mit Salazar sagen könnte: "Sehen Sie, regieren heißt, die Leute vor sich selbst schützen", so bestehen doch noch große Unterschiede zwischen den einzelnen autoritären Systemen.

Ich habe oben einen von vielen Augenzeugenberichten über das Auftreten Hitlers zitiert; er läßt besonders deutlich den Aspekt des archaisch Religiösen, des magischen Kults, der auf eine totale Konditionierung des Zuschauers angelegt ist, hervortreten. Ich habe an anderer Stelle gezeigt, was für eine wichtige Rolle, seinen schriftlichen Aussagen nach, das archaische Mutterbild für Hitler spielte. Und die von Denis de Rougemont geschilderte Zeremonie ließe sich durchaus mit der Walpurgisnacht vergleichen, wie sie, ausgerechnet von einem Deutschen, von Goethe in Faust, beschrieben worden ist.

Die Autorität eines de Gaulle dagegen trägt deutlich Züge des Vaterbildes. Wer sähe nicht, daß die Beziehung, die dieser "geborene Beschützer" und Garant der "Sicherheit", seinen Mitbürgern in Aussicht stellt, eine Erwachsenen-Kindbeziehung ist?

Wir werden später noch sehen, wie die Zeichen, die die Autorität für den Erwachsenen kenntlich zu machen haben, weitgehend auf die Erwachsenen-Kind-Situation zurückverweisen. Autorität wirkt von oben nach unten, und der, auf dem sie lastet, erlebt sie von unten her als oben stehend – analog dem Größenverhältnis von Kind und Erwachsenem. Der Mensch, der Autorität verkörpert, erscheint immer größer, als er wirklich ist: er trägt eine Krone oder einen Doktorhut, er spricht lauter, eindringlicher, mit Autorität, wie es heißt, vom Katheder, vom Papstbalkon, vom Königsthron herab. Bei der Ausübung seiner Autorität stellt er sich nie auf gleiche Ebene mit den anderen. Man blickt zu ihm auf, weil man als Kind früher die Augen heben mußte, um seinen Eltern ins Gesicht sehen zu können. Man denke nur an die orientalische Sitte der Prostration, an den Kniefall, die Verbeugung, das respektvolle Neigen des Kopfes, was alles die Kleinheit der untergeordneten Person gegenüber der Größe dessen, der Autorität hat oder ist, noch unterstreicht.

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