Auszüge aus Karl Menninger's
"Strafe – ein Verbrechen?"

Erfahrungen und Thesen eines amerikanischen Psychiaters

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Vorwort

Im Jahre 1924 taten sich in Chicago zwei Jungen aus bestem Hause zusammen, um ohne ersichtlichen Grund einen harmlosen jüngeren Freund umzubringen. Teils weil die Schreckenstat so völlig sinnlos schien, teils weil die Angehörigen es sich leisten konnten, wurden zahlreiche prominente Psychiater herangezogen, die im Rampenlicht der Gerichtsverhandlung ihre Gutachten über den Geisteszustand der beiden Missetäter vorzutragen hatten. Das Ergebnis war, daß diese Kollegen nicht mit-, sondern gegeneinander ihre Sache verfochten: der Deutung, auf die die einen schworen, wurde von den anderen mit Entschiedenheit widersprochen.

Diese peinliche Demonstration von Unglaubwürdigkeit löste in der Öffentlichkeit eine Flut von Kommentaren aus. Das geschah zu einem Zeitpunkt, als die Psychiatrie auf einem anderen Gebiet gerade sprunghaft an Ansehen gewonnen hatte und man sich hier großen Nutzen von ihr versprach. Kliniken für ambulante Behandlung seelisch gestörter Patienten waren geschaffen worden, man hatte die Psychopharmaka entdeckt, psychologische Tests entwickelt, Spezialkliniken für Kinder gegründet, und die Psychoanalyse und andere Methoden einer psychiatrischen Behandlung gaben Anlaß zu neuer Hoffnung auf einem Felde, das lange durch Trostlosigkeit und Verzweiflung gekennzeichnet war. Es schien deshalb dem Präsidenten der Amerikanischen Gesellschaft für Psychiatrie (American Psychiatric Association), William Alanson White, das Gegebene, aus Mitgliedern dieser Organisation ein Komitee zu bilden, das die Aufgabe hatte, die Beziehungen zwischen Psychiatrie und Rechtspflege, Psychiatern und Juristen, sowie die Verbrechensbekämpfung und das Gerichtsverfahren gründlich zu studieren. Zu meiner großen Überraschung wurde ich von Dr. White zum Vorsitzenden dieses Komitees ernannt, und mit meinen Erfahrungen auf diesem Gebiet wuchs mein Interesse an der Kriminologie, dem Strafvollzug, der Rechtswissenschaft, insbesondere für diejenigen ihrer Probleme, die in den Bereich der Psychiatrie fallen. Theoretisch schien es da viele Berührungspunkte zu geben; praktisch war die Kluft sehr breit.

Viele hervorragende Kollegen arbeiteten in den folgenden Jahren in diesem Komitee mit mir zusammen und übernahmen mein Amt. Zwei der aktivsten waren meine Freunde, Dr. Gregory Zilboorg und Dr. Winfred Overholser, und es war zum großen Teil ihren Bemühungen zu verdanken, daß von einem anonymen Geber, der sich später als die Aquinas Foundation herausstellte, besondere Mittel für einen jährlich zu verleihenden Preis, den Isaac Ray Award, zur Verfügung gestellt wurden. Er sollte einem erfahrenen Psychiater oder Juristen mit der Auflage verliehen werden, an einer Universität, die sowohl über eine juristische als auch eine medizinische Fakultät verfügt, Vorlesungen über die Beziehungen zwischen Medizin und Rechtsprechung zu halten. Der Preis wurde erstmals 1952, und zwar an Dr. Overholser verliehen, und fiel in den folgenden Jahren an Gregory Zilboorg, John Biggs, Henry Weihofen, Philip Q. Roche, Manfred S. Guttmacher, Alister MacLeod, Maxwell Jones, David Bazelon und Sheldon Glueck. Als ich 1962 den Isaac Ray Award erhielt, wurde die Columbia Universität als Ort der Vorlesungen gewählt; ich hielt die erste am 5. Dezember 1963 und die zweite am 14. April 1964. Die dritte fand – im Rahmen ihrer Hundertjahrfeier – am 14. April 1966 an der Universität von Kansas statt. Das vorliegende Buch stellt eine Ausarbeitung dieser Referate dar.

Als es Zeit wurde, ein Thema für diese Vorlesungen festzulegen, wußte ich zunächst gar nicht, welches ich aus der Fülle der sich anbietenden Möglichkeiten wählen sollte. Ich dachte lange und angestrengt über die Frage nach: Welches Problem brennt uns am meisten auf den Nägeln? Ist es die Frage, warum so viele Verbrechen begangen werden, obwohl unsere Zivilisation ständig Fortschritte macht? Aber nimmt die Häufigkeit von Verbrechen tatsächlich oder zumindest relativ zu? Liegt das Problem nicht vielmehr in der Tatsache, daß relativ wenig Täter gefaßt werden? Oder daß wir nicht wissen, was wir mit ihnen, wenn sie schuldig gesprochen sind, anfangen sollen? Ist die Hauptschwierigkeit die, daß Juristen und Psychiater sich über die Psychologie des Verbrechens so schwer verständigen können? Heutzutage scheint nur der Zufall darüber zu entscheiden, ob ein Gesetzesbrecher dem Arzt oder dem öffentlichen Ankläger in die Hände fällt; ist das in Ordnung? Kann man verbrecherisches Verhalten krankhaft nennen, wenn man bedenkt, daß die meisten Vergehen nicht von Kriminellen begangen werden, sondern von ganz gewöhnlichen Bürgern, die zum Beispiel Waren aus den Regalen der Supermärkte mitgehen lassen? Worin besteht dann aber das Problem der Kriminalität? Jeder wünscht sich ein Höchstmaß an Sicherheit für Leib und Leben, und alle wünschen Handlungsfreiheit; aber da einige Menschen dieses Privileg dazu mißbrauchen, die Freiheit der anderen zu beeinträchtigen, mußten unsere Vorfahren sich Regeln geben, um den "Frieden des Königs" zu wahren. Das geschah vor langer Zeit; der König erließ Gesetze, und wir nahmen sie an und übertrugen sie in unsere Sprache. Im wesentlichen wurde Übereinstimmung darüber erzielt, daß jeder seine Freiheit Gott, dem König und dem Gesetz unterstellt. Aber: " Bestimmte Leute, Ideen, Glaubensüberzeugungen, Ansichten und soziale Bräuche dürfen nicht mißachtet werden. (Andere wiederum dürfen es.) " Bestimmte Personen dürfen nicht als Sexualpartner gewählt und gewisse Methoden sexueller Befriedigung dürfen nicht geduldet werden. (Auch hier gibt es Ausnahmen.) " Bestimmte Gegenstände dürfen von niemand anderem als dem Besitzer gebraucht oder von ihrem Platz entfernt werden, denn sie sind Eigentum eines anderen. (Aber man kann sich etwas ausleihen, und wenn man mächtig genug ist, kann man es sich auch aneignen.) " Bestimmte Dienste dürfen von Bediensteten, Angestellten oder Untergebenen nicht verlangt werden.

Die mit Absicht (mens rea) begangene Verletzung dieser doppeldeutigen Vereinbarungen und Verbote wurde mit Strafen und Sanktionen belegt. Eine geringfügigere Übertretung wird im allgemeinen als Privatangelegenheit zwischen dem Geschädigten und dem, der ihn schädigte, betrachtet und zivilrechtlich geregelt. Doch ein schwereres Vergehen schädigt nicht nur das betroffene Individuum, sondern die ganze Gemeinschaft. Die Sozialordnung selbst ist verletzt. Die Behandlung des Täters wird infolgedessen zum öffentlichen Ritual, das man wie auf der Bühne in Szene setzt. Nach Art eines mittelalterlichen Moralitätenspiels wird der Schurke verdächtigt, gefaßt, an den Pranger gestellt, einem Gottesurteil unterworfen und rechtmäßig hingerichtet oder auf die Galeeren geschickt. Dies alles geschieht, um die Wahrheit der Heiligen Schrift zu erweisen, die da sagt, daß der Tod der Sünde Sold ist; und jahrhundertelang wurde dieser Sold gewohnheitsgemäß bezahlt. Es ist eine bekannte Tatsache, daß relativ wenig Täter gefaßt und die meisten Verhafteten wieder freigelassen werden. Aber die Gesellschaft macht die rächende "Bestrafung ", wie sie es nennt, des zufällig geschnappten und überführten Gelegenheitsverbrechers zu einem Fetisch und unterstellt, daß diese Art der Verbrechensbekämpfung abschreckend wirke. Der zutreffendere und einleuchtendere Schluß, daß man auf diese Weise immer weniger Verbrecher fassen wird, wird von allen außer den Gesetzesbrechern übersehen. Wir verschließen unsere Augen gleicherweise vor der Tatsache, daß die von uns inszenierte Verbrechensbekämpfung entsetzlich kostspielig und wirkungslos ist. Eine genügend große Anzahl von Sündenböcken muß mit Schuld beladen werden, damit die Legende von der strafenden "Gerechtigkeit" lebendig und unsere trostlosen und überfüllten Zuchthäuser und Gefängnisse in – wenn auch noch so nutzlosem und teurem – Betrieb bleiben.

All das haben wir jahrelang mitangesehen. Viele von uns haben wiederholt an diesem törichten Schauspiel mitgewirkt. Was aber soll ich jetzt, da ich so etwas wie ein öffentliches Orakel und ein Fürsprecher der Kontaktaufnahme von Rechtswesen und Psychiatrie geworden bin, zu dieser Monstrosität unserer Gesellschaft sagen? Worauf soll ich den Finger legen, welche Forderungen stellen, da ich doch sehr wohl weiß, daß ich weder Soziologe noch Kriminologe, sondern lediglich Psychiater bin?

Nun kann aber sogar ein Psychiater sehen, daß das System der friedenstiftenden königlichen Erlasse nicht mehr funktioniert. Ja, man muß nicht einmal Psychiater sein, um zu wissen, daß unsere Gerechtigkeit alles andere als gerecht mit den Menschen, denen sie zuteil werden soll, verfährt und daß sie uns alles andere als wirksam vor den Gesetzesbrechern schützt. Und da ich dies alles manches liebe lange Jahr beobachten konnte, beschloß ich, über das zu sprechen, was ich gesehen und als Psychiater und Staatsbürger dabei empfunden habe. Worin besteht die Problematik des Verbrechens, wie ich es sehe? Was kann getan werden, um Leben und Sicherheit des Bürgers besser zu schützen? Worin liegen die Mängel des gegenwärtigen Systems? Wie hätte im Licht der modernen Wissenschaften vom Menschen eine vernünftigere und wirksamere Art des Umgangs mit den nonkonformistischen Übertretern des Gesetzes auszusehen?

Ungerechte Gerechtigkeit

"Verbrechen", "Gewalttätigkeit", "Rache", "Ungerechtigkeit", diese Wörter haben für uns eine Anziehungskraft wie nur wenige andere. Wir verabscheuen Verbrechen; wir schwärmen für Gerechtigkeit; wir rühmen uns, mit dem Gesetz in Übereinstimmung zu leben. Gewalttätigkeit und Rachsucht verwerfen wir als unserer Zivilisation unwürdig und unterstellen, daß alle Menschen sich hierin einig seien.

Doch die Kriminalität bleibt eine nationale Schande und ein weltweites Problem. Sie ist bedrohlich, alarmierend, kostspielig, sie überschreitet jedes Maß und nimmt offensichtlich immer noch zu. Ja, die Verbrechen scheinen sich schneller zu vermehren als die Bevölkerung, sich noch schneller auszubreiten als die Zivilisation.

Zur Gesamtheit der Verbrechen gehören auch diejenigen, die wir begehen, wir, die Nichtkriminellen. Sie werden nicht tabellarisch und statistisch erfaßt und sind nicht Gegenstand von Studien staatlicher Kommissionen. Doch unsere Verbrechen machen die erfaßten erst möglich, wenn nicht notwendig; und das Schlimmste daran ist, daß wir uns unserer Schuld nicht einmal bewußt sind.

Unser schwerstes Verbrechen ist vielleicht unsere Ahnungslosigkeit hinsichtlich des Verbrechens, die leichte Befriedigung, mit der wir Schlagzeilen und Sensationsberichte zur Kenntnis nehmen, und unsere bequeme Unterstellung, solche Untaten seien Sache einiger gerissener "übler Kerle", die von gerissenen "anständigen Kerlen" bald geschnappt
werden.

Nicht einmal die Ermordung eines der beliebtesten amerikanischen Präsidenten vermochte an der allgemeinen Weigerung, über das Phänomen "Verbrechen" nachzudenken,
viel zu ändern. Die Öffentlichkeit in den Staaten hält diese Tat noch immer für das Verbrechen Lee Harvey Oswalds (mit oder ohne Komplizen). Achtenswerte und würdige Autoritäten sammeln feierlich Bände von Material, um zu beweisen, daß niemand anderer als er – er allein – diese Schandtat begangen hat. Unser Anteil wird selten, wenn
überhaupt, erwähnt.

Mit "unserem Anteil" meine ich die Unterstützung, die wir kriminellen Handlungen und einer Verbrecherlaufbahn wie derjenigen Lee Oswalds zuteil werden lassen. Ich meine die nachlässige Durchführung von Vorbeugungsmaßnahmen, wie sie im Fall Oswalds empfohlen worden waren, lange bevor er Präsident Kennedy umbrachte, und unsere schnell abflauende hysterische Reaktion auf Sensationen. Ich meine unsere Neigung zur Rachejustiz, unsere übliche bequeme Gleichgültigkeit und die allgemein herrschende Apathie.

Nur wenige Wochen vor Präsident Kennedys Tod war ein anderer hervorragender politisch führender junger Mann, der auch Frau und Kinder hatte, auch aus dem Hinterhalt von einem Mann erschossen worden, der auch ein Gewehr mit Teleskop benutzte. Das war bald vergessen. Wer erinnert sich heute noch des Namens Medgar Evers? Und wer kennt – oder denkt an – die Tausende, die in den Vereinigten Staaten seither stündlich ermordet, verstümmelt, vergewaltigt, beraubt und niedergeschlagen wurden? Nimmt überhaupt jemand Notiz von den Alarmrufen der Wissenschaftler, der Polizei, der Regierung, ja selbst des Präsidenten? Kommissionen werden einberufen, Bücher geschrieben, Untersuchungsergebnisse zur Kenntnis genommen. Aber an der Haltung der Öffentlichkeit vermag das alles nichts zu ändern.

An den geschilderten Zuständen ist etwas nicht in Ordnung – aber was? Warum kümmern wir uns nicht darum? Und wenn einige von uns sich darum kümmern – warum tun
wir es nicht intelligenter und wirksamer?

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