Auszüge aus Colin Wilson's
"Der Outsider"

Eine Diagnose des Menschen unserer Zeit

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Einführung

Dies ist ein Buch, bei dem es unmöglich ist, von der Person seines Autors abzusehen. Und kaum wichtiger als sein Inhalt sind die Umstände, unter denen es zustandegekommen ist. Colin Wilsons "Outsider" gehört zu jenen Büchern, deren Erscheinen niemand erwartet hat und die für viele Kritiker und Leser eine Verlegenheit bedeuten, weil sie in kein Gedanken-Schema unterzubringen sind. Der Autor ist 25 Jahre alt, der Sprößling einer Londoner Arbeiterfamilie, der keinerlei höhere Schulbildung in sich aufgenommen hat. Mit 16 Jahren war seine Ausbildung in einer öffentlichen Schule abgeschlossen. Auf Grund eines erfolgreich bestandenen Examens für mittlere Beamte wurde er mit 17 Jahren einer Steuerbehörde in Leicester zugeteilt. Er hat diese Tätigkeit, wie er später versichert, immer gehaßt. Bald darauf wird er in die Royal Air Force einberufen. Nach halbjähriger Militäxzeit wird er frei und faßt den Entschluß, nie mehr in seine Beamtentätigkeit zurückzukehren. Zu diesem Entschluß hat seinen eigenen Worten zufolge ein Satz beigetragen, den er bei H. G. Wells gefunden hat: "Wenn dir dein bisheriges Leben nicht gefällt, dann kannst du es ändern." Colin Wilson durchwanderte einen Sommer lang ganz England, nahm da und dort Zufallsarbeit auf und schlief meistens im Freien. Für eine kurze Zeit reiste er nach Frankreich, wo er unter den Einfluß eines extravaganten Bruders der Tänzerin Isidora Duncan geraten ist. Wilson versichert, daß Duncans "Philosophy of Actionalism" (Philosophie des Ausdrucks durch Tätigkeit) auf ihn nicht ohne Eindruck geblieben ist. Duncan vertrat unter anderern die Meinung, der wahre Künstler müsse heutzutage imstande sein, auch alle praktischen, von seiner Zeit geforderten Tätigkeiten auszuüben. Nach seiner Rückkehr nach England erhielt der Autor sich durch die Arbeit am Leben, die er gerade vorfand, einmal als Angestellter eines Bestattungsinstituts, ein andermal als Kellner in einem Espresso-Cafe. Um die Miete zu sparen, hatte er monatelang auf der Hampsteader Heide am Rande Londons in einem Schlafsack geschlafen.

Während er am Abend als Kellner arbeitete, las und schrieb er tagsüber in dem großen Lesesaal des Britischen Museums. Colin Wilson scheint zu jenen Autodidakten zu gehören, die plötzlich durch einen starken äußeren Eindruck oder durch die Bekanntschaft mit einem einzigen Buch zum Bewußtsein ihrer eigentlichen Natur und Aufgabe kommen. Die Lektüre einer populärwissenschaftlichen Zeitschrift, die ihm mit 11 Jahren in die Hände fiel, betrachtet er auch heute noch in der Rückerinnerung als entscheidendes Ereignis in seiner geistigen Entwicklung. Mit 13 Jahren, gesteht er, habe er alles zusammengelesen, was in den Leihbibliotheken seiner Nachbarschaft an populärwissenschaftlichem Lesestoff aufzutreiben war. Es ist bezeichnend für ihn, daß er sich schon mit 14 Jahren gedrängt fühlte, an einem Buch zu schreiben, in dem er, zunächst zu eigenem Gebrauch, alle bisher erarbeiteten Erkenntnisse der Menschheit zusammenfassen wollte. Noch heute, nach elf Jahren, erinnert er sich, welchen geistigen Schock für ihn die erste Bekanntschaft mit Bernard Shaw, und zwar mit dessen Schauspiel "Mensch und Übermensch" bedeutete, das er zufällig im Dritten Programm des Britischen Rundfunks zu hören bekam. Colin Wilson ist also ein Amateur im weitesten Sinne des Wortes; und erst wenn wir uns klar sind, daß sein Buch vom Outsider das Buch eines Amateurs ist, eines Autodidakten, der mit einer Lesebesessenheit ohne Beispiel alles in sich aufzunehmen versucht hat, dessen er in seiner Lebens- und Arbeitssphäre habhaft werden konnte, können wir seine Bedeutung richtig würdigen. Sein Buch ist ein Paradox, ja ein Ärgernis, – nicht nur darum, weil hier ein junger Mann ohne jegliche akademische Schulbildung den Anspruch erhebt, gewissermaßen die geistige Summe aus unzähligen wissenschaftlichen und schöngeistigen Werken zu ziehen, die ihm in die Hand geraten sind, und auf Grund einer unbändigen geistigen Leidenschaft sich an die Aufgabe herantraut, "das Wesen der Erkrankung der Menschheit um die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts" zu diagnostiziezen. Nicht wenige unter uns werden mit 24 Jahren im Aufblitzen einer Erkenntnis, die uns neuartig und unvergleichlich vorkam, das elektrisierende Gefühl erlebt haben, daß man eigentlich der Mitwelt seine Vision vom Dasein mitteilen müßte. Aber unser Buch blieb ungeschrieben, weil unsere Vision in keine deutliche Gestalt zusammenfließen wollte und doch wohl auch, weil wir die anhaltende geistige Leidenschaft nicht aufbrachten, um Welt und Leben aus unserem eigenen, so spürbar begrenzten Gesichtswinkel aus darzustellen. Colin Wilson ist solcher anhaltenden Passion fähig gewesen, er hatte die geistige Besessenheit, die nötig war, um seinen Mitmenschen klarzumachen, daß die Welt um ihn herum deshalb so aus den Fugen war, weil sie für seinen Outsider-Typus keinen rechten Platz mehr hatte. Nichts wäre leichter, als ihm nachzuweisen, daß die beachtlichen Kenntnisse und Erkenntnisse, die er in einer stupenden Leseleidenschaft sich angeeignet hat, immer noch fragmentarisch und zufällig sind. Wesentlicher ist, daß er, der mit der täglichen Not des Existenzkampfes früh bekannt geworden war, während seines selbstgewählten Exils im Lesesaal des Britischen Museums die Einsicht gewonnen hat, daß der Menschheit nicht so sehr durch bessere soziale Systeme, durch generelle Hebung des Lebensstandards als durch die Neubesinnung auf etwas geholfen werden konnte, das er freilich vage genug als eine "neue Religion" bezeichnet.

Sein Buch hätte wohl nicht den aufsehenerregenden Erfolg in den Ländern englischer Sprache erzielt, ja kaum einen Verleger gefunden, wenn er nicht den Einfall gehabt hätte, das geistige Unbehagen seiner Zeitgenossen, das er in seinen zahllosen Lesestunden immer deutlicher herausspürte, in einen erkennbaren Typus zu verdichten. Vielleicht ist er auf der richtigen Spur, wenn er unsere Epoche als die des Outsiders bezeichnet. Gewissermaßen schlagartig hat Colin Wilson unsere Zivilisation durch Herausarbeitung gerade des Typus definiert, für den sie keine Verwendung hat. Man sagt über eine Gruppe, einen Verein, einen Klub etwas sehr Defnitives aus, wenn man ihn durch die Aufzeigung der Typen beschreibt, die ihm unter keinen Umständen angehören können – oder angehören wollen. Nicht mit Unrecht haben Londoner Kritiker bemerkt, daß der Outsider durchaus kein zeitgenössischer Sonderfall sei, – ja, daß im Grunde alle größeren und kleineren Geister, die Geschichte gemacht haben, alle Merkmale dieses Typus aufweisen. Trotzdem trifft dieser Einwand nicht das Wesentliche an dem vorliegenden Buch. Ich glaube, daß unsere Zeit deutlicher als andere dadurch bestimmt ist, daß sie die auch in ihr unvermeidlichen Outsider-Figuren in extreme und lebensgefährliche Situationen hineintreibt und damit ihre möglichen und wünschenswerten Einwirkungen auf die Insider wenn nicht ad absurdum führt, so doch verfälscht oder reduziert, – heißen diese Outsider nun Nietzsche, Tolstoi oder Strindberg (der erstaunlicherweise bei Wilson nicht auftaucht). Auch die Verzweiflung der Outsider und die Einsamkeit ihrer Existenz gehören in die Geschichte einer Zeit, die gewöhnlich von einem "Insider" geschrieben wird. Die Tatsache, daß dieses Buch so viele tausende von Lesern gefunden hat, hängt andererseits auch damit zusammen, daß die vielen "Innenseiter" heute ihres Innenseitertums gar nicht mehr so völlig bewußt sind, ja, daß sich jeder heute Lebende in irgendeinem Winkel seines Daseins auch als Outsider empfinden kann.

In Zeiten, in denen die gemeinschaftliche Existenz durch ein bestimmtes Religionsbild geformt ist, – in denen sich die wesentlichen menschlichen Beziehungen innerhalb einer von allen stillschweigend akzeptierten Gesellschaftsordnung abspielen, braucht man nicht lange zu fragen, wer "dazugehört" und wer draußensteht. In solchen Zeiten nimmt selbst der Philister, diese Karikatur des geborenen "Insiders", und der Bohemien die ihm gebührende Stelle ein. Prekär wird die Sache erst, wenn keiner mehr sicher ist, wohin er eigentlich gehört, und die Freiheit der Wahl von einer immer größeren Mehrheit nur noch als Möglichkeit erlebt wird, die eigene Existenz auf einem individuellen Wege doch zu verfehlen. Erst in einer solchen Situation kann es dann sein, daß die Millionen Insider, die sich mit der ihnen zugefallenen Lebenssituation abgefunden haben, an den Outsidern ihrer Zeit Lebenselemente, vitale Dränge entdecken, die ihnen im eigenen Dasein auszuleben versagt geblieben sind. In solchen Zeiten nehmen die Outsider wie in einern stellvertretenden Opfer die Verzweiflung, das Ungenügen am Dasein auf sich, die bei der Mehrheit der Mitlebenden, sei es durch den übermächtigen Druck des Schicksals, sei es infolge mangelnder Willenskraft unausgetragen geblieben sind. Dadurch, daß er der Natur immer mehr Geheimnisse abgezwungen und für seine praktischen Lebensbedürfnisse nutzbar gemacht hat, ist der Mensch zum nur sich verantwortlichen und auf sich gestellten Regenten der Welt geworden. Eigentlich wollte er nur ihr Regisseur sein, aber heute glaubt er zu entdecken, daß er auch noch das Stück werde schreiben müssen, in dessen Dienst sich der Aufbau der ganzen technischen Apparatur verwenden ließe. Es bleibt ihm, will er weiterleben, nichts anderes übrig, als eine Welt zu "organisieren", die er ja schließlich nicht gemacht hat, deren Wesen ihm aller wissenschaftlichen Forschungsarbeit zum Trotz ein Geheimnis geblieben ist. Daß die Menschheit inzwischen auf ihrer Zick-Zack-Wanderung an einem Punkt angelangt ist, an dem sie sich zwar nicht durchschauen, aber doch vernichten kann, ist eine Entdeckung, deren geistige Konsequenzen im Bewußtsein der Zeitgenossen noch nicht verarbeitet werden konnten. Die Möglichkeit der Herstellung der Atombombe, die einem fern vom Leben und Denken der Mehrzahl der Zeitgenossen arbeitenden und planenden Gremium von ein paar Eingeweihten plötzlich gelungen war, ist der Menschheit gewissermaßen wie ein Dachziegel aufs Haupt gefallen.

Der in den Slums von London herangewachsene Colin Wilson war 7 Jahre alt, als sich die Menschheit in den zweiten Weltkrieg einzutreten anschickte, der auf der Oberfläche noch als ein Kampf zwischen zwei Machtgruppen um die politische Endherrschaft aufgefaßt werden konnte. Aber dieser Krieg und der ihm vorausgehende hätten ja gar nicht geführt werden können, wenn nicht auch in den Massen der "Insider" ein noch nicht durchschauter Drang zur Selbstzerstörung, zur Katastrophe wirksam gewesen wäre. Es gehört zu den tragischen Ironien der Weltgeschichte, daß eine Zeit, die den Glauben an die unbedingte Freiheit des Individuums als ihren letzten Glauben erlebt, - daß gerade eine solche Zeit jedes Einzelwesen immer unentrinnbarer in die Teilnahme an jenen totalen Zerstörungsunternehmungen hineinnötigt. In solchen Zeiten ist es das besondere Los der Outsider, daß sie als Barometer des Katastrophenklimas ihrer Zeit fungieren. Und ihre besondere Tragik ist damit gegeben, daß die Mehrzahl der Zeitgenossen solche Sturmsignale nicht ablesen will und vielleicht auch nicht mehr ablesen kann. Man braucht nur zu beobachten, wie die Menschen der technischen Epoche am Morgen en masse an ihre Arbeitsstellen verfrachtet werden und wie sie am Abend nicht weniger en masse vor ihren Vergnügungspalästen Schlange stehen, um darüber Bescheid zu erhalten, wie der Einzelmensch durch unsere zivilisatorische Ordnung von früh bis spät einem immer unentrinnbareren Lebensrhythmus eingefügt ist, während das hohe Lied vom freien Menschen munter weitererklingt. Jeder von uns bewegt sich innerhalb eines solchen Netzes technischer Zwänge und mechanischer Verpflichtungen, ohne die die Weitererhaltung der eigenen Existenz gar nicht mehr möglich wäre, Verpflichtungen, gegen die sich wahrscheinlich die geduldigsten unserer Vorfahren aufgelehnt hätten.

In einer solchen Zeit schreibt ein Amateur ohne wissenschaftliches Training sein Buch vom nicht angepaßten Menschen, der manchmal bewußt, manchmal auch nur dumpf entschlossen ist, seine Existenz nicht von den sozialen Bedingungen und den geistigen Konventionen seiner Zeit bestimmen zu lassen, sondern sie mehr oder minder gewaltsam zu durchbrechen. Nur ein Amateur, im guten Sinn des Wortes, der sich in ein paar hektischen Jahren ein Bild der Menschheit zusammenliest, wie es sich in den Werken ganzer und halber Genies widerspiegelt, konnte die Naivität aufbringen, gewisse philosophische Fragen, die die Menschheit zu allen Zeiten bewegt haben, so zu stellen, als wären sie vor ihm überhaupt noch nicht ernsthaft gestellt worden. Man behauptet nicht zu viel, wenn man feststellt, daß einige Jahre akademischen Trainings in Oxford oder Cambridge genügt hätten, um einem wissensdurstigen, jungen Menschen ein für allemal abzugewöhnen, die Fragen: "warum leben wir eigentlich noch, – worauf ist denn unser Leben angelegt, – leben wir nicht vielleicht alle ein verkehrtes, unserer inneren Bestimmung gar nicht angemessenes Leben?" in einer so provozierenden Direktheit zu stellen. Solche Fragen heute noch einmal mit dem Pathos des jungen Colin Wilson aufzuwerfen, ist in England ganz besonders "shocking", das sich im Laufe seiner geistigen Entwicklung den beinahe undurchdringlichen Panzer eines strikt auf die empirische Erkenntnis gegründeten Tatsachenbewußtseins zugelegt hat. In einer Sphäre, in der sich echte philosophische Bildung geradezu daran zu erweisen pflegt, daß gewisse Fragen gar nicht mehr gestellt werden (etwa die nach der geistigen Bestimmung unseres individuellen Daseins oder jene andere, ob das Leben einen Sinn habe oder nötig habe), erscheint unser Buch, ganz unabhängig von seinen Meriten und Mängeln, beinahe als eine Provokation.

Mit solchen Tabus hat unser Autor gebrochen, und bei der Beurteilung seiner Arbeit dürfen wir nicht aus dem Auge verlieren, daß hier ein unverbildeter und im akademischen Sinne ungebildeter Mensch in der Tiefe seines Wesens jene Grundfragen neu entdeckt, die sich eben der Mensch, wie es nun scheint, um keinen Preis ausreden lassen will. Stärker vielleicht, als es dem Autor bewußt ist, bedeutet sein Buch einen freilich manchmal stammelnden, manchmal allzu selbstsicheren Protest gegen das Zeitideal der "integrated person", der in den Prozeß des Gemeinschaftslebens möglichst störungsfrei und problemlos eingebauten Person. In dem Sinne ist es das Dokument einer nicht immer deutlich artikulierten Revolte gegen eine Zeitauffassung, der im Grunde alle unsere Soziologie, Psychologie, und vor allem unsere Politik zu dienen entschlossen scheinen.

Noch einmal sind wir genötigt, den Leser zu erinnern, daß hier ein sehr junger, am Rande der Bildungswelt seines Landes aufgewachsener Autor sich zum Wortführer eines solchen Protestes ernannt hat. Nur so ist es auch zu erklären, daß er sich über die Schicksalstatsache nicht allzu viele Gedanken gemacht hat, warum es überhaupt Insider gibt, die sich mit den sozialen und geistigen Bedingungen ihrer Zeit mehr oder minder resigniert abzufinden vermögen. Aus seiner Darstellung geht jedenfalls hervor, daß für ihn die Hinnahme gegebener Existenzbedingungen, das Einfügen in die einem zugefallene Lebenssituation nur aus einer gewissen "mob-mentality", aus der zaghaften und halbentschiedenen Übernahme bisher gültiger Konventionen, aus einem Mangel an Lebensmut, kurz: an Mut zum Outsider erklärt werden muß. Es scheint ihm noch nicht möglich, zu sehen, daß die Hinnahme gegebener Lebensverhältnisse, daß die scheinbare passive Resignation bei der Übernahme eines uns zugekommenen Schicksals auch aus einem tieferen Gefühl für die Tragik der menschlichen Existenz überhaupt herrühren könnte, – aus einem tieferen Einblick in den Leidenscharakter des todverfallenen Daseins und an die durch keinen dramatisch-individuellen Ausbruch je zur Gänze aufzuhebende Rätselhaftigkeit jeglicher Existenz auf dieser Erde. Daß sich einer auf einer dünnen Eisdecke vorwärts zu bewegen getraut, muß nicht unbedingt für seine stärkere Vitalität oder auch nur seine unbedingte Willensentschlossenheit zeugen; es könnte auch ein Zeichen dafür sein, daß er sich nicht ganz klar darüber ist, wie dünn die Eisdecke unter ihm ist. Vielleicht hat er Glück und das Eis bricht diesmal nicht ein. Aber auch das heißt noch lange nicht, daß er für die anderen, für die geborenen oder gewordenen Insider einen neuen Pfad entdeckt hat.

Durchaus hat man bei der Lektüre dieses Buches den Eindruck, daß der Autor seine Vision nicht erst erblickt hat, nachdem er sich durch eine ihn immer wieder überschwemmende Flut von Büchern hindurchgekämpft hatte. Vielmehr scheint ein ihm zunächst nur verhüllt vorschwebendes Bild vom Menschen durch eine ungewöhnlich leidenschaftliche Absorbierung der Werke außerordentlicher Geister allmählich klarere Umrisse angenommen zu haben. Deutlich bestimmt ist Wilsons Outsider-Typus zunächst nur im Negativen: er kann und will sich nicht mit dem Leben, wie er es vorfindet, bescheiden, das praktische Geschäft der Lebenserhaltung, dem er die meisten seiner Mitmenschen mehr oder minder unabgelenkt hingegeben sieht, interessiert ihn nicht oder doch nur ganz gelegentlich. Der Autor scheint aber die Verpflichtung, zu einem positiver umrissenen Porträt seines Outsiders zu kommen, von der Lektüre eines Buches zu der des nächsten zu verschieben, und mehr als einmal sieht es so aus, als lese er weiter und weiter, immer leidenschaftlicher, als müsse er auf diesem Wege schließlich bei einer eindeutig ablesbaren großen Gegenfigur zum Durchschnittsmenschen landen, dessen Haltung zum Dasein ihm unerträglich erscheint. Sein Grundkonzept läuft gewissermaßen auseinander, weil er sich noch nicht darüber ins reine gekommen scheint, daß die von ihm vorgeführten Outsider-Figuren durch zwei elementare Tendenzen gekennzeichnet sind, die nicht ohne weiteres miteinander etwas zu tun haben: das Verlangen nach Allwissen, – und den anderen Drang, das Leben, das die meisten in einem gemäßigten Klima dahinzuleben willens sind, dort auszuprobieren, wo höhere, ja die höchsten Temperaturen vorherrschen. Manchmal wird bei ihm eine gewisse Scheu spürbar, es deutlich auszusprechen, daß die meisten der von ihm dargestellten Figuren nach gar nichts anderem hinzudrängen scheinen als nach der Selbstvergöttlichung. Wer es sich wie so viele der in dem Buche heraufbeschworenen Gestalten zum Prinzip macht, alles bisher Erkannte und Akzeptierte zunächst einmal radikal zu bestreiten, meldet damit ja schon den Anspruch an, daß er und vielleicht nur er allein erkannt hat, worauf das Leben angelegt ist, – daß er, um ein Wort von Jakob Burckhardt anzuführen, vor allen anderen "in die Pläne der Vorsehung" eingeweiht ist. Aber der russische Tänzer Nijinskij, der sich in diesen Reigen der Denker und Dichter hineingemischt hat, spricht es ja unmißverständlich aus: "Ich bin leibhaftig Gott. Jedermann hat die Fähigkeit dazu, aber keiner macht Gebrauch davon." Warum sollten wir sonst in der Outsider-Parade dieses Buches auch die Figur eines einem Scharlatan zum Verwechseln ähnlichen russischen Mystagogen vorfinden, der sich von seinen bescheideneren Mitmenschen nur dadurch zu unterscheiden entschlossen scheint, daß er sich des Besitzes eines nur ihm zugänglichen und rational nicht weiter nachprüfbaren Geheimwissens rühmt?

Es spricht nicht gegen den Wert dieser Arbeit, daß sie immer wieder im Leser Gedanken anregt, die über die bewußte Absicht des Autors hinausgehen. Sein naiv-ungestümes Philosophieren hat für den Leser auch darum seinen Reiz, weil in diesem Buche oft ganz unvermittelt Bücher und Autoren, die er aus eigener Lektüre zu kennen glaubte, in einen unerwarteten, neue Perspektiven eröffnenden Zusammenhang gestellt werden.

Gegen Ende des Buches scheint es, als durchschaute es der Autor, daß er sich eine im Grunde unmögliche Aufgabe gestellt hat. Seine exemplarischen Outsider, von deren Existenz her auch noch auf die Existenz der vielen, allzuvielen Insider eine Art indirekten Wertes hinstrahlen soll, sind gerade auf Grund ihres Verlangens nach Totalität zum Scheitern verurteilt. Ja, man wird den Eindruck nicht los, daß sie, einmal zum Extremsten entschlossen, zum Scheitern sehnsuchtsvoll hindrängen, – nach dem physischen Untergang im Selbstmord (unabhängig davon, ob er ausgeführt wird), nach der Selbstaufgabe im Wahnsinn, nach dem Zerfließen des Individuums in irgendeinem Mystizismus.

Der Outsider-Mensch, wie ihn Colin Wilson sehen will, ist durch eine Bedingung charakterisiert oder vielmehr verengt, die ihn schließlich aufhebt. In einer prinzipiellen Bemerkung sagt der Autor von ihm:

Seine menschliche Natur würde gern etwas finden, worauf sie mit vollkommener Bejahung antworten könnte. Aber seine Ehrlichkeit hindert ihn, eine Lösung anzuerkennen, über die er nicht debattieren kann.

Das heißt in der Praxis: mit der letzten Leidenschaft zu einem extremen Punkt hinstreben, wo das Unsägliche, in Kategorien nicht mehr Ausdrückbare erlebt wird, – wo die Totalität des Lebensprozesses wie in einem jähen Blitz des Erkennens übersehbar wird, – wo alle Sinne zur stärksten Ausdruckssteigerung kommen; der Qutsider drängt also in Gebiete hinein, in denen Verstand und Vernunft nicht mehr zuständig sein können, aber er bleibt nach des Autors Konzept mit der Bedingung beladen, daß er auch noch in dieser äußersten Situation über alle seine Erlebnisse zu räsonieren imstande sein muß. So sind die vielen Outsider dieses Buches mit der Sisyphos-Aufgabe belastet, das Unmögliche innerhalb des Bereiches der Möglichkeit zu leisten.

In diese Paradoxie scheint der Autor dadurch hineingenötigt worden zu sein, daß er den religiösen Outsider aus seiner Betrachtung ausklammert. Von der Notwendigkeit einer neuen Religion wird bei ihm des öfteren gesprochen, ja sogar davon, daß die Menschheit verloren sei, wenn sie nicht von der Gewalt einer solchen neuen Religion ergriffen werde. Wir dürfen auch hier nicht vergessen, daß dieses Buch gar nicht den Anspruch erhebt, eine in sich gefestigte Weltanschauung vorzutragen. Es ist vielmehr als eine Art geistigen Logbuches abzulesen, in dem ein zum Selbstbewußtsein erwachender Mensch seine eingeborene Unfähigkeit, das Dasein als eine praktische Affäre zu erleben, vor sich und seinen Mitmenschen dadurch rechtfertigt, daß er die höchsten Geister und die seitsamsten Randgestalten als Kronzeugen aufruft. Es kann nicht bezweifelt werden, daß für viele Leser dieses Buches auch auf ihnen scheinbar vertraute Gestalten ein unerwartetes und aufregendes Licht fällt, weil sie von einem " Hungerleider nach dem Unerreichlichen" nun wirklich in extremis angerufen werden. Ich möchte hier nur als ein Beispiel jenes unheimlich aktuelle Dostojewskij-Wort anführen, das Wilson ausgegraben hat, um die Unzulänglichkeit eines gewissen zeitgenössischen rationalen Humanismus zu erweisen, – jenes Wort von der Zivilisation, die doch nur darauf hinauslaufe, die menschliche Eindrucksfähigkeit ihres Menschentyps ins Leere hinein zu potenzieren: "Und gerade durch die Entwicklung dieser Vielseitigkeit wird der Mensch womöglich auch im Blutvergießen noch Genuß finden ... Ist es Ihnen nicht aufgefallen, daß die raffiniertesten Blutvergießer fast ausnahmslos die zivilisierten Menschen gewesen sind ..."

Vorzüge und Mängel dieses Buches sind mit der einen Grundtatsache gegeben, daß wir in ihm dem Prozeß des Philosophierens gewissermaßen im Naturzustande beiwohnen können. Hier hat nicht ein Autor aus purem Geltungsdrang ein Buch geschrieben, um der Welt möglichst emphatisch seinen Standpunkt klarzumachen oder gar um ihr eine neue Kur für ein altes Übel anzubieten. Hier hat sich vielmehr ein mit einem ungewöhnlichen kritischen Vermögen ausgestatteter Geist auf alle Bücher gestürzt, die ihm in seiner verengten Lebenslage erreichbar waren, um in einer Welt mit sich selbst ins reine zu kommen, deren soziale, politische und geistige Grundvoraussetzungen ihm unheimlich fremd geblieben waren. Ich glaube, daß Colin Wilson mit dieser ungewöhnlichen Anstrengung seinen Mitmenschen einen großen Dienst geleistet hat. Der Leser wird für sich selber herausfinden, wie sehr der Autor in seinem passionierten Bemühen, inmitten einer auf ihn hereinbrechenden Sturzflut von fremdem Geistesgut einen eigenen Standpunkt zu behaupten, mit heftigen Anfällen von Selbstüberschätzung zu kämpfen hat. Aber solche Anfälle sollten wir nicht minder gleichmütig in Kauf nehmen wie die Neigung des Autors zu vorschnellen Synthesen; es ist ein Kaufpreis, den wir zu zahlen willens sein sollten, um dem heute schon raren und vielleicht bald aussterbenden Schauspiel beizuwohnen, wie hier aus einem Naturdrang heraus die großen Werke der Menschheit noch einmal intensiv daraufhin abgeklopft werden, ob sie vielleicht noch unentdeckte Geheimnisse enthalten.

Das Buch endet, man kann es nur mit einem englischen Ausdruck sagen, mit einer "anti-climax". Statt uns mit einer Lösung oder mit einem Lösungsversuch zu kommen, entläßt uns der Autor mit der Versicherung, er betrachte sein Buch als nicht vergeblich geschrieben, wenn er im Leser den Wunsch erregt habe, gewisse philosophisch angehauchte Werke von G. B. Shaw noch einmal im Lichte unserer Zeitprobleme nachzulesen. Man sieht, die Schockwirkung, die der Autor im Alter von 13 Jahren beim Mithören von "Mensch und Übermenseh" erlebt hat, hält noch an. Und die Grenzen seiner heutigen inneren Erfahrung sind vielleicht dadurch bezeichnet, daß er Shaw nicht als geistvollen Ironiker verstanden wissen will, sondern geradezu religiösen Denker.

Das elementare Glaubensbekenntnis aller der in diesem Buche an uns vorüberziehenden Geister könnte durch einen Satz von Aldous Huxley ausgedrückt werden: "Life is not enough". Auch der Autor selbst spricht an einer eindrucksvollen Stelle seines Buches davon, daß gewisse kriminelle Typen in Dostojewkijs "Totenhaus" gerade darum das Interesse des Lesers in ihren Bann schlagen, weil an ihnen ein Element des Mehr-als-nur-Menschlichen zum Ausdruck kommt. Und es spricht für seine geistige Leidenschaft nicht minder als für sein natürliches Ungenügen an der empirisch beschreibbaren Wirklichkeit, daß er die talentiert verfaßten und erfolgreichen Romane seiner Londoner literarischen Freunde als zu leicht, zu ungewichtig darum empfindet, weil ihre Themen und ihre Figuren eben nur menschlich, allzu menschlich seien, – so menschlich seien sie, daß man "schon nach der Lektüre der ersten 50 Seiten so etwas wie eine intellektuelle Konstipation" zu verspüren beginne. Aber wie gesagt, die Konzeption seines Buches erlaubt ihm noch nicht, weiter vorzudringen als zur Verklärung und Verabsolutierung jener immer blinden Lebenskraft, die doch schon der verzweifelte Heroismus eines Nietzsche ad absurdum gedacht und gelebt hat.

Daß der Autor in den Zug seiner Outsider-Figuren Pascal, den er gelesen zu haben scheint, nicht aufgenommen hat, bleibt seltsam; denn das Grundparadox, von dem der Autor nicht loskommen kann, – der mit der menschlichen Existenz gegebene elementare Widerspruch zwischen der immer kümmerlichen und begrenzten Menschenexistenz und dem immer neu und unabgeschreckt erhobenen Anspruch, das Vollkommene zu entdecken und vielleicht zu verwirklichen, ist ja gerade von Pascal so einzigartig dargelegt worden, daß eigentlich nur Varianten, aber nicht Steigerungen dieser Erfahrung vorstellbar sind. Halten wir uns daran, daß der Autor entschieden erklärt hat, sein Buch sei nichts als der Ausdruck einer "leidenschaftlichen, ganz persönlichen Überzeugung". Heute ist er jedenfalls noch zu passioniert, zu kurz erst der Springflut des andrängenden heterogensten Bildungsgutes entstiegen, als daß er sich schon mit der weisen Erkenntnis von T. S. Eliots "Simeon" begnügen könnte: "Not for me, the ultimate vision" – unangemessen für mich: die letzte Vision.

Hier hat ein Zeitgenosse, der von früh an unter nicht eben günstigen Bedingungen um seine nackte Existenz kämpfen mußte, ein Buch geschrieben, um es deutlich zu sagen, wie sehr der Mensch verkümmert, wenn von ihm das Leben nicht anders verwirklicht wird als im individuellen und gruppenmäßigen Kampf um materielle Selbstbehauptung. Er hat es in einer Zeit geschrieben, da auf immer weiteren Gebieten unserer Erde die Voraussetzungen systematisch vernichtet werden, unter denen Qutsider-Existenzen überhaupt noch möglich werden können. Denn jene "Entfremdung" von der Wirklichkeit der umgebenden Welt, die für Colin Wilson geradezu das geistige Zeichen ist, an dem eine feinere, zukunftsträchtigere Art Mensch zu erkennen ist, – sie wird heute von einer noch immer wachsenden Anzahl von Zeitgenossen als ein Zustand erlebt, der durch gesellschaftliche Mittel abgeschafft werden sollte. Die Frage, welchem Typus heute an vielen Punkten unserer Welt ein prinzipieller Krieg erklärt ist, kann beantwortet werden: Dem Outsider. Die Menschen des Westens stehen heute mehr als einmal in einer Attitüde geistiger Unbestimmtheit da, wenn ihnen vom Osten her vorgehalten wird, daß sie gar nicht mehr in der Lage seien, ein verbindliches Gedankenbild oder gar ein Credo anzubieten. Aber vielleicht könnten sie doch dadurch zu kräftigerer Selbstbestimmung und Selbstdefinition kommen, daß sie sich als Mitteilhaber einer Zivilisation erleben, die noch Outsider dulden will.

Ein englischer Kritiker hat von diesem Buch und seinem Autor festgestellt: "He has given my mind a shake." Es wird, vermute ich, nicht allzuviele Leser geben, die diesem Satz nicht zustimmen können. Und ich glaube auch, daß viele darin übereinstimmen, daß diese mit natürlichem geistigem Ungestüm vorgetragene Anmeldung der Wichtigkeit und Legitimität einer Outsider-Existenz heute im rechten Moment kommt.

Das Reich der Blinden

Der Outsider ist zunächst ein soziologisches Problem. Er ist ein Mensch, der im Verborgenen sein Wesen hat.

Auf dem offenen Oberdeck einer Straßenbahn sitzt ein Mädchen. Ihr Kleid, ein wenig gerafft, bauscht sich im Wind. Da gibt es eine Stockung im Verkehr, und wir werden getrennt. Die Straßenbahn rollt davon, sie entschwindet wie ein flüchtiger Traum.

Die Straße hinauf und hinab lauter schwingende Kleider, duftig und leicht bieten sie sich dar, wehende Röcke, Kleider, die etwas enthüllen und doch nichts enthüllen. In dem hohen und schmalen Spiegel eines Ladens sehe ich mich näherkommen, ziemlich blaß, mit verhangenem Blick. Es ist nicht irgendeine Frau, die ich im Sinn habe, – alle Frauen sind es, sie suche ich in diesen da ringsum, eine nach der anderen.

Dieser Abschnitt aus dem Roman "Die Hölle" von Henri Barbusse umreißt einige Wesenszüge des Outsiders. Sein Held schlendert in Paris eine Straße entlang, und die Wünsche, die sich in ihm regen, sondern ihn ab von anderen Menschen. Das Verlangen nach einer Frau, das er in sich fühlt, ist nicht durchweg sinnlicher Art, denn er fährt fort:

Ich unterlag und folgte meinem Trieb, wie der Zufall es wollte. Ich ging einer Frau nach, die mir von der Ecke her Blicke zugeworfen hatte. Dann gingen wir nebeneinander her. Wir sprachen ein paar Worte miteinander, sie nahm mich mit zu sich ...

Ich ließ die banale Szene über mich ergehen, es lief ab wie ein Platzregen.

Nun bin ich wieder auf der Straße, aber die Befriedigung, die ich mir erhoffte, ist ausgeblieben. Eine unendliche Beschämung verwirrt mich. Mir ist, als könnte ich die Dinge nicht mehr so sehen, wie sie zuvor gewesen sind. Ich sehe zu tief und zuviel.

Das ganze Buch hindurch bleibt der Held ungenannt. Er ist der anonyme Mensch, der immer außerhalb steht.
Vom Lande kommt er nach Paris, findet eine Stellung in einer Bank, nimmt sich ein Zimmer in einer "Familienpension". Allein in seinem Zimmer und sich selbst überlassen, denkt er nach: Er ist kein Genie, hat keine Aufgabe zu erfüllen und bringt keinen nennenswerten Elan mit. "Ich habe weder Vermögen noch Verdienste aufzuweisen, und dennoch sehne ich mich nach irgendeiner Art von Belohnung." Religion – daraus macht er sich nichts. "Was philosophische Gespräche betrifft, so kommen sie mir allesamt sinnlos vor. Nichts kann man erfahren, nichts wahrhaft ergründen. Wahrheit – was meinen sie damit?" Seine Gedanken schweifen unstet von einer verflossenen Liebesaffäre und ihren physischen Freuden hinüber zum Tode: "Der Tod, das ist die bedeutendste von allen Ideen." Dann zurück zu seinen Lebensproblemen: "Ich muß Geld verdienen." Da bemerkt er einen Lichtschein an der Wand, er kommt aus dem Nachbarzimmer. Er stellt sich auf das Bett und späht durch das Guckloch.
"Ich schaue, ich sehe... das Zimmer nebenan liegt vor mir in seiner ganzen Nacktheit. "

Damit beginnt die Handlung des Romans. Tag für Tag steht er auf seinem Bett und blickt auf das Kommen und Gehen da drüben. Einen ganzen Monat lang sieht er es sich an, er selbst steht abseits und – symbolisch gesprochen – darüber. Sein erstes Abenteuer sozusagen ist dies: er beobachtet eine Frau, die das Zimmer für die Nacht gemietet hat. Er gerät in äußerste Erregung, während er beobachtet, wie sie sich auszieht. Diese Seiten des Buches sind von jener gewollten Sensationslust, wie sie ihren Anhängern im Nachkriegs-Frankreich immer wieder vorzuwerfen war (so daß Guido Ruggiero schrieb: "Der Existentialismus nimmt das Leben als eine Art Sensationsstück"). Doch das Eigentliche kommt erst. Am nächsten Tag versucht er, die Szene in seiner Vorstellung noch einmal lebendig werden zu lassen. Aber es will ihm nicht glücken, wie auch schon der Versuch mißlungen war, das, was er vordem bei seiner Geliebten erlebt hatte, in Gedanken zu wiederholen:

Ich ließ mich hinreißen, Einzelheiten zu erfinden, um mir so die Intensität des Erlebens von neuem zu vergegenwärtigen.

'Sie nahm höchst verlockende Stellungen ein.'

Nein, nein, das ist nicht wahr.

Diese Worte haben alle gar kein Leben. Sie lassen einen unberührt, ohnmächtig das Eigentliche zu treffen, die Intensität des Erlebten.

Gegen Ende des Romans "Die Hölle" wird der Held ohne Namen einem Schriftsteller vorgestellt, der in Gesellschaft von dem Buch erzählt, an dem er gerade schreibt. Ein Zufall ... es handelt von einem Mann, der ein Loch in die Wand bohrt und alles ausspäht, was im Nebenzimmer geschieht. Der Schriftsteller erzählt das ganze Buch, soweit es schon gediehen ist, und seine Zuhörer finden es wunderbar: Bravo! Das wird ein überwältigender Erfolg! Der Outsider aber hört düsteren Sinnes zu. "Ich, der ich bis ins Innerste des menschlichen Herzens eingedrungen und aus seinen Tiefen wieder aufgetaucht war, konnte an dieser pantomimischen Karikatur meiner selbst nichts Menschliches finden. Es war alles derart oberflächlich, daß nichts mehr stimmte." Jener Schriftsteller erläutert nun: "Der Mensch, aller Äußerlichkeiten entkleidet ... das ist es, was ich darstellen möchte. Andere verlassen sich auf die Phantasie ... ich bin für die Wahrheit." Der Outsider indessen fühlt, daß, was er gesehen hat, die Wahrheit ist. Zugegeben, für uns, die wir den Roman ein halbes Jahrhundert nach seinem Erscheinen lesen, ist da gar kein wesentlicher Unterschied zwischen der Wahrheit jenes Schriftstellers und der des Helden. Die "Dramen", die sich jeweils im Nebenzimmer abspielen, erinnern uns manchmal an Sardou, manchmal an Dostojewskij, dort wo er mehr darauf bedacht ist, uns eine Idee auseinanderzusetzen, als sie in Menschen und Ereignissen Gestalt werden zu lassen. Doch Barbusse meint es ernst, und dieses Ideal, "für die Wahrheit einzustehen", ist der rote Faden, der sich durch die gesamte Literatur des 20. Jahrhunderts zieht.

Der Outsider bei Barbusse hat alle charakteristischen Merkmale dieses Menschentyps. Ist er ein Qutsider, weil er vom Leben enttäuscht ist und darum neurotisch? Oder ist er neurotisch, weil ihn irgendein tiefer Instinkt in die Einsamkeit treibt? Er ist befangen in allem, was Geschlecht, was Verbrechen, was Krankheit betrifft. Zu Beginn des Romans berichtet er von einer Unterhaltung nach Tisch, bei der ein Rechtsanwalt von der Gerichtsverhandlung gegen einen Mann erzäh1t, der ein kleines Mädchen vergewaltigt und erwürgt hat. Alle anderen Gespräche ringsum verstummen, und der Outsider beobachtet insgeheim, wie seine Tischgenossen die entsetzlichen Einzelheiten aufnehmen.

Eine jüngere Frau, ihre Tochter neben sich, ist drauf und dran zu gehen, doch sie vermag sich nicht loszureißen ... Und dann die Männer: einen von ihnen, einen simplen, friedlichen Mann, höre ich deutlich keuchen. Ein anderer, eine unauffällige bürgerliche Erscheinung, führt eine schleppende Konversation mit seiner jungen Tischnachbarin in irgendwelchen Gemeinplätzen. Aber er sieht sie dabei an, als wenn er mit den Augen in sie eindringen wollte und noch mehr als das. Sein zudringlicher Blick hat über ihn Gewalt, und er schämt sich dessen ...

Die Lage des Outsiders gegenüber der Gesellschaft ist ganz klar. Alle, Männer wie Frauen, haben diese gefährlichen, unaussprechlichen Regungen, doch sie wahren den Schein vor sich selbst, vor anderen; ihre Achtbarkeit, ihre Philosophie, ihre Religion – all das sind nur Versuche, etwas vorzutäuschen, etwas als zivilisiert und vernünftig erscheinen zu lassen, was in Wirklichkeit wild, ungezähmt und irrational ist. Er ist ein Outsider, weil er für die Wahrheit einsteht.

Das ist sein Standpunkt. Aber er ist dabei im Nachteil mit seinem offensichtlichen Abweichen vom Normalen und seinem introvertierten Wesen. In der Tat sieht es so aus wie der Versuch der Selbstrechtfertigung eines Mannes, der weiß, daß er degeneriert, angekränkelt und in sich gespalten ist. Zweifellos ist eine solche Spaltung vorhanden. Der Mann, der eine Frau beim Entkleiden beobachtet, hat den gierigen Blick eines Tieres, jener aber, der den jungen Liebenden zusieht, die zum erstenmal ganz für sich allein sind, und mit seinen Worten alle Erhabenheit, Zartheit und Ungewißheit dieses Augenblicks darzustellen weiß, ist keineswegs brutal, er ist sehr menschlich. Das Tier und der Mensch jedoch leben in ein- und demselben Körper; sobald die Gier des Tieres einigermaßen befriedigt ist, verschwindet es, und an seine Stelle tritt der Mensch, der die tierische Begierde verachtet.

Das also ist das Problem des Outsiders. Wir werden ihm im Laufe dieses Buches in den verschiedensten Formen begegnen: auf der metaphysischen Ebene bei Sartre und Camus (wo es Existenzialismus genannt wird), auf der religiösen Ebene, bei Böhme und Kierkegaard, ja sogar auf der kriminellen Ebene, bei Dostojewskij‘s "Stawrogin" (der ebenfalls ein kleines Mädchen vergewaltigt und schuld ist an ihrem Tode). Das Problem bleibt im wesentlichen immer das gleiche; es ist lediglich eine Frage, was davon jeweils als mehr oder weniger nebensächlich abzuziehen ist.

Barbusse deutet an, sein Held werde durch den Umstand, daß er tiefer sieht als andere Menschen, zum Outsider; zugleich aber wird festgestellt, er habe "keine besondere Begabung, keine Botschaft auszurichten" und dergleichen mehr; und nach allem, was im weiteren Verlauf des Buches von ihm berichtet wird, haben wir keinen Grund, daran zu zweifeln. Sein Held hat ohne Frage nur mittelmäßiges Format; er hat keinen Deut Talent zum Schreiben, und das ganze Buch steckt voller Klischees. Das muß unbedingt gesagt werden, damit wir der Versuchung entgehen, den Outsider mit dem Künstler gleichzusetzen und damit die Frage: "Krankheit oder tiefere Einsicht?" gar zu sehr zu vereinfachen.

Viele große Künstler haben keinen jener charakteristischen Züge des Outsiders. Shakespeare, Dante, Keats waren offenbar alle ganz normale Menschen, durchaus wohlsituiert; sie hatten nichts an sich, was man als Krankheit oder nervöses Unvermögen ankreiden könnte. Keats, der als Romantiker stets einen deutlichen Unterschied machte zwischen dem Dichter und dem gewöhnlichen Sterblichen, scheint nie auch nur den Schatten irgendwelcher im Unterbewußtsein lauernder Minderwertigkeitskomplexe oder sexueller Neurosen verspürt zu haben; da war keine Empfindlichkeit für soziale Unterschiede wie etwa bei D. H. Lawrence, noch etwa das Verlangen, die eigene intellektuelle Überlegenheit zu behaupten wie bei James Joyce, vor allem aber keinerlei Sympathie mit der Haltung von Villiers De Lisle Adams Axel, den Keats so sehr bewundert: "Leben, das mögen unsere Dienstboten für uns besorgen." Wenn es je einen Menschen gegeben hat, der sein Leben in die eigene Hand nehmen wollte, so war es Keats. Und er ist durchaus keine Ausnahme unter den großen Dichtern. Der Outsider kann ein Künstler sein, aber der Künstler muß keineswegs ein Qutsider sein.

Soviel läßt sich nun über das Wesen des Outsiders sagen: er hat einen besonderen Sinn für das Abseitige und Jenseitige. Selbst Keats schrieb, kurz vor seinem Tode, in einem Brief an Browne: "Mir ist, als wäre ich schon gestorben und lebte nun ein Leben nach dem Tode." Das ist jene Aufgeschlossenheit für die Irrealität, die wie ein Blitz aus heiterem Himmel kommen kann. Gute Gesundheit und starke Nerven lassen dergleichen kaum aufkommen, aber vielleicht nur deshalb, weil ein gesunder Mensch über andere Dinge nachdenkt und nicht dahin blickt, wo es nur Ungewißheit gibt. Wer davon einmal etwas zu Gesicht bekommen hat, für den ist die Welt fortan nie mehr eine Stätte, wo alles mit rechten Dingen zugeht. Barbusse hat uns gezeigt, daß der Outsider ein Mann ist, der in der bequemen, beschränkten Welt der Bürgerlichkeit nicht leben kann, wo er alles, was er sieht und berührt, als Tatsache hinzunehmen hat. "Er sieht zu tief und zu viel", und was er sieht, das ist im Grunde ein Chaos. Für den Bürger ist die Welt grundsätzlich ein Reich der Ordnung mit einem gewissen unruhigen Element des Irrationalen, des Bedrohlichen, doch gestattet ihm seine Befangenheit im Gegenwärtigen dies meist zu ignorieren. Für den Outsider ist die Welt weder vernünftig noch in Ordnung. Wenn er angesichts der bürgerlichen Selbstgefälligkeit seine Neigung zur Anarchie hervorkehrt, so ist dies nicht einfach das Bedürfnis, der Ehrbarkeit, die ihn reizt, eine lange Nase zu drehen: es ist das quälende Empfinden, die Wahrheit sagen zu müssen um jeden Preis, wenn anders es noch Hoffnung geben soll, daß die Ordnung letztlich einmal wieder hergestellt wird. Und selbst wenn es den Anschein hat, als ob keine Hoffnung mehr bliebe, so muß die Wahrheit doch gesagt werden. (Das Beispiel, dem wir uns nun zuwenden, ist ein eigenartiger Beleg dafür.) Der Outsider ist ein Mensch, der das Chaos erkannt hat. Er mag keinen Grund haben zu glauben, das Chaos sei etwas Positives, der Keim des Lebens (in der Kabbala ist das Chaos – tohuwabohu – einfach nichts anderes als ein Zustand, in welchem die Ordnung verborgen liegt; so ist das Ei das "Chaos", in dem bereits der Vogel steckt); trotzdem, die Wahrheit muß ausgesprochen, das Chaos ins Auge gefaßt werden.

Das letztveröffentlichte Werk von H. G. Wells gibt uns Einblick in solch einen Erkenntnisprozeß. Die Studie "Der Geist am Ende seiner Möglichkeiten" scheint geschrieben zu sein, um eine Art Offenbarung wiederzugeben.

Der Verfasser weiß recht beachtliche Gründe anzuführen für seine Auffassung, daß innerhalb eines Zeitraumes, der eher nach Wochen und Monaten zu bemessen ist als etwa nach Äonen, ein grundlegender Wandel der Bedingungen eingetreten ist, unter denen das Leben, und zwar nicht nur das menschliche Leben, sondern alles seiner selbst bewußte Dasein sich von seinen Anfängen her entfaltet hat. Wenn seine Überlegungen schlüssig sind, dann ist das Ende all dessen, was wir Leben nennen, nahe und unvermeidlich. Er teilt mit, zu welchen Schlußfolgerungen die Wirklichkeit ihn selbst genötigt hat, und er meint, es sollte Interesse genug vorhanden sein, darüber nachzudenken; er will sich damit jedoch niemandem aufdrängen.

Dieser letzte Satz ist bemerkenswert wegen seiner sonderbaren Logik. Wells‘ Überzeugung, daß das Leben an sein Ende gekommen sei, ist, wie er sich ausdrückt, "eine bestürzende Vorstellung". Ist sie wahr, so hebt sie die ganze Studie auf, – offensichtlich, denn sie verneint alles Leben und seine Erscheinungsformen. Wells, der selbst etwas von dieser Widersprüchlichkeit spürt, erklärt, er schreibe "genötigt von einer wissenschaftlichen Schulung, die ihn verpflichtete, sich über die Welt und seine eigenen Gedanken bis an die Grenzen seiner Fähigkeit klar zu werden".

Sein neu sich entfaltender Intellekt sieht sich befremdlichen, überzeugenden Tatsachen gegenüber, die so überwältigend sind, daß er, wäre er wirklich eines jener logischen, beharrlichen Wesen, die wir so gerne sein wollen, Tag und Nacht mit geradezu leidenschaftlicher Konzentration, mit besorgtem Sinn und heißem Bemühen über das endgültige Verderben nachgrübeln würde, dem sich die Species Mensch gegenübersieht. Wir sind jedoch keine Wesen solcher Art, wir leben nach der Richtschnur veralteter Erfahrungen und nicht im Blick auf künftige Ereignisse, so unvermeidlich sie sein mögen.

Wells bezieht sich dabei auf ein früheres Buch "Die Überwindung der Zeit" und schreibt: "Eine solche Überwindung, wie sie dies Buch zugesteht, wird eher die Zeit selbst vollbringen als etwa der Mensch".

Time like an ever rolling stream bears all its sons away They fly forgotten as a dream dies at the opening day.

Das ist der typische Pessimismus eines Shakespeare, unmittelbar aus dem "Macbeth" oder "Timon von Athen" abgeleitet. Ein überraschendes Zitat bei dem Manne, der sein ganzes Leben lang als Credo predigte: "Wenn dir dein Leben nicht gefällt, so kannst du es ändern", wie etwa der Optimist in "Menschen wie Götter" und "Ein modernes Utopien." Wells sagt, er werde den Grund für diesen Wandel seiner Betrachtungsweise mitteilen, wenn der Leser ihm genau folgen wolle:

Kalt und rauh starrt die Wirklichkeit jedem von denen entgegen, die ihren Sinn freizumachen vermögen, um der gnadenlosen Frage, die den Verfasser überwältigt hat, entgegenzublicken. Sie entdecken, daß eine furchtbare Fragwürdigkeit in das Leben gekommen ist. Von jeher gilt das Interesse des Verfassers seiner kritischen Prognose. Bei allem und jedem fragt er: Wohin wird das führen? Und es schien ihm natürlich anzunehmen, daß allem Wandel eine Grenze gesetzt sei, daß also wohl neue Dinge und Ereignisse zutage treten würden, aber immerhin in einer gewissen Beständigkeit, unter Wahrung der natürlichen Kontinuität des Lebens. Bei all der gegenwärtigen ungeheuren Verwirrung unserer Welt blieb doch stets die Annahme, daß letzten Endes das Reich der Vernunft wiedererstehen werde. Es war dabei nur die Frage, welche Formen die neue vernunftbestimmte Phase annehmen würde, welche Art Übermensch, welcher Erewhon oder was immer die zeitweiligen Wolken und Wirren durchbrechen würde. Darauf hat der Verfasser sein ganzes Sinnen gerichtet.

Er tat sein Äußerstes, um diese aufwärts weisende Spirale zu verfolgen ... bis zu ihrem Berührungspunkt mit einer neuen Phase in der Geschichte des Lebens, und je mehr er die augenscheinlichen Realitäten erwog, desto weniger war er imstande, überhaupt irgendeine solche Konvergenz zu ermitteln. Die Wandlungen folgten keinem System mehr, und je weiter er den Verlauf abschätzte, den sie zu nehmen schienen, desto größer war die Divergenz. Bis dahin waren die Ereignisse durch eine gewisse logische Stetigkeit zusammengehalten, so wie etwa die Himmelskörper durch das Gesetz der Schwerkraft. Jetzt ist es, als ob dieser Zusammenhalt geschwunden sei und alles irgendwie irgendwohin treibe mit ständig sich steigernder Geschwindigkeit ... jeglicher Plan künftiger Dinge hat sich verflüchtigt.

Wer Prof. Whiteheads Bücher kennt, wird spüren, daß Wells ein schlechter Zeuge ist für dessen alten Gegner, "die Zwiespältigkeit der Natur", da er als ein Mann der Wissenschaft so weit ging, den Bereich der Natur aufzuteilen in "Dinge, wie sie eigentlich sind" (d. h. die Dinge, mit denen die Wissenschaft zu tun hat) und Dinge, wie sie von menschlichen Wesen wahrgenommen werden (d. h. die Dinge, mit denen Kunst und Musik sich befassen), und daß Wells‘ Ansicht, Geist und Natur liefen nicht mehr parallel, nur die äußerste Konsequenz seiner Haltung ist. Whitehead geht es in seiner "Philosophie des Organismus" gewiß um dieselbe Forderung auf Ganzheit der Vorstellung von Geist und Natur wie mir in diesem Buche; ein Vergleich des Denkens von Professor Whitehead mit dem von T. E. Hulme würde vermutlich viel Licht in die Probleme des zeitgenössischen Humanismus bringen.

Auf den folgenden Seiten werden diese Gedankengänge noch erweitert und wiederholt, ohne daß gezeigt wird, wie der Autor zu ihnen gelangt ist. "Eine bittere Fragwürdigkeit ist in die Dinge gekommen", und im folgenden Absatz: "Wir geraten in das grelle Licht bislang unglaublicher Neuheit. Je stärker unser Mühen um die Analyse, um so unvermeidlicher ist das Innewerden der geistigen Niederlage." "Die Kinoleinwand starrt uns entgegen. Diese Leinwand stellt den eigentlichen Stoff für unser Sein dar. Unser Lieben, unser Hassen, unsere Kriege und Schlachten sind nicht mehr als auf diesem Stoff tanzende Gaukelbilder, an sich so unwirklich wie ein Traum".

Es bestehen augenscheinlich weitgehende Unterschiede zwischen der Haltung von Wells und der des Helden bei Barbusse, aber die Grundhaltung des Outsiders ist ihnen gemeinsam: das Nichtannehmenwollen des Lebens, des menschlichen Lebens, so wie es von menschlichen Wesen in einer menschlichen Gesellschaft gelebt wird. Beide würden sagen: ein solches Leben ist ein Traum, es ist irreal. Wells geht dabei weiter als Barbusse in der Richtung vollkommener Verneinung. Gleich sein erstes Kapitel beschließt er mit den Worten: "Es gibt keinen Weg, der da heraus, keinen, der drum herum und auch keinen, der mitten hindurch führt." Es kann kein Zweifel sein, daß Wells, soweit es ihn betrifft, "zu tief und zu viel sieht". Solche Erkenntnis aber bedeutet Stillstand, so der tote Punkt in Eliots Gerontion: "Nach solcher Erkenntnis, wozu noch Vergebung?"

Wells hatte versprochen, seine Gründe dafür anzugeben, wie er zu solch einer bestürzenden Behauptung gekommen sei. Indessen äußert er auf den noch verbleibenden 19 Seiten seiner Schrift nichts dergleichen, er wiederholt lediglich seine Thesen. "Unser zum Untergang verurteilter Ameisenstaat", "Harte, unerbittliche Feindschaft gegen unsere Welt", "Kein Plan irgendwelcher Art". Er verbreitet sich vage über Einsteins Paradoxon von der Lichtgeschwindigkeit, über die "Radiumuhr" (eine Methode, welche die Geologen zur Bestimmung der Erdzeitalter anwenden). Er widerspricht sogar seiner ursprünglichen Feststellung, daß alles Leben am Ende sei; nur die Gattung des homo sapiens hat ausgespielt. "Die Sterne in ihrem Lauf haben sich gegen ihn gewandt, und er muß einem anderen Lebewesen Platz machen, das besser imstande ist, dem Schicksal zu begegnen, das über die Menschheit hereinbricht." Auf den letzten Seiten seiner Schrift ist aus der Posaune des Jüngsten Gerichts die Frage geworden: "Kann die Zivilisation gerettet werden?"

Meine eigene Wesensart jedoch läßt mich entschieden daran zweifeln, daß es nicht jene kleine Minderheit geben soll, die Augenzeuge des Lebens sein wird bis hin zu seinem unumgänglichen Ende.

Wie dem auch sei, diese Schrift muß als die pessimistisch rückhaltloseste Äußerung in der modernen Literatur angesehen werden, zusammen mit T. S. Eliots "Hohle Menschen". Eliots Verzweiflung war ihrem Wesen nach religiös, und wir könnten versucht sein anzunehmen, Wells‘ Verzweiflung sei ebenfalls religiöser Natur, wenn er nicht beharrlich betonte, er spräche von einem wissenschaftlichen Faktum, einer objektiven Wirklichkeit.

Es kann nicht überraschen, daß das Werk von Wells‘ Zeitgenossen kaum beachtet wurde: um seine Schlußfolgerungen einleuchtender erscheinen zu lassen, hätte es des ungeheuren dialektischen Apparats von Schopenhauers "Welt als Wille und Vorstellung" oder Spenglers "Untergang des Abendlandes" bedurft. Ich hörte selbst, wie ein zeitgenössischer Schriftsteller es bezeichnete als "einen Ausbruch von Mißlaunigkeit einer Welt gegenüber, die sich weigerte, ihn als Messias anzuerkennen". Gewiß, wenn wir es auf der Ebene annehmen, auf der er es geschrieben hat – indem wir auf jeden Satz eingehen –, dann spüren wir das Aufkommen von Problemen, die auf sich selbst zurückzuführen scheinen. Warum schrieb er denn überhaupt, wenn er doch keine Hoffnung auf Rettung zu bieten hatte? Wenn die Schlußfolgerungen, zu denen er gelangt ist, sein eigentliches bisheriges Leben wie die Zukunftsmöglichkeiten der gesamten menschlichen Rasse verneinen, wohin wollen wir dann von da aus noch gehen? Wells‘ These ist, daß wir niemals irgendwohin gegangen sind: wir sind von unseren Irrtümern mitgezogen worden und haben geglaubt, irgendeine Vorwärtsbewegung sei immer noch besser als gar keine. Die Wahrheit ist, daß das Gegenteil, nämlich keine Bewegung, die endgültige Antwort sein dürfte, die Antwort auf die Frage: Was werden die Menschen tun, wenn sie die Dinge sehen, wie sie sind.

Es ist ein langer Weg von Mr. Pollys Entdeckung ("Wenn dir dein Leben nicht gefällt, so kannst du es ändern") bis zu dem Satz: "Da gibt es keinen Weg heraus, drum herum oder mitten hindurch." Barbusse ist den halben Weg gegangen mit seiner Frage: "Wahrheit, was meinen Sie damit?", die einen logischen Folgesatz hat, nämlich: "Ändern, was würde das schon ausmachen?". Wells ist den ganzen Weg gegangen und hat uns bis an die Schwelle des existentialistischen Problems geführt: Muß das Denken das Leben verneinen? Ehe wir zu diesem neuen Aspekt der Problematik des Outsiders übergehen, ist noch ein weiterer Punkt des Vergleichs zwischen Barbusse und Wells zu erörtern. Der Held von Barbusse ist bereits ein Outsider, wenn wir ihm begegnen; wahrscheinlich ist er schon immer ein Outsider gewesen. Wells selber war jedoch die meiste Zeit seines Lebens ganz entschieden ein Mensch, der mitten darin stand. Unermüdlich kam er seinen Pflichten der Gesellschaft gegenüber nach; er gab ihr gute Ratschläge, wie sie sich bessern könne. Er war der personifizierte Geist der Wissenschaft, der die Geschichte des Lebens untersuchte und daraus seine Schlußfolgerungen zog, der die Gesellschafts- und Sozialgeschichte wie die politische und die Religionsgeschichte studierte, ein Nachfahre der französischen Enzyklopädisten, die unablässig Wissensstoff zusammentrugen und aufhäuften. Bei ihm hätte die Frage: "Wahrheit, was meinen Sie damit?" eine voluminöse Darstellung aller Wahrheitsideen im Lauf der Geschichte der sieben Kulturkreise hervorgebracht. Es liegt etwas derart Bestürzendes darin, wenn ein solcher Mann zum Qutsider wird, daß wir geneigt sind, nach physischen Ursachen für diese Veränderung zu suchen: Wells war ein kranker, müder Mann, als er "Der Geist am Ende seiner Möglichkeiten" schrieb. Dürfen wir nicht dies als den eigentlichen Grund und die treibende Kraft für seine Schrift ansehen?

Leider nicht. Wells erklärt, seine Schlußfolgerungen seien objektiv; wenn das aber der Fall ist und man wollte nun behaupten, er sei krank gewesen, als er sie niederschrieb, so würde das nicht mehr bedeuten, als etwa zu sagen, er habe einen Schlafrock und Hausschuhe getragen. Es ist unsere Aufgabe, zu beurteilen, ob die Welt so gesehen werden kann, daß Wells‘ Schlußfolgerungen unvermeidlich sind, und – wenn das so ist – zu entscheiden, ob diese Art, die Dinge zu sehen, aufrichtiger, gültiger, objektiver ist als unsere herkömmliche Betrachtungsweise. Selbst wenn wir im voraus entscheiden, die Antwort sei "Nein", so kann es doch lehrreich sein, sich im Wechsel des Blickwinkels zu üben.

Die Behauptung des Outsiders läuft auf das gleiche hinaus wie die dem Helden in Wells‘ "Das Reich der Blinden": er sei der einzige Mensch, der wirklich zu sehen vermag. Auf den Einwand, daß er nicht als gesund gelten könne und neurotisch sei, erwidert er: "Im Reich der Blinden ist der Einäugige König." In der Tat liegt sein Fall so, daß er als einziger Mensch weiß, daß er krank ist, in einer Zivilimation, die dies von sich nicht weiß. Manche Outsider, die später zu betrachten sein werden, würden sogar noch weiter gehen und behaupten, die menschliche Natur an sich sei krank, und der Outsider sei der Mensch, der diese unangenehme Tatsache ins Auge faßt. Dies alles braucht uns aber jetzt noch nicht zu beschäftigen; im Augenblick halten wir nur einen negativen Standpunkt fest, den der Outsider als das Wesentliche der Welt proklamiert, wie er sie sieht. "Wahrheit, was meinen Sie damit?" "Es gibt weder einen Weg heraus, noch drum herum, noch einen mitten hindurch. Und darauf müssen wir nunmehr unsere Aufmerksamkeit richten.

Als Barbusse seinen Helden die erste Frage stellen ließ, war er sich ganz gewiß nicht bewußt, daß er damit das Kernproblem eines dänischen Philosophen umschrieb, der im Jahre 1855 in Kopenhagen verstorben war. Sören Kierkegaard war ebenfalls zu dem Schluß gekommen, philosophische Diskussionen seien samt und sonders sinnlos, und zwar aus dem gleichen Grund wie Wells: die Wirklichkeit hebt sie auf. Oder, wie Kierkegaard es ausdrückte, die Existenz hebt sie auf. Kierkegaards Angriff war vor allem gegen den deutschen Metaphysiker Hegel gerichtet, der (beinahe wie Wells) versucht hatte, "Gottes Wege mit dem Menschen zu rechtfertigen", als er vom Ziel der Geschichte und dem Ort des Menschen in Raum und Zeit sprach. Kierkegaard als einem tief religiösen Menschen schien dies alles unaussprechlich schal. Er erklärte: Fügt mich in ein System, und ihr macht mich zunichte – ich bin nicht nur eben eine mathematische Figur – ich bin.

Nun hat eine solche Behauptung wie die, daß logische und wissenschaftliche Betrachtungsweise nicht zur Wahrheit führen könne, offenbar seltsame Konsequenzen. Unsere gesamte Wissenschaft ruht auf der Voraussetzung, daß eine Feststellung, wie "Alle Körper fallen im Bereich der Erdanziehung mit einer Beschleunigung von 9,81 Meter in der Sekunde", definitive Bedeutung hat. Doch wenn man die ultimative Geltung der Logik verneint, dann wird sie unsinnig. Und wenn man die Logik nicht verneint, so ist es schwierig, diesem Gedankengang folgend, Wells und John Stuart Mill zu widerlegen. Darum hat Kierkegaard es so ausgedrückt: Ist ein existentialistisches System möglich; um es anders zu sagen: Kann man eine Philosophie leben, ohne entweder das Leben oder die Philosophie selbst zu negieren? Kierkegaards Schlußfolgerung hieß: Nein; eine Religion jedoch kann man leben, ohne das Leben oder die Religion selbst zu negieren. Wir brauchen uns hier nicht mit den Überlegungen aufzuhalten, die ihn zu dieser Schlußfolgerung brachten. (Interessierte Leser können sich in seiner "Unwissenschaftliehen Nachschrift" unterrichten.) Es ist wichtig, dabei festzustellen, daß seine Bejahung christlicher Werte Ihn nicht davon abhielt, die christliche Kirche scharf anzugreifen mit der Begründung, sie habe das Problem, ihre Religion ins Leben umzusetzen, dadurch gelöst, daß sie ihr Arme und Beine abhackte, um sie dem Leben anzupassen. Es ist erheiternd, daß der andere große existentialistische Philosoph des 19. Jahrhunderts, Friedrich Nietzsche, die christliche Kirche mit gegenteiligen Argumenten angriff: sie habe das Problem dadurch gelöst, daß sie das Leben unterdrückte, um es der christlichen Religion anzupassen. Beide nun, Kierkegaard wie Nietzsche, waren geübte Denker, und beide stellten mit gewissem Stolz fest, sie seien Outsider. Daraus möchte man folgern, daß sich in ihren Werken eine scharfsinnige Verteidigung des Outsiders und seines Standpunktes finden sollte. Und man findet sie in der Tat.

Nietzsche wie Kierkegaard entwickelten eine Philosophie, die vom Outsider ausging. Heute wenden wir Kierkegaards Bezeichnung an, wenn wir davon sprechen, und nennen es Existentialismus. Als Kierkegaards Werke in den zwanziger Jahren in Deutschland wieder aufgelegt wurden, nahmen sich die Gelehrten seiner an, die seine religiösen Schlußfolgerungen verwarfen, seine Methoden der Analyse jedoch benutzten, um die sogenannte "Existenzphilosophie" zu begründen. Dabei verlegten sie das Schwergewicht vom Qutsider wiederum auf die Hegelsche Metaphysik. Später wurde in Frankreich der Existentialismus populär durch die Werke von Jean Paul Sartre und Albert Camus, die nun den Nachdruck abermals auf den Outsider legten und schließlich zu ihren eigenen Schlußfolgerungen kamen hinsichtlich der Frage, wie man eine Philosophie leben könne: Sartre in seiner "Lehre vom Ausgesetztsein" (auf die wir später noch kommen werden) und Camus in seinem Glaubenssatz: "Bleibe ein Outsider". Wir müssen beide nacheinander untersuchen.

Sartre stellt in seinem frühen Roman "Der Ekel" geschickt alle jene Punkte zusammen, die wir schon im Zusammenhang mit Wells und Barbusse erörtert haben: die Unwirklichkeit, die Verwerfung der Mitwelt sowie der kulturellen Standardbegriffe, und schließlich die "Kino-Vorstellung" nackter Existenz "ohne einen Weg heraus, drum herum oder mitten hindurch".

"Der Ekel" gibt sich als das Tagebuch eines Historikers namens Roquentin: nicht eines versierten wissenschaftlichen Historikers wie Wells, vielmehr eines Literarhistorikers, der sich damit befaßt, die Lebensgeschichte eines wendigen Diplomaten und Politikers mit Namen Rollebon auszugraben. Roquentin lebt allein in einem Hotel in Le Havre. Sein Leben könnte ein Muster stiller Gelehrsamkeit sein: Unterhaltungen in der Bibliothek, intimer Umgang mit der Wirtin des Cafés: "Ich lebe allein, gänzlich allein; ich spreche mit niemandem, niemals. Ich empfange nichts, ich gebe nichts ..."

Doch eine Reihe von Enthüllungen verstört ihn. Er steht am Strand, hebt einen flachen Stein auf, um ihn über das Wasser zu schnellen und plötzlich ... da war etwas, was ich sah und was mich abstieß; ich weiß nicht mehr, war es nun das Meer oder der Kieselstein". Er läßt den Stein fallen und geht davon.

Roquentins Tagebuch ist ein Versuch, zu objektivieren, was mit ihm geschieht. Er forscht in seiner Erinnerung, er überprüft die Vergangenheit. Da war etwas, was sich in Indochina abgespielt hatte: ein Kollege hatte ihn aufgefordert, eine archäologische Expedition nach Bengalen mitzumachen; er war drauf und dran, anzunehmen –
"... auf einmal erwachte ich aus einem sechsjährigen Schlaf ... Ich verstand nicht, was ich in Indochina zu suchen hatte. Was tat ich dort? Warum sprach ich mit den Leuten? Warum war ich so sonderbar gekleidet? ... Vor mir stand eine Idee – gleichgültig, weitläufig, fade. Ich weiß nicht genau, was es war, aber ich konnte ihr nicht ins Antlitz sehen, so widerte sie mich an."

Ohne Zweifel geschieht hier etwas. Da ist einmal sein gewöhnliches Leben, mit seinen Vorstellungen von Absicht, Zweck und Nutzen. Und dann gibt es da jene Enthüllungen oder vielmehr das Aufkommen des Ekels, der seinem üblichen Dasein den Boden entzieht. Der Grund ist nicht weit zu suchen. Roquentin ist ein viel zu genauer und aufrichtiger Beobachter. Wie Wells fragt er bei all und jedem: wohin soll das führen? Nie läßt er nach im Wahrnehmen der Dinge. Von dem Wirt des Cafés sagt er: "Wenn das Lokal sich leert, leert sich auch sein Kopf." Das Leben dieser Menschen hängt von den Ereignissen ab. Wenn einmal bei ihnen nichts mehr passieren würde, so würden sie selber aufhören zu sein. Schlimmer noch sind die "salauds", die Dreckskerle, deren Bilder er in der Gemäldegalerie der Stadt anschauen kann, diese hochgestellten Männer aus dem öffentlichen Leben, die ihrer selbst so sicher sind, so sicher, daß das Leben ihnen gehört, und daß ihr Dasein notwendig ist. Aber Roquentins kritischer Sinn wendet sich gegen ihn selbst; auch er hatte Sinn und Bedeutung erkannt, dort, wo er nun feststellt, daß es keine gibt. Auch er ist von Ereignissen abhängig.

In einem überfüllten Café hat er Angst, ein Glas Bier anzusehen. "Aber ich kann nicht erklären, was ich sehe. Niemandem. Da ist es: ich gleite ganz langsam hinab in die Tiefe, in die Furcht."

Wenige Tage später beschreibt er wiederum bis ins Detail die Umstände eines Anfalls von Ekel. Diesmal sind es die Hosenträger des Wirtes vom Kaffeehaus, die seinen Abscheu erregen.

Nun beobachten wir, daß der Ekel den Schmutz von Roquentins Umgebung erst recht hervorzuheben scheint. (Sartre ist in seiner Hervorhebung von "Dunkel und Schmutz" weiter gegangen als irgendein Schriftsteller zuvor; weder Joyce noch Dostojewskij bieten dieses von physischem Unrat gebannte Sinnesempfinden.) Es überwältigt Roquentin, ein geistiges Gegenstück heftigen körperlichen Erbrechens.

"... der Ekel ist nicht in mir; ich spüre ihn dort draußen auf der Wand, auf den Hosenträgern, überall rings um mich. Er bildet eine Einheit mit dem Café, und ich bin es, der in ihm ist."

Wie Wells, so besteht auch Roquentin auf dem objektiven Charakter der Wahrnehmung.

Irgendiemand legt eine Schallplatte auf; es ertönt die Stimme einer Negerin, sie singt: "Some of These Days". Beim Zuhören vergeht das Gefühl des Ekels:
"Als die Stimme aus dem Schweigen kam, fühlte ich meinen Körper hart werden und den Ekel schwinden. Auf einmal war es beinahe unerträglich, so hart zu werden, so strahlend ... Ich bin in der Musik. Feurige Kugeln kreisen in den Spiegeln, umgeben von Rauchringen."

Es ist notwendig, dieses Erlebnis zu analysieren, diese wohlbekannte ästhetische Erfahrung: die Kunst bringt Ordnung und Logik in das Chaos.

"Ich bin erregt, ich fühle meinen Körper als eine abgestellte Präzisionsmaschine. Ich habe ja wirkliche Abenteuer erlebt. Ich bringe zwar die Einzelheiten nicht mehr zusammen, aber ich sehe doch die feste Verkettung aller Umstände. Ich habe die Meere befahren, Städte hinter mir zurückgelassen, ich bin in die Wälder gedrungen, und immer wieder strebte ich anderen Städten zu. Frauen habe ich gehabt, und mit Kerlen habe ich mich herumgeschlagen; doch nie konnte ich den Weg zurückfinden, sowenig wie man eine Schallplatte rückwärtslaufen lassen kann."

Kunstwerke können ihn nicht rühren. Kunst ist Denken, und Denken gibt der Welt lediglich einen Anschein von Ordnung für den, der schwach genug ist, sich von solcher Schaustellung überzeugen zu lassen. Allein etwas von so instinktivem Rhythmus wie der "Blues" kann ihm ein Gefühl von Ordnung geben, das nicht trügerisch erscheint. Aber selbst das mag nur eine zeitweilige Zuflucht sein; jede tiefergehende nervliche Erschöpfung würde den Kollaps dieses Gefühls der Ordnung auslösen, auch in "Some of These Days".

In dem Tagebuch wird man Zeuge, wie alle Wertbegriffe Roquentins zusammenbrechen. Die Erschöpfung nötigt ihn mehr und mehr zur Beschränkung auf die Gegenwart, das Hier und Jetzt. Das Erinnerungsvermögen, das den Geschehnissen Folgerichtigkeit und Zusammenhang gibt, versagt und läßt ihn in zunehmendem Maße angewiesen sein auf die Bedeutung dessen, was er sehen und berühren kann. Es ist der Skeptizismus eines Hume, der hier instinktive und alleszerstörende Züge annimmt. Alles, was er sehen und berühren kann, ist unkenntlich, im Stich gelassen vom Gedächtnis, wie die Fotografie eines vertrauten Gegenstandes aus einem ungewohnten Blickwinkel. Er schaut einen Stuhl an und vermag ihn doch nicht zu erkennen. "Ich murmle vor mich hin: das ist eine Sitzbank. Aber das Wort stockt auf meinen Lippen. Es versagt sich und will sich dem Gegenstand nicht anpassen ... Die Dinge sind von ihren Namen getrennt. Sie sind da, grotesk, hartnäckig, riesig, und es scheint lächerlich, sie Sitzbänke zu nennen oder überhaupt irgend etwas über sie auszusagen. Ich bin inmitten von lauter Dingen, – namenlosen Dingen." Im Park erfährt er die volle Auswirkung der Enthüllung, als er auf die Wurzel eines Kastanienbaumes starrt.

"Ich wußte nicht mehr, daß es eine Wurzel war. Die Worte hatten sich verflüchtigt und mit ihnen die Bedeutung der Dinge, ihre Nutzanwendung und die schwachen Zeichen der Zuordnung, welche die Menschen auf ihrer Oberfläche eingeritzt haben. Da saß ich nun ... vor dieser knotigen, gänzlich ungestalten Masse, die mir Furcht machte ... Es nahm mir den Atem. Niemals vor diesen letzten Tagen hatte ich empfunden, was das bedeutet: Dasein. Ich war wie die anderen ... Ich sagte gleich ihnen: das Meer ist grün; dieser weiße Punkt dort droben ist eine Möwe. Aber ich fühlte nicht, daß das alles existierte ... Und dann auf einmal hatte das Dasein sich plötzlich enthüllt. Es hatte den Anschein einer abstrakten Kategorie verloren; es war der eigentliche Teig der Dinge, diese Wurzel war eingeknetet in Dasein ... Diese Dinge nun, sie verursachen mir Unbehagen; ich hätte gewünscht, sie wären weniger bedeutsam, sondern trockener, von mehr abstrakter Art ..."

Er hat den tiefsten Punkt der Selbstverachtung erreicht: sogar die Dinge negieren ihn. Wir alle kennen seine Erfahrung anderen Menschen gegenüber zur Genüge; eine Persönlichkeit oder eine Überzeugung können allem Widerstand zum Trotz Eindruck machen, und sogar die Großstadt selber, das Durcheinander von Verkehr und Menschen in der Regent Street, kann eine schwache Persönlichkeit überwältigen und bewirken, daß sie sich als unbedeutend empfindet. Roquentin fühlt sich unbedeutend vor den Dingen. Ohne die Bedeutung, die sein Wille ihr normalerweise zulegen möchte, ist seine Existenz absurd.

Die Kausalität – das Schreckbild Humes – ist zusammengebrochen; folglich gibt es keine Abenteuer. Die Lebensbeschreibung Rollebons wäre ein anderes Unternehmen des Irrtums gewesen, denn sie hätte dem Leben Rollebons eine Notwendigkeit zugemessen, die in Wirklichkeit nicht da war; die Ereignisse hatten keinen wirklichen Zusammenhang und folgten nicht aufeinander wie in einer Geschichte. Nur Blindheit gegenüber der Tatsache blanker, nackter Existenz konnte jemals die Illusion entstehen lassen, daß sie es täten.

Was dann? Gibt es keine Kausalität, keine Möglichkeit einer Sinndeutung? Sartre bringt das Leben auf folgenden Nenner: "Der Mensch ist eine nutzlose Passion". Es gibt da keine Wahl nach Roquentins Berechnung; es gibt nur nutzlos sein und darum wissen oder nutzlos sein, ohne es zu wissen.

Und doch hat Roquentin einen Schimmer davon erfahren, was Sinn und Ordnung bedeuten: in "Some of These Days ". Da war Sinn, da gab es Ursache und Wirkung, indem eine Note unvermeidlich auf die andere folgte. Roquentin fragt sich, warum er nicht etwas Ähnliches hervorbringen sollte, etwas Rhythmisches, Zweckbestimmtes, vielleicht einen Roman, den die Menschen später lesen könnten und spüren: Da war ein Versuch, Ordnung in das Chaos zu bringen. Er wird Le Havre und das Leben Rollebons hinter sich lassen; es muß eine andere Art des Lebens geben, die nicht wertlos ist. An dieser Stelle endet das Tagebuch.

Roquentin lebt wie der Held von Barbusse; die vier Wände seines Zimmers bilden fast auch schon die Grenze seines bewußten Daseins. Aber er ist weiter und tiefer vorgedrungen als der Mann vor dem Loch in der Wand. Seine Haltung hat den toten Punkt von Wells erreicht. "Der Mensch ist eine nutzlose Passion", das könnte als die Quintessenz der Schrift "Der Geist am Ende seiner Möglichkeiten" gelten. Vollständige Verneinung wie in Eliots "Hohlen Menschen": Wir sind die hohlen Menschen, wir sind die "salauds". Roquentin ist in der Lage des Helden aus "Das Reich der Blinden". Er allein ist der Wahrheit bewußt; und wenn alle Menschen sich ihrer bewußt würden, dann wäre dem Leben ein Ende gesetzt. Im Reich der Blinden ist der Einäugige König, aber sein Königtum ist Herrschaft über nichts. Es bringt keine Vollmachten und Vorrechte mit sich, nur Verlust des Glaubens und Erschöpfung der Tatkraft. Seine Welt ist eine Welt ohne Werte.

Das also ist der Stand der Dinge, auf den uns Barbusses Outsider gebracht hat. Es wurde schon ganz deutlich bei jenem Verlangen, das die wehenden Kleider der Frauen in ihm erregten; denn was er wollte, war nicht sexueller Verkehr, sondern irgendeine schwer zu definierende Art von Freiheit, für die die Frauen mit ihrer verschleierten, verborgenen Nacktheit ein Symbol sind. Wohl war sexuelles Verlangen da, aber nicht ausschließlich, sondern verstärkt und hochgetrieben von einem Ressentiment gegen die Verwirrung durch das eilfertige Pariser Treiben mit seinen gutgekleideten Frauen. "Und dennoch sehne ich mich nach irgendeiner Belohnung."

Trotz der Zivilisation, die ihm das Gefühl seiner Unbedeutendheit eingeprägt hat – bis er gewiß ist, "daß er nichts hat und nichts verdient" – trotzdem glaubt er, ein Recht zu haben auf ..., auf was? Auf Freiheit? Das ist ein viel mißbrauchtes Wort. Vergeblich durchsuchen wir "Die Hölle" nach einer Definition dafür. Sartre und Wells haben festgestellt, der Mensch sei niemals frei, er sei lediglich zu dumm, dies zu erkennen. Auf was aber hat dann der Outsider ein unveräußerliches Recht?

Die Frage muß uns auf ein neues Feld führen: in die Welt jener Outsider nämlich, die eine gewisse Einsicht in das Wesen der Freiheit gewonnen haben.

Welt ohne Werte

Der Outsider neigt dazu, sich in existentialistischen Redewendungen auszudrücken. Er kümmert sich nicht um den Unterschied zwischen Körper und Geist oder den von Mensch und Natur; diese Begriffe bringen theologisches Denken und Philosophie mit sich. Beides lehnt er ab. Für ihn ist der einzig gewichtige Unterschied der zwischen Sein und Nichtsein. Barbusses Held sagt ja: "Der Tod ist die bedeutendste aller Ideen. "

Barbusse und Wells verkörpern zwei verschiedene Arten, dem Problem beizukommen. Barbusses Methode könnte man die "empirische" nennen. Sein Held ist kein Denker; er akzeptiert das Leben, seine Werte jedoch kann er nicht anerkennen. Wells geht noch viel weiter in seiner Ablehnung; seine Schlußfolgerungen sind bis zum Nihilismus vorgetrieben; seine Art des Vorgehens ist, wie die von Hume, rationalistisch.

In Roquentins Fall werden die Schlußfolgerungen durch eine Wechselwirkung von Vernunft und Erfahrung erreicht. Wieder ist es das rationale Element, das ihn zum Nihilismus treibt; der einzige "Schimmer von Erlösung" rührt von einer Erfahrungsebene her, die von folgerichtigem Denken nicht berührt wird, nämlich von einer Negerfrau, die "Some of These Days" singt. Vernunft führt zum Stillstand. Wenn es eine Lösung gibt, so ist sie nicht mittels der Vernunft zu suchen, sondern auf dem Wege der Erfahrung. Wir müssen dabei die logische Möglichkeit im Auge behalten, daß es vielleicht keine Lösung gibt. Jedenfalls haben wir nun zunächst das empirische Verfahren zu prüfen.

Der Outsider bei Albert Camus ist sogar noch mehr Empiriker als der bei Barbusse. Er denkt tatsächlich noch weniger; er hat "kein Genie, keine ungewöhnlichen Empfindungen aufzuweisen"; tatsächlich hat er überhaupt kaum irgendwelche Empfindungen.

"Mutter starb heute. Oder gestern? Ich weiß es nicht genau."

Dieser Ton von Indifferenz klingt durch den ganzen Roman "Der Fremde". Wie in "Die Hölle" und in "Der Ekel" bleibt es bei dem Brauch, daß der Held ein Tagebuch führt. Meursault ist Algerier. Gleich die erste Seite kennzeichnet seinen Charakter. Als er seinen Arbeitgeber um Urlaub bittet, um am Begräbnis seiner Mutter teilzunehmen, sagt er:

"Es tut mir leid, Monsieur, aber ich kann nichts dafür, wissen Sie. Später fiel mir ein, daß ich das nicht hätte zu sagen brauchen ... es kam ihm ja zu, seine Teilnahme auszusprechen usw. ..."

Wenn Meursault den Tod seiner Mutter "empfunden" hätte, so würde er sich nicht entschuldigt haben. Wie der Leser bald entdeckt, empfindet er sehr wenig.

Das soll nicht heißen, daß er desillusioniert oder der Welt überdrüssig wäre. Dieser Typ des Gedankenlosen zeigt mehr Verwandtschaft zu P. G. Wodehouses "Young Men In Spats". Er hat Freude am Essen und Trinken, am Sonnenbaden und am Kinobesuch. Er lebt in der Gegenwart. Er erzählt vom Begräbnis seiner Mutter, sachlich, aber ohne Empfinden; er war erschöpft, weil er die ganze Nacht hatte auf-bleiben müssen, aber sonst berührte es ihn nicht weiter. Am nächsten Tag geht er zum Schwimmen und fängt eine Liebelei mit einem Mädchen an. Auf einer halben Seite skizziert er die Entwicklung dieser Beziehung: sie sehen sich einen Lustspielfilm an, danach gehen sie auf sein Zimmer und schlafen dort miteinander. Am Morgen, nachdem sie gegangen ist, heißt es: "Ich schlief bis zehn Uhr. Dann blieb ich bis Mittag im Bett liegen und rauchte Zigaretten.

Das ist die Atmosphäre aus Eliots "Waste Land": "I read much of the night and go south in the winter."

Was uns vergleichsweise überrascht, ist das Fehlen jeglicher moralischen Abwertung in dem Buch von Camus; da gibt es keinerlei Andeutung, daß der Autor uns etwa nahelegen möchte, Meursault als Nichtsnutz und Müßiggänger zu verurteilen.

Eine ungewöhnliche Eigenschaft jedoch hat Meursault, und das ist seine Aufrichtigkeit. Das Mädchen bittet ihn, sie zu heiraten, und er stimmt sofort zu:
"Dann fragte sie mich wieder, ob ich sie liebte. Ich antwortete wie schon einmal zuvor, daß es darauf gar nicht oder fast gar nicht ankäme, aber daß ich eigentlich glaubte, ich liebte sie nicht."

Diese Aufrichtigkeit entspringt der Indifferenz jeglichen Dingen des Gefühls gegenüber; er mißt keiner Sache Bedeutung bei, weshalb also sollte er lügen?

Meursault freundet sich mit einem Kuppler an und wird in einen Streit zwischen diesem und einem Araber verwickelt. Ein Tag, müßig am Strand verbracht, endet damit, daß Meursault den Araber erschießt. Es war Notwehr; aber der Araber war ohne Waffe, und es gab keinen Zeugen. Meursault sieht sich des Mordes angeklagt.

Und da nun geschieht es, daß die seltsamen Eigenschaften des Outsiders sich gegen ihn selbst richten. Ein Mann, der einen Mord begangen hat, sollte zumindest irgendwelche Anteilnahme zeigen an dem, was er getan hat; seine beste Chance für einen Freispruch liegt darin, daß er jammert, protestiert, sich überwältigt zeigt von dem schrecklichen Unglück. Aber von Anfang an bringt Meursaults Gleichgültigkeit die Untersuchungsrichter außer Fassung. Sie können es nur als Gefühlslosigkeit vermerken. Und dann war da die Sache mit der Beerdigung. Warum ließ ihn der Tod seiner Mutter so unberührt? Liebte er sie nicht? Wieder spricht seine Aufrichtigkeit gegen ihn.
"Ich könnte ganz aufrichtig sagen, daß ich meine Mutter gern hatte, aber das würde nicht viel besagen."

Der Amtsrichter ist ein humaner und religiöser Mann, der nur zu froh wäre, wenn er Gründe finden könnte, Meursault freizusprechen, denn "Da ist mehr Freude über einen Sünder, der Buße tut ..." Mit Tränen in den Augen zeigt er Meursault ein Kruzifix und ermahnt ihn, zu bereuen. Aber Meursault blickt ihn nur mit gelindem Erstaunen an. Das hat alles keine Bedeutung. Es ist so gänzlich nebensächlich. Reue, – worüber? Schließlich wird Meursault vor Gericht gestellt. Jetzt müht sich Camus nicht länger, seine Ironie zu verbergen. Meursault, ebenso unschuldig wie Mr. Pickwick, hört den Staatsanwalt mit bewegter Stimme seine Anklage wie folgt zusammenfassen:

Meine Herren Geschworenen, ich möchte, daß Sie sich vergegenwärtigen: Am Tage nach dem Begräbnis seiner Mutter ging dieser Mann zum Baden, begann eine Liebschaft mit einem Mädchen und ging ins Kino zu einem Lustspielfilm. Dem habe ich nichts hinzuzufügen.

Mehr braucht er nicht zu sagen; Meursault wird zum Tode verurteilt. In seiner Zelle besucht ihn der Gefängnisgeistliche, mit weiteren Ermahnungen, zu bereuen. Plötzlich erträgt Meursault das fade Gerede nicht länger; er packt den Pfarrer beim Kragen und läßt seiner Gereiztheit freien Lauf:

"Er sei so verdammt sicher, nicht wahr, aber keine von seinen Gewißheiten sei auch nur eine einzige Haarsträhne wert.

... Nichts, nichts hatte im mindesten Bedeutung, und ich wüßte sehr wohl warum ... Von dem dunklen Horizont meiner Zukunft her hatte etwas wie ein schleichender, aber beharrlicher Hauch mich angeweht ... und auf seinem Wege alle die Begriffe hinweggeblasen, die die Leute mir in den gleichermaßen unwirklichen Jahren, die ich bis dahin durchlebte, beizubringen versucht hatten.

Alle miteinander würden eines Tages verurteilt sein, zu sterben; er würde ebenso drankommen wie die anderen. Und was würde es schon ausmachen, wenn er, nachdem man ihn des Mordes angeklagt hätte, hingerichtet würde, weil er beim Begräbnis seiner Mutter nicht weinte, da ja schließlich alles letzten Endes auf dasselbe herauskäme."
Seine letzten Betrachtungen, beim Einschlafen am Abend vor seiner Hinrichtung, bringen ihm doch so etwas wie Einsicht.

"Dem Tode so nahe, hatte Mama sich sicherlich wie an der Schwelle der Freiheit gefühlt, bereit, noch einmal mit dem Leben zu beginnen ... Und auch ich war bereit, das Leben noch einmal anzufangen. Es war, als hätte dieser mächtige Zornesrausch mich reingewaschen, von aller Hoffnung entleert. Als ich zu dem dunklen Himmel aufblickte ... ließ ich mein Herz offen sein für die gütige Gleichgültigkeit des Weltalls. Es so zu fiihlen wie mich selbst ... ließ mich erkennen, daß ich glücklich gewesen war und es noch war. Damit alles erfüllt werde, damit ich mich weniger einsam fühlen sollte, blieb nur noch eins zu erhoffen: daß am Tage meiner Hinrichtung eine riesige Menge von Zuschauern da sein und daß sie mich mit Schreien der Verfluchung begrüßen würde."

Die letzten Seiten des Romans enthüllen dann das Geheimnis Meursaults; der Grund für seine Gleichgültigkeit ist das Empfinden der Unwirklichkeit des Seins. Sein ganzes Leben hat er mit demselben Gefühl wie Roquentin gelebt: All dies ist unwirklich. Aber dies Gefühl der Unwirklichkeit quält ihn nicht so, wie es etwa die Outsider unseres ersten Kapitels quälte. Er anerkennt das Leben: Sonnenschein, gutes Essen, Mädchen; er anerkennt aber auch das Unwirkliche. Das Schwurgericht schreckt ihn auf "mit dem brutalen Donnerschlag eines 'Halt'" (Wells). Die Aussicht auf den Tod hat ihn zum Erwachen gebracht und damit dieselbe Funktion erfüllt wie Roquentins "Ekel". Sie hat ihn freilich, soweit es ihn selbst betrifft, zu spät aufgeweckt. Aber schließlich hat sie ihm einen Begriff von der Bedeutung der Freiheit gegeben. Freiheit ist Befreiung von der Unwirklichkeit. "Ich war glücklich gewesen und war es immer noch", aber wo liegt der Zweck des Glücklichseins, wenn das Glücksgefühl vor dem Bewußtsein verborgen ist, weil es durch eine dicke Schicht verdeckt wird?

Sartre wird später Meursaults Überlegungen so formulieren: "Freiheit ist Terror". Er bemerkt in seinem "Bund des Schweigens", daß er während des Krieges, als er in der Widerstandsbewegung arbeitete, von Verrat bedroht und in ständiger Lebensgefahr, das stärkste Freiheits- und Lebensgefühl hatte. Offensichtlich ist Freiheit nicht einfach, daß man tun darf, was man will; sie ist Intensität des Willens und kann unter allen möglichen Umständen in Erscheinung treten, die den Menschen einschränken, und so seinen Willen zu stärkerem Leben wecken.

Dem Leser wird die starke Ähnlichkeit zwischen dem Werk von Camus und dem von Franz Kafka unbedingt auffallen. Kafka vermittelt das Gefühl der Unwirklichkeit dadurch, daß er mit Bedacht eine Art Traum-Technik anwendet. In der "Verwandlung" erwacht der Held eines Morgens und findet sich in ein riesiges Insekt verwandelt; im "Prozeß" wird er verhaftet und schließlich hingerichtet, ohne zu wissen, warum. Das Schicksal scheint ihn geschlagen zu haben mit der Frage: Wenn Du glaubst, daß das Leben nicht wirklich ist, was sagst Du dann hierzu? Sein Imperativ scheint zu lauten: Fordere deine Freiheit oder sonst ... Für die Menschen, die versäumen, ihre Freiheit zu fordern, kommt ganz plötzlich die Katastrophe, der Ekel, Verhör und Hinrichtung, das Abgleiten in eine niedrigere Stufe des Lebens. Kafkas "Verwandlung" wäre ein durchaus verständliches Gleichnis für einen tibetanischen Buddhisten.

"Der Fremde" von Camus erinnert uns an einen anderen modernen Autor, der sich mit dem Problem der Freiheit beschäftigt hat, nämlich Ernest Hemingway. Die Parallele, an die "Der Fremde" erinnert, ist die Kurzgeschichte "Soldaten-Zuhaus", aber ein Vergleich der beiden Stücke läßt erkennen, daß Hemingways Gesamtwerk seine Beziehung zu dem Problem des existentialistischen Outsiders hat. So verdient sein Beitrag, hier ausführlich untersucht zu werden.

"Soldaten-Zuhaus" handelt von einem amerikanischen Soldaten, der irgendwann gegen Ende des Jahres 1919 aus dem Krieg zurückgekehrt ist. Krebs war auf einem methodistischen College gewesen, bevor er einrückte; als er in die Heimat zuruckkehrt, muß er feststellen, daß er den Kontakt zu seiner Familie und seinem früheren Ich verloren hat. Niemand will von seinen Erlebnissen im Kriege hören, – auch nichts davon, wie es eigentlich gewesen ist, gar nichts.

"... Die Lügen, die er erzählt hatte, erfüllten ihn mit Ekel vor all dem, was er im Krieg wirklich erlebt hatte. All die Augenblicke, die ihm, wenn er an sie dachte, ein Gefühl von innerer Kühle und Klarheit gegeben hatten. Augenblicke, die so weit zurücklagen, als er leicht und selbstverständlich das einzige, was für einen Mann in Frage kam, getan hatte, wenn er auch etwas anderes hätte tun können, verloren jetzt ihren kühlen, wertvollen Bestand und gingen endlich selbst verloren."

Zu Hause überkommt ihn eine Art Apathie und bewirkt, daß er seine Tage mit Lesen oder Billard-Spielen zubringt. Er hätte wohl gern ein Mädchen, aber er kann seine Apathie nicht soweit überwinden, daß er sich die Mühe machte, eins zu suchen. Eines Morgens spricht ihn seine Mutter beim Frühstück daraufhin an:

"Gott hat für jeden Arbeit", sagte seine Mutter. "In Seinem Königreich darf niemand müßig sein."

Dergleichen ist für den Outsider bekanntlich ohne jeden Sinn. Krebs antwortet ihr:

"Ich bin nicht in Seinem Königreich."

"Wir sind alle in Seinem Königreich."

Krebs fühlte sich unbehaglich und gekränkt wie stets. Seine Mutter fragte ihn nun:

"Ja, hast du deine Mutter nicht lieb, mein Junge?"

"Nein", sagte Krebs.

Seine Mutter sah ihn über den Tisch hinweg an. Ihre Augen glänzten. Sie begann zu weinen.

"Ich habe niemanden lieb", sagte Krebs.

Es hatte keinen Sinn. Er konnte es ihr nicht sagen; er konnte es ihr nicht klar machen. Es war dumm, daß er es gesagt hatte.

"Ich hab‘s doch nicht so gemeint", sagte er. "Ich hatte mich nur grade über was geärgert. Ich hab nicht gemeint, daß ich dich nicht liebhabe."

"Ich bin doch deine Mutter", sagte sie. "Ich hielt dich ganz nah an meinem Herzen, als du ein winziges Baby warst."

Krebs fühlte sich elend und ein bißchen angewidert.

Sie dringt darauf, daß sie gemeinsam niederknieen und beten. Er gibt klein bei, aber er kann nicht beten, als sie es von ihm verlangt.

"Er hatte sich so bemüht, seinem Leben alle Komplikationen fernzuhalten. Eigentlich hatte ihn hiervon auch nichts berührt. Seine Mutter hatte ihm leid getan und ihn zum Lügen gezwungen. Er beabsichtigte, nach Kansas City zu gehen und Arbeit zu suchen."

Die Ähnlichkeit mit Camus‘ Meursault fällt sofort auf. Abgesehen von dem Unterschied, daß die Gemütsverfassung von Krebs das Ergebnis spezifischer Erfahrungen darstellt, während die von Meursault von Natur aus so ist, könnte man die beiden samt ihren Geschichten beinahe miteinander austauschen. Der Unterschied ist dennoch bedeutend. Meursault hat am Vorabend seiner Hinrichtung einen Zustand von innerlicher Klarheit und Kühle erreicht – zu spät. Krebs hat während des Krieges Erfahrungen durchgemacht, die ihm ein Gefühl der Freiheit gegeben hatten. Jetzt, zurück in seiner Heimatstadt, weiß er: diese Art Leben ist nicht Freiheit. Die Zeiten, wo er "das eine tat, das einzige, was einem Mann zu tun bleibt und leicht und natürlich ist", haben ihm einen flüchtigen Begriff gegeben von einem Teil seiner selbst, der sich mit dem Trivialen und Unheroischen nicht zufrieden gibt. Freiheit liegt darin, einen Weg des Handelns zu finden, der diesem Teil seiner selbst Ausdruck gibt.

Das ist das Thema eines großen Teils von Hemingways frühem Schaffen. Die erste Erzählung "Und dennoch geht die Sonne auf" (der Titel ist dem Buche des Predigers Salomo entnommen) hat eine erstickende Atmosphäre des Trivialen und Unheroischen. Jake Barnes, der Held, hat den Krieg mitgemacht, und eine schwere Verletzung der Genitalien hat ihn unfähig gemacht, die geschlechtliche Vereinigung mit einer Frau zu vollziehen. Die Verwundung ist symbolisch für die ganze Tragödie einer nichtverwirklichten Freiheit. Die Frau, die er liebt, muß sich, um zu körperlicher Befriedigung zu kommen, an andere Männer halten. Das Paris der zwanziger Jahre ist ein unnützer Reigen von Trinken und Tanzen, wie die nichtsnutzigen Gestalten aus "Das wüste Land": "Ich sehe Massen sich im Kreise drehn." Hemingway greift für seine Absicht nicht auf die Vergangenheit zurück, nicht auf die Propheten der Bibel oder Dantes "Göttliche Komödie". Er ist viel weniger intellektuell als Eliot. Seine Erinnerungen an das Heroische findet er in der eigenen Vergangenheit, in den Kriegsjahren, im Jagen und Fischen in den Urwäldern von Michigan. Er findet es bei dem Stierkämpfer, der jeden Tag sein Leben wagt. Aber sicherlich würde er mit Sartre übereinstimmen in dem Satze: "Freiheit ist Terror" oder möglicherweise auch: "Freiheit ist Krisis". Jake Barnes reist zum Fischen nach Spanien; er sieht sich die Stierkämpfer an, und trotz seiner unglücklichen Liebesgeschichte ist er nicht allzu unzufrieden mit dem Leben. Wie bei Meursault, so wiegen auch für ihn die Freuden des Essens und Trinkens und der Sonnenschein vieles auf. Hemingways Antwort auf die Anklage von Eliots "Das wüste Land" lautet: "Sucht das Heroische". In "Und dennoch geht die Sonne auf" sagt Jake Barnes: "Keiner lebte je sein Leben recht aus bis auf die Stierkämpfer." Die Wirklichkeit von Hemingways Lebenslauf deckt sich mit dem Bild, das sein Werk im Umriß zeigt. Alles, was er schreibt, hat mehr oder minder unmittelbare Beziehung zu seinem eigenen Erleben. Die frühen Erzählungen ("In unserer Zeit") handeln von seiner Kindheit in den Wäldern von Michigan und von späteren Begebnissen im Kriege. Der Held, Nick Adams, geht fischen, skilaufen oder paddeln, oder er liegt mit einem kleinen Indianermädchen auf einem Teppich von Tannennadeln, und kein Schatten fällt auf seine Welt; er liest Maurice Hewlett, G. K. Chesterton und Mark Twain. Alles ist ihm ein Vergnügen. Der Krieg bringt den Wandel. Als er daraus zurückkehrt, ist der Begriff des Bösen in sein Leben gekommen, die Vorstellung einer fundamentalen Disharmonie, der man nicht durch Sport oder Herumhuren entgehen kann. Hemingway gibt in einigen seiner Erzählungen und Romane unterschiedliche Schilderungen davon, wie der "Fall" geschah. Die Stimme, die diese Stories erzählt, ist durchweg so persönlich, daß wir sie jeweils als Teil einundderselben Geschichte ansehen dürfen. Nick Adams ist verwundet durch einen Granatsplitter. An eine Wand im Unterstand sich stützend, sagt er: "Höre, Rinaldi, hör zu. Du und ich, wir haben unseren Frieden für uns gemacht." Der namenlose Held aus "Eine sehr kurze Geschichte" hat einen Liebeshandel mit einer Krankenschwester vom Lazarett in Padua. Später, als sie ihn betrügt, steckt er sich bei einem Ladenmädchen aus Chikago mit Gonorrhöe an. Jake Barnes wird als impotent dargestellt. Frederick Henry aus "In einem anderen Land" hat das gleiche Verhältnis mit der Krankenschwester, wie es in "Eine sehr kurze Geschichte" gezeichnet wurde, nur daß er sie verliert, als sie im Kindbett stirbt. Nach dem Erscheinen von "In einem anderen Land" im Jahre 1929 bekommen die Arbeiten Hemingways die nihilistische Tönung von Wells‘ Schrift "Der Geist am Ende seiner Möglichkeiten" und hinterlassen das würgende Gefühl, daß das Denken sich gegen sich selbst wendet.

Hemingway fand sich nach dem Krieg etwa in der gleichen Situation wie der Korporal Krebs: die Vergangenheit tot in seinen Händen, die Zukunft vor sich als eine Art "posthumer Existenz". In den frühen Erzählungen versucht er, die Vergangenheit wieder lebendig werden zu lassen. Der Geschichtenkreis um Nick Adams ist gleichsam seine Legende vom Garten Eden. Dann folgt der größte Versuch dieser Art: "In einem anderen Land". Dies Buch ist Hemingways überzeugendste Leistung; mehr als irgendeines zuvor vermag es Wärme von erregendem Reiz mitzuteilen, da es ein Stück temps perdu aufleben läßt. In den folgenden Romanen ist diese Frische der Frühzeit vergangen; sie erscheinen vergleichsweise kalt. "In einem anderen Land" beginnt mit einer meisterlichen Beschwörung des Gefühls der Sinnlosigkeit, der Verwirrung, die den Soldaten im fremden Land überkommt. Beim Trinken, in den Cafés, "wenn der Raum sich um dich drehte und du mußtest auf die Wand starren, damit es aufhörte" und "Nächte im Bett, betrunken, wenn du wußtest, daß das alles war, was es gab, und die sonderbare Erregung, wach zu liegen und nicht zu wissen, wer da mit dir war, und die Welt so ganz unwirklich im Dunkel ..." Und als Frederick Henry seine Liebschaft mit einer Krankenschwester anfängt, geht das alles in drei Stufen vor sich, von ihm aus gesehen:

"Du hast gesagt, du liebst mich, nicht wahr?"

"Ja", log ich, "ich liebe dich." Ich hatte es vordem niemals gesagt.

Er ist in der gleichen Situation wie Meursault und Krebs. Liebe ist unmöglich, sobald da ein Gefühl von Unwirklichkeit überwiegt. Erst später, als er verwundet in Mailand im Lazarett liegt und die Krankenschwester ebenfalls dorthin versetzt wird, erkennt er plötzlich, daß er sie liebt. Die Unwirklichkeit ist vergangen; die Atmosphäre von "Der Fremde" ist hier durch die einer seltsam modernen Version von "Tristan und Isolde" ersetzt. (Hemingway selbst hat es tatsächlich gern als seine Fassung von "Romeo und Julia" bezeichnet.) Es ist ein meisterhaftes Werk, unvergleichlich in seiner Art in der gesamten modernen Literatur. Szene für Szene ist von zupackender Lebendigkeit; der Höhepunkt, Catherines Tod im Kindbett ist ebenso tief ergreifend wie der letzte Akt von "Tristan".

Hemingway hatte jene Erlebnisse festgehalten, die ihm das Gefühl "innerer Kühle und Klarheit" gaben, und der Roman hat die Kraft, im Leser die Empfindung zu wecken, von der Sartre spricht: "Ich bin betroffen: ich fühle meinen Körper ausgeschaltet wie eine Präzisionsmaschine."

Die späteren Stadien in Hemingways Schaffen sind weit weniger überzeugend. Nach dieser großen Beschwörung des Krieges war sein Problem die Frage, wie es nun weitergehen sollte über ein solches Maß von Ernst und Intensität hinaus. Seine verschiedenen Ansätze zur Lösung – Großwildjagd, Tiefseefischerei und später spontaner Aufbruch nach Spanien, gleich zu Beginn des Bürgerkrieges – verraten, daß es ihm nicht gelungen ist, an die Wurzeln des Problems zu kommen. Seine Rezepte für die späteren Bücher scheinen auf die Weise gewonnen zu sein, daß er jene Elemente bevorzugte, denen er den künstlerischen Erfolg seiner früheren Werke zuschrieb, nämlich Realismus, Gewalt, Geschlecht, Krieg, und sie mit Abwandlungen wiederholte. Das, was seinen frühen Büchern ihre einzigartige Atmosphäre gab, die Verbindung einer Art religiöser Verzweiflung mit einer rudimentären Naturmystik, ist verschwunden und durch Wesenszüge ersetzt, wie man sie bei einem halben Dutzend anderer amerikanischer Schriftsteller finden könnte oder in der Tat auch bei Vertretern des "historischen Realismus" in Sowjetrußland.

Trotzdem vermag ein Teil seines späteren Schaffens die Probleme des Outsiders eine Stufe über Meursault und Corporal Krebs hinauszuführen. Für Frederick Henry zerstreut sich das Gefühl von Unwirklichkeit durch die körperlichen Härten des Krieges und dann dadurch, daß er sich in Catherine Barkeley verliebt. (Es ist bemerkenswert, daß Catherine Barkeley schon lange in Henry verliebt war, ehe er merkte, daß er sie liebte; die Frau ist stets mit mehr Instinkt begabt und umso weniger empfänglich für das Abstrakte als der Mann.) Das Gefühl, daß die endgültige Verneinung im Tod Catherines das letzte Wort hat, ist eine reifere Erkenntnis als das Empfinden, daß nichts von Bedeutung sei.

Die nach 1930 geschriebenen Kurzgeschichten enthalten oftmals Sätze, die als Fragmente des Hemingwayschen Credo angesehen werden können; da sind zunächst einmal die Worte Frederick Henrys, als Catherine stirbt:

"Nun würde Catherine also sterben. Und du bist schuld daran. Du würdest sterben. Du wußtest nicht, was das alles bedeuten sollte. Du hattest niemals Zeit zum Lernen ... und am Ende würden sie dich umbringen. Darauf konntest du rechnen. Herumstehen, damit sie dich schließlich umbringen."

Oder der Major aus "In einem anderen Land" (aus der gleichnamigen Kurzgeschichte, nicht dem Roman), dessen Frau gestorben ist, sagt:

"Ein Mann sollte nicht heiraten. Wenn er schon alles verlieren soll, sollte er sich nicht selbst in die Lage bringen, es zu verlieren ... Er sollte sich Dinge suchen, die er nicht verlieren kann."

Oder die Betrachtungen des herzlosen Krüppels aus "Der Spieler, die Nonne und das Radio":

"Religion ist Opium fürs Volk ... Und jetzt ist Nationalökonomie Opium fürs Volk, zusammen mit Patriotismus ... Und der Geschlechtsverkehr? War der Opium fürs Volk? ... Aber Suff war ein allmächtiges Opium fürs Volk, o, ein ausgezeichnetes Opium. Obschon manche das Radio vorziehen, ebenfalls Opium fürs Volk."

Da ist der alte Kellner aus "Ein sauberes, gut beleuchtetes Café", der betet: "Gegrüßet seist du, Nichts, voll des Nichts, das Nichts ist mit dir!" Hier ist die Begegnung mit dem Tod zur Begegnung mit der Sinnlosigkeit des Lebens geworden, eine Begegnung mit dem Nichts. Der einzige Wert, der übrigbleibt, ist der Mut; so etwa bei Santiago in "Der alte Mann und das Meer", wo es heißt: "Ein Mann kann wohl vernichtet, aber nicht besiegt werden." Doch der Wert des Mutes ist zweifelhaft. Der Tod macht ihn zunichte, und das, was Mut einflößt, ist gewöhnlich "Opium fürs Volk".

Es gibt eine vor 1933 geschriebene Kurzgeschichte, die Hemingways "Weltanschauung" in aller Kürze zum Ausdruck bringt. Es ist das verunglückte Stilexperiment "Eine Naturgeschichte der Toten". Er ziticrt eingangs Mungo Parks Argument von "einer Gottheit, die unser Ziel bestimmt", – wenn er etwa vor Durst in der Wüste verschmachtend einer kleinen Moosblume gewahr wird und dabei denkt: "Kann das Wesen, welches ... ein Ding, das von so geringer Bedeutung scheint, hat wachsen, gedeihen und zur Vollkommenheit gelangen lassen, ohne Mitgefühl auf die Lage und das Leiden von Kreaturen hinabblicken, die nach Seinem Bilde geschaffen sind?" Durch diesen Gedanken ermutigt, macht er sich wieder auf den Weg, und bald findet er Wasser. Hemingway fragt: "Kann man irgendeinen Zweig der Naturwissenschaft studieren, ohne 'Glauben, Liebe, Hoffnung, diese drei' zu mehren, deren auch wir, ein jeder von uns, auf unserer Wanderung durch die Wildnis des Lebens bedürfen? Laßt uns deshalb sehen, was wir den Toten an Inspiration abgewinnen können." Die Erzählung wird dann zu einer umständlichen ironischen Wiedergabe von Kriegserfahrungen. Er schildert die Maulesel in Smyrna, die die Beine gebrochen hatten und die man dort in Tümpel stieß, um sie zu ertränken: " – (diese Szenen) schrien nach einem Goya (franz. Maler), der sie darstellte, obgleich man, wörtlich genommen, kaum sagen kann, daß sie nach einem Goya schrien, da es ja nur einen längst verstorbenen Goya gegeben hat und äußerst zweifelhaft ist, ob diese Tiere, falls sie dazu fähig gewesen wären, nach einer bildlichen Darstellung ihrer Notlage geschrien hätten; es ist wahrscheinlicher, daß sie, wenn sie mit Sprache begabt gewesen wären, nach jemandem geschrien hätten, daß er ihre Lage erleichtere." Die Beispiele, die Hemingway für sein "Beobachtungsfeld" auswählt, sind alle grausam und blutig:

"Das erste, was einem an den Toten auffiel, war, daß sie wie Tiere starben, wenn sie schlimm genug getroffen waren. – Ich weiß nicht, aber die meisten Menschen sterben wie Tiere und nicht wie Menschen."

Und wo er vom natürlichen Tod spricht, meint er: "Jetzt möchte ich darum den Tod irgendeines sich selbst als Humanisten bezeichnenden Menschen sehen ... und die erhabenen Abgänge beobachten, die solche Leute darbieten." "Eine Naturgeschichte der Toten" ist Hemingways klarste Darstellung seines existentialistischen Standpunktes, und der Schlüsselsatz, "die meisten Menschen sterben wie Tiere, nicht wie Menschen", ist seine Antwort auf die humanistische These von der Vervollkommnung des Menschen. Er kann nicht an den Gott von Bischof Butler oder an Paleys Argumente glauben, weil all das kümmerlich wirkt der rauhen Wirklichkeit gegenüber.

Die stärkste Annäherung an religiöse Ideale in seinem Schaffen ist der Satz: "Er sollte sich Dinge suchen, die er nicht verlieren kann." Dieser Gedanke wird nicht weitergeführt oder vielmehr, er wird weitergeführt mit einer langwierigen Beweisführung, daß es nichts gibt, was der Mensch nicht verlieren kann. Das soll nicht heißen, daß das Leben ohne Wert sei; im Gegenteil, das Leben ist der einzige Wert: Ideen sind es, die wertlos sind.

Auf den ersten Blick würde Hemingways Beitrag zum Problem des Outsiders durchaus negativ erscheinen. Eine genauere Untersuchung zeigt indessen eine Menge positiver Eigenschaften, wie Ehrlichkeit und intensive Liebe zu allem Natürlichen. Hemingways Frühwerk insbesondere scheint seine "Suche nach der verlorenen Zeit" zu sein, und der Leser wird häufig von einem Rausch der Erregung erfaßt, die Suche führe wirklich irgendwohin. Nach 1930 scheint dies Streben verlorengegangen zu sein, zur Zeit des großen geschäftlichen Erfolges Hemingways, als er ein bekannter Mann geworden war und so etwas wie eine legendäre Gestalt. Der Stoizismus aus "In einem anderen Land" hätte zu etwas führen sollen, aber es war nicht der Fall. Keiner der Romane nach 1929 gibt uns das Gefühl, dem überragenden Künstler Hemingway zu begegnen. Und der Denker Hemingway, der sein Material so weitgehend gesiebt und gesichtet hatte, um daraus ein Glaubensschema zu schaffen, ist fast ganz verschwunden.

Vielleicht sollte man Hemingways Empfänglichkeit für den Erfolg nicht ganz verwerfen. Das Problem ist schwierig genug. Mit dem ganzen Buch "Sein und Nichts" sagt Sartre kaum mehr als Hemingway in "In einem anderen Land". So ist es Sartre mitsamt seinem intellektuellen Rüstzeug nicht gelungen, zu einem überzeugenden positiven Standpunkt zu kommen. Seine Philosophie des "Ausgesetztseins", die lediglich besagt, daß es, da alle Wege nirgendwohin führen, genau so gut wäre, irgendeinen von ihnen zu wählen und alle seine Energie darauf zu werfen, wurde bei Hemingway vorweggenommen in Henrys Entdeckung, daß das Gefühl der Unwirklichkeit schwindet, sobald er in den Kampf kommt.

Im Vergleich zu Sartre ist weder Hemingway noch Camus ein gründlicher Denker. Camus verbreitet sich im "Mythos von Sisyphus" weitschweifig über die Schlußfolgerungen der letzten Seiten von "Der Fremde" und stellt nun fest, man komme der Freiheit am nächsten angesichts des Todes: ein Selbstmörder oder zum Tode Verurteilter vermag das zu erkennen; für den lebenden, handelnden Menschen ist es fast eine Unmöglichkeit. In dem späteren Buch "Der Mensch im Aufruhr" untersucht er den Fall der Auflehnung gegen die Gesellschaft bei Männern wie de Sade oder Byron und danach den Versuch verschiedener soziologischer Ideologien, das Wunschbild des Rebellen von der Freiheit zu verwirklichen. Es ist unmöglich, von "Der Fremde" und dem "Mythos von Sisyphus" zu einer annehmbaren soziologischen Antwort auf das Problem der menschlichen Freiheit zu kommen; und Camus sieht sich am Ende von "Der Mensch im Aufruhr" unmittelbar dieser Schlußfolgerung gegenüber. In dieser Sache kam es zu einem scharfen Zusammenstoß mit Sartre, dessen Theorie des "Ausgesetztseins" oder des "Engagement" ihn dazu gebracht hatte, sich mit einem gemäßigten Kommunismus einzulassen; danach gingen Sartre und Camus, einst Gefährten im Existentialismus, getrennte Wege.

Hemingway hat niemals regelrecht an eine soziale Antwort gedacht oder überhaupt an eine Antwort mit Ausnahme der seiner halbstoischen Philosophie. Das ist der beharrlichste Vorwurf marxistischer Kritiker gegen ihn.

Unsere vorausgehenden Erwägungen haben jedoch klargemacht, daß die Frage der Freiheit nicht ein soziales Problem ist. Es mag möglich sein, Barbusses Qutsider als Fall von mangelnder sozialer Einordnung auszuklammern und Wells‘ Schrift als einen Fall für den Psychiater abzutun. Das Problem von "Der Ekel" aber ist unangreifbar, es sei denn mittels metaphysischer Begriffe; und Camus wie Hemingway neigen dazu, in eine dem Religiösen sehr nahe Ausdrucksweise zu verfallen. Das ist ein Punkt, auf den ich später in diesem Kapitel zurückkommen muß, nach weiterer Betrachtung unserer Begriffe: Freiheit und Unwirklichkeit.

Freiheit setzt den freien Willen als Tatsache; das ist selbstverständlich. Aber der Wille kann erst handeln, wenn ein Motiv da ist. Ohne Motiv kein Wollen. Doch das Motiv ist eine Sache des Glaubens; man würde kaum etwas tun wollen, ohne daß man es für möglich und sinnvoll hielte. Und Glauben muß Glauben an die Existenz von irgend etwas sein; das heißt, er hat es mit dem zu tun, was wirklich ist. So hängt letztlich die Freiheit von der Wirklichkeit ab. Des Outsiders Sinn für Unwirklichkeit schneidet ihm die Freiheit an der Wurzel ab. Es ist ebenso unmöglich, die Freiheit zu verwirklichen in einer unwirklichen Welt, wie es unmöglich ist, zu springen, wenn man fällt.

Um nun den Standpunkt, welchen Camus und Hemingway im Hinblick auf die menschliche Freiheit begründet haben, weiter zu fassen, muß man sich einem wenig beachteten Stück aus den zwanziger Jahren zuwenden, Harley Granville-Barkers "Das geheime Leben".

Ein Zitat aus George Sampsons "Abriß der englischen Literaturgeschichte" mag dessen Bedeutung in diesem Zusammenhang klar machen.

"('Das geheime Leben') ist ein rätselhaftes, verwirrendes Nachkriegsstück, das uns die intellektuelle Welt auf geistigen Nihilismus reduziert zeigt. Es hat keinen rechten Angelpunkt von dramatischem Interesse. Die Personen kommen und gehen, und was 'Liebesdinge' anbelangt, so scheint alles durchaus willkürlich. Der Dialog gibt sich zuweilen herkömmlich dramatisch, zuweilen philosophisch dunkel, wie wenn die Sprecher keinen anderen Zweck hätten, als Rätsel aufzugeben, auf die es keine Antwort geben kann. Vielleicht in keinem anderen Buch findet sich eine so vollständige Offenbarung des durch den Krieg hervorgerufenen geistigen Bankrotts."

Den Hintergrund des Stückes bildet die Nachkriegspolitik der liberalen Partei. Das Interesse konzentriert sich auf zwei Hauptfiguren, Evan Strowde, Expolitiker mittleren Alters und Oliver Gauntlett, seinen unehelichen Sohn, der aus dem Krieg mit einem Arm weniger zurückgekehrt ist. Welche Tendenz das Stück hat, kann leicht dargelegt werden. Vor dem Krieg war Strowde Politiker gewesen. Er hatte sich mit dem Parteiführer überworfen und daher zurückgezogen. Nun wünscht die Partei, er käme wieder.
Oliver Gauntlett ist durch den Krieg zum Invaliden geworden, er ist in die City gegangen und hat eine Geschäftskarriere begonnen. Als er auf einem Anarchistentreffen verhaftet wird, ist er froh, den Skandal zum Vorwand für seine Flucht aus der Sinnlosigkeit der City zu nehmen. Evan Strowde nun gibt ihm die meisten Rätsel auf.

(Zunächst weiß er noch nicht, daß Strowde sein Vater ist.) Strowdes starker Intellekt und große Willenskraft hätten ihm auf irgendeinem Gebiet Erfolg bringen müssen. Oliver möchte wissen, warum er versagt hat.

Das Stück beginnt mit einer seltsamen Szene an Strowdes Haus am Meer; Strowde und eine Gruppe alter Schulfreunde haben sich zusammengefunden, um "Tristan und Isolde" am Klavier aufzuführen, wobei sie die einzelnen Partien selbst singen. Nach der Aufführung sprechen sie von Erinnerungen an ihre Jugendtage, und Salomons legt sein Glaubensbekenntnis als praktischer Politiker ab:

Salomons: "Laß dich nie zu Kreuzzügen hinreißen, die du nicht finanzieren kannst ... Laß nie auch nur für einen Augenblick dich von Kunst und Religion und Patriotismus überreden, du wolltest mehr, als du tatsächlich willst. Schlage dich zu Jerusalem, wenn es daran geht, die Propheten zu steinigen. Ich muß fort."
Eleanor: "Ehe du eine Antwort gegeben hast?"

Salomons: "Antworten sind Echos."

Joan Westbury, mit der Strowde einmal lange vor dem Krieg ein Liebesverhältnis hatte und die für ihn die klarste Vorstellung von Gewißheit verkörpert, die er jemals erreicht hat, lehnt am Geländer der Veranda und betrachtet den Mond:

Joan: "Ich muß nun zum Mond beten ... ein ausgebranntes Wesen zum andern, daß es mich lehrt, meinen Lebenslauf in die rechte Bahn zu bringen."

Sie hat ihre beiden Söhne im Krieg verloren. Und vor nicht langer Zeit ist dazu noch ihr Haus abgebrannt. Sie lehnt da und starrt den Mond an, während die Gäste gehen; von drinnen kommen abgerissene Klänge aus dem zweiten Akt von Tristan – das Liebesduett. So fällt der Vorhang über der ersten Szene.

Der Umstand, daß das Stück keinen "klaren Angelpunkt von dramatischem Interesse" hat, macht eine Zusammenfassung schwierig. Gewisse Unterhaltungen heben sich als wichtig für die Exposition heraus. Da ist die ausgedehnte Szene zwischen Strowde und Joan, als Srrowdes Schwester Eleanor in London ist und sie den Tag miteinander verbracht haben. Sie knüpfen wieder an ihre alte Liebesromanze an, und Joan gesteht, daß sie Strowde noch immer liebt; trotzdem beharrt sie bei ihrer Ansicht, daß sie recht daran taten, sich zu trennen, anstatt zu heiraten. Sie wäre nicht imstande gewesen, ganz ihrer Liebe zu Strowde zu leben; es hätte sie getötet. Jetzt richtet sie an ihn die Frage, die auch Oliver verwirrt: Warum ist er kein Mann des Erfolgs? Warum hat nicht er die Macht in der Hand, statt dieser ungeschickten, wohimeinenden Politiker? Seine Antwort ist die Quintessenz des Stückes:

Strowde: "Bewahre mich vor der Illusion der Macht! Ich habe einmal – und ich danke dir dafür – den flüchtigen Schimmer einer Macht erblickt, die in mir ist. Aber das würde keinem Anspruch genügen."

Joan: "Nicht einmal dem Anspruch einer guten Sache?"

Strowde (als ob er die Versuchung der Unwirklichkeit von sich abschüttelt): "Ausgezeichnete Beweggründe gibt es im Überfluß. Sie werden vorgebracht – so wie sie sind – von irgendwelchen eminenten Laffen, die damit großartig paradieren, oder auch von kleinen Geistern, die darauf lauern, was als nächstes passiert ... Alles Suchen nach ihrer eigentlichen Stärke, einer, die weder erborgt und erkauft ist, muß aus dem geheimen Leben erwachsen."

Er spottet über Joans Meinung, daß es vielleicht besser gewesen wäre, wenn sie einander nie begegnet wären:

Strowde: "Nein, das ist Blasphemie. Zumindest laß dich nicht ein mit dem ungläubigen Mob, der da schreit: Tu etwas, irgend etwas, ganz gleich was ... alles geht gut, so lange die Räder sich drehen – solange irgend etwas getan wird."

Joan (mit... Ironie): "Aber es heißt doch: Suche zuerst nach dem Reiche Gottes, und das Verlangen nach anderen Dingen wird von dir genommen werden?"
Strowde (sehr schlicht): Es ist von mir genommen worden. Ich beklage es nicht und ich mache auch keine Tugend daraus. Ich bin nicht der erste, der Überzeugungen gewonnen hat, die er nicht einfach in seine Tasche stecken kann wie Wechselgeld. Aber soll ich sie wegen alledem verleugnen?"

Dieser Abschnitt zeigt Strowdes Verwandtschaft mit den anderen Outsiders, die wir bisher betrachtet haben. Da ist der "Schimmer von Macht", von Kontakt mit einem Teil der Wirklichkeit, das Gewahrwerden eines neuen Bereiches des eigenen Bewußtseins, das sich in einer Zeit emotionaler Belastung entwickelt hat (wie bei Corporal Krebs und dem Helden bei Camus). Da ist die beständige Suche nach dem Motiv, das Analysieren der Mitmenschen und der eigenen Triebkraft (z. B.: Politiker sind "kleine Geister" usw.; bei Roquentin: Dreckskerle). In einem Abschnitt spricht er sogar in der Tonart von Wells‘ Schrift:

Joan: "Evan – raff dich auf aus dieser Hoffnungslosigkeit des Unglaubens."

Strowde (grimmig): "Wenn der Esel am Ende seiner Möglichkeiten ist und seinen Fleck kahlgefressen hat, dann muß er Luftsprünge machen und Staub aufwirbeln, nicht wahr?"

Das Motiv hat hier ausgespielt. Der Outsider hat den Lichtblick einer höheren Art von Wirklichkeit erhascht, als er sie bisher kannte. In der Folge kommt ihm dieser schwache Schimmer abhanden, und er muß sich mit dem Nächstbesten abfinden. Aber das Wissen um das "absolut Beste" bleibt. Joan gibt zu, daß sie die Ehe mit einem Beamten und das "Hausfrauendasein in abgelegenen Ecken der Welt" hinnahm, weil ein Leben auf dem höchsterreichbaren Niveau sie überfordert hätte. Strowde hat das Streben nach dem absolut Besten noch nicht aufgegeben, aber dann vorgezogen, nichts zu tun, da dies ihm außer Reichweite zu liegen schien.

Gegen Schluß der Szene, als Eleanor mit der Nachricht zurückkehrt, daß Joans Mann einem Herzanfall erlegen ist, tritt die innere Verflochtenheit des Ganzen deutlich zutage. Joan hat für sich das Nächstbeste gewählt; nun hat sie selbst das verloren.

Im zweiten Akt entschließt sich Strowde, zur Politik zurückzukehren. Oliver möchte die Stelle seines Sekretärs haben, und als Strowde das ablehnt, wendet er sich unwillkürlich der Frau zu, die sie beide lieben, Joan Westbury. Da gibt es eine wichtige Szene zwischen Oliver und Joan. Er legt ihr die Gründe dar, warum er so engen Kontakt mit Strowde sucht. Er möchte wissen, warum Strowde versagt hat. Joan betont, daß man kaum von einem Versagen Strowdes als Politiker sprechen könne; aber Oliver hat nicht diese Art Erfolg gemeint:

Oliver: "Nichts ist leichter, nicht wahr, als diese Art Erfolg zu haben, wenn es dich danach verlangt ... Aber Evan war darauf aus, hinter alle Schliche zu kommen, zum Herzen der Dinge vorzudringen ... Ist dieses Herz der Dinge vielleicht ein totes Ding, und keiner wagt es zu sagen, wenn er das herausgefunden hat?"
Oliver hat ein Symbol für diesen Zustand moralischer Leere:

"Ein Granatsplitter streifte mich an der Jacke und traf meine Uhr. Ich konnte sie schütteln, und sie tickte dann eine Weile, aber die Feder war hin. Mir ist der Gedanke gekommen, daß ich wohl nicht viel älter werden soll, und wenn ich sterben werde, dann wird das wie eine sonderbare, unzeitgemäße Katastrophe sein."

Das ist Keats "posthume Existenz" aus seinem letzten Brief an Brown. Olivers Lösung dieser Frage heißt einfach: Vernichtung.

Oliver: "Bewahre mich vor den langweiligen Leuten mit ihrem "Nie wieder Krieg". Was wir wollen, ist ein richtiger Krieg."

Joan: "Und wo steht der Feind?"

Oliver: "Wenn ich wüßte wo, dann würde ich nicht hilflos hier herumsitzen. Aber wir werden so leicht übers Ohr gehauen."

Trotzdem haben gewisse Begriffe immer noch Wert für ihn: Mut und Disziplin. Als Joan ihn fragt: "Sage mir, wie man Leute kaltblütig hassen kann, – ich glaube nicht, daß ich es weiß."

Oliver: "Nun, du kannst doch nicht den Mob lieben aus purer Güte. Denn das hieße doch, einer von ihnen sein, schwatzen und schelten und schnüffeln und Hurra schreien, voller Katzenjammer, wenn du das magst. Ich habe gelernt, soweit Soldat zu sein, daß ich den Mob hasse. Im Himmel herrscht Disziplin ..."

Oliver wie Strowde sind beide von einer an Pascal erinnernden Art Weltverachtung besessen, einer Einsicht in "das Elend des Menschen ohne Gott". Aber für jeden von ihnen würde es einen Irrweg bedeuten, Gott anzuerkennen; der Existentialist muß seine Lösung sehen und greifen können, nicht sie nur anerkennen.

Strowdes Problem ist nicht dramatisch; es kann keine stärkere Gemütsbewegung hervorrufen oder "gutes Theater" abgeben. Und nach der vollen Entfaltung des Problems in diesen beiden gewichtigen Dialogen hat Granville-Barker nicht viel mehr zu tun, als weitere Situationen zu ersinnen, die Oliver und Strowde in ihren Charakteren als Welt-Verächter zeigen sollen. Strowde beginnt einen Wahlfeldzug mit Oliver als seinem Sekretär; mittlerweile liegt Joan Westbury in Amerika im Sterben. Für Strowde bleibt nur noch eins: die Politik über Bord zu werfen und sich nach Amerika einzuschiffen, der Sinnlosigkeit zu widersagen und sich dem Symbol seines Sinnbegriffes zuzuwenden. Er verläßt London am Vorabend der Wahl. Aber Joan Westbury ist tot, noch ehe er bis Southampton kommt. Der Leser bleibt angesichts all dessen einem sonderbaren Gefühl des "in-der-Luft-Hängens" überlassen. Es gibt kein Happy End, keine dramatische Verknüpfung der einzelnen Fäden.

Die letzte Szene des Stückes ist hie und da ein Echo der ersten. Als Strowde gegangen ist, spricht Oliver mit dem millionenschweren Geschäftsmann Lord Clumbermere. Clumbermere ist wiederum ein Symbol für den materiellen Erfolg, wie Salomons. Aber seine Philosophie ist nicht so brutal; er ist ein unklarer, ziemlich schüchterner Idealist und dabei doch ein außerordentlich erfolgreicher Geschäftsmann:

Clumbermere: "Sie denken, Sie seien so durchaus für Wahrheit und Gerechtigkeit. Gut, kommen Sie doch und übernehmen Sie die Leitung meiner Schreibfederfabrik, und sehen Sie zu, ob es so ist."

Oliver: "Wenn ich Ihre Fabrik leiten sollte, dann würde ich für die Schreibfedern da sein, ganz und gar, und für nichts anderes."

Clumbermere: "Dann würden Sie mir wenig nützen. Wenn wir eine gute goldene Spitze haben wollen, dann gehört Religion dazu ..."

Oliver: "Aber sind Sie denn ein Teufel, Mylord, daß Sie die Seelen der Menschen in Schreibfederspitzen einhämmern wollen?"

Clumbermere: "Ich hoffe nicht, Mr. Gauntlett, aber wenn ich einer bin, dann zeigen Sie mir bitte den Weg aus diesem Schlamassel ..."

Späterhin haben Oliver und das amerikanische Mädchen Susan eine Auseinandersetzung darüber, ob sie Strowde auf die Nachricht hin, daß Joan tot ist, zurückrufen sollen. Oliver gibt schließlich widerwillig nach. Und als Susan ihm sagt, er wisse nicht, was er wolle, meint er zusammenfassend:

Oliver: Da gibt es noch ein ärgeres Unglück bei den meisten von uns, Susan. Was wir wollen, das zählt nicht. Wir wollen Geld und wir wollen Frieden... und wir wollen unseren eigenen Weg. Einige von uns möchten schön aussehen und andere möchten gern gut sein. Und Clumbermere wird reich, ohne zu wissen warum... und wir Staatsmänner zerbrechen uns den Kopf über die beste Art, ihm die Taschen auszuräumen. Und du möchtest, daß Evan zurückkommt, mitten in all das hinein.

Susan: "Er gehört hierher."

Oliver: "Wenn er zurückkommen würde, er oder ein anderer, und kurzen Prozeß machte mit der ganzen Bande ohne Leben, die wir hier sind ..."

Susan: "Warum hat Joan ihn nicht geheiratet? So hätten sie wenigstens ein bißchen Glück gehabt, und das wäre eine Hilfe gewesen."

Oliver (mit letzter Kraft): "Warum bringt das Leben keine schöneren Muster und Happy-Ends zustande? Warum ist nicht alles so beschaffen, daß es sich leicht verstehen läßt?"

Susan: "Mach dich nicht mehr über mich lustig, Oliver."

Oliver: "Entschuldige bitte. Ich tue es nur, weil ich Angst vor dir habe."
Und die Schlußkadenz des Stückes ist kein wirkliches Ende:

Susan: "Möchtest du dich nicht auferwecken lassen von den Toten?"

Oliver: "Nein, wahrhaftig nicht."

Susan: "Du wirst es aber müssen, irgendwie."

Oliver: "Wunderst du dich noch, daß ich vor dir Angst habe, Susan?" (Er geht hinaus).

Da ist kein Ausblick auf irgend jemanden, der "vom Tode erstanden" wäre, denn das hieße neue Motive, neue Hoffnungen und einen neuen Glauben entfalten.
Früher in diesem Kapitel habe ich die Wendung "dem Religiösen angenäherte Terminologie" gebraucht, und es ist jetzt an der Zeit, sie zu erklären. Zu Beginn des dritten Aktes bittet Strowde Oliver, ein Zitat für ihn nachzuprüfen:

Strowde: "Hol mir die Bibel her, bitte. Ich möchte nachschlagen ... Ich glaube es steht in Könige, Kapitel 19 ..."

Oliver: "Wie heißt der Spruch?"

Strowde: "'So nimm nun, Herr, mein Leben hin, denn ich bin nicht besser als meine Väter.' – Sehr modern und fortschrittlich und illusionslos von Elia! Warum auch sollte er erwarten, es zu sein."

Aber das ist der eigentliche Punkt. Strowde hofft ja, daß er es ist, und Oliver hofft, daß er es ist ... und beide sind es nicht. In allen Outsidern lebt ein Verlangen nach "Fortschritt"; und doch, wie Strowde nur zu gut weiß, nicht in erster Linie nach sozialem Fortschritt. "Nicht besser als seine Väter", – das heißt, nicht klüger als seine Väter, nicht weniger nutzlos, ein Sklave derselben Schwächen, der gleichen Bedürfnisse. Der Mensch ist heutzutage nicht weniger ein Sklave seiner unmittelbaren Umgebung wie seinerzeit, als er noch in Blockhütten lebte. Man mag ihm die höchsten, erregendsten Gedanken über die Stellung des Menschen im Universum mitteilen, oder über den Sinn der Geschichte, – das alles kann in einem Augenblick wie weggeblasen sein, wenn er sein Essen will oder sich durch das Schreien eines Kindes im Autobus irritiert fühlt. Er ist an das Kleinliche gebunden. Strowde und Oliver empfinden das beide sehr genau, sie sind jedoch nicht stark genug, um etwas dagegen zu tun. Menschliche Schwäche also. Als Joan Strowde sagt, sie könne ihn nicht heiraten (gegen Ende des 2. Aktes), murmelt Strowde, alleingelassen: "Barmherziger Gott ... der Du die Menschen leiden machst, ohne daß sie es verstehen ..." Aber er betet nicht zu Gott, er wundert sich nur über den Schmerz, den er fühlt, über seine Verletzlichkeit, die menschliche Schwäche. Auch Hemingways Frühwerk, bis hin zu der Kurzgeschichte von dem Major, dessen Frau starb, ist gleichsam eine ausgedehnte Meditation über die Verletzlichkeit. Und die Betrachtung menschlicher Verletzlichkeit führt immer zu "religiösem Denken", wie Hemingway es ausdrückt. "Er muß Dinge finden, die er nicht verlieren kann", zur Entwicklung einer Ethik des Verzichtes und der Disziplin. Es führt zu der Erkenntnis, daß der Mensch kein beständiges, unveränderliches Wesen ist: an einem Tag ist er diese Person, am nächsten Tag eine andere. Er vergißt leicht, lebt im Augenblick, zeigt selten Willenskraft und gibt, selbst wenn er es tut, sein Bemühen schon nach kurzer Zeit auf, oder er vergißt sein ursprüngliches Ziel und wendet sich etwas anderem zu. Es ist kein Wunder, daß Dichter solche Verzweiflung fühlen, wenn sie den Lichtblick eines intensiveren Bewußtseinszustandes erhascht zu haben scheinen und doch mit absoluter Sicherheit wissen, daß nichts, was immer sie tun mögen, ihn festhalten kann. Und dieses Thema, das im Werk von Sartre, Camus und Hemingway steckt und noch deutlicher zutage tritt bei Autoren wie T. S. Eliot und Aldous Huxley, führt zu der Frage: "Wie kann der Mensch stärker werden? Wie vermag er weniger Sklave der Umstände zu sein?" (Huxleys Werk ist auf irritierende Weise ohne Überzeugungskraft geblieben, weil er anscheinend bei allen seinen Romanen als gegeben ansieht, es könne in dieser Hinsicht absolut nichts getan werden.)

Das ist eine Frage, die wir hier noch nicht recht untersuchen können. Zunächst ist es wichtig für uns, mehr von dem Zugang des "Dichters" zu diesen Dingen, vom "romantischen" Weg zu erfahren und zu sehen, wie weit dieser entwickelt werden kann, um über die eigenen Schranken hinauszudringen. Es dürfte sich dabei einiges an Beobachtungen ergeben, was es leichter macht, den "Versuch der Daseinsbewältigung" zu analysieren.

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