Auszüge aus Manfred Spitzer's
"Lernen – Die Entdeckung des Selbstverständlichen"

Ein Vortrag von Manfred Spitzer

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Einleitung

"Das Gehirn kann nicht anders als lernen. Das macht ihm die allergrößte Freude."

Aber leider muß Manfred Spitzer seine These sogleich einschränken: "Außer man versetzt es ins Koma, macht ihm Angst oder setzt es unter zu starken Druck."
Worin unterscheidet sich ein Lernen, das auf Angst, Aversion und Drohungen beruht, von einem Lernen, das Kindern, Jugendlichen und auch Erwachsenen Vorfreude auf sich selbst verschafft? Darüber klärt Manfred Spitzer in seinem auf der DVD dokumentierten Vortrag auf. Er erklärt, was Lernen ist, er macht anschaulich, wie das Gehirn arbeitet, und er zeigt, welche Art zu lernen unserem Königsorgan nicht angemessen ist.

Spitzer ist sich nicht zu schade, auch schwierige Zusammenhänge verständlich zu machen. Diese in Deutschland nicht von allen geachtete Kunst hat er nicht zuletzt in Harvard gelernt. Dort war er zweimal Gastprofessor. Dort konnte er erleben, daß es der Ehrgeiz von Nobelpreisträgern ist, Vorlesungen für Anfänger so zu halten, daß sie kein Student als Einladung in seine Wissenschaft vergessen wird. Im Sinne dieses ehrgeizigen Ziels sind die DVD und das Buch ein Einstieg für Anfänger in die Lerntheorie, in die Neurobiologie und in die Hirnforschung. Immer wieder Anfänger zu werden, auf immer höherem Niveau, das ist die Tugend der Lernenden.

"Jedes Gehirn ist das Protokoll seiner Benutzung." So lautet Spitzers übergreifende These. Wir agieren aus unserer Geschichte. Aber wir können unsere Zukunft bestimmen – auf der Basis dessen, was wir bisher geworden sind. Auch das ist Lernen. Wache Gegenwart ist ein Zustand, in dem Lernen und Selbstbestimmung besser gelingen. Aber warum wird dann Kindern immer noch so häufig mit der Zukunft und dem "späteren Leben" gedroht, statt sie jetzt ins Leben und zum Lernen einzuladen? Solche Drohungen bedrücken. Zukunft entspringt der Freiheit einer wachen Gegenwart.

In Deutschland glauben viele Menschen noch daran, der Schmerz sei ein guter Pate für nachhaltiges Lernen. Spitzer klärt auf: "Sie können mit Schmerz und Druck ganz schnell lernen. Sie legen nur ein einziges Mal die Hand auf die heiße Herdplatte und machen das nie wieder. Aber aversiv, mit Strafen, durch Wehtun und Schmerzen lernen sie nur, was sie nicht tun sollen. Sie lernen nicht, wo es lang geht. Sie lernen nicht, ihre Wege selbst zu finden. Das geht nur positiv. Wenn wir kreatives Problemlösen wollen, dann brauchen wir heute eine positive Lernumgebung in den Schulen."

Als Spitzer vor einiger Zeit nach Schwäbisch Gmünd zu einem Vortrag eingeladen wurde, bemühten sich 7000 Menschen um Karten. Anschließend kam der Hirn- und Lernforscher noch mehrmals in die schwäbische Stadt und jedes Mal war die Stadthalle zu klein und er war sich nicht zu groß für diesen Auftritt. Der Schwäbisch-Gmünd-Vortrag wurde mit mehreren Kameras aufgenommen und ist nun auf DVD dokumentiert.

Lernen: Medizin für die Schule. Ein Extrakt

Das Gehirn wiegt etwa zwei Prozent des Körpergewichts, verbraucht jedoch mehr als 20 Prozent der Energie, die wir mit der Nahrung aufnehmen. Wir leisten uns diesen Luxus, denn wie die Flügel des Albatros und die Flossen des Wals an die Eigenschaften von Luft und Wasser optimal angepaßt sind, wurde auch das Gehirn durch die Evolution für das Lernen optimiert. Wer lernt, kann in Zukunft besser auf die Welt reagieren bzw. sich in ihr verhalten.

Das Lernen zu verstehen heißt, das Gehirn zu verstehen. Es bedarf kaum der Erwähnung, daß die Gehirnforschung erst am Anfang steht. Dennoch hat sie bereits wichtige Prinzipien entdeckt. Und da gerade für Deutschland gilt, daß die wichtigste Ressource zur Bewältigung der Zukunft die Gehirne der heranwachsenden Generation sind, können wir es uns nicht leisten, die Ergebnisse der Gehirnforschung nicht zur Kenntnis zu nehmen. Dieses Argument sei anhand einiger Thesen und Beispiele näher erläutert.

Das Gehirn lernt immer

Das Gehirn lernt nicht nebenbei, sondern es kann nichts besser und tut nichts lieber! Dies zeigt jeder Säugling; wir hatten noch keine Chance, es ihnen abzugewöhnen. Zweijährige versuchen aktiv ihre Umgebung zu begreifen, führen kleine Tests durch und prüfen – ganz ähnlich wie Wissenschaftler – Hypothesen. Dreijährige lernen alle 90 Minuten ein neues Wort, und mit fünf Jahren beherrschen Kinder nicht nur tausende von Wörtern, sondern vor allem auch deren Gebrauch, das heißt die komplizierte Grammatik der Muttersprache. Nach dem Spracherwerb geht es dann erst richtig los: Schule, Lehre oder Universität, und vor allem lebenslange Weiterbildung (Spitzer 2003a).

Die Prinzipien und Mechanismen des Lernens sind vielfältig. Wer sie kennt, lernt besser. Ein Trainer, der etwas von Herz und Kreislauf, von Muskeln und Bändern versteht, wird den Sportler besser fit machen können als ein Ignorant. Gewiß, gute Ratschläge und viel Erfahrung gibt es auch ohne Wissenschaft. Nur durch Wissenschaft wird jedoch aus Meinungen und subjektiven Erfahrungen gesichertes Wissen. Lernen ist nun schlechthin der Gegenstand der Gehirnforschung; daher wird ein Lehrer, der weiß, wie das Gehirn funktioniert, besser lehren können.

Von Beispielen zu Regeln

Im Vorschulalter wissen Kinder bereits, daß die Verben, die auf "-ieren" enden, das Partizip Perfekt ohne "ge" bilden. Sie erzählen, daß sie gestern gelaufen sind, aber nicht durch den Wald ge-spaziert (sondern nur spaziert), und was sie vorgestern nur verloren (und nicht ge-verloren) haben, das haben sie stolz gestern wieder gefunden. Man könnte meinen, daß die Kinder die richtigen Partizipien wie auch die Infinitive und alles andere einfach "aufgeschnappt", also auswendiggelernt, haben. Dem ist jedoch nicht so. Erzählt man ihnen die Geschichte von den Zwergen, die am Abend quangen, und sich am nächsten Morgen daran erinnern, dann sagt der Zwerg, gestern haben wir wieder einmal so richtig schön gequangt. Und wenn die Zwerge am Abend patieren, dann sagt der Zwerg, man habe gestern so richtig schön – patiert (ohne "ge"). Auf diese Weise, also dadurch, daß man Kinder mit Wörtern grammatisch hantieren läßt, die es gar nicht gibt, kann man nachweisen, daß sie tatsächlich eine Regel gelernt haben und nicht lediglich viele Beispiele. Diese Regel jedoch hat ihnen niemand beigebracht. Sie haben sie selbst generiert. Gehirne besitzen diese Fähigkeit zum spontanen Generieren von Regeln aufgrund von Beispielen (Spitzer 2002a). Alles, was es hierzu braucht, sind die richtigen Beispiele, und zwar möglichst viele davon.

Mechanismen für Einzelnes und Allgemeines

Wir merken uns auch Einzelnes, also zum Beispiel Menschen und Orte. Der für Einzelheiten wichtigste Teil des Gehirns ist der Hippokampus, eine relativ kleine Struktur tief im Gehirn. Nervenzellen im Hippokampus lernen wichtige und neue Einzelheiten sehr schnell. Der 11. September 2001 ist den meisten von uns sehr gut im Gedächtnis: Wo genau waren Sie, als Sie davon das erste Mal hörten? Wer war noch bei Ihnen? Mit wem haben Sie als Erstes darüber gesprochen? – Wahrscheinlich können Sie diese Fragen leicht beantworten, wohingegen der Nachmittag des 11. Septembers des vergangenen Jahres, obwohl noch nicht so lange her, für immer im Nebel Ihrer nicht mehr erinnerbaren Vergangenheit verschwunden ist. Der Hippokampus speichert Einzelheiten dann, wenn sie zwei Qualitäten aufweisen: Neuigkeit und Bedeutsamkeit. Wichtige Neuigkeiten hören wir einmal, und schon haben wir sie uns gemerkt (Spitzer 2003b).

Im Gegensatz zum (kleinen) Hippokampus ist die (große) Großhirnrinde eine Regelextraktionsmaschine. Beim Lernen verändern sich die Verbindungen zwischen ihren Neuronen jeweils nur ein klein wenig. Daher vergehen die meisten unserer Eindrücke, ohne einzeln hängen zu bleiben. Und das ist auch gut so! Sie haben sicherlich in Ihrem Leben schon Tausende von Tomaten gesehen bzw. gegessen, können sich jedoch keineswegs an jede einzelne Tomate erinnern. Warum sollten Sie auch? Ihr Gehirn wäre voller Tomaten! Diese wären zudem völlig nutzlos, denn wenn Sie der nächsten Tomate begegnen, dann nützt Ihnen nur das, was Sie über Tomaten im Allgemeinen wissen, um mit dieser Tomate richtig umzugehen. Man kann sie essen, sie schmecken gut, man kann sie zu Ketchup verarbeiten, werfen etc. – All dies wissen Sie, gerade weil Sie schon sehr vielen Tomaten begegnet sind, von denen nichts hängen blieb als deren allgemeine Eigenschaften bzw. Strukturmerkmale.

Wenn in der Schule etwas gelernt wird, was später im Leben wirklich angewendet wird, dann ist es meist von allgemeiner Struktur: Einzelne Fakten – der höchste Berg von Grönland, das Bruttosozialprodukt von Nigeria, das Geburtsdatum von Mozart oder der Zitronensäurezyklus – sind dagegen für das Leben nur bedingt nützlich. Dieser Gedanke liegt letztlich dem gegenwärtig viel geäußerten Bestreben zugrunde, nicht Fakten zu lehren, sondern Kompetenzen, "Kulturtechniken" und "Problemlösestrategien". Es darf hierbei jedoch nicht übersehen werden, daß das Allgemeine an Beispielen gelernt wird und gerade nicht durch das Pauken von Regeln. Das Üben an vielen Beispielen muß daher ein wichtiger Bestandteil schulischen Alltags sein. Anders gewendet: Auf Fakten, die nicht als Beispiele für einen allgemeinen Zusammenhang stehen können, kann man verzichten.

Phasen des Lernens

Es gibt sie aus mehreren Gründen. Erstens ist das Gehirn des Neugeborenen noch sehr unfertig, es entwickelt sich, während es lernt. Damit hängt, zweitens, zusammen, daß frühes Lernen besonders bedeutsam sein kann. Drittens nimmt die Lerngeschwindigkeit mit zunehmendem Alter ab. Und viertens lernt derjenige, der schon etwas kann, ganz anders als jemand, der ganz von vorne anfängt.

Die Gehirnrinde hat die Eigenschaft, regelhafte Erfahrungen landkartenförmig zu organisieren. Damit ist gemeint, daß Neuronen, die auf ähnliche Inputmuster ansprechen, nahe beieinander liegen, und daß Häufiges durch mehr Neuronen repräsentiert wird als Seltenes. Die Entstehung dieser Landkarten erfolgt erfahrungsabhängig. Das Stück Gehirnrinde beispielsweise, das unsere Tastempfindungen verarbeitet, hat viel Platz für Lippen und Hände, wenig dagegen für den Rücken. Der Grund: Da wir viele Tastsignale von den Händen und von den Lippen verarbeiten, werden diese Abschnitte der Körperoberfläche durch wesentlich mehr Nervenzellen im Gehirn repräsentiert als beispielsweise der Rücken, mit dem wir selten relevante Tastempfindungen verarbeiten. Kurz: Wir essen mit Händen und Mund und selten mit dem Rücken, und deswegen (also wegen der Statistik unserer Tastempfindungen) sieht unsere Empfindungslandkarte so aus. Wir wissen mittlerweile, daß es in der Gehirnrinde dutzende von Karten gibt, die nicht nur für das Tasten, sondern auch für das Sehen und Hören und wahrscheinlich auch für höhere geistige Leistungen wie Sprechen, Denken und Wollen zuständig sind. Neueste Untersuchungen konnten zeigen, daß die Entstehung der Karten selbst das Signal für deren Verfestigung darstellt (Spitzer 2003d). Erst wenn eine Karte aufgrund der Verarbeitung entsprechender Erfahrungen entstanden ist, sorgt sie für ihre Verfestigung, das heißt, sie kann dann nur noch in geringerem Maß verändert werden. Daraus folgt unmittelbar die besondere Bedeutung der frühen Erfahrungen im Leben eines Menschen: Sie legen fest, wie viel Verarbeitungskapazität, sprich neuronale kortikale Hardware, wofür angelegt wird. Wer als Kind mit dem Gitarren- oder Geigenspiel beginnt, also mit den Fingern der linken Hand sehr oft sehr genau tastet, der hat als Erwachsener einige Zentimeter mehr Platz im Gehirn für die Finger der linken Hand. Am Joystick zerren, dies sei am Rande erwähnt, nützt nichts, denn nur die aufmerksame und zugewandte Verarbeitung von Erfahrungen hinterläßt Spuren im Gehirn.

Die Rolle der Emotionen beim Lernen

Sie ist kaum zu überschätzen (vgl. Erk & Walter 2000, Spitzer 2001a,b). Wir konnten zeigen, daß neutrales Material in Abhängigkeit vom emotionalen Zustand, in dem es gelernt wird, in jeweils anderen Bereichen des Gehirns gespeichert wird (Spitzer 2003c). Während das erfolgreiche Einspeichern von Wörtern in positivem emotionalem Kontext im Hippokampus geschieht, speichert der Mandelkern auch neutrale Wörter in negativem emotionalem Kontext. Ohne Kenntnis des Gehirns könnte man hieraus folgern, daß man zum Beispiel Englisch mit Spaß und Latein mit Angst lernen könnte, um auf diese Weise Hippokampus und Mandelkern für das Lernen zu nutzen. Man hätte mehr Platz und schaffte Ordnung. Die Funktionen von Hippokampus und Mandelkern entlarven diese Schlußfolgerung jedoch eindeutig als falsch.

Der Hippokampus speichert Einzelheiten ab, ruft sie nachts wieder auf und transferiert sie innerhalb von Wochen und Monaten in die Gehirnrinde, den "langsamen Lerner", wo sie langfristig gespeichert werden. Die Funktion des Mandelkerns ist es hingegen, bei Abruf von assoziativ in ihm gespeichertem Material den Körper und den Geist auf Kampf und Flucht vorzubereiten. Wird bei Ratten der Mandelkern beidseits operativ zerstört, kann die Ratte zwar noch lernen, sich in einem Irrgarten zurechtzufinden (sie benutzt hierfür ihren Hippokampus), sich jedoch nicht vor etwas fürchten. Zum Fürchten-Lernen braucht sowohl die Ratte wie auch der Mensch den Mandelkern. Ohne Mandelkern kann ein Mensch zwar noch neue Fakten wie z.B. die Eigenschaften eines lauten Tons lernen, nicht aber die Angst vor dem Ton. Ohne Hippokampus hingegen ist es umgekehrt, man lernt die Angst, aber nicht die Fakten. Fehlt beides, lernt man gar nichts. Wird der Mandelkern aktiv, steigen Puls und Blutdruck und die Muskeln spannen sich an: Wir haben Angst und sind auf Kampf oder Flucht vorbereitet, eine in Anbetracht von Gefahr sinnvolle Reaktion. Die Auswirkungen betreffen jedoch nicht nur den Körper, sondern auch den Geist. Kommt der Löwe von links, läuft man nach rechts. Wer in dieser Situation lange fackelt und kreative Problemlösungsstrategien entwirft, lebt nicht lange. Angst produziert also einen kognitiven Stil, der das rasche Ausführen einfacher gelernter Routinen erleichtert und das lockere Assoziieren erschwert.

Dies war vor 100.000 Jahren sinnvoll, führt jedoch heutzutage meist zu Problemen. Wer Prüfungsangst hat, der kommt einfach nicht auf die einfache, aber etwas Kreativität erfordernde Lösung, die er normalerweise leicht gefunden hätte. Wer unter dauernder Angst lebt, der wird sich leicht in seiner Situation "festfahren", "verrennen", der ist "eingeengt" und kommt "aus seinem gedanklichen Käfig nicht heraus". Unsere Umgangssprache ist voller Metaphern, die den unfreien kognitiven Stil, der sich unter Angst einstellt, beschreiben. Wenn dagegen gerade keine Angst da ist, werden die Gedanken freier, offener und weiter.

Daraus folgt: Was immer an gelerntem Material im Mandelkern landet, wird beim Abruf dafür sorgen, daß eines genau nicht möglich ist: der kreative Umgang mit diesem Material. Daraus wiederum folgt: Wenn wir wollen, daß unsere Kinder und Jugendlichen in der Schule für das Leben lernen, dann muß eines in der Schule stimmen: Die emotionale Atmosphäre beim Lernen (vgl. auch Kubesch 2002). Wir wissen damit nicht nur, daß Lernen bei guter Laune am besten funktioniert, sondern sogar, warum Lernen nur bei guter Laune erfolgen sollte. Nur dann nämlich kann das Gelernte später zum Problemlösen überhaupt verwendet werden!

Hänschen lernt schneller als Hans

Wer meint, dies sei ein Problem der Rentner, der irrt. Betrachten wir hierzu zwei Studien ganz verschiedener Lernprozesse mit ganz ähnlichem Ergebnis. Nach der Durchtrennung eines die Hand versorgenden Nervs kann man ihn wieder zusammennähen, wonach allerdings keineswegs alles gleich wieder wie vorher funktioniert. Nervenfasern können nicht zusammenwachsen. Neue Fasern wachsen vom Punkt der Durchtrennung aus in Richtung Hand und Fingerspitzen entlang der alten Fasern mit einer Geschwindigkeit von etwa einem Millimeter pro Tag. Wenn die nachgewachsenen sensiblen Nervenfasern die Tastkörperchen an der Haut erreichen, ist der Tastsinn jedoch keineswegs repariert, denn die Neuronen in der Gehirnrinde erhalten zwar wieder Impulse, jedoch nicht von den gewohnten Punkten der Körperoberfläche, sondern von irgendwo her, je nachdem, welche Faser gerade weitergewachsen ist. Interessanterweise kommt es aber dennoch zur völligen Wiederherstellung des Tastsinns. Dies liegt daran, daß die Neuronen anhand des neuen Input umlernen, das heißt: ein Neuron, das vielleicht früher für den Daumen zuständig war, lernt, für die Berührung des kleinen Fingers zuständig zu sein. Dies braucht Zeit, und diese hängt vom Alter des Patienten ab. Waren die Patienten im Alter von 10 Jahren operiert und im Alter von 12 Jahren untersucht worden, war der Tastsinn praktisch wieder vollständig hergestellt. Waren Verletzung und Operation jedoch einige Jahre später erfolgt, zeigte der zwei Jahre danach durchgeführte Test noch deutliche Einbußen des Tastsinns. Die Kurve der Testergebnisse geht im Teenager-Alter von 100% hinunter bis zu etwa 10%. Dies schließt zwar keineswegs aus, daß der Test bei einem 25-jährigen nach fünf oder zehn Jahren wieder normal ausfallen kann, zeigt jedoch, daß das Umlernen in der Gehirnrinde nicht mehr so rasch erfolgt wie in jüngeren Jahren. Bei über 40-jährigen ist die durchschnittliche Besserung des Tastsinns zwei Jahre nach der Operation sehr bescheiden.

Ein Sprachtest bei New Yorker Immigranten aus China und Korea zeigte den nahezu gleichen Kurvenverlauf in der Abnahme des Lernens im zweiten Lebensjahrzehnt. Wer vor dem siebten Lebensjahr ins Land gekommen war, beherrschte Englisch praktisch fehlerfrei. Schon bei mit zwölf Jahren eingewanderten Menschen sitzt die englische Sprache später nicht mehr so gut. Und wer mit 17 einwandert, hat sprachlich schlechte Karten.

Obwohl es sich beim Zusammenwachsen der Nerven und beim Sprachlernen um zwei völlig verschiedene Lernsituationen und ganz verschiedene Inhalte handelt, ist die Form der beiden Kurven sehr ähnlich. Beide können als Indiz dafür gewertet werden, daß die Lerngeschwindigkeit in ganz unterschiedlichen Bereichen der menschlichen Gehirnrinde im Laufe des Lebens in ähnlicher Weise abnimmt. Besonders wichtig ist hierbei, daß diese Abnahme nicht erst die 70-jährigen, sondern schon die 17-jährigen betrifft!

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