Auszüge aus Manfred Spitzer's
"Musik im Kopf"

Hören, Musizieren, Verstehen und Erleben im neuronalen Netzwerk

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Vorwort

Warum machen Menschen Musik? Was ist überhaupt Musik? Wie wirkt Musik auf uns und warum wirkt sie so? Was geschieht, wenn wir Musik hören, machen oder verstehen? Was ist Talent und was geschieht beim Üben? – In diesem Buch geht es um Fragen wie diese. Die Antworten werden im Kopf gesucht, das heißt da, wo Musik "eigentlich" stattfindet. Gewiß, auch ein Gemälde wird letztlich im Kopf gesehen, nachdem es mit dem Kopf (der den Pinsel lenkte) gemalt wurde; aber es hängt an der Wand, auch wenn keiner hinsieht. Musik hingegen ist nur da, wenn sie erlebt wird. Die Schwingungen in der Luft, die Rillen in der Schallplatte oder die Nullen und Einsen auf einer CD sind ebensowenig schon Musik wie die im Schrank liegenden Noten. Musik ist zeitliche Gestalt und bedarf des Erlebens und des aktiven Hervorbringens solcher Gestalt. Selbst eine so einfache Melodie wie Hänschen klein entsteht erst dadurch, daß Töne gehört und als Musik erlebt werden.

Wie aber macht unser Gehirn, das Organ des Wahrnehmens, Erlebens, Handelns und Verstehens, in unserem Kopf Musik? – Von allen höheren geistigen Leistungen scheint sich Musik am wenigsten für neurowissenschaftliche Untersuchungen zu eignen. Das Musikhören stellt eine sehr persönliche Erfahrung dar, die oft nur schwer zu beschreiben ist. Der Hörer reagiert emotional auf die vom Komponisten erdachten und den Musikern ausgeführten Bewegungen der Luft. Diese Reaktionen sind stark abhängig von den jeweiligen Vorerfahrungen des Hörers, seinem Interesse, seiner (musikalischen) Erziehung, seiner Kultur und seiner Persönlichkeit. Das gleiche Musikstück kann den einen tief bewegen und den anderen völlig kalt lassen. Wie soll man in Anbetracht dieser Individualität und problematischen Kommunizierbarkeit von Musik zu wissenschaftlichen, d.h. allgemein gültigen Aussagen über Musik gelangen? Da Neurobiologie zu den Wissenschaften gehört, muß man also die Frage stellen, ob die hier angestrebte Naturwissenschaft der Musik überhaupt sinnvoll und durchführbar ist.

Musik kommt einerseits in allen Kulturen vor, ist jedoch andererseits nicht wie die Sprache praktisch lebensnotwendig, weswegen es auch eine deutlich größere Variationsbreite musikalischer Fähigkeiten im Vergleich zu sprachlichen Fähigkeiten gibt. Fast jeder hört Musik, das aktive Musizieren ist jedoch hierzulande eine hoch spezialisierte Aktivität, die von einer kleinen Minderheit aller Menschen mit großer Perfektion ausgeübt wird. Die Frage danach, wie unser Gehirn Musik hervorbringt oder wahrnimmt, scheint also zunächst wissenschaftlich recht hoffnungs- bzw. aussichtslos. Dieser Frage nachzugehen ist jedoch seit einigen Jahren möglich. Die Erforschung des Gehirns hat in den vergangenen etwa zehn Jahren einen beispiellosen Aufschwung genommen. Gerade weil Musik eine so besondere Fähigkeit ist, lassen sich durch das neurowissenschaftliche Studium dieser Fähigkeit wichtige Einsichten in die Funktionsweise unseres Gehirns gewinnen, die keineswegs nur für den Bereich der Musik gelten. Man kann also den Spieß gleichsam herumdrehen: Nicht nur die perzeptuellen oder sprachlichen Aspekte von Musik, sondern auch und gerade deren Individualität und Emotionalität machen neurobiologische Untersuchungen zur Musik überhaupt erst so richtig spannend!

Als Psychiater, Psychologe und Neurowissenschaftler habe ich die Entwicklung der Gehirnforschung beruflich mitverfolgt bzw. mitvertreten und habe – zu einem winzigen Teil – auch daran mitgewirkt. Als musikbegeisterter Nicht-Musikwissenschaftler habe ich zugleich die Ignoranz, die es mir erlaubt, über Musik zu schreiben ohne in – mir gar nicht bekannten – Detailproblemen zu versinken. So erklärt sich die Entstehung dieses Buchs aus einer zunehmend spannungsgeladenen Mischung von beruflichem Erkenntnisgewinn und privatem Enthusiasmus, und es bedurfte lediglich eines Zündfunkens, um diese Mischung zur Entladung (d.h. das Buch zur Entstehung) zu bringen. Dieser bestand in der Einladung meines Ulmer Kollegen Horst Kächele, einen Vortrag über Musik und das Gehirn anläßlich des 13. Workshops zur musiktherapeutischen Forschung im Februar 2001 zu halten. Die Vor- und vor allem Nachbereitungen hierzu uferten gleichsam aus und das Ergebnis liegt vor Ihnen.

Die Verbindung von Neurobiologie und Medizin einerseits sowie Musik andererseits ist ungewöhnlich, jedoch keineswegs an den Haaren herbeigezogen. Die Seele und die Nerven werden seit Jahrhunderten mit der Metaphorik der Schwingung beschrieben, und Ärzte haben – den Gründen sei hier nicht weiter nachgegangen – einen Hang zur Musik, was nicht zuletzt die vielen Ärzteorchester bezeugen. (Kennt jemand ein Juristen-, Wirtschaftswissenschaftler- oder Informatikerorchester?) Die Schnittmenge aus der Gruppe von Menschen, die sich für das Gehirn interessieren, und der Gruppe von Menschen, die sich für Musik interessieren, ist also gar nicht so klein, wie man bei der Verschiedenheit der Sachgebiete zunächst annehmen könnte.

Es ist wohl auch kein Zufall, daß sehr viele Ergebnisse zur Neurobiologie des Lernens beim Menschen sich auf Musik und Musiker beziehen, denn wo sonst wird mit so viel Hingabe an Zeit und Aufwand geübt wie in der Musik? Wer ein Instrument erlernt, verbringt tausende von Stunden mit immer wieder den gleichen oder ähnlichen Bewegungsabläufen und hat entsprechende klangliche Wahrnehmungen, so daß sich die Effekte des Lernens auf das Gehirn des Menschen kaum irgendwo besser studieren lassen als im Bereich der Musik.

Im Hinblick auf das Hören und Machen von Musik ist die Kenntnis der dies ermöglichenden neuronalen Maschinerie zwar nicht notwendig, der Musiker wird aber dennoch vieles besser verstehen, wenn die physikalischen und physiologischen Grundlagen klar sind. So folgt beispielsweise das Design vieler Instrumente ebenso aus der Physik und der Physiologie wie die Tonleiter oder die Architektur von Konzertsälen. In diesem Buch geht es somit um Musik als einem Spezialfall von Wahrnehmen, Denken, Lernen und Handeln, an dem sich viele Einsichten besonders klar verdeutlichen lassen. Musik wird hier zu einer Art Brennpunkt, in dem sich erhellende Strahlen der Erkenntnisse aus verschiedensten Disziplinen (von Psychologie und Philosophie über die Physik zur Neurobiologie und wieder zurück) schneiden, in dem sich Einsichten aus den entferntesten Sachgebieten gegenseitig befruchten und Erfahrungen aus den entlegendsten Winkeln unseres Seins überschneiden oder miteinander verschmelzen. Wir gehen ja immer schon, meist ohne viel darüber nachzudenken, mit Musik um, und dieses Buch soll einen Beitrag dazu leisten, diesen Umgang besser zu verstehen.

Was das konkrete Lehren und Lernen von Musik anbelangt, kann die Bedeutung der Forschungsergebnisse aus der jüngeren Zeit in Neurobiologie und Psychologie wahrscheinlich gar nicht überschätzt werden. Das Gehirn ist das Organ des Lernens und das Verständnis seiner Funktionsprinzipien sollte daher für Lehrer und Schüler etwa die Bedeutung haben wie das Verständnis der Funktion eines Motors für den Automechaniker. Im Hinblick auf den Musikunterricht an den Schulen wurde dies erst kürzlich von Ortwin Nimczyk (2001, S. 3), Professor an der Hochschule für Musik in Detmold und Mitherausgeber der Zeitschrift Musik und Bildung, formuliert: "Für eine notwendige Neukonzeption [des Unterrichts] bedarf es unabdingbar der verstärkten Berücksichtigung von Erkenntnissen der Musikpsychologie und der neurobiologischen Forschung."

Die Bedeutung der Physik schwingender Körper für Musik ist seit Pythagoras und Helmholtz jedem geläufig, der sich mit der Materie befaßt. Sie ist Gegenstand sehr vieler guter Bücher zu den Grundlagen von Musik. Die Bedeutung der Physiologie, also der Wissenschaft vom lebendigen Körper, und insbesondere der Psychologie und Neurobiologie, der Wissenschaften vom Gehirn, für Musik ist ebenfalls heute sehr deutlich, findet sich jedoch bislang kaum zusammengefaßt und für Jedermann zugänglich dargestellt. Diese Lücke soll das vorliegende Buch schließen. Es soll klar werden, was man weiß, wie man es weiß und was man nicht weiß, in einer möglichst einfachen und klaren Sprache.

Das Buch sollte sowohl für den musikalischen Laien als auch für den neurowissenschaftlichen Laien lesbar sein, weswegen ich vereinfachen mußte, allerdings immer in dem Bestreben, die Dinge nicht bis zur Unkenntlichkeit oder gar Falschheit zu vereinfachen. Bei Experten auf dem Gebiet der Musik oder Neurobiologie möchte ich mich jedoch an dieser Stelle für die zuweilen für deren Geschmack vielleicht zu starken Vereinfachungen entschuldigen. Ich hoffe dennoch, daß auch ihnen die Lektüre gewinnbringend ist, zumal ich kein entsprechendes Buch auf dem deutschen bzw. internationalen (sprich: englischsprachigen) Markt finden konnte.

Ich habe viele Abbildungen gezeichnet, am Computer generiert oder fotografiert, weil auch im Bereich der Akustik und Musik manchmal ein Bild mehr sagt als tausend Worte. Es soll Spaß machen, dieses Buch zu lesen! Wer bei der Lektüre abstürzt, z.B. bei den Details in den Kapiteln 2 oder 3, sollte es einfach an einer anderen Stelle des Buchs wieder versuchen, vielleicht bei den Babys in Kapitel 6, dem Tanz in Kapitel 8, dem Singen in Kapitel 10, den singenden Buckelwalen und Neandertalern in Kapitel 14, den Wiegenliedern in Kapitel 15 oder der Filmmusik in Kapitel 16. Es ist meine Hoffnung, daß beim Lesen vor lauter Bäumen (sprich: interessanten Details) auch der Wald (der Grundgedanke) nicht untergeht, sondern im Gegenteil immer deutlicher hervortritt: Es geht immer wieder um die Musik im Kopf, also um das an uns und in uns, was Musik überhaupt erst entstehen läßt. Die zum Teil persönlichen Details mögen zum Ausdruck bringen, daß Musik nicht ohne die musizierenden Menschen denkbar ist und daher immer auch eine persönliche und private Seite hat. Es soll damit – wenigstens in diesem Buch – so oft wie möglich gleichsam die Gegenposition zu der heute großen Anonymität der allermeisten Musikerlebnisse der allermeisten Menschen zu Worte kommen.

Um die Verständlichkeit des Buchs zu verbessern, habe ich Verwandte, Freunde und Mitarbeiter gebeten, eine Vorabversionen von Kapiteln kritisch durchzugehen. Für diese Mühe möchte ich mich sehr herzlich bei Renate Campos, Bernhard Connemann, Karl Enders, Susanne Erk, Ulrike Gässler, Georg Groen, Markus Kiefer, Thomas Kammer, Holger Ohl, Anne Pfoh, Martin Schuster, Ulla Spitzer, Fiedrich Uehlein, Matthias Weisbrod, Anne Wietasch, Matthias Wittfoth und Tatjana Zimmermann bedanken. Julia Ferreau und Gerlinde Troegele halfen manchmal beim Schreiben des Manuskripts. Birgit Sommer besorgte Literatur und Bärbel Herrnberger hat bei den Einzelheiten der Physiologie ebenso geholfen wie beim Layout. Thomas Merz hat mich bei typographischen und drucktechnischen Fragen beraten. Wulf Bertram vom Schattauer-Verlag hat das Buchvorhaben von Anfang an unterstützt und mit begleitet, Birgit Fiebiger, Danielle Flemming und Bernd Burkart hatten die Materialisierung des Projekts unter ihren Fittichen. Allen sei an dieser Stelle für ihre Mühe mit einem manchmal etwas eigenwilligen Autor sehr herzlich gedankt. Für das Endlektorat bedanke ich mich bei meiner Frau und meiner Schwester Susanne sehr herzlich. Für alle verbliebenen Fehler und unausgemerzten Verständnishürden bin allein ich selbst verantwortlich.

Zum Schluß noch eine Bitte an den Leser: Auf den folgenden 440 Seiten warten einerseits sehr viele Details, die ohne den großen Zusammenhang vielleicht schwer verständlich oder zumindest in ihrer Interpretation nicht ganz klar sein könnten. Das Gesamtbild erschließt sich jedoch erst demjenigen, der das Buch ganz gelesen hat, und dieser Zusammenhang wiederum sollte das Verstehen der vielen Details erleichtern und zudem auch verdeutlichen, warum diese oder jene Kleinigkeit gerade an dieser oder jener Stelle angeführt ist. Der Ausweg aus dieser unter dem Namen hermeneutischer Zirkel bekannten Paradoxie, daß man ein Buch zwar lesen, aber eigentlich gar nicht verstehen kann (zum Verständnis des Ganzen braucht man die Einzelheiten, die man wiederum nur versteht, wenn man das Ganze schon kennt) besteht darin, daß man irgendwo anfängt und sich dann immer weiter und tiefer mit den Dingen beschäftigt. Daraus leitet sich meine Bitte ab, das Buch zweimal zu lesen. Ich hoffe, es ist dann wie bei einem guten Film, den man zum zweiten Mal sieht: Man befindet sich nicht mehr ohne Distanz mittendrin, denn man weiß ja schon, wie die Geschichte ausgeht und kann sich genüßlich zurücklehnend den Details widmen.

Das Buch ist meiner Mutter gewidmet. Sie hatte schon als kleines Mädchen auf dem Akkordeon ihres älteren Bruders herumprobiert, bekam irgendwann von meinem Vater eines geschenkt und spielte darauf Volkslieder – immer lächelnd, aber zugleich mit senkrechten Falten auf der Stirn, denn das Auswendigspielen ohne jegliche Übung (die fünf Kinder zu verhindern wußten) bedurfte der Konzentration. Auch die Wiegenlieder, die mir meine Mutter vorsang und an die ich mich nur in Form der in meinem Kopf fest verankerten Struktur der Dur-Tonleiter erinnern kann, sind Grund genug, ihr dieses Buch zu widmen, das sicherlich mein persönlichstes ist und zugleich dasjenige, an dem ich am liebsten geschrieben habe.

Vom Hören und Machen zum Verstehen: der Plan

In diesem Buch liegt der Schwerpunkt der Betrachtung im Kopf; d.h. Musik wird als ein Sachverhalt begriffen, der sich nur verstehen läßt, wenn man das Hören (Wahrnehmen), das Musizieren (als komplexes Verhalten) und das Verstehen und Erleben von Musik genauer analysiert. Man kann Musik auch anders betrachten, beispielsweise rein formal oder rein historisch. Hier wird sie unter dem Gesichtspunkt betrachtet, daß sie von Menschen gehört und gemacht wird. Gerade hierzu sind in den, vergangenen Jahren interessante neue Erkenntnisse gewonnen worden, nicht zuletzt aufgrund der Fortschritte im Bereich der Neurowissenschaften.

Es geht keinesfalls darum, Musik auf das Gehirn oder auf Neurobiologie zu reduzieren. Vielmehr wird der aufmerksame Leser vielleicht umso mehr staunen und umso mehr Gefallen an Musik finden, je mehr er über das Organ der Musik, unser Gehirn, weiß. Nach diesen einführenden historischen Schlaglichtern geht es in den folgenden vier Kapiteln um die Grundlagen der Akustik und des Hörens von Musik. Wir gehen dabei von außen nach innen vor und betrachten zunächst den Schall (Kapitel 2), danach das Ohr vom äußeren Ohr zum Mittelohr und Innenohr und von dort zur weiteren zentralnervösen akustischen Informationsverarbeitung (Kapitel 3). Was leistet diese Verarbeitung? Wie ermöglicht sie die Wahrnehmung von Tönen und Geräuschen und was genau wird eigentlich wahrgenommen? Wir beginnen mit einfachen Phänomenen wie Töne und Geräusche und beschäftigen uns erst danach mit Musik im engeren Sinne, also mit Melodie und Harmonie (Kapitel 4) sowie dem Hören komplexerer zeitübergreifender Strukturen (Kapitel 5).

Untersuchungen zum Erleben von Musik bilden den zweiten Teil. Zunächst wird die Entwicklung des Erlebens, beginnend im Mutterleib, nachgezeichnet (Kapitel 6). Weiter geht es mit der Verarbeitung von Musik im Gehirn (Kapitel 7). Der ganze Körper ist bei Rhythmus und Tanz (Kapitel 8) Thema, und danach (Kapitel 9) die Sonderbefähigung zum absoluten Gehör.

Im dritten Teil dieses Buchs geht es um das aktive Musizieren, das Singen (Kapitel 10) und das Spielen von Instrumenten (Kapitel 11). Ein eigenes Kapitel ist dem Erlernen des Instrumentenspiels gewidmet und damit zugleich der Frage, was Übung bewirkt, wie sie am besten praktisch vollzogen wird, und was im Gehirn geschieht, wenn man ein Instrument spielen lernt. Auch der Frage, inwieweit die Fähigkeit zur Musik angeboren oder erlernt ist, wird nachgegangen (Kapitel 12). Schließlich wird das gemeinsame Musizieren in Chor, Orchester oder Band, d.h. die Musik als soziales Interaktionsphänomen und damit als Medium der Kommunikation diskutiert (Kapitel 13).
Der vierte Teil des Buchs ist mit "Musik verstehen" überschrieben, wobei es nicht um den Sachverhalt der Interpretation von Musikstücken geht, sondern darum zu verstehen, was es mit Musik überhaupt auf sich hat. Warum gibt es Musik überhaupt? Woher kommt sie? Wozu dient sie? – Diesen sehr allgemeinen Fragen, für deren Beantwortung sich der kommunikative Aspekt der Musik als wesentlicher Schlüssel erweist, wird konkret nachgegangen durch Überlegungen zur Evolutionsbiologie und Musik (Kapitel 14), zur Emotionalität von Musik (Kapitel 15) und zu den Funktionen von Musik im Alltagsleben, wobei wir das Wo und das Wozu von Musik beispielhaft anhand der Architektur von Konzertsälen und anhand von Filmmusik erörtern (Kapitel 16). Ein Kapitel zu Medizin und Musik und vor allem zu den möglichen heilenden Wirkungen von Musik in der Musiktherapie (Kapitel 17), das auch Anlaß zu einigen allgemeinen Überlegungen zu Musik gibt, bildet den Abschluß.

Auch wenn die behandelten Sachverhalte sehr unterschiedlich sind, sollte dennoch klar werden, wie Musik durch Physik und Physiologie, d.h. durch Körperhaftes und durch unseren Körper, vor allem durch die Funktion unseres Gehirns bestimmt ist. Nimmt man die dargestellten Gedanken zur Kenntnis, wird Musik keineswegs weniger schön, mystisch oder gefühlvoll. Im Gegenteil: Je mehr die Wissenschaft über die Musik in Erfahrung bringt, umso mehr möchte man über unsere Befähigung zur Musik staunen.

Musik hören

Das Gehör ist einer der fünf Sinne des Menschen. Es liefert uns Geräusche und Töne, Klänge und Rhythmen, Signale und Sprache. Wir verwenden das Gehör zur Kommunikation mit der Umwelt. Wie das Sehen ist das Gehör ein Fernsinn, d.h. bedarf im Gegensatz zu Berührung, Geschmack und Geruch keines direkten Kontakts. Im Gegensatz zum Licht jedoch, das zur Ausbreitung keines Mediums bedarf (am besten geht es durch ein Vakuum, also gar nichts), braucht Schall ein Ausbreitungsmedium. Die Ohren müssen in etwas baden, meist in Luft, manchmal in Wasser, damit sie hören können.

Wie jeder Wahrnehmungsprozeß ist das Hören aktiv. Diese aktive Seite des Wahrnehmens wird gerade beim Hören von Musik sehr deutlich. Melodie und Harmonie, Rhythmus und Form, Klang und Zeitstruktur entstehen überhaupt erst durch das aktive Erleben von Musik. Wie dies im Einzelnen geschieht, sollen die folgenden Kapitel über Schall (Physik) und Hören (Physiologie) sowie über grundlegende Phänomene und Strukturen der Musik (Melodie und Harmonie) verständlich machen.

Delphine und Dirigenten

Delphine baden in Ozeanen voller Salzwasser und haben ein überaus feines Gehör. Wasser leitet den Schall besser als Luft und erlaubt es den Tieren, wie man seit etwa 50 Jahren durch Beobachtungen und experimentelle Untersuchungen weiß, aus dem Schall, der an ihre Ohren dringt, den Raum um sie herum bis in Einzelheiten dreidimensional zu rekonstruieren. Da Wasser für Licht nicht besonders gut, für Schall jedoch sehr gut durchlässig ist, ist dies sehr sinnvoll (vgl. Au 1990). Es bedarf hierzu allerdings nicht nur guter Ohren, sondern vor allem einer sehr genauen Nachverarbeitung der eingehenden akustischen Information. Möglicherweise ist dies ein Grund dafür, daß Delphine und mit ihnen verwandte Meeressäuger über die größten Gehirne verfügen, die es überhaupt gibt.

Weiterhin besitzen Delphine wie Fledermäuse die Fähigkeit zur Echolotung. Sie stoßen sehr kurze Klicks aus, deren Lautstärke und Frequenzspektrum sie den Umgebungsbedingungen anpassen können, um sich optimal zu orientieren (Moore 1988, Moore & Pawloski 1990). Die Verarbeitung dieser Echolot-Signale ist recht verschieden vom normalen passiven Hören, weswegen manche Autoren zwei unterschiedliche Analysesysteme postulieren (Dubrovskiy 1990).

Ähnlich wie Delphine aus Schallwahrnehmung die Landschaft um sich herum rekonstruieren, erlernen erblindete Menschen im Laufe der Zeit, das Gehör, ihren einzigen verbleibenden Fernsinn, zu verwenden, um sich ein inneres Bild der Umgebung zu machen. Im Gegensatz zu normalsichtigen Menschen haben blinde Menschen gelernt, sich durch das Hören zu orientieren. Man kann sich dies leicht vorstellen, denn die meisten Menschen können beim Betreten eines Raums in völliger Dunkelheit durch die Echos ihrer Schritte etwas über dessen Größe aussagen (Garage, Saal, Kathedrale). Blinde Menschen besitzen sogar so etwas wie eine Echolotung – manche von ihnen stoßen bewußt Laute aus, um anhand der reflektierten Echos Objekte bzw. Hindernisse zu erkennen (Rice 1966). Dies setzt selbstverständlich ein sehr genaues bzw. trainiertes Gehör voraus.

Röder und Mitarbeiter (1999) untersuchten dies experimentell, indem sie blinden und sehenden Versuchspersonen über jeweils drei Lautsprecher vor und neben den Personen akustische Stimuli vorspielten (siehe Abb. 3.4). Bei jeder Präsentation sollte sich die Versuchsperson auf den jeweils mittleren Lautsprecher entweder direkt vor oder direkt rechts neben sich konzentrieren. Das Lenken der Aufmerksamkeit nach vorn oder nach der Seite führt zu einer verbesserten Wahrnehmung der jeweils von diesen Orten kommenden Stimuli. Dies ließ sich durch die Messung ereigniskorrelierter Potentiale (EKP) untermauern (vgl. auch Kapitel 6). Ganz offensichtlich hat das Training der räumlichen Orientierung im Rahmen ganz normaler Alltagserfahrungen bei den Erblindeten zu einer Verbesserung der neuronalen akustischen Informationsverarbeitung geführt.

Eine von Münte und Mitarbeitern (2001) publizierte Untersuchung an Dirigenten, Pianisten und Nichtmusikern zeigte, daß Dirigenten in ähnlicher Weise wie Blinde über eine gesteigerte räumliche Hörwahrnehmung verfügen. Dies leuchtet unmittelbar ein: Ein guter Dirigent muß in der Lage sein, den zweiten Mann in der dritten Geigenstimme hinten links, der gerade falsch spielt, zu identifizieren, um ihm Korrekturen zu signalisieren (oder ihn vielleicht zur Ruhe zu ermahnen). Diese äußerst schwierige Aufgabe bedarf also eines genauen räumlichen Hörens.

Mit der bereits beschriebenen experimentellen Anordnung zur Untersuchung von Blinden wurden sieben Dirigenten im mittleren Alter von 45 Jahren und einer Berufspraxis von im Mittel 19 Jahren, sieben Pianisten (im Mittel 43 Jahre alt und 16 Jahre Berufserfahrung) und sieben Nichtmusiker in einem mittleren Alter von 43 Jahren getestet. Sie mußten auf bestimmte Töne an einem bestimmten Ort achten, während ereigniskorrelierte Potentiale aufgezeichnet wurden, deren Auswertung einen deutlichen Aufmerksamkeitseffekt zeigte: Kam ein Ton aus dem Lautsprecher, auf den die Aufmerksamkeit gerichtet war, zeigte sich etwa 60 Millisekunden später eine deutliche Negativierung des Potentials gegenüber fehlender Aufmerksamkeit. Dieser Aufmerksamkeitseffekt ließ sich durch Differenzbildung der EKP-Signale besonders schön demonstrieren: Man bildet hierzu die Differenz zwischen den EKP-Signalen, die unter Hinwendung der Aufmerksamkeit in die entsprechende Richtung des kommenden Tons generiert wurden, und EKP-Signalen, bei denen die Aufmerksamkeit nicht in die Richtung des kommenden Tons gelenkt wurde.

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Zwei Kodes im Kortex

Stellen Sie sich vor, Sie stehen an einer Ampel und neben Ihnen steht ein Motorrad mit laufendem Motor im Standgas. An Ihre Ohren dringen dann die akustischen Manifestationen der meist etwas unregelmäßig erfolgenden Explosionen eines Benzin-Gasgemischs im Motor, einzelne Druckwellen, für deren subjektives Erleben sich der Ausdruck "Geknatter" weitgehend durchgesetzt hat. Schaltet die Ampel auf Grün (oder vielleicht auch schon bei Hellgelb), ändert sich dies plötzlich: Der Fahrer gibt Gas, die Anzahl der Explosionen pro Sekunde steigt und wird regelmäßig. Damit ändert sich auch unser Höreindruck. Statt einzelner Explosionen hören wir jetzt einen durchgehenden Ton mit einer bestimmten, steigenden Tonhöhe, und das Motorrad saust davon. Wie kommt es, daß wir die gleichen Explosionen je nach ihrer Häufigkeit in der Zeit einmal als einzelne Ereignisse und ein andermal als Ton hören?
Eine Studie von Lu et al. (2001) zur Art der Kodierung akustischer Informationen im auditorischen Kortex brachte jüngst etwas Licht in dieses Dunkel. Zunächst einmal ist es wichtig, sich zu vergegenwärtigen, daß wir beim Verstehen von Sprache oft eher in der Stituation des Hörens von Geknatter sind als in der Situation des Hörens zusammenhängender Töne. Shannon und Mitarbeiter (1995) konnten zeigen, daß für das Verstehen von Sprache weniger die Töne der Stimme, sondern deren Modulation verantwortlich ist. Selbst wenn man nämlich die Töne durch Rauschen ersetzt und nur noch die Einhüllende dieses Rauschens verändert, kann man Sprache noch erstaunlich gut verstehen. Um dies zu gewährleisten, müssen Neuronen im Hörkortex vor allem auf Veränderungen reagieren, nicht jedoch auf einzelne Schwingungen in dem Sinne, daß sie jeden Wellenberg einer Schwingung abbilden.

Lu und Mitarbeiter konnten zwei unterschiedliche Populationen von Neuronen im Hörkortex von Affen nachweisen (vgl. Abb. 3.19). Die eine Art von Neuronen feuert bei langsamen Klicks getreu mit diesen Klicks (synchronisiert), gibt jedoch bei rascheren Klicks sozusagen auf und feuert nur noch bei Beginn und Ende des Stimulus. Die zweite Art macht es anders und feuert prinzipiell nicht synchronisiert mit den Klicks: Langsame Klicks sind ihnen zudem langweilig, bei raschen Klicks jedoch feuern sie heftig, wenn auch nicht synchronisiert. Der Wechsel zwischen langsam und schnell, der für die unterschiedliche Aktivierung der beiden Neuronengruppen sorgt, findet etwa bei einer Signalfrequenz von 30 Hz statt, also etwa beim Übergang des Hörens einzelner Ereignisse zum Hören eines Tons. Weil beide Arten von Neuronen in unseren Hörkortex vorkommen, hören wir sowohl einzelne Schallereignisse als auch kontinuierliche Töne.

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