Auszüge aus Manfred Spitzer's
"Selbstbestimmen"

Gehirnforschung und die Frage: Was sollen wir tun?

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Vorwort

Was sollen wir tun? – Diese Frage stellt sich uns im Grunde dauernd. In jeder Sekunde müssen wir etwa viele Male entscheiden, wohin wir als nächstes blicken. Jeden Tag fällen wir Entscheidungen: Was wir essen, wohin wir gehen, mit wem wir uns treffen etc. Jedes Jahr überlegen wir uns, was wir im Urlaub tun, und vielleicht nur einmal im Leben entscheiden wir uns für eine Partnerschaft oder für ein Kind. Jede dieser Entscheidungen hat ihre Geschichte und ihre Folgen. Einmal in die falsche Richtung geschaut, konnte vor hunderttausend Jahren den Tod bedeuten; und daran hat sich bis heute nicht sehr viel geändert.

Bewerten, Entscheiden und Handeln sind neben dem Wahrnehmen, Lernen und Denken ganz grundlegende und wesentliche höhere geistige Leistungen, die jedoch noch nicht so lange Gegenstand der Gehirnforschung sind. Und obwohl man mit Fug und Recht behaupten kann, daß wir über das Sehen mehr wissen als über das Entscheiden, so wissen wir doch bereits über das Entscheiden so manches, was bis in unseren Alltag hinein wichtig sein kann. Nicht anders steht es mit dem Bewerten.

Gehirnforschung kann philosophische oder politische Probleme ebenso wenig lösen, wie ein Automechaniker den Energieerhaltungssatz oder das Mobilitätsproblem der Gesellschaft lösen kann. Sofern man jedoch wirklich etwas von Autos versteht, kann man manche vorgeschlagenen Lösungen des Mobilitätsproblems entweder besser umsetzen oder aber als Unfug entlarven. Und man kann Motoren hervorragend verwenden, um Energie umzusetzen.

Damit sei zugegeben und vorweggenommen: Ich weiß auch nicht, was wir tun sollen. Als Psychiater habe ich gelernt, mit Ratschlägen zurückhaltend zu sein; und als wenig in der Politik engagierter (weil anderweitig ausgelasteter) Bürger habe ich nicht die Übersicht, um zu derzeit brennenden Fragen wie Arbeitslosigkeit oder Gesundheit etwas zu sagen. (Wenn ich ganz am Ende dieses Buches gelegentlich auf derartiges zu sprechen komme, dann nur, um Denkanstöße zu geben, nicht jedoch, weil ich fertige Lösungen habe.) Die Wissenschaft der Neurobiologie hat weder Patentrezepte, noch sollte sie als Ersatzreligion fungieren. Irgendwo dazwischen jedoch ist unser ganz normaler Alltag, und für diesen ist Gehirnforschung schon heute überaus brauchbar. Damit wäre die These dieses Buches auch schon genannt.

Naturwissenschaft und Technik sind derzeit die Motoren kulturellen Wandels – wer wollte dies bestreiten? Um so wichtiger ist es, sich manchmal Zeit zu nehmen zum Nachdenken. Wer gerade eine Hungersnot bekämpft, hat keine Zeit für Ernährungsphysiologie (obwohl er deren Erkenntnisse gut gebrauchen könnte); wer eine Firma leitet, kann sich nicht mit Motivationspsychologie beschäftigen (obwohl die Zukunft seines Unternehmens ganz wesentlich davon abhängt); weder Justizminister noch Richter denken über Willensfreiheit nach, sondern setzen sie voraus; und (nicht nur) wer Politik macht, der bewertet, entscheidet und handelt dauernd, ohne die Zeit zu haben, darüber nachzudenken, wie dies eigentlich geschieht.

Hieraus ergibt sich zunächst eine sehr pessimistische Sicht für dieses Buch: Genau diejenigen, für die es geschrieben ist, werden es nicht lesen, weil sie keine Zeit dazu haben. Wenn es dennoch geschrieben wurde, dann in der Hoffnung, daß viele Menschen spüren, daß die Welt sich verändert hat und immer rascher verändern wird, und daß manche unserer Vorurteile und Gewohnheiten nicht mehr so zuverlässig sind bzw. so weit tragen, wie wir dies früher – zu Recht oder zu Unrecht – einfach angenommen haben. Die Wissenschaften liefern immer mehr Erkenntnisse, die Intellektuellen haben mehr Freiheit denn je, darüber nachzudenken, und die Möglichkeiten der Kommunikation zwischen Menschen aus den entferntesten Lebensbereichen und entlegensten Winkeln waren noch nie so groß, kurz: Noch nie wußten so viele Menschen so gut Bescheid, und dennoch macht sich überall Pessimismus breit im Hinblick darauf, wie es uns wohl in 10, 20 oder 50 Jahren geht. Das Buch soll daher zum Nachdenken anregen über die Art, wie wir mit uns und der Welt – und das sind immer vor allem die anderen Menschen – umgehen, in Gedanken und vor allem in der Tat.

Es gibt keine unbewerteten Fakten; Menschen bewerten dauernd, beim Riechen und Schmecken sprichwörtlich, aber nicht minder auch beim Sehen, Hören und Tasten. Die Erfahrung der Umwelt führt längerfristig zu deren Repräsentation im Gehirn, dem Organ der Erfahrung. Und wie sich die Erfahrung von Sprache darin niederschlägt, daß wir sprechen gelernt haben (wir kennen die Bedeutungen der Wörter und können die Regeln von deren Gebrauch), so schlagen sich die vielen Bewertungen in Werten nieder, die uns beim Handeln leiten wie die Grammatik beim Sprechen.

Wir bewerten nicht zuletzt deswegen dauernd, weil wir uns beständig entscheiden müssen: ob Wurst- oder Käsebrot, Auto oder Bahn, Urlaub oder Sparbuch, kaufen oder verkaufen, Schwarz-Gelb oder Rot-Grün, Kinder oder keine, mit Paul oder mit Herbert. Zwar mag man einwenden, daß es sich hier um ganz unterschiedliche "Seinsbereiche" handelt, und daß man sich z.B. von der Tatsache, daß das Brötchen einen Wert hat und Liebe ein Wert ist, nicht zu dem Schluß verleiten lassen sollte, daß es hier um dasselbe geht. Wirtschaft habe doch nichts mit Naturwissenschaft und Ethik nichts mit Evolution zu tun, könnte man meinen. In diesem Buch wird die gegenteilige Ansicht vertreten: Es ist zwar bequem, die Dinge in unterschiedliche Schubladen zu stecken, denn man muß sich dann nur um den Inhalt einer Lade kümmern; aber wir werden sehen, daß man dadurch wichtige Zusammenhänge übersieht. Und wer ehrlich ist, muß zugeben, daß die oben mit Farbwörtern charakterisierte politische Entscheidung weder nur um Wirtschaft noch nur um Ethik geht.

Zu guter Letzt gibt es – wie der Dichter sagt – nichts Gutes, außer man tut es: Entscheidungen müssen in die Tat umgesetzt, sie müssen zu Handlungen werden; man muß wählen gehen, Essen kochen, eine Beziehung leben und Kinder kriegen. Nachdenken allein führt zu gar nichts. Worauf aber sind unsere Bewertungen, Entscheidungen und Handlungen gegründet?

Was also sollen wir tun? In jedem Bereich und auf allen Ebenen stellt sich diese Frage, man hat den Eindruck, mit immer größerer Dringlichkeit. In diesem Buch geht es nicht um schnelle Antworten, sondern darum, im Lichte der Ergebnisse der Gehirnforschung und verwandter Forschungsgebiete besser zu verstehen, wie wir bewerten, entscheiden und handeln. Nur wenn wir verstehen, wie und warum wir was ohnehin dauernd tun und welche Fehler wir dabei machen, im Denken und im Handeln, haben wir eine Chance, die Frage danach, was wir tun sollen, sinnvoll und besser als bisher zu beantworten.

Dieses Buch ist für alle, die nach Selbsterfahrung – im besten Sinne des Wortes als Selbsterkenntnis – streben und über mehr entscheiden wollen oder müssen als ihre nächste Mahlzeit. Etwa vor einem Jahr schrieb ich ein Buch über Gehirnforschung und Lernen (Spitzer 2002). Damals ging es mir darum, daß das Gehirn eines nicht kann: nicht lernen; und darum, was daraus folgt. Der Ansatz im vorliegenden Buch ist ähnlich. Wir können noch etwas nicht: nicht handeln.

Ich bin sehr glücklich darüber, Mitarbeiter und Freunde zu haben, die mir den großen Gefallen erweisen, sich mit meinen Gedanken auseinander zu setzen, auch wenn sie noch unausgegoren sind. Und wenn auch, um bei der Metapher zu bleiben, dieses Buch eher neuem Süßen als altem Roten ähnelt (es soll ja auch anregen und nicht zur Schwermut gereichen), so habe ich den folgenden Personen sehr viel Gährungsprozeß zu verdanken: Bernhard Connemann, Michael Fritz, Katrin Hille, Gudrun Keller, Markus Kiefer, Thomas Kammer, Ulrike Mühlbayer-Gässler, Manfred Neumann, Wolfgang Schiele, Axel Thielscher, Friedrich Uehlein, Henrik Walter und Matthias Weisbrod. Julia Ferreau und Gerlinde Troegele halfen manchmal beim Schreiben des Manuskripts. Ohne die Hilfe von Georg Groen, Bärbel Herrnberger, Heike Pressier und Beatrix Spitzer wäre das Buch nie fertig geworden. Ihnen gilt mein ganz besonderer Dank! Katharina Neuser von Oettingen als Lektorin und Ute Kreutzer als Herstellerin von Spektrum Akademischer Verlag haben alles ausgehalten, was man im Verlag mit eigenwilligen Autoren aushalten kann. Allen sei an dieser Stelle für ihre Mühe sehr herzlich gedankt. Für alle verbliebenen Fehler, unausgemerzten Verständnishürden und Unausgegorenheiten bin allein ich selbst verantwortlich.

Das Buch ist meiner ältesten Tochter Ursula Simone, genannt Ulla, gewidmet. Sie feierte vor fünf Tagen ihren 18. Geburtstag. Schon im Sommer wurde mir klar, daß das Buch eigentlich für sie geschrieben ist, denn sie darf, kann und muß jetzt selbst bestimmen.

Brötchen ganz aus freien Stücken?

Wir bewerten, entscheiden und handeln dauernd. Ein Stein tut dies nicht. Er fällt herunter, nicht weil er es will, sondern weil eine Kraft auf ihn wirkt. Er steht im Naturzusammenhang und unterliegt den Naturgesetzen. Mein Oberschenkelstreckmuskel auch: Ein Schlag auf die Sehne unterhalb der Kniescheibe dehnt ihn kurz und bewirkt, daß er sich reflektorisch zusammenzieht und mein Bein nach vorne kickt. Diesen Kniesehnenreflex kann ich nicht willentlich beeinflussen, er geschieht mit meinem Bein, ohne daß ich es will, eben unwillkürlich, wie man so sagt. Wenn ich mich jedoch entscheide, ein Brötchen zu kaufen, ist das etwas anderes: Aus freien Stücken gehe ich in die Bäckerei und esse danach ein Brötchen. – Wirklich?

Das Körpergewicht ist bei den meisten Menschen einigermaßen konstant. Zwar ist so mancher auf Diät, beim Muskeltraining oder zu oft im Feinschmeckerrestaurant, andere haben mal zu viel oder zu wenig körperliche Belastung, und wieder andere werden älter, brauchen weniger Energie und nehmen zu. Dennoch wiegen die meisten Menschen heute etwa so viel wie vor einem Jahr. Dabei essen sie, ohne viel darüber nachzudenken, einfach so, was ihnen schmeckt und wonach ihnen gerade ist, meistens zum Beispiel, wenn sie Hunger haben, und so lange, bis sie satt sind. Jeder einzelne Vorgang der Nahrungsaufnahme fällt also unter die Kategorie der Handlung aus freien Stücken. Insgesamt jedoch, aufs Jahr betrachtet, haben wir genau die richtige Menge an Nahrung zu uns genommen.

Stoffwechselphysiologen und Hormonfachleute haben in den letzten Jahren große Fortschritte bei der Erklärung dieses Sachverhalts gemacht: Unser Fettgewebe speichert nicht nur Energie, sondern teilt seinen Speichervorrat auch dem Gehirn dadurch mit, daß es ein Hormon bildet, das Leptin. Viel Fett bildet viel Leptin, wenig Fett entsprechend wenig. Im Gehirn gibt es Rezeptoren für Leptin, deren Besetzung darüber Auskunft gibt, wie es um unsere Fettpolster für schlechte Zeiten bestellt ist. Unter anderem danach richtet sich langfristig die Nahrungsaufnahme. "Wollen" wir also wirklich das Brötchen essen, oder handelt es sich bei dieser "Entscheidung" letztlich um nichts weiter als um einen etwas langsameren und komplizierteren Kniesehnenreflex? Sind wir also wirklich "frei", in die Bäckerei zu gehen (oder es sein zu lassen), oder bilden wir uns das nur ein?

Das Beispiel ist mit Absicht ganz einfach gewählt. An komplizierten Beispielen fehlt es keineswegs – im Gegenteil: Meistens liegen die Dinge so kompliziert, daß wir es rasch aufgeben, überhaupt darüber lange nachzudenken. Frauen, die mit einem Sohn schwanger sind, essen beispielsweise täglich 200 Kilokalorien mehr als solche, die ein Mädchen erwarten (Tamimi et al. 2003). Körperlich fitte, stärkere Mütter wiederum bekommen mit höherer Wahrscheinlichkeit Söhne (Gibson & Mace 2003). Dies wiederum liegt an den unterschiedlichen Reproduktionschancen von Männern und Frauen in Abhängigkeit davon, wie es ihnen geht (mehr dazu in Kapitel 14). Die Nahrungsaufnahme ist also wirklich recht kompliziert gesteuert.

Man könnte sagen, daß man einfach annehmen muß, daß man frei entscheiden kann, auch wenn das keiner wirklich nachweisen kann. Man könnte auch sagen, daß sich Freiheit und Willensentscheidung in einem anderen Seinsbereich abspielen als dem der Naturwissenschaft. Und drittens könnte man sagen, daß es ja genügt, sich frei zu fühlen, um einzusehen, daß man auch frei ist. Aber irgendwie scheint das Problem damit nicht wirklich gelöst, die Sache bleibt unbefriedigend. Und es scheint, als würden wir "eigentlich" eben gerade nicht bestimmen, ob wir zum Bäcker gehen oder nicht, sondern es werde über uns hinweg bestimmt, von unserem Körper und insbesondere unserem Gehirn.

Je mehr wir also über beide wissen, desto unfreier werden wir, oder genauer: desto unfreier sollten wir uns zu Recht fühlen. "Nur" ein paar Neuronen bewerten, entscheiden und handeln, nicht wir – so scheint es. Und es kommt noch schlimmer. Nicht nur die Maschinerie des Bewertens, Entscheidens und Handelns wird mit jedem Tag fortschreitender Gehirnforschung in zunehmendem Maße aufgeklärt, auch deren grundsätzlicher Bauplan und dessen Prinzipien liegen vermeintlich seit der Entschlüsselung des "Buchs des Lebens", des genetischen Kodes und des menschlichen Genoms, offen vor uns. Aufgrund der rasanten Fortschritte der Genetik ist es damit um unsere Selbstbestimmung nur noch schlechter bestellt.

Genetik

Stellen Sie sich vor, die Wissenschaft würde die folgenden Tatsachen eindeutig nachweisen: Es gibt eine genetische Veranlagung für Mord, Selbstmord, Risikobereitschaft und die Neigung zu Unfällen; 94% aller Mörder (in Deutschland) haben diese Veranlagung, und in manchen Volksstämmen des Amazonasgebiets sind mehr als die Hälfte der Träger dieser Veranlagung Opfer von Morden. Die Veranlagung erweist sich weiterhin als schwerwiegender Risikofaktor, von der Wiege bis zur Bahre: In der Kinder- und Jugendpsychiatrie haben die Genträger mehr Aufmerksamkeitsdefizite, mehr Leserechtschreibstörungen, deutlich mehr Gewaltbereitschaft und mehr Drogenkonsum. Wer diese Veranlagung hat, erkrankt beispielsweise etwa fünf Jahre früher an Schizophrenie als jemand, der sie nicht hat. Die Veranlagung betrifft jedoch keineswegs nur psychische Störungen, sondern auch körperliche Krankheiten: Wer sie hat, erkrankt mit wesentlich größerer Häufigkeit an Herz-Kreislauf-Leiden. Sie führt sogar dazu, daß die Genträger im Durchschnitt fünf Jahre früher sterben als diejenigen, die die Veranlagung nicht aufweisen. Was würden wir mit einer solchen wissenschaftlichen Erkenntnis anfangen? – "Die gibt es doch nicht!" werden Sie sagen – und haben Unrecht.

Die genetische Veranlagung, von der die Rede ist, gibt es tatsächlich; sie besteht im Vorhandensein eines Y-Chromosoms oder kurz gesagt: in männlichem Geschlecht. Wer als Mann geboren wird, hat in Kindheit und Jugend schlechte Karten, lebt risikoreicher und stirbt früher. Wer würde in Anbetracht dieser so offensichtlichen Beeinflussung unseres Lebens durch genetische Veranlagung noch bezweifeln wollen, daß wir nichts weiter sind als der Spielball unserer Anlagen? Wann immer ein Mensch gezeugt wird, so das viel gebrauchte Argument, wird eine Art Lotto gespielt: Veranlagungen werden neu gemischt und in Form eines Individuums in die Gesellschaft entlassen, wo sich dann zeigt, ob sie tragen oder nicht. Einzelne Handlungsakte sind aus dieser Sicht nicht besonders wichtig; deren Gesamtheit und zu guter Letzt deren Reproduktionserfolg in der nächsten Generation zählen, denn letztlich kommt es ja auf nichts Weiteres an.

Tatsächlich beginnen wir zu verstehen, wie genetische Veranlagung unsere Lebensläufe und -geschichten prägt (vgl. Kap. 5). Aber wieder scheinen die Zusammenhänge so kompliziert, daß man meint, gar nichts daraus lernen zu können. Andere gehen mit den Erkenntnissen ganz anders um. Sie meinen, man braucht sich in Anbetracht der genetischen Vorbestimmung erst gar keine Mühe mit dem Leben geben. Man könnte also sagen, daß ich die Frage, was ich tun soll, erst recht nicht zu stellen brauche, denn sie wurde bereits zum Zeitpunkt der genetischen Lotterie entschieden. Und der Rest sei eine Mischung aus Zufall und Einbildung. – Was ist nun richtig? Kann die Wissenschaft, insbesondere die Gehirnforschung, hierzu etwas sagen?

Determinismus: Wurzeln in der Vergangenheit

Die Naturwissenschaften betrachten die Welt unter der Voraussetzung, daß sie nach streng kausalen, und das hieß bis zu Anfang dieses Jahrhunderts nach streng mechanistischen, Prinzipien funktioniert. Der von Leibniz (1646-1716) stammende Satz vom zureichenden Grund besagt (in kausaler Hinsicht), daß jeder mechanische Zustand durch zureichende Gründe eindeutig bestimmt ist bzw. daß gleiche Ursachen gleiche Wirkungen haben. Auf Laplace (1749-1827), der sich direkt auf Leibniz bezieht, geht die Fiktion eines Geistes zurück, der unter der Annahme eines mechanistischen Weltbildes bei Kenntnis der Anfangsbedingungen aller Bewegungsabläufe und – wie wir heute sagen würden – unendlich großer Rechenkapazität jedes Ereignis vorhersagen kann. Spricht man heute von Determinismus, dann meint man zumeist diese auf Laplace zurückgehende Vorstellung der Voraussagbarkeit, und es war der Physiologe Du Bois-Reymond, der im vorvergangenen Jahrhundert den Ausdruck Laplace‘scher Dämon für einen solchen universellen Geist einführte.

Angesichts dieser Situation noch von Selbstbestimmung zu reden, erscheint äußerst problematisch, denn sie hat offenbar keinen Platz in einer vollkommen deterministisch verstandenen Natur. Die Freiheit der Entscheidung gibt es – so könnte man meinen – lediglich als Gefühl; objektiv betrachtet sei Natur in uns wirksam. Solche Gedanken verbinden sich dann nicht selten mit der Idee, man brauche eine Entscheidung gar nicht zu begründen und könne seinen Handlungsspielraum ohnehin gar nicht ausschöpfen (vgl. Pothast 1980, S. 193). Gibt es Argumente gegen einen solchen Fatalismus? Gibt es nicht doch Freiheit auf irgendeine Art? Schließen sich Naturkausalität und Freiheit tatsächlich wechselseitig aus?

Betrachten wir zunächst die Relevanz dieser Überlegungen: Wenn es keine Freiheit gibt, so kann es auch keine Verantwortlichkeit geben und keine Beurteilung von Handlungen nach den Maßstäben von gut und böse. Betrachten wir als Beispiel einen Kochtopf, der überkocht: Wir kommen nicht auf die Idee, den Kochtopf auszuschimpfen oder ihn zu verurteilen, weil er übergekocht ist; das Überkochen des Kochtopfs verstehen wir nicht als dessen Handlung, der eine Entscheidung zugrunde liegt. Das Überkochen ist vielmehr vollständig determiniert bzw. kausal bedingt, der Topf hat keine Freiheit, etwas anderes zu tun als überzukochen. Sind nun wir – prinzipiell betrachtet – nichts anderes als ein solcher Kochtopf, können wir tatsächlich – wie der Volksmund nahe legt – nicht anders, als gelegentlich Dampf abzulassen, wenn man uns nur ordentlich einheizt?

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Karten im Kopf

Die räumlich klar auszumachende Zuordnung von bestimmten Regionen der Körperoberfläche zu Kortexbereichen beim Menschen wurde erstmalig von Penfield und Boldrey (1937) veröffentlicht. Weiterhin zeigte sich, daß die Körperoberfläche nicht in Relation zu ihrer Größe, sondern in Abhängigkeit von ihrer Wichtigkeit und ihrem Gebrauch repräsentiert wird. So haben z.B. die Berührungsempfindungen der Hände oder der Lippen eine weitaus größere Häufigkeit und Bedeutung als Berührungsempfindungen des Rückens. Demzufolge sind die Areale, die die Lippen und die Hände repräsentieren, weitaus größer als diejenigen für den Rücken. Aufgrund der Tatsache, daß die Hände und Lippen prozentual mehr Oberfläche einnehmen, können Signale aus diesen Körperregionen wesentlich präziser verarbeitet werden als Signale, die vom Rücken kommen. Im Hinblick auf das Überleben des Organismus ist hierdurch eine hohe Anpassungsfähigkeit gewährleistet.

Die Entdeckung der Landkarten der Körperoberfläche im Gehirn wurde weltweit bekannt, nicht zuletzt durch die didaktisch geschickte Darstellung der unproportionierten Abbildung von Bereichen der Körperoberfläche auf die entsprechenden kortikalen Areale (Penfield & Rasmussen 1950). Penfields Zeichnungen von "Menschlein" (Homunculi) werden in jedem neurologischen und neurowissenschaftlichen Buch abgebildet und sind weltweit derart bekannt, daß die Hauptaussage häufig übersehen wird: Es gibt kortikale Areale, auf denen Input-Signale (im vorliegenden Fall die Berührungsempfindung) in Abhängigkeit der Grundprinzipien Ähnlichkeit, Häufigkeit und Wichtigkeit repräsentiert werden.

Nicht nur der Tastsinn wird kortikal repräsentiert. Das visuelle System des Menschen besteht aus mehr als einem Dutzend von Karten der Netzhaut (man spricht von retinotopen Arealen), d.h. räumlich geordneter Bereiche der Gehirnrinde, auf denen Punkte mit Punkten auf der Netzhaut korrespondieren. Wie beim oben genannten Homunculus werden die Netzhautbilder auf die retinotopen Areale in der Weise verzerrt abgebildet, daß die Signale, die aus dem Bereich des schärfsten Sehens der Retina (der Fovea) kommen, den größten Teil der kortikalen Verarbeitungsfläche einnehmen. Ebenso gibt es im akustischen System tonotope Areale, in denen Neuronen einzelne Frequenzen repräsentieren, wobei aus der Lage eines Neurons auf die Höhe der Frequenz geschlossen werden kann.

Man hat heute guten Grund zur Annahme, daß auch höherstufige kortikale Bereiche mit bislang nicht bekannten Repräsentationen in ähnlicher Weise strukturiert sind. Diese Hypothese stützt sich u.a. auf Modelle neuronaler Netzwerke, in denen wesentliche Merkmale der Funktion des Kortex implementiert sind (vgl. Spitzer 2000). Wie diese Karten mit Repräsentationen der verschiedenen Ebenen der Verarbeitung miteinander arbeiten und genau dadurch höhere geistige Leistungen vollbringen, ist Gegenstand des nächsten Kapitels.

Zwei US-amerikanische Autoren, der Neuroinformatiker Terrence Sejnowski und der Sozialwissenschaftler Steven Quartz, haben gemäß der Geschichte ihres Landes den Kortex mit dem wilden Westen verglichen:

Die Entwicklung des Kortex erinnert nach heutigem Kenntnisstand eher an die Pionierzeit im amerikanischen Westen. Eingehende Axone, wie die Siedler, folgen rauhen Pfaden in eine Welt der Möglichkeiten. Während eine komplexe molekulare Maschinerie damit beschäftigt ist, Wege und Straßen anzulegen, bestimmt die Aktivität der eingehenden Axone, nachdem sie an ihrem Bestimmungsort angekommen sind, wo sie sich schließlich niederlassen und Wurzeln schlagen. Natürlich besteht die Möglichkeit von Immobilienbetrug: Wenn eine unbenutzte Gegend vielversprechend erscheint, warum sie nicht ausprobieren? Genau dies scheint im visuellen Kortex blind geborener Menschen zu geschehen. Axone, die Tastinformationen heranbringen, überrennen bei ihrer Suche nach mehr neuronaler Fläche den visuellen Kortex. (Quartz und Sejnowski 2002, S. 40, Übersetzung durch den Autor)

Das Beispiel des visuellen Kortex von blind geborenen Menschen, der bei diesen für das Tasten verwendet wird, zeigt an, wie groß die Neuroplastizität des Gehirns zum Zeitpunkt der Geburt ist. Wie wir heute wissen, nimmt die Plastizität dann rasch ab und ist bereits gegen Ende des zweiten Lebensjahrzehnts nur noch gering. Dies hat Auswirkungen auf die Art, wie erwachsene Menschen lernen bzw. lernen sollten (vgl. hierzu Spitzer 2002).

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Glück und Sucht im Lustzentrum

Zu meiner Erleichterung kann ich heute, 14 Jahre später, sagen: Er braucht das Experiment nicht mehr zu machen. Bereits sieben Jahre nach unserem Gespräch wurde eine Studie publiziert, die den Sitz des Lustzentrums beim Menschen klar zeigte, ohne daß man auch nur einen einzigen Draht in den Kopf eines unglücklichen Menschen gesteckt hätte. Glücklich machen mußte man die Versuchspersonen jedoch in dem Experiment, sehr glücklich sogar, damit man überhaupt eine Chance hatte, so etwas wie Glücksempfindungen im Gehirn mit Hilfe der damals möglichen bildgebenden Verfahren abzubilden.

Man wählte hierzu den denkbar stärksten "Holzhammer", der sich im Hinblick auf positive emotionale Stimulation überhaupt denken läßt: Kokainsüchtige im Entzug (auf cold turkey, wie man in den USA sagt) erhielten in einem Scanner entweder Kokain oder Kochsalz in eine Vene gespritzt – das eine bereitet ihnen das denkbar stärkste positive Erlebnis (für einen Süchtigen im Entzug ist der Suchtstoff besser als Essen, Trinken oder Sex), wohingegen das andere keinen Effekt hat. Beim Vergleich der Aktivierungsbilder des Gehirns unter den Bedingungen Kokain und Kochsalz zeigte sich dann eine Struktur aktiviert, die man auch in Tierversuchen bereits als Lustzentrum kennen gelernt hatte: der Nucleus accumbens (Breiter et al. 1997).

War damit das Suchtzentrum des Menschen identifiziert? Anders gefragt: Besitzen wir einen Nucleus accumbens, um kokainsüchtig werden zu können? – Stellt man die Frage in dieser Weise rhetorisch, so wird sofort klar, daß die Antwort nur "nein" lauten kann. Wozu hat aber dann die Natur den Nucleus accumbens in unsere Gehirne eingebaut? Um diese Frage zu beantworten, muß man zunächst klären, woher diese Struktur ihren Input bekommt und wohin sie ihren Output sendet. Die Wissenschaft der Neuroanatomie bedient sich zur Klärung solcher Fragen bestimmter Methoden, die es erlauben, den Verlauf von Nervenfasern im Gehirn zu verfolgen. Solche Untersuchungen haben gezeigt, daß die in den Nucleus accumbens eingehenden Fasern von einer kleinen Ansammlung von sehr tief im Gehirn gelegenen Neuronen kommen, die man mit dem Namen Area A10 bezeichnet. Seinen Output schickt der Nucleus accumbens über entsprechende Fasern ins Frontalhirn. Was aber machen diese Neuronen? Es sind nicht sehr viele, so daß man nicht davon ausgehen kann, daß in den wenigen Neuronen und Fasern komplexe Informationsmuster verarbeitet werden. Es muß vielmehr ein recht einfach gestricktes Signal sein, das von den A10-Neuronen zum Nucleus accumbens läuft und das dann von dort weiter zum Frontalhirn gesendet wird.

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